Die Insassin - Elisabeth Norebäck - E-Book
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Die Insassin E-Book

Elisabeth Norebäck

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Beschreibung

Die unschuldige Mörderin

Seit mehreren Jahren sitzt Linda Andersson im Gefängnis, die Anklage lautet: Mord. Sie soll ihren Mann Simon erstochen haben. Alle Indizien sprechen gegen Linda: Ihre Ehe mit Simon war am Ende, und sie wurde von der Polizei mit blutdurchtränkten Kleidern im selben Raum wie die Leiche ihres Mannes angetroffen. Linda ist davon überzeugt, unschuldig zu sein. Nur: Sie kann sich an nichts erinnern. Wie soll sie herausfinden, was sich in der Mordnacht wirklich ereignet hat? Dafür müsste sie erst aus dem Gefängnis ausbrechen. Und was, wenn die Wahrheit noch viel grausamer ist, als sie bisher dachte?

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Seitenzahl: 356

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Das Buch

Nach einer Weile döste ich ein, und danach war ich sicher, dass man mich unter Drogen gesetzt hatte. Ich habe keine andere Erklärung dafür, wie ich aufwachen und eine Anwesenheit spüren konnte, neben mir tiefe Atemzüge hörte, aber trotzdem nicht in der Lage war, mich zu rühren. Und es war nicht Simon, ihn kannte ich in- und auswendig. Es war jemand anderer. Es war unangenehm, und ich bekam Angst. Selbstverständlich kann meine Erinnerung falsch sein, schließlich hatte ich einiges getrunken. Ich sah überhaupt nichts. Die Gardinen waren zugezogen, im Zimmer war es pechschwarz. Da waren nur diese Atemzüge. Das sei sehr merkwürdig, fand Kriminalinspektor Tony Bodin. War er wohlwollend, betrachtete er meine Erlebnisse als Einbildung, vielleicht als Fantasien einer Betrunkenen. Am häufigsten gab er mir jedoch zu verstehen, dass er sie als Lügen ansah. Aber ich weiß, was wahr ist. Ich habe die Anwesenheit einer anderen Person gespürt.

Die Autorin

Elisabeth Norebäck liest eine Menge Krimis und liebt Thriller-Serien im TV über alles. Ihr Debütroman »Das Schweigemädchen« erschien in 35 Ländern und machte sie international berühmt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Stockholm.

ELISABETH NOREBÄCK

DIE

INSASSIN

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Daniela Stilzebach

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Nadia erschien erstmals 2020 bei Bokförlaget Polaris, Stockholm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2023

Copyright © 2020 by Elisabeth Norebäck

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanne Hammer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,

unter Verwendung von Shutterstock.com

(SwedishStockPhotos, Schankz, BEMPhoto31)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-22579-7V001

www.heyne.de

Für Schwestern, die immer da sind

Für Sara und Marie

1

Eine fremde Landschaft, in Dunkelheit ruhend. Der Nachthimmel, ausgelöscht und stumm. Weit entfernt ist ein schwach leuchtendes Licht zu erkennen, das an Stärke zunimmt.

Eine unbekannte Stimme kommt immer näher, bis sie direkt neben mir ist. Sie sagt meinen Namen, sagt, ich müsse aufwachen. Ich höre sie, aber ich kann nicht antworten.

Die Stimme bekommt Gesellschaft von einer weiteren. Auf der anderen Seite des Horizonts sprechen zwei Frauen im Flüsterton über mich. Die neue Stimme fragt die Frau, die versucht hat mich zu wecken, ob sie keine Angst habe.

»Sie hat gerade eine große Operation hinter sich, zudem ist sie am Bett angekettet. Momentan ist sie vermutlich nicht besonders gefährlich.«

»Weißt du, wer sie ist? Weißt du, was sie getan hat?«

»Alle wissen, wer sie ist und was sie getan hat.«

»Ich möchte nicht mit ihr alleine sein.«

»Schluss jetzt. Sie kann uns vielleicht hören.«

So reden alle über mich. Als wäre ich ein Monster in einem gruseligen Märchen. Die Geschichte meines Lebens. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe zu verstehen, wie es so weit gekommen ist.

Ist es ein kurzer Augenblick, der das Leben für immer verändert? Oder ist es das Ergebnis einer langen Reihe von Ereignissen, eine Mischung aus Entscheidungen, die wir treffen, und reinen Zufällen? Vielleicht entscheidet allein der Zufall über unsere Zukunft, unser Glück oder Unglück.

Die Frau fragt noch einmal, ob ich wach bin. Aber ich bin still und leise, lasse die Dunkelheit mich näher zu sich heranziehen. Ich will nicht aufwachen. Sollte es ein unwiderrufliches Schicksal geben, das auf jeden Einzelnen von uns wartet, dann ist es besser, wenn ich hierbleibe und nie wieder das Tageslicht erblicke.

Hände schütteln mich, und die Stimme, die meinen Namen wiederholt, ist zurück. Vielleicht ist eine Stunde vergangen, vielleicht sind es mehrere. Vielleicht habe ich mehrere Tage im Grenzland zwischen Leben und Tod geschwebt, bevor ich jetzt zur Rückkehr gezwungen werde.

Es tut fürchterlich weh. Das Licht der Leuchtstoffröhre an der Decke sticht mir in den Augen, die Luft im Zimmer liegt kalt und trocken auf meiner Haut, alle Geräusche drängen sich auf wie Insekten, die versuchen, durch meine Ohren in mich einzudringen.

Das freundliche Gesicht über mir gehört einer schwarzen Frau mit langen, geflochtenen Haaren. Sie erklärt mir, dass ich mich im Krankenhaus befinde.

