Das Schweigemädchen - Elisabeth Norebäck - E-Book
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Das Schweigemädchen E-Book

Elisabeth Norebäck

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Beschreibung

Deine Tochter verschwindet als Baby. Würdest du sie 20 Jahre später wiedererkennen?

Für einen kurzen Moment ist Stella unaufmerksam, in diesem Augenblick verschwindet ihre kleine Tochter Alice spurlos. Die Ermittlungen werden aufgenommen, Alice wird jedoch nie gefunden. Spuren weisen darauf hin, dass sie ertrunken ist, woraufhin sie für tot erklärt wird. Zwanzig Jahre später hat Stella ihr Leben wieder im Griff. Sie arbeitet als Psychotherapeutin und hat eine neue Familie. Als eines Tages eine junge Frau in ihre Sprechstunde kommt, wird Stella von einer Panikattacke übermannt. Sie ist überzeugt, dass es sich bei der jungen Frau um ihre tot geglaubte Tochter handelt. Die Begegnung ist der Auftakt einer gefährlichen Reise in die Vergangenheit. Stella will um jeden Preis herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Ist sie auf dem besten Wege verrückt zu werden oder soll sie ihrem Instinkt vertrauen?

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Seitenzahl: 601

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Das Buch

Für einen kurzen Moment ist Stella unaufmerksam, in diesem Augenblick verschwindet ihre kleine Tochter Alice spurlos. Die Ermittlungen werden aufgenommen, Alice wird jedoch nie gefunden. Spuren weisen darauf hin, dass sie ertrunken ist, woraufhin sie für tot erklärt wird. Zwanzig Jahre später hat Stella ihr Leben wieder im Griff. Sie arbeitet als Psychotherapeutin und hat eine neue Familie. Als eines Tages eine junge Frau in ihre Sprechstunde kommt, ist Stella überzeugt, dass es sich um ihre tot geglaubte Tochter handelt. Die Begegnung ist der Auftakt einer gefährlichen Reise in die Vergangenheit. Stella will um jeden Preis herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Ist sie auf dem besten Wege verrückt zu werden, oder soll sie ihrem Instinkt vertrauen?

Die Autorin

Elisabeth Norebäck liest eine Menge Krimis und liebt Thriller-Serien im TV über alles. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Stockholm, wo sie aktuell an ihrem zweiten Roman arbeitet.

Elisabeth Norebäck

Das Schweige-mädchen

Thriller

Aus dem Schwedischen vonDaniela Stilzebach

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Säg att du är min« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 by Elisabeth Norebäck

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanne Hammer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock / Piotr Wawrzyniuk

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22580-3 V003

Stella

Ich liege auf dem Boden.

Die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen.

Atme ein. Atme aus.

Mein Herzschlag pulsiert in den Ohren, die Bauchschmerzen sind der Übelkeit gewichen, und ich habe aufgehört zu zittern.

Ich heiße Stella Widstrand, nicht mehr Johansson. Ich bin neununddreißig Jahre alt, keine neunzehn. Und ich bekomme keine Panikattacken mehr.

Graues Herbstlicht fällt ins Zimmer. Ich vernehme den Klang von Regen, es gießt noch immer in Strömen. Mein Sprechzimmer sieht aus wie immer. Die hohen Fenster, die moosgrünen Wände. Das Gemälde mit der weit gestreckten Landschaft, der Holzboden mit dem handgeknüpften Teppich darauf. Mein alter verschlissener Schreibtisch, die Sessel in der Ecke neben der Tür. Ich erinnere mich, wie ich das Zimmer eigenhändig eingerichtet habe, wie genau ich mit jedem Detail gewesen bin. Ich weiß nicht mehr, warum das so wichtig war.

Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich sie finde. Nicht, dass sie mich aufsucht. Vielleicht aus Neugierde, um zu sehen, wer ich bin. Vielleicht um mich anzuklagen, damit ich es niemals vergesse.

Vielleicht um sich zu rächen.

Es hat mich Jahre gekostet, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, dorthin zu gelangen, wo ich heute bin. Doch auch wenn ich all das Geschehene hinter mir gelassen habe, habe ich nicht vergessen. So etwas kann man nicht vergessen, niemals.

Ich liege auf dem Boden.

Die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen.

Atme ein. Atme aus.

Henrik hat mich auf die Wange geküsst, ehe er zur Arbeit gefahren ist. Ich habe mit Milo gefrühstückt und ihn an der Schule abgesetzt, bevor ich nach Kungsholmen weitergefahren bin. Alles war wie immer. Beschlagene Frontscheibe, Stau auf der Tranebergsbron, Nebel über dem grauen Wasser des Mälaren und in der Stadt kaum Parkplätze.

Sie hatte den Termin vor der Mittagspause. Ich öffnete die Tür, nachdem sie geklopft hatte, und sah es sofort. Wir gaben uns die Hand und stellten uns einander vor. Sie nannte sich Isabelle Karlsson.

Kennt sie ihren richtigen Namen?

Ich nahm ihr die vom Regen nasse Jacke ab. Sagte etwas über das Wetter und bat sie hereinzukommen. Isabelle lächelte und setzte sich in einen der Sessel. Sie hat Lachgrübchen.

Wie bei jedem Patienten, der zum ersten Mal in meine Praxis kommt, bat ich sie zu erzählen, was sie zu mir geführt hat. Isabelle war vorbereitet. Sie spielte ihre Rolle sehr gut und behauptete, sie würde nach dem Tod ihres Vaters unter Schlafstörungen leiden. Sie bräuchte Hilfe, um ihre Trauer zu bearbeiten. Sie sagte, sie sei verwirrt und fühle sich unsicher, habe Schwierigkeiten im sozialen Umgang.

Alles war genau einstudiert.

Warum?

Sie hätte es direkt heraus sagen können. Sie hätte den tatsächlichen Anlass ihres Besuchs nicht verschweigen müssen.

Sie ist zweiundzwanzig. Mittelgroß, Sanduhr-Figur mit schmaler Taille. Kurze, unlackierte Nägel. Sie hat keine Tätowierungen oder Piercings, nicht einmal Löcher in den Ohren. Die schwarzen glatten Haare hingen lang den Rücken hinunter. Nass vom Regen glänzten sie im Kontrast zu ihrer blassen Haut, und ich dachte, wie hübsch sie ist. Hübscher, als ich es mir hätte vorstellen können.

Der Rest des Gesprächs verschwand im Nebel. Jetzt im Nachhinein fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, was ich gesagt habe. Etwas über die Dynamik der Gruppentherapie, vielleicht etwas über Kommunikation oder darüber, wie unser Selbstbild unsere Wahrnehmung von anderen beeinflusst.

Isabelle Karlsson schien genau zuzuhören. Sie warf ihre Haare nach hinten und lächelte erneut. Aber sie war angespannt. Sie war auf der Hut.

Erst kam die Übelkeit, dann der Schwindel und der Druck auf der Brust, der das Atmen erschwerte. Ich erkannte die Symptome. Ich entschuldigte mich, verließ den Raum und ging auf den Flur zur Toilette. Mein Herz raste, der kalte Schweiß lief mir den Rücken hinunter, und das Pochen hinter meinen Augen jagte mir ein Stechen durch den Kopf. Mein Magen zog sich zusammen. Ich kniete mich vor die Toilettenschüssel, versuchte mich zu übergeben. Es ging nicht. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich gegen die Fliesen und schloss die Augen.

Hör auf, daran zu denken, was du getan hast.

Hör auf, an sie zu denken.

Hör auf zu denken.

Hör auf.

Einige Minuten später ging ich zurück, sagte, sie sei zur Gruppentherapie am kommenden Mittwoch um ein Uhr willkommen. Isabelle Karlsson zog ihre Jacke an, hob die Haare im Nacken an und schüttelte sie. Ich wollte die Hand ausstrecken und sie anfassen, hielt mich jedoch zurück.

Sie bemerkte es.

Sie sah mein Zögern, meinen Wunsch nach Kontakt.

Vielleicht hat sie genau das beabsichtigt? Mich zu verunsichern?

Sie nahm die Tasche über die Schulter, ich öffnete ihr die Tür, und sie ging.

Ich habe von diesem Tag geträumt. Fantasiert, wie es sein würde. Wie es sich anfühlen würde, was ich sagen würde. So hatte es nicht sein sollen. Und es tat weitaus mehr weh, als ich es mir vorgestellt hatte.

Ich liege auf dem Boden.

Die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen.

Atme ein. Atme aus.

Sie ist zurück.

Sie lebt.

Isabelle

»ISABELLE!«

Ich vernehme Johannas Stimme und drehe mich um. Ich bin zurück im M-Gebäude, dem abgelegensten auf dem Campus. Die Mittagspause ist zur Hälfte um, und der Raum ist voll mit Studenten, alle Tische und Stühle sind besetzt. Um die Mittagszeit ist es hier immer voll. Ich drehe eine Runde, entdecke Johanna jedoch erst, als sie aufsteht und winkt.

»Komm her«, ruft sie.

Ich habe keine Lust. Die vergangene Stunde habe ich unter Hochspannung gestanden. Alle Emotionen für mich zu behalten, hat mir das Gefühl gegeben zu explodieren.

Die Trauer. Die Wut. Den Hass. Den Versuch, alles zu verbergen. Zu lachen und die Nette zu spielen. Jemand anderer zu sein als die, die ich wirklich bin.

Am liebsten würde ich mein Sandwich alleine essen, bevor die nächste Vorlesung beginnt. Revue passieren lassen, was bei der Therapeutin passiert ist. Aber es fällt mir schwer, Nein zu sagen. Ich ziehe die Tasche auf die Schulter hoch, bevor ich an all den Menschen, den auf dem Boden abgestellten Taschen, den grünen Tischen und roten Stühlen vorbeimanövriere, um ans Ziel zu gelangen.

Johanna ist die engste Freundin, die ich habe. Die ich jemals gehabt habe. Seit der ersten angsteinflößenden Zeit an der KTH, als sie sich meiner angenommen und mich bei sich einziehen lassen hat. Warum, weiß ich nicht. Wir sind total verschieden. Sie ist erfahren und hat in ihrem Leben schon viel gemacht, die ganze Welt bereist. Sie hat die Haare lila gefärbt, Löcher in den Ohren und einen Nasenring, zudem hat sie ein Tattoo auf dem Rücken und ein zweites auf dem Unterarm. Ein Feuer speiendes Einhorn. Sie ist cool und selbstbewusst, weiß, was sie will.

Susie und Maryam, die neben ihr sitzen, sind auch supernett. Aber in Johannas Gegenwart entspanne ich, traue ich mich, ich selbst zu sein.

»Wo warst du?«, fragt Maryam. »Ich habe dich in der Mathestunde nicht gesehen.«

»Ich war nicht da«, antworte ich.

»Was ist passiert?« Susie führt eine Hand zu ihrem Herzen. »Du verpasst doch sonst nie irgendwas.«

»Ich musste was regeln.« Ich ziehe den Stuhl neben ihr nach hinten, hänge meine durchnässte Jacke über die Lehne und setze mich hin. Noch immer kann es mich in Staunen versetzen, dass Leute wissen, dass ich existiere. Dass jemand mich wahrnimmt. Mich vielleicht sogar vermisst. Ich bin es gewohnt, unsichtbar zu sein.

Ich öffne die Tasche und nehme das in Folie eingepackte Sandwich heraus, das ich bei 7-Eleven gekauft habe. Es ist hinüber, ich stopfe es zurück in die Tasche.

»Regnet es immer noch?«, fragt Johanna.

»Genauso stark wie heute Morgen«, entgegne ich.

»Montagsneurose«, sagt Susie und blättert im Mechanik-Lehrbuch. »Kapiert ihr auch nur irgendwas davon?«

»Letztens habe ich Unmengen über den Drehimpuls geschrieben«, sagt Johanna, »aber ich bin nicht sicher was.«

Sie lachen. Auch ich lache. Aber ein Teil von mir sitzt in einem durchsichtigen Glaskäfig und schaut nach draußen. Ich bin zwei verschiedene Personen, das weiß ich. Eine ist die, die alle sehen. Die wirkliche, die echte sehe nur ich, und der Unterschied zwischen den beiden ist abgrundtief. In mir existiert eine Schlucht der Dunkelheit. Und ich tendiere dazu, melodramatisch zu werden.

»Isabelle, du kapierst das doch«, sagt Maryam und dreht sich zu mir. »Ich kriege Panik, wir müssen bald anfangen, für die Prüfung zu pauken.«

»Wenn man das Buch liest, begreift man es ganz gut«, sage ich.

»Ähm, sprich nur aus, was du denkst. Wenn wir ebenso viel Zeit aufs Lernen verwenden würden wie du, statt zu feiern, würden wir es auch kapieren.« Susie knufft mich in die Seite und grinst.

»Gib zu, dass sie recht hat.« Johannas zusammengeknüllte Serviette trifft mich am Kopf. »Gib es zu, Isabelle.«

»Findet ihr mich öde?«, entgegne ich. »Haltet ihr mich für eine Langweilerin, einen Nerd, der sich nicht amüsieren kann? Ohne mich hättet ihr keine Chance, ihr Faulpelze.«

Ich werfe die Serviette zu Johanna zurück und lache aus vollem Hals, als mich direkt zwei andere am Kopf treffen. Ich bewerfe auch Susie und Maryam und bald herrscht an unserem Tisch der totale Serviettenkrieg. Wir lachen und schreien, im ganzen Speisesaal stehen die Leute auf und feuern uns an, und …

Mein Handy klingelt.

So was mache ich viel zu oft. Verschwinde in einer fiktiven Traumwelt. Lasse im Kopf kleine lächerliche Filme ablaufen. Szenen, in denen ich ebenso spontan und ungezwungen bin wie alle anderen.

Ich krame das Telefon aus der Tasche, schaue aufs Display.

»Wer ist das?«, fragt Maryam. »Willst du nicht rangehen?«

Ich drücke den Anruf weg und lege das Handy wieder in die Tasche.

»Es war nicht wichtig.«

Nach der Vorlesung fahre ich allein nach Hause. Johanna will zu ihrem Freund, Axel. Eigentlich wäre ich nach dem Besuch bei Stella am liebsten direkt nach Hause gefahren, so anstrengend wie die Begegnung mit ihr war, aber ich wollte nichts Wichtiges vom Unterricht verpassen.

Jetzt sitze ich in der U-Bahn. Einsam, eine von all den Fremden. Als ich hierhergezogen bin, fand ich das unheimlich, jetzt macht es mir nichts mehr aus. Nach einem Jahr in Stockholm finde ich es ganz gut. Am Anfang hatte ich höllische Angst, mich zu verfahren. Ich brachte Hässelby und Hagsätra durcheinander, kontrollierte dreimal, wie ich hinkam, wo ich hinwollte. Trotzdem bin ich viel herumgefahren und war in allen Einkaufszentren in Reichweite des Stockholmer Nahverkehrs.

Ich bin mit dem Pendelzug bis zu den Endstationen gefahren, habe alle U-Bahn-Linien sowie die meisten Busverbindungen in der Innenstadt getestet. Ich bin durch Söder, Vasastan, Kungsholmen, Norrmalm, vor allem aber durch die City gelaufen.

Ich betrachte meine Mitreisenden und stelle mir vor, alles über sie zu wissen. Die alte Dame da mit den orangefarbenen Haaren und der knallroten Brille; sie trainiert zweimal die Woche bei Friskis&Svettis, in farbenfrohen Tights aus den Achtzigern, dabei beobachtet sie frech die Männer im Fitnessstudio.

Das Händchen haltende und sich küssende Paar; er ist Medizinstudent, sie Grundschullehrerin. Sie sind auf dem Weg nach Hause in ihre Einzimmerwohnung am Brommaplan. Sie werden zusammen kochen, einen Film anschauen und auf dem Sofa einschlafen. Dann geht sie ins Bett, er holt den Laptop hervor und surft im Internet nach Pornos.

Der dünne, große Mann im Anzug; er hustet, bis er sich krümmt. Todkrank. Lungenkrebs. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt.

Wie viel Zeit bleibt einem noch? Das Leben kann jeden Augenblick vorbei sein. Es kann heute vorbei sein.

Ich vermisse Papa. Vier Monate sind seit dem Tag im Mai vergangen. Vier leere, lange Monate. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass er sich schon mehrere Wochen krank gefühlt hatte. Selbstverständlich hat er keinen Arzt aufgesucht. Ich habe von nichts gewusst. Papa war nie krank. Warum hätte er mich unnötig damit behelligen sollen?

Zu sagen, ich hätte ein schlechtes Gewissen, reicht nicht aus. Ich war viel zu selten zu Hause. Ostern habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Ich bin nicht mal das ganze Wochenende geblieben.

War es selbstsüchtig von mir auszuziehen? Papa hat gewollt, dass ich die Chance ergreife. Er hat mich ermuntert, hierzubleiben, die Wochenenden mit meinen neuen Freunden zu verbringen und mich abzunabeln.

Erst nach seinem Tod habe ich die Wahrheit erfahren. Was sie getan hat, werde ich ihr nie verzeihen. Von ganzem Herzen wünschte ich, sie wäre tot. Ich hasse sie.

Hasse sie.

Hasse sie.

Hasse sie.

Stella

ICH WACHE ZU HAUSE in unserem Haus im Alviksvägen in Bromma auf. Ich habe auf dem Bett geschlafen, zugedeckt mit einer Wolldecke. Ich habe das Gefühl, als hätte ich mehrere Tage hier gelegen.

Ich hatte Renate gebeten, meinen restlichen Patienten abzusagen und Migräne vorzuschieben. Im Regen habe ich auf der Sankt Eriksgatan ein Taxi angehalten. Der Rest ist weg. Als wir am Ziel waren, muss ich den Fahrer bezahlt haben, aus dem Auto gestiegen und ins Haus gegangen sein. Meine Schuhe und den Mantel ausgezogen haben und weiter ins Schlafzimmer gegangen sein. An nichts von alldem kann ich mich erinnern.

Meine Augen brennen, mein Schädel brummt, und für einen Moment frage ich mich, ob das alles nur Einbildung ist. Ob ich geträumt habe, dass eine Frau namens Isabelle Karlsson in meiner Sprechstunde aufgetaucht ist.

Ich wünschte, es wäre so.

Schmerz zu vermeiden ist ein grundlegender menschlicher Instinkt, besser fliehen, als dem begegnen, was wehtut.