»Sie wurden gestern operiert. Es ist ein Wunder, dass Sie mit dem Leben davongekommen sind. Aber jetzt sind Sie stabil.«

Irgendetwas stimmt nicht mit meinen Augen, stimmt nicht mit meinen Ohren. Die Lippen der Frau bewegen sich, die Worte jedoch, die sie ausspricht, erreichen mich erst später. Alles, was sie sagt, hinkt hinterher, so als würde ich das Echo ihrer Stimme vernehmen. Zudem hat sie zwei Gesichter. Zwei Köpfe, die zusammenfließen und wieder auseinandergleiten. Ich frage mich, ob ich einen Hirnschaden davongetragen habe.

Sie fragt, ob ich Durst habe und schaut auf einen Punkt neben mir. Mühsam drehe ich den Kopf und sehe auf dem Tisch neben dem Bett zwei weiße Plastikbecher. Sie verschmelzen zu einem, gleiten auseinander und verschmelzen dann wieder miteinander.

Die Frau zeigt auf ihr Namensschild und sagt, sie heiße Helen. Sie verschwindet aus meinem Blickfeld, und ich höre Wasser laufen, dann kommt sie zurück und hält mir den Becher hin. Aber meine Handgelenke sind mit Handschellen am Bettrahmen fixiert, ebenso mein rechter Fuß. Sie führt den Becher an meine Lippen und hebt meinen Kopf ein Stück an, sodass ich trinken kann. Ich murmele ein Dankeschön und sinke aufs Kissen zurück.

Der Apparat auf der anderen Seite des Bettes blinkt und piept und verwandelt eine grüne, leuchtende Linie in eine vorbeieilende Kurve mit Bergen und Tälern. Ich habe Elektroden auf der Brust, die mit der Maschine verbunden sind. Daneben steht ein Tropf, und in meinen beiden Armbeugen stecken Kanülen. Mein linkes Bein ist mit einem großen Verband bedeckt, ein weiterer ist um meine Taille gewickelt, und ich spüre, dass ich eine Bandage um den Kopf habe, die mein linkes Auge verdeckt.

Helen kontrolliert den Schlauch an meinem Arm, sie schaut auf die Maschine und notiert etwas auf einem Block. Dann sieht sie mich an und fragt, wie ich mich fühle, und ich antworte, dass ich es nicht weiß. Sie bittet mich, ihr meinen Namen und meine Personennummer mitzuteilen.

»Sie wissen, wer ich bin«, entgegne ich heiser. »Sie haben meinen Namen bereits genannt. Mehrfach. Und er steht bestimmt auch auf dem Plastikband um mein Handgelenk.«

»Das ist Routine«, erklärt sie. »Name und Personennummer.«

Flüsternd teile ich ihr meinen Namen und die Zahlen mit, woraufhin sie meint, das hätte ich gut gemacht.

»Sie sind im Universitätskrankenhaus in Örebro. Wissen Sie warum?«

Ich schaue sie an, ohne etwas zu sagen. Sie legt den Kopf schräg und wartet auf eine Antwort.

»Erinnern Sie sich an etwas von dem, was geschehen ist?«, fragt sie.

Ich schließe die Augen.

Die spitze Eisenstange fährt durch die Luft und trifft meinen Kopf. Wie ein Pflug bewegt sie sich nach unten über die linke Augenbraue und weiter über die Wange. Ich spüre, wie mir warmes Blut über das Gesicht läuft. Ich schreie und wehre mich gegen den nächsten Hieb.

»Ja«, entgegne ich, den Blick auf Helen gerichtet. »Ich erinnere mich.«

Und das lässt mich an ein anderes Ereignis denken. Aber ich will mich nicht daran erinnern, ich vermag nicht darüber nachzusinnen, ob er dieselbe Todesangst empfunden hat wie ich. Denn ich habe es geschafft, während er nicht mehr da ist.

»Atmen«, sagt die Krankenschwester, und ich ahme ihre Atemzüge nach, bis sie mir nicht mehr im Hals stecken bleiben. Sie betrachtet mich eingehend und ich sehe, dass sie im Begriff ist, weitere Fragen zu stellen, es sich jedoch anders überlegt. Ein Polizist kommt ins Zimmer und weist irritiert darauf hin, dass er darüber hätte informiert werden müssen, dass ich wach bin. Helens Antwort bekomme ich nicht mit. Aber ich sehe, wie der Mann mich anstarrt, ich sehe, welche Gedanken sein ausdrucksloses Gesicht zu verbergen versucht. Es wäre besser gewesen, wenn ich nicht zurückgekommen wäre.

Und ich stimme ihm zu. Auch ich bin enttäuscht weiterleben zu müssen.

»Wollen Sie mich verhören?«, bringe ich heraus.

»Ich bin hier, um Sie zu bewachen«, sagt er.

»Das können Sie vom Flur aus tun«, entgegnet Helen und dreht dem Mann den Rücken zu. »Der Blutdruck ist noch immer zu niedrig, ebenso der Eisenwert. Wenn Sie auf einer Skala von eins bis zehn angeben sollten, wie stark Ihre Schmerzen sind, was würden Sie dann sagen?«

»Sechsundsiebzig«, flüstere ich und versuche zu lächeln. Helen erwidert das Lächeln und sagt, ich würde mehr Schmerzstiller bekommen. Sie dreht an der einen Kanüle, und bald darauf breitet sich in meinem gesamten Körper eine herrliche Gelassenheit aus. Sie sagt, ich solle mich eine Weile ausruhen und scheucht den Polizisten entschieden aus dem Zimmer.

Das Morphin wirkt schnell. Als die Schmerzen nachlassen, entspannt sich mein verletzter Körper. Ich schließe die Augen, um in der Zeit zurückzureisen.