Und ich wünschte, ich könnte fliehen.

Der Klang von Henriks Range Rover, der in die Einfahrt rollt. Ich stehe auf und gehe ans Fenster. Es regnet noch immer. Unser Nachbar steht in einer Regenjacke mit seinem kläffenden Köter am Zaun. Milo springt aus dem Auto und rennt zum Haus. Henrik grüßt den Nachbarn und folgt Milo. Die Haustür wird geöffnet, ich höre ihn Hallo rufen. Ich schließe für ein paar Sekunden die Augen, atme tief ein und gehe nach unten.

Milo schlendert an mir vorbei, fragt, was es zu essen gibt. Als ich ihm sage, dass ich keine Ahnung habe, geht er ins Wohnzimmer weiter und lässt sich auf eines der Sofas fallen. Henrik hebt meinen Mantel vom Dielenboden auf. Er hängt ihn auf einen Kleiderhaken und sagt, er habe versucht mich zu erreichen.

Ich entgegne, dass das Handy vermutlich noch in meiner Tasche liegt. Er schaut auf den Boden. Es liegt neben meinen Schuhen. Er hebt es auf, gibt es mir.

»Wir haben uns gefragt, ob wir von unterwegs was mitbringen sollen«, sagt er. »Du hast kein Abendessen gemacht.« Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Ich bin nicht dazu gekommen.«

»Ist irgendwas passiert?«

»Warum glaubst du das?«

»Dein Auto?«

Mein Audi steht noch in Kungsholmen, nicht in der Auffahrt.

»Ich habe ein Taxi genommen.«

Henrik beäugt mich eingehend. Ich gebe ihm einen raschen Kuss, weiche seinem Blick aus und gehe in die Küche. Er folgt mir.

»Milo muss was essen«, sagt er und öffnet den Kühlschrank. »Er muss bald los.«

Ich habe Milos Basketballtraining vergessen. Im Normalfall würde mir das nicht passieren. Ich setze mich an den Küchentisch, kontrolliere mein Handy. Zwei entgangene Anrufe und eine SMS. Henrik nimmt eine Plastikdose aus dem Gefrierschrank und lässt Milo wissen, dass es bald Essen gibt.

»Wie war dein Tag?«, fragt er nach einer Weile.

»Gut.«

»Alles okay?«

»Ja«, antworte ich.

»Sicher?«

»Sicher.«

Henrik rührt die Pasta um und wärmt die Hackfleischsoße auf. Zwischendurch erzählt er etwas von einem Besuch bei seinen Eltern auf dem Land am nächsten Wochenende, von Milos Basketballspiel am Samstag. Von der Arbeit. Er stellt Teller, Besteck und Gläser auf den Tisch, füllt Wasser in die Karaffe. Redet weiter von der Arbeit.

Es ist wie an jedem anderen Montag, wir treffen uns nach der Arbeit zu Hause, wir plaudern in der Küche. Mein Mann ist wie immer, mein Sohn auch. Unser schönes Zuhause ist wie immer. Dennoch ist alles fremd. Als sei ich jemand anderer geworden. Als wäre ich eine Fremde in meinem eigenen Leben.

Henrik ruft Milo zu, dass das Essen fertig ist. Keine Reaktion aus dem Wohnzimmer. Er sagt ihm, dass er kommen soll, aber Milo lässt auf sich warten. Ich gehe ins Wohnzimmer zum Sofa. Ich nehme ihm die Kopfhörer von den Ohren und das iPad aus der Hand. Ich raunze ihn an, dass die Zeit drängt. Milo ist erst erstaunt, dann sauer. Er stolpert an mir vorbei und setzt sich an den Küchentisch.

Als Milo es nicht sieht, legt mir Henrik eine Hand auf den Arm. Ich weiß genau, was er sagen will. Reg dich ab. Was ist los mit dir?

Ich sollte über das Erlebte sprechen. Sollte mit ihm reden. Es sieht mir nicht ähnlich, Dinge geheim zu halten. Ich bin trotz allem Psychologin und approbierte Psychotherapeutin. Ich sage, was ich empfinde, ich diskutiere und analysiere ein Problem, worum auch immer es geht. Vor allem, wenn es etwas ist, das unser Leben komplett verändern wird. Und Henrik ist mein bester Freund. Wir sind immer offen zueinander, wir reden über alles. Er kennt mich besser als irgendjemand anderer, was es erschwert, etwas vor ihm zu verbergen. Ich hatte auch nie das Gefühl, das zu wollen. Bis heute.

Von dem Essen kriege ich nichts herunter. Henrik und Milo reden miteinander, worüber, weiß ich nicht. Ich höre sie, aber auch wieder nicht. Meine Gedanken wandern ständig zu ihr.

Isabelle Karlsson.

Ich frage mich, warum sie diesen Namen verwendet. Ich frage mich, wie viel sie weiß.

Milo erzählt von einem megatollen Fahrrad, das er haben möchte. Er nimmt sein Handy und will es uns zeigen. Ich entschuldige mich, stehe vom Tisch auf und verlasse die Küche. Ich gehe in die Waschküche und versuche, meine Gedanken zu sortieren.

Eine Panikattacke. Eine einzige in zwölf Jahren. Ich verliere die Kontrolle und kann nichts dagegen tun. Panische Angst und lähmender Schrecken übernehmen die Kontrolle über meinen Körper, dringen in meine Gedanken und Gefühle ein. Als würde man in einen Zug steigen und die ganze Strecke bis zur Endstation mitfahren müssen. Und dahin will ich nie wieder. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um das nicht noch einmal durchmachen zu müssen. Der Gedanke, meiner Familie das Ganze noch einmal zuzumuten, versetzt mich in Todesangst.

Hätte ich diesen Termin wahrgenommen, wenn ich gewusst hätte, wozu er führt? Hätte ich mich getraut, ihr zu begegnen, wenn ich gewusst hätte, wer sie ist?

Wenn sie es denn wirklich ist.

Ich sehe es vor mir, wie ich sie direkt frage. Wie ich ihr in die Augen schaue, die Frage stelle und beobachte, wie meine Worte in ihr Bewusstsein vordringen und eine Reaktionskette in Gang setzen.

Nein, das bin ich nicht.

Wahrheit? Lüge?

Ja, das bin ich.

Wahrheit? Lüge?

Ich traue Isabelle Karlsson nicht. Wie sollte ich auch? Wie könnte ich ihr meine Fragen anvertrauen, wenn ich noch keine Ahnung habe, was sie will? Ich muss mehr herausfinden. Ich muss es wissen.

Henrik steht hinter mir, legt seine Hände auf meine Arme.

»Was ist los?«, fragt er. »Rede mit mir, Stella.«

»Ich bin müde.«

»Das allein ist es nicht«, sagt er. »Es scheint, dass etwas passiert ist.«

Er wird nicht aufgeben. Ich drehe mich um.

»Ich hatte einen miesen Arbeitstag«, sage ich. »Ich habe Kopfschmerzen bekommen, alle Termine abgesagt und bin nach Hause gefahren.« Bewusst bringe ich ihn dazu zu glauben, es würde um Lina gehen, eine Patientin, mit der ich Probleme hatte. Ich sehe ihm an, dass er begreift. Wusste, dass er es so auslegen würde.

Henrik streichelt meine Wange und nimmt mich in die Arme. Er fragt, ob ich Nachricht von der Aufsichtsbehörde für das Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen erhalten habe. Das habe ich nicht. Noch nicht.

Er sagt, dass die letzten Monate anstrengend waren, sich aber alles klären wird. Dass er Milo heute zum Training fährt, dass ich zu Hause bleiben kann.

Als sie fahren, stehe ich am Küchenfenster und blicke ihnen hinterher.

Geh auf den Dachboden. Sieh in die Tasche.

Die Tasche auf dem Dachboden. Ich habe sie seit unserem Einzug hier nicht angerührt, aber auch zwölf Jahre später weiß ich noch genau, wo sie ist. Ich werde nicht hineinsehen. Wenn ich das tue, verliere ich wieder den Verstand.

Vor einundzwanzig Jahren wurde mein Leben zerstört, aber ich habe es wieder aufgebaut. Ich habe mich entschieden zu leben, was anderes konnte ich nicht tun. Die Alternative wäre der Tod gewesen, doch den Schritt zu gehen, brachte ich nicht fertig.

Ich konzentrierte mich stattdessen voll und ganz auf meine Ausbildung, auf das Erreichen meiner Ziele. Fünf Jahre später lernte ich Henrik kennen und verliebte mich in ihn.

Ich beerdigte sie. Das bedeutet aber nicht, dass ich vergessen habe.

Sieh in die Tasche, auf dem Dachboden.

Die heutige Panikattacke war eine einmalige Sache.

Es wird nicht wieder vorkommen.

Und ich muss nicht auf den Dachboden hochgehen. Was ich brauche, ist Schlaf.

Im Schlafzimmer spüre ich, dass ich zu müde bin, um zu duschen, zu müde, um mich abzuschminken. Ich bringe nicht einmal die Kraft auf, mir die Zähne zu putzen. Ich nehme die Armbanduhr ab, die ich von Henrik bekommen habe, und lege sie auf die Kommode. Die Hose und den Pullover werfe ich auf den Stuhl neben der Tür. Ich ziehe den BH aus und krieche unter die Decke.

Als ich mitten in der Nacht aufwache, trommelt der Regen noch immer gegen die Fensterscheiben. Ich muss tief und fest geschlafen haben, ich habe nicht gehört, wie Henrik und Milo nach Hause gekommen sind. Dank der dicken Gardinen ist es im Zimmer stockdunkel. Für gewöhnlich ziehe ich sie zu, aber heute Nacht fühlt sich die Dunkelheit erdrückend an.

Geh auf den Dachboden. Sieh in die Tasche.

Henriks Arm liegt über meiner Taille, er grunzt, als ich ihn runternehme. Ich stehe auf und streife den Morgenrock über. Ich schleiche mich aus dem Schlafzimmer und schließe die Tür. Im Flur hole ich einen Stuhl und stelle ihn unter die Dachbodenluke. Ich klettere darauf, greife nach der Klinke und ziehe. Halte die Luft an, als es quietscht. Ich klappe die Leiter aus, steige auf den Dachboden und schalte das Licht an.

Die Tasche steht ganz in der Ecke. Ich muss einige Kartons wegnehmen, bevor ich sie sehe. Paisleymuster, weinrot und blau, ich habe sie vor vielen Jahren von Mama bekommen. Ich nehme sie hoch, setze mich auf den Boden und öffne den Reißverschluss.

Die Spinne ist klamm geworden, schlaffe Beine in Lila und Gelb und ein breites, albernes Lächeln. Ich ziehe an der Schnur unter dem Bauch, aber nichts passiert. Sie hat einmal einige Takte von Itsy Bitsy Spider gespielt. Wir fanden das damals unglaublich lustig.

Eine weiße Wolldecke mit grauen Sternen. Ein kleines blaues Kleid mit Spitze um Ausschnitt und Ärmel, das einzige Kleidungsstück, das ich aufgehoben habe. Ich drücke die Nase hinein, aber es riecht lediglich nach Mottenkugeln.

Fotos. Auf einem davon sehe ich drei fröhliche Teenager. Daniel, seine Schwester Maria und mich.

Ich habe fast immer lange Haare gehabt. Sie sind dick und dunkelbraun und fallen natürlich. Als das Bild gemacht wurde, hingen sie lang meinen Rücken hinunter. Ich trage ein gelbes Kleid mit einem breiten, schwarzen elastischen Gürtel um die Taille. Daniel hat seinen Arm um meine Schultern gelegt, er wirkt frech und selbstsicher. Seine schwarzen Haare sind zerzaust wie immer, und er trägt eine verschlissene Jeans und das Flanellhemd mit den abgeschnittenen Ärmeln.

Ich frage mich, was er heute macht. Frage mich, ob er glücklich ist. Ob er manchmal an mich denkt.

Ich studiere Maria. Ihre mittellangen, glatten Haare sind genauso schwarz wie Daniels. Die Ähnlichkeit mit Isabelle Karlsson ist erschreckend. Sie könnten Geschwister sein. Oder Zwillinge.

Aber das ist Zufall. Das muss es sein.

Noch mehr Fotos. Eine Siebzehnjährige mit einem Baby auf dem Arm. Sie ist selbst fast noch ein Kind. Sowohl sie als auch das Kind lachen. Sie haben Lachgrübchen.

Es brennt in meinen Augen, und ich reibe sie mir mit dem Ärmel des Morgenrocks. Ganz unten in der Tasche liegt ein rotes, verschlossenes Buch. Ich nehme es heraus.

29. Dezember 1992

Hiiiiilfe! Scheiße, scheiße, scheiße. Ich bin schwanger. Wie ist das möglich?! Na ja, das verstehe ich schon. Aber trotzdem. Deshalb bin ich vermutlich ständig so müde. Deshalb bin ich so fürchterlich launisch und weinerlich.

Wie heute. Ich, Daniel und Pernilla sind ins Einkaufszentrum nach Farsta gefahren, um Klamotten zu probieren. Ich hatte eine superschöne Jeans gefunden, kriegte sie aber nicht zu, obwohl es die richtige Größe war. Ich habe wirklich gekämpft, aber es ging einfach nicht.

Meine Reaktion war total übertrieben, das weiß ich. Ich habe mich auf den Hocker in der Umkleide gesetzt und geweint. Daniel hat überhaupt nichts kapiert und war so gefühllos wie nur möglich. »Hast du deine Tage? Versuch es mit einer Größe drüber, wo ist das Problem?« Ich bin so wütend geworden, dass ich noch mehr geweint habe. Pernilla hat ihn meinetwegen ausgeschimpft. Wir haben auf die Klamotten gepfiffen und uns stattdessen einen Kaffee gegönnt.

Wie soll ich das Mama sagen? Sie wird an die Decke gehen. Helena wird es furchtbar finden. Und Daniel, was wird er dazu sagen? Papa zu werden. Das ist nicht gerade das, was wir uns vorgestellt hatten.

Die Gefühle fahren Achterbahn. Mein ganzes Leben steht kopf.

Ich kann nicht begreifen, dass wir so dumm gewesen sind. So unverantwortlich. Alle meine Pläne, was soll ich jetzt tun?

Ich habe das Gefühl, verrückt zu werden. Ich lache und schluchze abwechselnd. Ich bin überglücklich. Ich habe eine Heidenangst. Ein Mensch. Einfach so?! Ist es möglich, dieses kleine Wesen jetzt schon zu lieben?

Ich will dieses Kind bekommen. Mit ihm. Ich hoffe, er will das auch, denn ich kann keine andere Entscheidung treffen.

Also, hallo und willkommen, wer auch immer du bist. Alles andere muss warten.

Isabelle

MITTEN IM morgendlichen Berufsverkehr. Susie steht am Bahnhof Östra einige Stufen hinter mir auf der Rolltreppe. Ich habe mich gerade umgedreht und bemerkt, dass sie mich gesehen hat. Das bedeutet, dass ich den ganzen Weg Konversation machen muss. Versuchen muss, sorglos zu erscheinen, normal zu sein.

Normal. Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet.

Sein wie alle anderen?

Würde ich das irgendwann voll und ganz lernen? Sodass niemand merkt, wie sonderbar ich eigentlich bin? Wie böse ich in Wirklichkeit bin?

Böse. Ich kann es nicht anders bezeichnen. Ich tue nie jemandem etwas Böses. Aber manchmal habe ich Angst, dass ich es tun werde. Der Hass in mir, die zunehmende Wut. Sie machen mich böse. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wie ich damit umgehen soll. Und ständig habe ich so ein Gefühl, dass das ein schlimmes Ende nehmen wird. Dass meine Gedanken, all die Gefühle, die in mir herumwirbeln, zu etwas Furchtbarem führen werden. Bin ich jetzt wieder melodramatisch?

Ich verlasse die Rolltreppe und warte auf Susie.

»Haaallo Isabelle!«, ruft sie, als sie auf mich zukommt. Sie redet immer mit Ausrufezeichen. »Echt irre, dass es nicht regnet! Wir hatten ja nun mehrere Tage Scheißwetter! Wo ist Johanna?«

»Sie wollte sich was zu essen kaufen, glaube ich.«

»Was zu essen kaufen«, lacht sie und ahmt die Melodie meines Dialekts nach. Es kommt inzwischen seltener vor als am Anfang, und es macht mich nicht mehr so befangen.

»Wo ist die Vorlesung?«

»In Q1«, antworte ich.

»Hast du die Vorbereitungsaufgaben gemacht?«

»Ja«, sage ich. »Und du?« Ich werfe die Haare nach hinten. Eine Unsitte, die ich mir abzugewöhnen versuche.

Susie zieht eine Grimasse. »Du bist so entsetzlich fleißig. Ich hoffe, dass ich die Aufgaben heute nicht erklären muss.«

Den Rest des Weges redet sie, wie schön es ist, dass Freitag ist, was am Wochenende ansteht; ein paar Leute wollen am Samstag ausgehen und ob ich mit will. Ihr Hund hat gestern Abend gekotzt, und sie hat einen Tierarzt im Freundeskreis, und die bekommen so viel Ekliges zu sehen, haha. Ich werde daran erinnert, dass der halbe September rum ist, die Zeit so schnell vergeht und es sicher wieder regnen wird.

Ich höre zu, brumme zwischendurch. Als wir an unserem Ziel angelangt sind, stürmt sie auf die Toilette zu. Ich ziehe die Tür zum Hörsaal auf und gehe hinein, obwohl die Vorlesung erst in elf Minuten beginnt. Ich sehe mich um, bevor ich die Treppe hinuntergehe. Ich entscheide mich für einen Platz am Rand der dritten Reihe.

Ich sitze immer in einer der vorderen Reihen. Und komme sehr zeitig. Mit Notizblock und Stiften vor mir, bereit, alles aufzuschreiben. Jede Zahl und jeden Buchstaben. Ich verwende Farben zum Markieren und Unterstreichen und Pfeile, damit ich alles nachvollziehen und besser verstehen kann. Das Ganze hat etwas leicht Neurotisches an sich. Das weiß ich, ich habe darüber gelesen. Ich habe ein Zahlengedächtnis. Obwohl ich weiß, dass ich mich an sie erinnern oder sie nie wieder brauchen werde, schreibe ich sie immer auf.