Vor sechs Jahren war ich ein anderer Mensch. Ich glaubte, dass mein Leben völlig anders verlaufen würde. Aber das ist lange her. Das war, bevor ich in das schlimmste Frauengefängnis Schwedens kam, lange bevor eine andere Insassin versucht hat, mir mit einer spitzen Eisenstange das Leben zu nehmen. Als ich dumm genug war zu glauben, dass es sich nur um ein fürchterliches Missverständnis handelte, als die Polizei mich festnahm. Als ich noch immer glaubte, alles würde sich aufklären.

*

Ich weiß nicht, wie lange ich schon im Streifenwagen sitze und darauf warte, dass mir jemand erklärt, was passiert ist. Ich durfte mich nicht umziehen und bin unter dem Morgenrock noch immer nackt. Meine Arme jucken von dem eingetrockneten Blut, ich habe nicht alles abbekommen. Und mittlerweile ist es zu spät. Meine Hände sind mit Handschellen hinter meinem Rücken gefesselt.

Ich versuche, mich ruhig zu verhalten. Versuche, weiterhin mit ruhiger Stimme zu sprechen, wenn ich zum wiederholten Male frage, warum ich auf der Rückbank eines Streifenwagens sitze. Keine Antwort.

Ein Stück weiter entfernt stehen meine Freunde vor dem Sommerhaus versammelt und werfen Blicke in meine Richtung. Blicke, die anklagend sind, aber auch ängstlich, die zeigen, dass sie, ebenso wie ich, nicht verstehen. Einige von ihnen weinen, und ich sehe eine Polizistin, die mit ihnen sprichtund etwas auf einen Notizblock schreibt. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen.

Mehrere Polizisten sind vor Ort, auf dem Hof parken zwei Polizeiautos. Ein groß gewachsener Mann steht vor der Autotür, breitbeinig und mit einer Hand am Holster, bereit, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Beim Gästehaus ganzunten im Garten hängt blau-weißes Absperrband, das im kühlen Morgenwind flattert. Ich versuche, die sich aufdrängenden Gedanken wegzuschieben, aber meinen Blick zieht es immer wieder zum Gästehaus und dem Schlafzimmer darin.

Die Polizistin lässt meine Freunde stehen und kommt zum Auto, meine Handtasche fest umklammert. Sie übergibt sie ihrer Kollegin, bevor sie auf meiner Seite die Tür öffnet. Ich will aussteigen, doch sie legt eine Hand auf meine Schulter und hindert mich daran.

»Linda Andersson, Sie sind festgenommen und begleiten uns aufs Revier.«

»Sie sind verpflichtet, mir mitzuteilen, warum«, sage ich. »Sagen Sie mir, was hier vor sich geht. Warum werde ich so behandelt?«

Sie setzt eine ungeduldige Miene auf, beugt sich über mich und befestigt den Sicherheitsgurt. Dann sagt sie, wir würden später darüber sprechen.

Ich habe mich allem gefügt. Genau gemacht, was sie gesagt haben, ihre Befehle befolgt. Als sie mich angebrüllt haben, mit den Händen über dem Kopf aus dem Gästehaus zu kommen, habe ich es getan. Als sie mir befohlen haben, mich bäuchlings auf den Boden zu legen und die Hände im Nacken zu verschränken, habe ich, ohne zu protestieren, auch das getan. Jetzt aber reißt mir der Geduldsfaden. In einem verzweifelten Versuch mich zu befreien, trete ich um mich und werfe den Körper hin und her. Ich rufe nach Alex, schreie nach Mikaela, flehe sie an, mir zu helfen.

Aber sie antworten nicht einmal. Sie stehen da, die Arme umeinander geschlungen und sehen mich an, als wüssten sie nicht mehr, wer ich bin. Weinend flehe ich sie an, den Polizisten zu sagen, dass ich nichts Falsches getan habe. Mikaela wendet sich ab, und Alex blickt in eine andere Richtung.

Die Autotür wird geschlossen und der Motor gestartet. Wir rollen auf den Kiesweg hinaus und lassen das Sommerhaus hinter uns. Ich presse das Gesicht gegen die Scheibe und sehe meine Freunde verschwinden. Meinen Freund und meine Schwester.

Einsam werde ich abgeführt, ohne zu wissen, was man mir vorwirft, und obwohl ich wach bin, befinde ich mich in einem Albtraum, in dem sich alle gegen mich verschworen haben.

2

Bisweilen ein dunkler Nebel aus dumpf pochendem Schmerz, gefolgt von einem halb bewusstlosen Dämmerschlaf, wenn die Wirkung des Morphins einsetzt. Als ich das nächste Mal aufwache, sind Schwester Helen und ein Pfleger bei mir. Der Polizist sitzt an der Tür. Die Elektroden auf meinem Brustkorb sind verschwunden, die Maschine neben dem Bett schweigt und hat aufgehört zu blinken. Ich erkundige mich, ob das gut oder schlecht ist. Helen zufolge befinde ich mich auf dem Weg der Besserung, die verantwortliche Ärztin wird später kommen, um alles mit mir durchzugehen. Der Krankenpfleger hat ein in Plastik verpacktes Butterbrot und einen Tetrapack Apfelsaft dabei.

»Es wäre gut, wenn Sie versuchen, etwas zu essen«, sagt er. Er entfernt das Plastik und reicht mir das Brot. Steckt einen Trinkhalm in die Saftbox. Aber das Brot schmeckt holzig, und der Saft ist voller Chemikalien. Ich bitte stattdessen um kaltes Wasser.