Wir sehen uns zwanzig nach drei. 15:20.

Nimm Bus 515 oder 67 vom Odenplan. 515, 67.

Du bist 163 cm groß, wiegst 56 Kilo. 163, 56.

Viele denken, ich sei viel zu ernsthaft. Alle, die ich hier an der KTH kennengelernt habe, nehmen ihr Studium ernst, aber sie feiern auch viel. Da ist der Freitagspub im Nymble, wo die unterschiedlichen Fachrichtungen Studentenpartys, Wettbewerbe im Bierschnelltrinken und Pubrunden veranstalten, und die Prüfungszeit endet immer mit einem großen Fest. Um gar nicht erst von den Privatpartys zu reden.

Johanna und Susie versuchen immer, mich zum Mitkommen zu überreden, aber ich bin nur ein paar Mal mitgegangen. Das Fest für die Erstsemestler im Frühjahr war die einzige große Party, auf der ich war.

Es ist nicht so, dass ich nicht mitgehen will. Ich will Teil der Clique sein, und ich wünschte, dass es mir leichter fallen würde. Dass es leichter für mich wäre zu vergessen, wer ich bin.

Dennoch ist der Umzug hierher das Beste, was ich bisher getan habe. Die Anzahl meiner Facebook-Freunde ist drastisch gestiegen. Ich habe mehr Follower bei Instagram. Und ich habe mir Snapchat zugelegt. Ich liebe es! Ich dokumentiere meinen Alltag und mache Selfies. Meine digitale Wirklichkeit ist wunderbar, verrückt, großartig, jeder, der meine Bilder sieht, begreift, dass ich ein Leben voller besonderer Augenblicke lebe, mit tollen Freunden, die mich lieben. Jeder Like, jede Reaktion, die ich bekomme, stimmt mich fröhlich. Ich weiß, dass das oberflächlich ist, aber darauf pfeife ich. Es ist nichts falsch daran, oberflächlich zu sein. Und bis zum Frühsommer war ich auch im realen Leben sozial, nicht nur online.

Dann ist Papa gestorben.

Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich eine Bewegung wahr und gucke hoch. Ein Junge, den ich nicht kenne. Er sieht gut aus. Er fragt, ob er durch kann, und ich glaube, ich werde rot. Ich stehe auf, und er lächelt mich an, während er sich in die Sitzreihe quetscht. Lange verweilt sein Blick auf meinem kurzen Kleid und meinen kniehohen Stiefeln.

Eine Sache, an die ich mich in diesem einen Jahr hier gewöhnt habe, ist die, dass Jungs mich anschauen. Zu Hause war ich unsichtbar. Meine Haare waren das Einzige, worauf ich stolz und womit ich zufrieden war. Mein Körper hingegen? Bisweilen werde ich abgecheckt, wie gerade eben. Das ist merkwürdig. Aber gleichzeitig eine Wonne. Niemand schaut hinter das Äußere, keiner blickt dahinter. Wie falsch und niederträchtig, verstört und verschroben ich bin. Niemand darf wissen, wer ich im Innersten bin.

Johanna und Susie haben mich einem Makeover unterzogen. Es hat damit angefangen, dass ich mir von Johanna einen Pullover ausgeliehen habe, der wirklich perfekt saß. Sie haben mich auch dazu gebracht, eines ihrer kürzesten Kleider anzuprobieren. Das definitiv zu kurz war. Ihnen zufolge war genau das der Sinn. Meine Beine seien es wert, gezeigt zu werden.

Sie haben mich zu H&M, Monki und Gina Tricot geschleppt, wir waren überall. Ich habe festgestellt, dass die Secondhandläden hier Sachen haben, die man zu Hause in Borlänge nicht findet. Jetzt habe ich eine komplett neue Garderobe. Kleider in Größen und Schnitten, wie ich sie nie zuvor gekauft habe.

Ich habe gelernt, gesehen zu werden. Das ist gar nicht so gefährlich. Im Gegenteil. Es macht es leichter, sich zu verstecken. Ich habe das Gefühl, entscheiden zu können, wer ich in den Augen der anderen bin.

Meine neu gewonnene Freiheit. Meine neue Stärke.

Ich wünschte nur, ich könnte mein wirkliches Ich komplett vergessen.

Und hier kommt Stella Widstrand ins Bild.

Als die Vorlesung beginnt, werden meine Gedanken unterbrochen. Ich höre konzentriert zu und schreibe bis zur Pause mit. Dann stehe ich auf und mache Platz, damit alle, die in meiner Reihe sitzen, auf den Gang gelangen. Ich überlege, ob ich den Hörsaal verlassen oder sitzen bleiben soll, als ich höre, wie jemand seinen Namen ruft.

Fredrik.

Ich sehe mich in dem Stimmengewirr um. Einige Reihen über mir sitzt er. Er guckt hoch, unsere Blicke treffen sich, und er nickt kurz. Ich weiß, dass ich ihn viel zu lange anschaue. Er steht auf und sieht zu Medhi, der weiter hinten im Saal sitzt. Er ruft ihm etwas zu, das ich nicht verstehe.

Fredrik ist schmal und ein bisschen größer als ich. Seinen großen, blonden, schräg geschnittenen Pony schiebt er für gewöhnlich zur Seite oder fährt mit den Fingern hindurch. Er lacht oft, ich kann mir vorstellen, wie er als Siebenjähriger auf dem Schulfoto ausgesehen hat. Ungefähr wie jetzt, nur mit Zahnlücke.

Er trägt Jeans oder Chinos, die weit unten auf der Hüfte sitzen, und dazu fast immer ein gemustertes T-Shirt. Er fährt Longboard und hat mich einmal überredet, es auszuprobieren. Er ist nebenher gelaufen, hat meine Hand gehalten und aus vollem Hals gelacht. Als ich ihn gefragt habe warum, hat er gesagt, ich würde wie ein Mädchen quietschen. Er ist süß, cool und sieht gut aus. Und er tanzt gut, das weiß ich aus eigener Erfahrung vom Erstsemester-Fest. Er darf niemals erfahren, was für eine ich wirklich bin.

Neben ihm sitzt eine superheiße, megadünne Brünette. Sie steht auf, fasst ihn an der Hand, und er sieht sie an. Lacht über das, was sie sagt, als sie die Treppe hinauf zum Ausgang gehen. Er hält sich zurück. Vielleicht ahnt er es. Vielleicht weiß er es.

Vielleicht wissen alle, dass mit mir etwas nicht stimmt?

Ich setze mich wieder hin. Wünschte, dass mein Leben anders wäre. Dass ich hineinpasste und genauso wäre wie alle anderen. Dass es in mir keinen Schatten gäbe. Dass ich mich nicht mehr verstecken müsste. Aber nichts in meinem Leben ähnelt dem eines anderen.

Und das ist ihr Fehler.

Ich wünschte, ich könnte mich rächen.

Ich wünschte, sie würde leiden, wie ich leide.

Ich wünschte, sie würde nicht existieren.

Ich wünschte, sie würde sterben.

Stella

BOING, BOING, BOING. Basketbälle prallen gegen Boden und Wände. Dann und wann treffen sie mit einem dröhnenden Knall den Korb. Die Lautstärke ist ohrenbetäubend.

Ich gehe in der Vasalundshalle in Solna die Tribünentreppe hinunter. Den Pappbecher mit kochend heißem Kaffee fest in der Hand. Ich setze mich hin und nicke bekannten Gesichtern zu, widme mich dann aber dem Handy, um nicht mit anderen reden zu müssen. Die ganze Woche über bin ich zur Arbeit gegangen, habe meinen Patienten zugehört, eingekauft, gekocht und gewaschen. Habe das Spiel mitgespielt, dass alles wie immer sei. Aber ich habe an nichts anderes denken können als an Isabelle Karlsson. Ich denke die ganze Zeit an sie. Es hat keine Rolle gespielt, dass Henrik jeden Abend bis spät gearbeitet hat oder dass Milo voll und ganz mit seinen Freunden beschäftigt war.

Markus hat eine SMS geschickt: Abendessen am Mittwoch, klappt das? Mein Bruder verweist auf dich. Ich habe Henriks kleinen Bruder immer gemocht, habe momentan aber überhaupt keine Lust, irgendjemanden zu sehen. Dennoch antworte ich, dass wir uns freuen, endlich seine neue Liebe kennenzulernen. Und selbstverständlich auch ihn und die Kinder zu sehen.

Eine andere Basketballmama, die ich bereits kenne, fragt, ob sie sich setzen kann. Ich rutsche auf der Bank zur Seite und schaue auf das Spielfeld. Milo dribbelt ein Stück weit entfernt. Ich winke, aber er sieht mich nicht. Ich nehme mein Tagebuch aus der Tasche, lege es auf meinen Schoß. Als Teenager habe ich beinahe täglich Tagebuch geschrieben, das hier war das letzte.

Auf vielen Seiten geht es selbstverständlich um Daniel, aber auch um Gedanken, was ich aus meinem Leben machen wollte. Die Gedanken, Pläne und Träume eines Teenagers. Ich wollte Schneiderin werden. Oder Keramikerin. Vielleicht Designerin oder Raumausstatterin. Ich wollte alles machen. Ich wollte ein Tausendsassa sein, kreativ arbeiten, die ganze Welt bereisen, vielleicht ein paar Monate hier und ein paar Monate dort bleiben.

Daniel teilte meine Träume nicht. Er hatte kein Interesse daran zu reisen oder zu büffeln oder neue Sprachen zu lernen. Er wollte in Kungsängen bleiben und später eine Autowerkstatt eröffnen. Er war zufrieden mit seinen Autos, den Straßenrennen und damit, an den Wochenenden mit seinen Kumpels ein paar Biere zu kippen. Wir waren sehr verschieden. Aber ich war verliebt, und wir waren glücklich.

Im Herbst 1992 haben Daniel und ich jede freie Minute miteinander verbracht. Wir sind in seinem roten Impala umhergefahren, haben das Leben genossen und nichts von dem gewusst, was uns erwartete. Und beide wollten wir das Kind behalten. Wir haben sogar von mehreren gesprochen.

Ich habe über die Schwangerschaft geschrieben, über die Erwartung und die Angst. Über die Blicke in unserem Umfeld. Wir waren zwei Teenager, die ein Kind erwarteten, und nicht alle fanden das genauso fantastisch wie wir.

Über die Entbindung, das erste Mal, als ich sie an mich gedrückt habe. Daniel mit Tränen in den Augen und Alice in meinen Armen.

Über die erste Zeit, in der wir den kleinen Menschen kennengelernt haben, der unser Leben auf den Kopf gestellt hatte. Ihren Duft. Ich hätte die ganze Zeit an ihr riechen können. Ihren süßen kleinen Mund. Die Lachgrübchen.

Ich hatte erwartet, mehr zu empfinden, wenn ich das lese. Dass mich jedes Wort ergreifen, Freude und Lachen auslösen würde, oder Kummer und Tränen. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht an alles, was ich geschrieben habe. Es ist, als würde mir ein entfernter Bekannter seine Erinnerungen erzählen.

Doch bis jetzt habe ich mich geweigert, an den Tag ein Jahr später zu denken. Bis jetzt konnte ich die Tür zu diesem Raum verschlossen halten. Ich weiß nicht, ob ich es wage, diesem Schmerz zu begegnen, ob ich es aushalte, die Anschuldigungen zu hören. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin zurückzukehren und mich erneut von der Schuldenlast herunterziehen zu lassen.

Warum warst du nicht da?

Ich zucke zusammen, als der Ball den Korb trifft und der Mann hinter mir aufbrüllt.

Milo tritt den Rückzug an und dribbelt über das Spielfeld.

Als er jünger war, war ich bei jedem Training, jedem Spiel dabei. Sowohl beim Basketball als auch beim Tennis. Obwohl es nicht nötig ist, begleite ich ihn noch immer oft. Er ist dreizehn. Und ich bin hoffnungslos überbeschützend. Er ist mein einziges Kind.

Ich frage mich, wann ich damit aufgehört habe, ihn als mein zweites zu bezeichnen.

Alle beide haben ihre Lachgrübchen von mir. Milo hat meine lockigen Haare und Alice meine grünen Augen. Ansonsten ähneln sie sehr ihren Vätern.

Alice. Daniel.

Milo. Henrik.

Verschiedene Leben.

Kollidieren sie jetzt?

Was wird das mit mir machen? Mit meiner Familie?

Es muss Zufall sein. Es muss Einbildung sein. Mehr als genug Zeit ist mit Hoffen und Glauben vergangen. Mehr Angst und sinnloses Warten halte ich nicht aus. Niemand kann das Geschehene ändern. Die verlorene Zeit bekomme ich niemals zurück.

Als wir die Vasalundshalle verlassen, werfe ich das Tagebuch in einen Papierkorb.

29. Juli 1993

Ich bin Mama geworden!

Alice Maud Johansson wird heute eine Woche alt.

Ich konnte mir nie vorstellen, wie es sich anfühlen würde, jetzt begreife ich es. Mein Leben hat sich komplett verändert.

Dass es möglich ist, für einen anderen Menschen eine so unmittelbare Liebe zu empfinden. Sie ist das Perfekteste, was man sich vorstellen kann. Winzig kleine rundliche Finger und Zehen. Ein kräftiger Schopf, der in alle Richtungen absteht. Sie hat eine angeborene Pelzmütze, meint Daniel. Wie er eine hat. Dicke, schwarze Haare.

Den süßesten kleinen Mund der Welt. Ich glaube, sie hat Lachgrübchen. Besonders auf der linken Seite, wie ich. Ihr rechtes Ohr sieht genauso aus wie die Ohren von Daniel und Maria. Ernsthaft. Das wird vererbt.

Sie ähnelt vor allem ihrem Papa, aber zumindest hat sie meine Augen. Sie ist eine Mischung aus uns beiden. Ich bin noch nie so glücklich gewesen.

Sie ist schutzlos, vollkommen von mir abhängig.

Was für eine Verantwortung.

Es ist noch nicht lange her, dass ich mit den Einkaufstüten in der Hand nach Hause gewatschelt bin und Daniel mich anschließend ausgeschimpft hat. Ich durfte nicht schwer tragen, nicht einmal einen Liter Milch und einen Laib Brot. Er hat sich mit dem Ohr an meinen Bauch gelehnt und gelauscht. Er hat Elvis-Songs gesungen, Teddy Bear und Love me Tender. Er ist verstummt und hatmich mit großen Augen angestarrt, geflüstert, er würde spüren, wie sie sich bewegt. Dann hat er mit den Händen über meinen Bauch gestrichen, unser Baby gesucht, versucht, seine Füße zu erspüren. Das ist erst wenige Wochen her. Es fühlt sich an, als wäre es in einer vollkommen anderen Zeit gewesen.

Die Geburt hat die ganze Nacht gedauert. Es hat wahnsinnig wehgetan und sich angefühlt, als würde sie nie rauskommen. Es war furchtbar, aber gleichzeitig das Heftigste, was ich bisher erlebt habe. Als sie sie auf meine Brust gelegt haben, blaulila und runzelig, mit großen Augen, die direkt in meine sahen, war das der wundervollste Augenblick meines Lebens.

Daniel fand es anstrengend, mich so leiden zu sehen. Ich habe seine Hand so fest gedrückt, dass er geglaubt hat, ohnmächtig zu werden, hat er anschließend gesagt.

Und er ist tatsächlich ohnmächtig geworden. Genau in dem Moment, als Alice geboren wurde. Ist wie eine Kiefer umgefallen und hat sich den Kopf an einem Stuhl gestoßen. Jetzt, im Nachhinein, spricht er nicht gern darüber, aber er musste sogar mit fünf Stichen am Haaransatz genäht werden. Mein Liebling. Mein tapferer Held.

Als er sie das erste Mal in den Armen hielt, hat er geweint.

Ich liebe ihn mehr als je zuvor.

Mama und Helena waren heute da. Auch wenn Mama meint, wir seien viel zu jung, hat sie hier gesessen und wollte Alice kaum hergeben. Helena war richtig steif, sowohl zu mir als auch zu Daniel. Sie kann sich in seiner Nähe noch immer nicht entspannen. Und sie wollte meine Tochter nicht halten. Das hat mich traurig gemacht.

Je mehr Zeit vergeht, desto verschiedener werden wir.

Ich grüble ziemlich viel und bin zuweilen vielleicht ein wenig zu introvertiert. Aber wie soll man weiterkommen, wenn man nicht reflektiert und nachdenkt? Meine Schwester tut die Dinge einfach, sie denkt nicht so viel. Sie stößt sich die Hörner ab, egal, wie es sich anfühlt. Ich bin ungeplant schwanger geworden und weiß nicht so recht, was ich in Zukunft machen soll, sie hat ihr ganzes Leben bis ins kleinste Detail geplant.

Wünschte ich, es wäre anders? Wie könnte ich das tun? Was für ein Mensch wäre ich dann?

Das Leben ist nicht vorhersehbar. Alles kann passieren.

So sehr ich auch grübele, so sehr Helena auch plant. Keine von uns weiß, was kommt. Und das ist wohl der Reiz des Lebens? Ich weiß, dass ich jetzt albern bin. Ein Teenager, der versucht, ein bisschen tiefgründig zu sein und so.

Ich brauche vermutlich Schlaf. Daniel und Alice liegen hier neben mir und schlafen wie Steine. Meine Familie.

Stella

HEUTE IST Mittwoch. Die Zeit ist entsetzlich langsam vergangen.

Ich trinke meinen Kaffee aus, stelle die Tasse in den Geschirrspüler und schlage das Tagebuch auf, das auf dem Küchentisch liegt. Es wegzuwerfen, war idiotisch. Als ob das etwas ändern würde. Als wir auf dem Parkplatz der Vasalundshalle im Auto saßen, habe ich zu Milo gesagt, er solle sitzen bleiben und warten. Ich bin zurückgerannt und habe das Tagebuch aus der Mülltonne gezogen. Es abgewischt und in die Tasche gesteckt.

Darin zu lesen, erweckt alles wieder zum Leben. Ich wusste, dass das passieren würde. Die Schuld, die Angst. Das Wissen, was ich getan habe, dass ich es nie würde ungeschehen machen können. Aber ich habe keine Wahl, ich muss weitermachen. Zwischendurch versuche ich so zu tun, als wäre nichts geschehen. Henrik darf nichts erfahren. Noch nicht.