»Ich möchte gern, dass Sie zur Toilette gehen«, sagt Helen, nachdem sie mir geholfen hat, ein paar Schlucke zu trinken. »Denken Sie, dass Sie das schaffen?«

Der Polizist schließt die Handschellen auf. Aus dem Bett herauszukommen und das kurze Stück zur Toilette zu schlurfen, ist ein beinahe aussichtsloses Unterfangen, obwohl Helen und der Pfleger mir helfen. Der ganze Körper pocht vor Schmerzen, mich auf mein linkes Bein zu stützen, wage ich nicht und darf es auch nicht. Der Polizist überwacht mich ganz genau, folgt jedem meiner langsamen Schritte.

»Sie dürfen die Tür nicht zumachen«, sagt er, als ich mich schließlich ins Bad geschleppt habe. »Ich muss aufpassen, dass Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.«

Helen protestiert, aber ich weiß, dass es keinen Zweck hat. Ich weiß, wie es in solchen Situationen läuft. Ich sinke auf die Klobrille, verrichte mein Geschäft und wische mich vor ihnen ab, dann bekomme ich Hilfe, um aufzustehen. Helen hält mich fest, während ich mir die Hände wasche. Ich betrachte die Frau, die ich im Spiegel über dem Waschbecken sehe. Eine blasse Gestalt mit einem Verband um den Kopf glotzt mich mit gleichgültigem Blick an. Auf der linken Seite lugen unter dem Verband kurze Haarbüschel hervor; sie sind noch übrig von den langen blonden Haaren, die sie einst hatte. Ich erkenne mich kaum wieder.

»Sie mussten es tun«, sagt Helen, die im Spiegel meinem Blick begegnet. »Um die Wunde oben auf dem Kopf zu nähen.«

Die fremde Frau, zu der ich geworden bin, sieht mich an. Besser du gewöhnst dich an den Anblick, scheint sie zu sagen. Ich bin gekommen, um zu bleiben, und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.

Noch bevor ich wieder am Bett bin, ist mein kompletter Körper schweißnass. Das letzte Stück hänge ich wie ein Sack zwischen Helen und dem Krankenpfleger, und sie müssen mich hineinheben.

Später kommt die Ärztin. Sie stellt sich vor, aber ich vergesse ihren Namen sofort wieder. Sie erklärt mir, dass die Eisenstange schwere Verletzungen verursacht hat. Sie hat mich auch am Kopf und im Gesicht getroffen, allerdings sind die Verletzungen an der linken Körperhälfte die schlimmsten. Die Wunde beginnt direkt unter der Brust, verläuft über die Taille und weiter den Oberschenkel hinunter. Die Operation war umfangreich. Sie will mich darauf vorbereiten, was mich erwartet, wenn der Verband nach und nach abgenommen wird. Leider werde ich dauerhafte Narben behalten, sowohl am Körper als auch im Gesicht. Sie sagt, dass ich sehr viel Blut verloren habe, dass ich es beinahe nicht geschafft hätte. Ich hätte Glück gehabt, dass ich gefunden wurde, bevor ich verblutet bin.

»Sie müssen noch eine Weile hierbleiben, aber Sie sind bald wieder auf den Beinen«, sagt sie und klopft mir auf die Schulter. »Sie werden Ihr Leben wie gewohnt leben können.«

Wie gewohnt.

Das ist so dumm, dass ich mir nicht die Mühe mache, darauf zu antworten.

Ein paar Tage später bekomme ich Besuch von einem Kriminalkommissar aus Örebro. Er setzt sich auf einen Hocker neben das Bett und bittet mich zu erzählen, was im Gefängnis passiert ist.

Ich erzähle ihm, dass der Tag wie jeder andere Donnerstag begann. Die Gefängniswärter schlossen unsere Zellen auf, und wir haben gefrühstückt, bevor wir zum Arbeiten in die Fabrik von Biskopsberg geführt wurden. Nach der Pause am Vormittag sagte mir der Betriebsleiter, ich solle einige Kartons aus dem Lager holen, woraufhin ich mit einem der Gefängniswärter im Fahrstuhl dorthin gefahren bin. Ich nahm die Karre, die an der Wand neben dem Eingang lehnte und ging dann alleine weiter. Das Lager ist genauso groß wie der Raum darüber, in dem wir arbeiten, und die Kartons, die ich holen sollte, standen im hintersten Regal. Als ich mit Aufladen fertig war, hörte ich auf der anderen Seite Schritte. Es war noch jemand dort unten, doch als ich fragte, wer da ist, hielten die Schritte inne. Mit lauter Stimme fragte ich, wer dort herumschleicht und dachte daran, den Gefängniswärter zu rufen, als Anne, eine andere Insassin, um die Ecke kam. Sie sah mich an. Ich fragte, was sie dort zu suchen hatte, aber sie antwortete nicht. Starrte mich nur wütend an. Der Gefängniswärter war nirgendwo zu sehen, und als ich versuchte, an Anne vorbeizugehen, entdeckte ich, dass sie ein langes Eisenstück in den Händen hielt. Sie hob es hoch, und mir gelang es nicht zu entkommen, bevor es auf meinem Kopf landete. Sie hob die Stange wieder hoch, um erneut zuzuschlagen. Ich schrie sie an, wankte nach hinten, und in dem Moment, als die Waffe mich ein zweites Mal traf, stolperte ich über die Deichsel der Karre. Wahrscheinlich habe ich deshalb überlebt.

»Und was war der Anlass dafür, dass sie Sie attackiert hat?«, fragt der Kommissar. »Warum war sie Ihnen gegenüber so feindlich gesinnt?«

Ich erkläre ihm, dass Anne besessen von mir war, und dass sie mich nie in Ruhe gelassen hat. Nachdem ich ihr zu verstehen gegeben hatte, dass ich nichts mit ihr zu tun haben wollte, verabscheute sie mich.