Ich schließe die Haustür ab und gehe zum Auto, als unser Nachbar ruft und winkt. Johan Lindberg verfügt über die Fähigkeit, fast immer dann draußen zu sein, wenn wir wegfahren oder heimkommen. Er hat kürzlich die Kündigung bekommen, er hat als Finanzberater bei einer bekannten Investmentgesellschaft gearbeitet. Er musste am selben Tag gehen, an dem herausgekommen ist, dass die Penisfotos, die seine Kolleginnen per E-Mail erhalten hatten, von ihm stammten. Aber selbstverständlich ist er weich gelandet. Wie üblich, wenn ein Mann auf diesem Niveau alle Grenzen überschreitet, ist ein Fallschirm ausgelöst worden. Johan Lindberg muss nie wieder arbeiten. Wir nennen ihn den Investor, er sitzt zu Hause und prahlt mit seinem neuen Leben als Daytrader. Er ist anstrengend, aber harmlos, und kann mitunter sogar ein richtig angenehmer Gesprächspartner sein. Heute steht mir jedoch nicht der Sinn nach Plaudereien, ich winke kurz und fahre los.

In der Praxis angekommen, begrüße ich Renate am Empfang. Sie erkundigt sich, wie es mir geht, findet, ich sähe blass aus. Ich erzähle nichts von meinem schlechten Schlaf oder dass ich den Appetit verloren habe. Stattdessen lächle ich und schiebe es auf meine Gene, schließlich bin ich immer blass. Sie lacht. Auch ich lache, sicherheitshalber, und gehe den Flur hinunter zu meinem Sprechzimmer. Ich hänge den Mantel auf und wechsle die Schuhe. Setze mich an den Schreibtisch und hole meinen Kalender sowie mein MacBook Air heraus. Ich blättere den Kalender durch und rufe mir die heutigen Sitzungen ins Gedächtnis. Zwei am Vormittag, dann nach dem Mittagessen die Gruppentherapie und anschließend noch ein Termin.

Es ist neun Tage her, seit ich ihr begegnet bin. Der Frau, die sich Isabelle Karlsson nennt. Neun Tage bis oben hin gefüllt mit Sinnlosigkeit. Neun Tage voll mit erdrückendem Nichts. Ich habe mehr getrunken, als ich es hätte tun sollen. Selbstmedikation versteht sich, was sonst?

Ich mag den Rotwein nicht, auf dessen Kauf Henrik besteht. Ich mag nicht einmal Wein. Er schmeckt bitter, ich kriege Kopfschmerzen davon, und jedes Mal, wenn ich mehr als zwei Gläser trinke, wird mir schlecht. Dennoch habe ich ihn mehrere Abende in Folge in mich hineingeschüttet, um schlafen zu können. Aber nicht einmal das hat geholfen. Obwohl es besser ist als Schlaftabletten. Wenn ich die nehme, ist mein Gehirn am nächsten Tag außer Betrieb. Aber Alkohol ist auch keine Alternative. Je mehr ich trinke, desto höher ist das Risiko für einen Rückfall.

Die Ungewissheit ist unerträglich. Nichts zu wissen, den beständig in mir herumwirbelnden Schwarm aus Gedanken und Fragen nicht zum Schweigen bringen zu können. Mehrfach habe ich zwischen Überzeugung und Zweifel geschwankt. War sicher, dass mein Instinkt sich nicht irrt, war ebenso sicher, dass er sich irrt. Meine Laune ist schlimmer als je zuvor, ich habe keine Geduld.

Isabelle Karlsson. Heute wird sie zum ersten Mal an der Gruppentherapie teilnehmen. Ich erinnere mich nicht, wann ich zum letzten Mal vor einer Therapiesitzung nervös war. Oder Angst hatte, wie jetzt. Vielleicht hat mein Selbstvertrauen als Psychotherapeutin etwas abbekommen. Aber das, was mit Lina Niemi passiert ist, lag nicht an mir. Ich bin gut in dem, was ich tue.

Mein Irrtum bestand darin, dass ich früher hätte einsehen müssen, was falsch gelaufen ist. Ich habe es zu lange versucht, konnte ihr aber nicht helfen. Sie hatte sich in eine Abhängigkeit zu mir begeben, wollte, dass ich ständig für sie da war.

Lina Niemis inszenierter Selbstmordversuch erfolgte, nachdem ich beschlossen hatte, sie an die nächste Instanz zu überweisen. Anfang Mai hat sie eine Handvoll ihrer Antidepressiva genommen und mit Alkohol hinuntergespült. Ihre Mutter hat sie gefunden. Anschließend hat sie wegen Bauchschmerzen eine Nacht im Krankenhaus verbracht, das war alles.

Ihr Leben ist nicht in Gefahr gewesen. Aber Lina zufolge ist sie dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen. Sie hat mich beschuldigt, hat behauptet, dass alles meine Schuld sei, dass ich während unserer Gespräche nicht ausreichend zugehört, mich nicht um ihre Probleme gekümmert, ihren Hilferuf nicht vernommen hätte. Sie hat behauptet, ich hätte mich unprofessionell verhalten und sie in ein destruktives Abhängigkeitsverhältnis zu mir gebracht.

Linas Eltern haben nur auf ihre Tochter gehört. Was vielleicht nachvollziehbar ist. Seither schreibt Linas Mutter Agneta jedoch einen Blog über mich. Ich sei manipulativ, meine Methoden seien zweifelhaft, es würde mir einen Kick versetzen, gebraucht zu werden. Ich werde nicht namentlich genannt, aber in Kungsholmen gibt es nicht viele Psychotherapeuten mit den Initialen SW.

Dennoch hat es mich gewundert, als sie mich kurz vor dem Sommer bei der Aufsichtsbehörde für das Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen angezeigt haben. Das ist mir nahegegangen. Hatte ich im Umgang mit Lina irgendwelche Fehler gemacht? Ich habe mich selbst so oft in Frage gestellt und bin jedes Mal zu der gleichen Antwort gekommen.

Nein, das habe ich nicht.

Allerdings bin ich mir keineswegs sicher, ob meine Kollegen diese Auffassung teilen. Das würde mir selbstverständlich den Rücken freihalten. Mehrfach haben sie mich gefragt, ob es wirklich keinerlei Anzeichen für selbstverletzendes Verhalten gegeben hat. Jedes Mal habe ich versichert, alles in meiner Macht Stehende für Lina Niemi getan zu haben. Sie haben sich gefragt, ob ich eine Pause brauche, und eine Beurlaubung vorgeschlagen. Ich habe ihnen klargemacht, dass das meiner Meinung nach nicht nötig ist.

Ich habe Linas Patientenakte eingeschickt und der Aufsichtsbehörde meine Version des Ganzen dargelegt. Auf eine Entscheidung warte ich noch.

In der momentanen Situation kann ich mir keine weiteren Beschwerden leisten.

Ich muss mich Isabelle gegenüber absolut professionell verhalten. Das Problem ist, dass ich keine Ahnung habe, was sie vorhat. Und das macht mir Angst.

Es klopft an der Tür.

Es ist neun Uhr, und der erste Patient des Tages ist da.

In wenigen Minuten ist es dreizehn Uhr. Meine Angst wächst. Noch eine Panikattacke verkrafte ich nicht. Ich versuche mir einzureden, dass ich ganz ruhig bin. Versuche zu vermeiden, dass die Gefühle die Überhand gewinnen. Versuche, mir zu sagen, dass ich vernünftig sein muss.

Das ist nur ein Hirngespinst, Stella.

Es gibt eine Erklärung dafür.

Alles ist ein Zufall.

Das ist ein Missverständnis.

Sie ist es nicht.

Einatmen. Ausatmen.

Es hilft nicht.

Nichts hilft.

Die Angst schlägt mir auf den Magen, und mein Blickfeld hat sich in einen diffusen Lichtfleck verwandelt.

Ich stürze hinaus auf den Flur und hinein in die Toilette. Vor der Toilettenschüssel gehe ich auf die Knie und übergebe mich. Danach stehe ich auf, klammere mich am Rand des Waschbeckens fest und schließe die Augen. Warte, bis der Schwindel sich legt.

Anschließend spüle ich mir den Mund aus, wische mir die Stirn und den Rest des Gesichts mit einem Papierhandtuch trocken. Studiere mein Spiegelbild. Versuche zu lächeln. Ich verlasse die Toilette und gehe in den Therapieraum.

Neun rote Lehnstühle rund um einen kreisförmigen Teppich. Jemand, vermutlich Renate, hat gelüftet, die Luft im Raum ist frisch. Ich setze mich auf meinen Platz und zwinge mich erneut zu entspannen, zu atmen.

Sonja kommt nach mir in den Raum, unmittelbar bevor die Tür zugemacht wird. Sie lässt sich auf den Stuhl in unmittelbarer Nähe zur Tür fallen. Am Ende der Stunde ist sie die Erste, die geht. Sie hat eine soziale Phobie und ist von allen am längsten Teil der Gruppe. Sie sagt noch immer nichts. Ich begrüße sie, sie erwidert den Gruß mit einer verlegenen Handbewegung.

Mein Rücken ist der einen Fensterfront zugewandt. Links von mir ist eine zweite Wand mit hohen Fenstern, rechts die Tür. Ich sehe auf die Uhr darüber und gleiche die Zeit mit meiner Armbanduhr ab. Ich nehme es sehr genau, immer pünktlich vor Beginn der Sitzung zu erscheinen und sie exakt neunzig Minuten später zu beenden.