»Nun verhält es sich so, dass diese Frau angibt, sie habe aus Notwehr gehandelt«, sagt er. »Dass Sie sie bedroht hätten, und dass Sie zu einem früheren Zeitpunkt bereits versucht hätten, sie zu erwürgen. Was sagen Sie dazu?«

»Ich bin diejenige, die hier liegt, oder etwa nicht?«, erkläre ich ihm. »Nicht sie wurde beinahe in der Mitte gespalten und wird am ganzen Körper Narben zurückbehalten.«

Der Gesichtsausdruck des Kommissars macht unmissverständlich klar, was er denkt, und es sollte mich nicht erstaunen. Es ist bedeutend leichter, einer Frau zu glauben, die wegen Diebstahls verurteilt wurde, als einer, die eine lebenslange Strafe wegen Mordes verbüßt. Mir wurde schon früher misstraut, und ich weiß, dass meine Version nichts wert ist. Nachdem der Kommissar gegangen ist, kommt in mir der Gedanke auf, dass ich das hier vielleicht verdient habe.

Es ist September, und es ist fast genau sechs Jahre her, dass ich meinen Mann getötet habe.

3

Nur wenigen Krankenhausangestellten ist es erlaubt, bei mir im Zimmer zu sein. Helen und einige andere wechseln sich über den Tag hinweg ab, immer in Begleitung eines uniformierten Polizisten, aber ab und an sehe ich, wie andere vom Personal durch die Scheibe in der Tür hineinschauen. Hier wissen alle, wer die Patientin aus der Haftanstalt Biskopsberg ist. Es steht bestimmt landesweit in jeder Zeitung. Durch Mama war mein Name bereits bekannt, bevor ich wegen Mordes verurteilt wurde.

Jetzt werden die Gerüchte wieder Fahrt aufnehmen. In den Kaffeeküchen der Büros werden die Leute reden und spekulieren. Zu Hause im Wohnzimmer vor dem Fernseher, wenn der Nachrichtensprecher ein weiteres Mal die Geschichte von dem wohlerzogenen Promikind erzählt, das zur Mörderin wurde. Es wird nie aufhören.

Ich will nicht daran denken. Ich will nicht an all das erinnert werden, was ich verloren habe. Ich würde es vorziehen, eingebettet in einer Morphinwolke dazuliegen und mir der Blicke, des Klatsches und des Geflüsters nicht bewusst zu sein. Des entsetzten Entzückens, wie schlecht es für das Sonnenscheinmädchen gelaufen ist. Die Schmerzen von der Wunde, die durch meinen Körper jagen, das Spannungsgefühl rund um die Nähte an Stirn und Wange sowie der Umstand, dass ich mich nicht bewegen kann, weil ich die ganze Zeit über angekettet bin, reichen vollkommen. Als ob ich in diesem Zustand fliehen könnte. Ich habe den Polizisten gefragt, was ich seiner Meinung nach ohne Handschellen anstellen könnte, ob er Angst hat, ich könnte gefährlich werden. Das hat genügt, dass der Krankenpfleger fluchtartig das Zimmer verlassen hat. Die verrückte, zu lebenslanger Haft verurteilte Mörderin sorgt allein durch ihre bloße Existenz für Angst und Schrecken.

Daraufhin hat er eine Kette zwischen Handschellen und Bettrahmen angebracht, sodass ich jetzt wenigstens allein essen kann. Allerdings achten alle sorgfältig darauf, keine Gegenstände auf dem Tisch liegen zu lassen, und wenn sie das Tablett wegräumen, kontrollieren sie das Besteck.

Die Ärztin kommt, um sich meine Verletzungen anzusehen, und als sie den Verband abmacht, zwinge ich mich hinzuschauen. Quer über den kompletten linken Oberschenkel und weiter hinauf über die Seite des Bauches verläuft ein gezackter Riss. Große Klammern sitzen über der Wunde, so als hätten sie mich mit einem gigantischen Tacker zusammengeheftet. Die Haut ist grotesk geschwollen und verfärbt.

Der Verband um den Kopf wird abgewickelt, die Fäden am Haaransatz und im Gesicht sollen gezogen werden. Ich frage die Ärztin, wie es ihrer Meinung nach aussieht, woraufhin sie den Mund öffnet, um zu antworten, ihn jedoch ohne ein Wort zu verlieren wieder schließt. Sie wirft Helen einen langen Blick zu, und sie ist es, die einen Handspiegel holt und ihn mir reicht. Ich betrachte die Wunde, die oberhalb des Haaransatzes beginnt, hinunter durch die linke Augenbraue und dann in einem Bogen rund um das Auge zum Ohr hin verläuft. Die Nuancen der Haut variieren zwischen dunkelrot und blau. Die Wundränder liegen nebeneinander, sind aber noch immer geschwollen und hässlich. Mein Gesicht ist vollkommen entstellt.

Mit den Fingern fahre ich vorsichtig über die Fäden. Eine makabere Handarbeit mit blauen groben Knoten. Ich murmele, dass ich in einem Horrorfilm mitspielen könnte.

»Das Positive ist, dass Ihnen Ihr Sehvermögen erhalten geblieben ist«, sagt die Ärztin.

Mit einem bedauernden Gesichtsausdruck nimmt Helen den Spiegel entgegen. Ich versuche sie anzulächeln, aber mein Grinsen lässt sie den Blick senken.

Nachdem die Fäden gezogen sind, fixiert die Ärztin die Wunde mit weißem Tape. Den Verband brauche ich nicht mehr. Auf der linken Seite stehen die unregelmäßig abgeschnittenen Haarsträhnen ab, während der Bereich um das Tape am Haaransatz komplett kahl ist.

»Sie müssen mir helfen, Helen«, flüstere ich, als die Ärztin gegangen ist. »Sehen Sie nur, wie ich aussehe.«

»Wobei benötigen Sie Hilfe?«, fragt der Polizist, so als würden wir einen Befreiungsversuch planen. Weder Helen noch ich kümmern uns um ihn.

»Das hier muss weg«, sage ich und ziehe an den kurzen Haarbüscheln. »Das kann so nicht bleiben. Das sieht aus, als hätte mich ein Rasenmäher überfahren.«

»Das bekommen wir hin«, sagt sie mit erzwungen heiterer Stimme. »Versuchen Sie jetzt, sich auszuruhen. Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen.«

Nachdem sie gegangen ist, schaue ich hinauf an die Decke. Helen hat recht, ich muss mich ausruhen und durch den Schlaf allem entfliehen. Aber das ist unmöglich. Die Gedanken kriechen wie Leichenwürmer in mir herum. Sie stürmen aus allen Richtungen auf mich ein, und ich kann ihnen nicht entkommen.

Ich zwinge mich, direkt in die Leuchtstoffröhre zu starren, an das Gesicht im Spiegel zu denken. Ich sehe aus wie eine lebende Tote. Ich fühle mich wie eine lebende Tote, dieser Körper hier gehört nicht mir. Er gehört jemandem, der kaum noch ein Mensch ist, er ist ein zerfetzter Kadaver. Aber so einer hat keine Gefühle, und die Tränen, die meine Wangen hinunterlaufen, werden von dem starken Licht verursacht, das meine Augen brennen und tränen lässt. Das rede ich mir zumindest ein.

Bei ihrer nächsten Schicht hat Helen einen Rasierapparat dabei. Ich sitze auf einem Stuhl mitten im Zimmer, die Hände vor mir gefesselt, ein Handtuch um die Schultern. Sie fragt, wie viel sie wegnehmen soll, und ich antworte: »Rasieren Sie alles ab.«

Der Rasierapparat summt giftig, und mit jeder Strähne, die fällt, habe ich das Gefühl, Kontrolle über die hässliche, erschreckende Frau zu gewinnen, die sich mir im Spiegel zeigt. Ihr würde es sicher gefallen, wenn ich durchdrehe, während meine Haare abrasiert werden. Meine blonden Haare, die ich immer so geliebt und so sorgsam gepflegt habe. Sie rechnet nicht damit, dass ich fest entschlossen bin zu beweisen, dass es mich nicht mehr kümmert. Dass ich die Herausforderung annehme, ohne weitere Tränen darüber zu vergießen, wer ich geworden bin.

Anschließend lässt mich Helen das Ergebnis im Handspiegel begutachten.

»Wie fühlt es sich an?«, fragt sie. »Ich hoffe, Sie bereuen es nicht.«

Ich könnte sagen, dass Reue nichts ändert, dass sie niemals etwas ungeschehen machen kann, aber ich halte den Mund.

Helen hat ihre geflochtenen Zöpfe gelöst, und ich bewundere ihre schwarzen, glänzenden Locken, die ihr über die Schultern fallen.

»Meine Haare waren auch einmal schön«, sage ich und erkläre, dass sie so trocken geworden sind wegen dem billigen Shampoo, das wir im Gefängnis haben. Helen sagt, es sei wichtig, die richtigen Produkte zu verwenden, und in diesem Moment sind wir zwei ganz gewöhnliche Frauen, die einen ganz gewöhnlichen Augenblick im Leben teilen. Dann frage ich sie, was sie eigentlich von meinem neuen Aussehen hält.

»Sie sind sehr hübsch, Linda«, lügt sie. »Das ist doch richtig gut geworden.«

Es stört mich nicht, dass sie es nicht ernst meint. Ich weiß, dass ich jetzt so aussehe wie das Monster, für das mich alle halten.

*

»Linda, schau her!«

»Kommen Sie, Linda, schenken Sie uns ein Lächeln.«

Meine langen Haare liegen perfekt, dafür hat die Stylistin gesorgt, die ich bei solchen Anlässen zurate ziehe. Ich trage ein teures Designerkleid und bin bereit, zusammen mit meinem Mann die Grammisgala zu besuchen. Ich drehe mich auf dem roten Teppich und lächle mein breitestes Lächeln, genau wie Mama es ein Leben lang getan hat. Die Kameras blitzen, und ich lächle immer weiter, lächle. Simon richtet sein Jackett. Ich lege den Arm um seine Taille, um für ein weiteres Foto zu posieren. Er zieht mich näher zu sich heran. Er ist für zwei Preise nominiert, und niemand ist stolzer als ich. Wir strahlen zusammen. Wir strahlen vor Glück und Erfolg.

»Kommt Kathy?«, ruft ein Journalist.

»Wo ist sie?«, ist von einem anderen zu vernehmen. »Ist sie krank, was ist passiert?«

In der nächsten Sekunde ruft es aus allen Richtungen, und als Antwort auf die Fragen nach Mama lächle ich nur noch mehr. Mit keiner Miene gebe ich preis, was ich fühle. Unter einem Schauer aus Kamerablitzen, vorbei an einer Wand aus Gemurmel und Geflüster, schlendere ich den roten Teppich entlang, mit Simons Hand in meiner.

4

Nach knapp zwei Wochen im Krankenhaus kommt der Pfleger mit zwei Männern vom Strafvollzug ins Zimmer. Der Transport, der mich nach Biskopsberg zurückbringen soll, ist eingetroffen.