Noch zwei Minuten.

Noch keine Isabelle Karlsson.

Clara sitzt schon auf ihrem Platz, ängstlich, wie sie ist, zu spät zu kommen. Sie sitzt links neben mir. Die Ansprüche, die sie an sich selbst stellt, sind enorm. Trotz ihres gut bezahlten Jobs als Projektleiterin bei einem erfolgreichen Medienunternehmen zweifelt sie ständig an ihren Fähigkeiten.

Magnus ist auch da. Er sitzt auf dem Stuhl mir direkt gegenüber, den Blick auf seine verschlissenen Schuhe gerichtet. Er sieht hoch, wischt sich die Stirnhaare aus den Augen, bevor er wieder zu Boden schaut. Chronische Depression.

Isabelle öffnet die Tür.

Die schwarzen, glänzenden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trägt heute helle Jeans, ein schwarzes Top und darüber eine dunkelbraune Lederjacke. Vorsichtig schließt sie die Tür hinter sich und nimmt auf dem Stuhl neben Sonja Platz.

Ich merke, dass ich die Luft angehalten habe, und atme aus.

Ihr Gesichtsausdruck ist unmöglich zu deuten. Ich widerstehe dem Impuls, sie anzustarren. Zu meiner großen Erleichterung bleiben die starken Gefühle wie bei der ersten Begegnung aus. Sie ähnelt Maria, Daniels Schwester, nicht so stark, wie ich zuerst dachte. Davon versuche ich mich zumindest selbst zu überzeugen.

Unsere Blicke begegnen sich. Und ich sehe ein, dass nichts Zufall oder ein bloßes Zusammentreffen ist.

Isabelle ist aus einem Grund hier.

Sie ist hergekommen, um zu sehen, wer ich bin, nicht um eine Therapie zu machen. Ich muss in Erfahrung bringen, worauf sie wirklich aus ist. Muss mehr darüber wissen, was sie will, und warum sie so geheimnisvoll ist. Bevor ich es wage, sie direkt damit zu konfrontieren. Alles wäre so viel einfacher, hätte sie sich entschieden, ehrlich zu sein. Es ist mir unmöglich zu begreifen, warum sie es nicht ist.

Ich will gerade anfangen, als Arvid durch die Tür schlurft. Er setzt sich neben Magnus. Ich werfe ihm einen langen Blick zu und hoffe, er versteht, wie schlimm ich seine Unsitte finde, immer zu spät zu kommen. Er ignoriert mich. Zieht eine Schachtel Läkerol aus der Tasche und stopft sich eine Pastille in den Mund.

Ich ergreife das Wort: Willkommen. Wie ich euch in der vergangenen Woche mitgeteilt habe, haben wir ab heute ein neues Gruppenmitglied, Isabelle.

Kurzes Schweigen. Alle schauen Isabelle an. Sie lächelt, gibt sich schüchtern. Sie macht das gut. Wo hat sie gelernt, sich so überzeugend zu verstellen?

Magnus: Ich finde, Anna hätte nicht aufhören sollen. Sie hatte gerade angefangen voranzukommen.

Clara: Sie musste aufhören, um weiterzukommen, das hat sie doch gesagt. Es geht hierbei wohl mehr um dich, dass dir Veränderungen schwerfallen.

Magnus: Vielleicht. Aber trotzdem.

Schweigen.

Clara: Arvid, wie ist es dir übrigens ergangen? Warst du am Wochenende nicht zu Hause auf einer Familienfeier?

Arvid: Herrgott noch mal. Ich dachte, ich werde verrückt, bis ich da weg bin. Mehrere Tage mit der Familie unter einem Dach, was für ein verfluchter Albtraum. Meine Schwester war seltsam. Wie immer. Vater hat getrunken, meine Mutter hatte es mit den Nerven. Als die Verwandten angerückt sind, haben wir dann glückliche Familie gespielt. Verdammt. Was für ein total bekloppter Fake.

Die Tür geht auf, Pierre kommt herein.

Pierre: Sorry. Hab im Verkehr festgesteckt.

Erneut ein langer Blick meinerseits. Ich bezweifle, dass er es überhaupt registriert. Pierre zieht den Stuhl neben Isabelle nach hinten, setzt sich hin. Sie wirkt befangen.

Ich ergreife das Wort: Willkommen, Pierre. Schön, dass du es einrichten konntest. Wie ich den anderen bereits mitgeteilt habe, ist Isabelle ab heute Teil der Gruppe.

Pierre: Hallo Isabelle. Ich hoffe, du sprichst mehr als gewisse andere hier.

Er sieht Sonja vielsagend an. Isabelle richtet ihren Blick auf den Teppich. Ist sie verärgert?

Pierre: Es ist sinnlos, zur Therapie zu gehen und nie das Maul aufzumachen. Also, warum bist du hier?

Isabelle: Mein Vater ist vor einer Weile gestorben.

Ihre Stimme gerät ins Stocken. Sie räuspert sich, sieht mich an, sieht wieder zu Boden. Sie wirkt aufrichtig traurig. Habe ich sie falsch beurteilt? Oder ist das noch mehr Theater?

Isabelle: Es ging so schnell. Ich habe es nicht geschafft, nach Hause zu fahren. Wir haben uns nicht verabschiedet. Ich wusste nicht einmal, dass er krank war.

Arvid: Nach Hause? Woher kommst du, sprichst du Dialekt?

Isabelle: Ich komme aus Borlänge.

Sie wird rot. Falls sie spielt, dann macht sie das richtig gut.

Isabelle: Ich bin vergangenes Jahr im August zum Studium hierhergezogen.

Ich: Bist du in Dalarna geboren?

Die anderen in der Gruppe reagieren auf meine direkte Frage. Aber ich kann mich nicht beherrschen.

Isabelle: Ich bin in Dänemark geboren. Aber ich habe fast mein ganzes Leben lang in Borlänge gewohnt.

Magnus: Gefällt es dir in Stockholm?

Isabelle: Ich bin dank Papa hier.

Sie lacht, wirkt verlegen. Ich lächle aufmunternd. Weiß nicht, was ich glauben soll. Sieht sie Maria so ähnlich? Ich kann mich irren.

Ich: Es klingt, als hättest du deinem Papa sehr nahegestanden?

Isabelle sieht mich an. Herausfordernd und trotzig. Aggressiv. Sie weiß Bescheid. Darangibt es keinen Zweifel mehr. Sie weiß Bescheid. Aber sieht sie mir an, dass ich verstehe? Sieht sie ein, dass ich weiß, wer sie ist? Und wenn ja, begreift sie, dass ich ihre sorgfältig konstruierte Fassade durchschaue?

Isabelle: Er war alles für mich. Daher war es ein Schock, als ich erfahren habe, dass er nicht mein richtiger Papa war.

Jetzt nähern wir uns. Jetzt kommt es. In ein paar Sekunden werden alle wissen, warum sie wirklich hier ist.

Arvid: Aber du hast es geglaubt? Dass er dein leiblicher Vater war.

Isabelle: Ja. Aber er hat mich adoptiert, als Mama und er sich kennengelernt haben. Ich weiß nicht, wer mein richtiger Vater ist.

Adoptiert?

Hat sie das bei unserer ersten Begegnung erzählt? Ich erinnere mich nicht. Wer ist die Frau, die sie Mama nennt? Ist es ihre Mutter? Ihre leibliche Mutter?

Das Gespräch nimmt seinen Lauf, aber ich kann mich überhaupt nicht darauf konzentrieren, was die Gruppenmitglieder sagen. Steht die Zeit still? Oder vergeht sie schneller als je zuvor?

»Stella? Auf Wiedersehen?«

Ich zucke zusammen, begegne Pierres höhnischem Blick und schaue zur Wanduhr. 14:33. Meine Armbanduhr zeigt die gleiche Zeit an. Unsicher, ob meine Stimme standhalten wird, nicke ich nur und stehe auf.

Mir ist bewusst, wie merkwürdig ich mich benehme. Ich habe die Zeit vergessen, ich war abwesend und habe Isabelle direkte Fragen gestellt, scheinbar ohne jeden Anlass. Für gewöhnlich ergreife ich das Wort nur, wenn das Gespräch ins Stocken gerät, mitunter, um jemandem zu helfen, in seinem Gedankengang voranzukommen. Jedoch nicht so. Nicht auf diese plumpe Art und Weise.

Sonja ist als Erste aus der Tür, die anderen folgen ihr. Für gewöhnlich verlasse auch ich umgehend den Raum. Jetzt stehe ich noch immer hier, bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Ich spüre, dass mein Atem stinkt. Ich schwitze unter den Achseln, hoffe, dass man es nicht sieht.

Ich kann den Blick nicht von Isabelle abwenden.

Sie hebt ihre Tasche auf und wirft den Kopf in den Nacken, als sie sie über die Schulter hängt. Sie dreht sich um, und der Pferdeschwanz gleitet zur Seite.

Ihr rechtes Ohr ist spitz und etwas länger als das linke.

Es gibt nur zwei Menschen auf der Welt mit einem solchen Ohr.

Ihr rechtes Ohr sieht genauso aus wie die von Daniel und Maria.