Ich wusste, dass dieser Tag früher oder später kommen würde und bin erstaunt über die Ohnmacht, die ich verspüre. Nichts zu sagen zu haben, und nicht einmal die Möglichkeit zu bekommen, Helen zu danken und mich von ihr zu verabschieden, da sie gerade heute frei hat. Für diejenigen, die über mein Leben bestimmen, spielt es keine Rolle, dass ich mich noch immer halb tot fühle. Wie ich erfahre, bin ich bereits ungewöhnlich lange hier gewesen. Ich bin nur ein Gepäckstück, das in die Verwahrungsbox in der Anstalt zurücktransportiert werden soll.

Einer der Wachmänner legt mir den Taillengurt an. Als er an die Wunde kommt, schnappe ich nach Luft. Er nimmt meine Handgelenke, klickt die Handschellen fest und sagt mir, ich solle mich abregen.

Die Ärztin kommt herein und fragt, ob das wirklich notwendig sei mit dem Gürtel, bekommt jedoch von keinem der Männer eine Antwort. Sie sorgt dafür, dass der Krankenpfleger einen Rollstuhl holt und mir hineinhilft. Sie legt eine gelbe Krankenhausdecke über meine Knie und verdeckt damit die Handschellen, dann wünscht sie mir alles Gute, bevor ich in den Flur hinausgerollt werde.

Am Empfang müssen wir eine Weile warten, bis das Auto vorfährt. Einer der Polizisten, die mich oben auf der Station abwechselnd bewacht haben, steht neben mir. Um Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, lautet vermutlich die Vorschrift.

Der Anblick einer von einem bewaffneten Polizisten bewachten Frau im Rollstuhl erweckt Aufsehen und lässt viele innehalten und starren. Unverhohlene, verächtliche, neugierige und ängstliche Blicke richten sich auf mich. Ein Mann zeigt auf mich und flüstert seiner Begleitung etwas zu, ein anderer macht einen großen Bogen um mich. Eine Dame eilt vorbei und dreht sich dann mehrfach um, als wollte sie sich versichern, dass ich mich nicht befreit habe. Oder vielleicht erkennt sie auch, wer ich bin.

Eine Frau in meinem Alter setzt sich auf eine nahe gelegene Bank und versucht den Anschein zu erwecken, nicht zu gucken. Ich würde den Polizisten gern fragen, ob es wirklich eine gute Idee ist, mich hier warten zu lassen, da ich die Allgemeinheit offensichtlich durch meine bloße Anwesenheit ängstige. Aber sarkastische Kommentare führen selten zu etwas Gutem, daher lasse ich es. Stattdessen trotze ich dem Schmerz, beuge mich nach vorn und halte mir die Decke vors Gesicht. Als einer der Männer den Rollstuhl durch die Tür nach draußen fährt, verheddert sie sich im Rad und wird mir aus den Händen gerissen. Sogleich explodiert links von mir eine Serie von Blitzen, woraufhin ich den Arm vors Gesicht hebe.

Die Fotografen sagen immer, dass die Kameras Mama geliebt haben, die Wahrheit ist jedoch, dass sie die Kameras ebenso sehr geliebt hat. Sie liebte es zu posieren, liebte es, der Kameralinse zu geben, wonach sie am meisten lechzte. Sie wurde dem nie müde, war nie ausgebrannt oder der ständigen Aufmerksamkeit leid. Es war nicht so, dass sie es aushielt, weit gefehlt, sie lebte dafür. Im Mittelpunkt zu stehen, verlieh ihr neue Energie, das Blitzen der Kameras und das Scheinwerferlicht hauchten ihr Leben ein. Und dies ständig zurückzugeben, hat sie zu der gemacht, die sie war. Eine der allergrößten. Ein Star.

Andersson ist der gewöhnlichste Nachname in Schweden, und es gibt Zehntausende andere Frauen, die mit Vornamen Katarina oder Linda heißen. Dennoch gab es nur eine Kathy, und jeder in ganz Skandinavien weiß, wer sie war. Nein, in ganz Europa. Sie war eine unserer beliebtesten Künstlerinnen, die durch das ganze Land getourt ist und in den Siebzigern sogar den Eurovision Song Contest für Schweden gewonnen hat.

Nur wenige Monate, bevor ich festgenommen wurde, ist sie an ALS gestorben. Obwohl sie tot ist, lebt die Erinnerung an sie in allen, die sie geliebt haben, weiter. Und ich habe sie mehr als irgendjemand anderer geliebt.

Ich bin Kathys Tochter, Linda Andersson. Sie nannten mich das Sonnenscheinmädchen, und als Kind bin ich mit Mama zusammen aufgetreten. An ihrer Seite aufzuwachsen, hat mich daran gewöhnt, angeschaut zu werden. Ich habe viele rote Teppiche beschritten, ich weiß, wie ich stehen muss, um gut auszusehen, und ich kann breit in die Kameras lächeln, selbst wenn ich keine Lust dazu habe.

Zumindest konnte ich das früher. Jetzt kann ich das nicht mehr. All das gehört einer anderen Zeit an. Als Teenagerin bin ich immer seltener mit Mama aufgetreten, und in meinen Zwanzigern lebte ich ein anonymeres Leben als Musiklehrerin an einer Grundschule sowie als private Klavierlehrerin. Aber als Kathys Tochter und später als Ehefrau des Musikers und Künstlers Simon Huss habe ich das Rampenlicht nie ganz verlassen. Ich erschien an ihrer Seite auf den Klatschseiten. Doch von nun an sind es diese Fotos hier, die zirkulieren, wenn in den Medien über mich berichtet wird. Sie zeigen eine blasse Frau in einem Rollstuhl, mit abgestumpftem Blick und rasiertem Schädel, mit Handschellen an einen immensen Gürtel um die Taille gefesselt und mit einem Wundpflaster über der einen Gesichtshälfte.

Die Fahrt nach Biskopsberg dauert etwa vierzig Minuten, kommt mir jedoch wie eine Ewigkeit vor, nachdem die Wirkung der schmerzstillenden Medikamente langsam nachlässt. Der Kopf platzt, die Wunde schmerzt und brennt. Ich will ankommen, aber auch wieder nicht.

Die Landschaft ist flach und der Zaun schon aus weiter Entfernung zu sehen. Mit seinem dreifachen Stacheldraht vor der Mauer erhebt er sich wie ein metallisches Dornendickicht aus der Erde. Dahinter befinden sich die düsteren Gebäude von Biskopsberg. Ein Mausoleum für verlorene Seelen, ohne Hoffnung auf Aussöhnung.

Wir fahren in die Schleuse, das erste Tor wird geöffnet und hinter uns wieder verschlossen, wie ein großes Maul, das sich um sein Opfer schließt. Erst als es geschlossen ist, öffnet sich vor uns ein baugleiches Tor. Der Fahrer fährt hindurch zu dem zweistöckigen grauen Gebäude. Die Herbstsonne wirft Schatten vom Zaun auf das Haus, und der spitze Stacheldraht, der oben kreisförmig aufgewickelt ist, erzeugt auf der Fassade ein gewundenes Muster. Wir fahren um das Gebäude herum und halten auf der Rückseite.

Ich werde aus dem Lieferwagen gerollt, höre das bekannte Surren und das metallische Klicken des sich öffnenden Schlosses. Jede Tür, die wieder hinter mir zuschlägt, führt mich weiter hinein, hinter die Mauern, bis mich das Innere des Gefängnisses verschlungen hat, und das weckt die Erinnerung daran, wie ich zum ersten Mal hierherkam.

*

Im Juni, nach neun Monaten Untersuchungshaft, werde ich in Schwedens bekanntestes Frauengefängnis in der Nähe von Örebro gebracht. Eine Strafvollzugsbeamtin heißt mich in Biskopsberg willkommen und sagt, ich werde merken, dass die Haftanstalt wie eine Minigemeinde ist. Hier gibt es alles, Krankenstation, Wäscherei, eine eigene Küche mit Köchen, Hausmeister und Werkstätten. Es gibt Besuchsräume mit Spielsachen für Kinder, die ihre eingesperrten Mütter besuchen.

Genau wie an dem Morgen, an dem ich aufgegriffen und verhaftet wurde, muss ich mich für eine Leibesvisitation nackt ausziehen. Eine der Strafvollzugsbeamtinnen sagt mir, ich solle die Beine spreizen und mich nach vorn beugen. Ich drehe mich, hebe Arme und Haare hoch, und als sie endlich mit der Kontrolle fertig sind, soll ich auf der Toilette nebenan eine Urinprobe hinterlassen. Die Frau legt eine Bettpfanne über die Toilettenschüssel, befiehlt mir, mich hinzusetzen und die Hände nach vorn zu strecken, damit sie sie sehen kann. Ich schließe die Augen, pinkle und denke, dass ich mich niemals daran gewöhnen werde, beobachtet zu werden, während ich meine Notdurft verrichte.

Als ich fertig bin, darf ich die Sachen anziehen, die die Strafvollzugsbeamten für die Gefangenen bereithalten. Einen Schlüpfer mit schlaffem Gummiband und einen schlecht sitzenden, hässlichen Bügel-BH, eine graue Jogginghose mit zu langen Beinen, ein figurbetontes hellgraues T-Shirt aus dünnem Material. Meine Ausweisdokumente werden kontrolliert, und es wird festgestellt, dass ich dreiunddreißig Jahre alt bin. Aus irgendeinem Grund bekomme ich zu hören, dass das ein gutes Alter sei, und nachdem ich fotografiert worden bin, werde ich in die Haftanstalt hinausgeführt.

Auf dem Weg müssen unendlich viele Türen und Zäune aufgeschlossen werden, einige mit Schlüsseln oder Schlüsselkarten, in anderen Abschnitten sind es Menschen, die wir nicht sehen, die uns über die Überwachungskameras folgen und die entscheiden, ob wir passieren dürfen. Jedes Mal ist ein lautes surrendes Geräusch zu hören, und ich denke, dass mich das verrückt machen wird.

Der Bereich auf der anderen Seite des Hauses ist größer, als es von der Straße aus scheint. Am Ende, in Richtung eines großen Sees, befinden sich mehrere Gebäude, die von den anderen abgetrennt und von hohen, breiten Mauern umgeben sind. Auf den Mauern sind Scheinwerfer angebracht wie in einer Sportarena, sowie in regelmäßigen Abständen die alles sehenden Kameras. Einige Meter weiter vor der Mauer, um die gesamte Anstalt herum, erhebt sich ein hoher Zaun mit Stacheldraht, unmöglich zu überwinden. Ein weiterer letzter Zaun schirmt das Gelände noch von den angrenzenden Feldern ab.

Zwei Männer, jeder von ihnen in Begleitung eines Schäferhundes, gehen daran entlang, der eine lacht über das, was der andere gerade gesagt hat. Sie sprechen über etwas ganz anderes als das, was hier drinnen passiert. Sie haben ihr eigenes Leben in der Welt da draußen und verlassen die Haftanstalt, wenn ihr Arbeitstag vorüber ist.

In der Wäscherei bekomme ich ein Laken und zwei Handtücher, und ich erfahre, zu welchen Zeiten ich meine Wäsche abgeben und abholen soll. Wir gehen wieder hinaus, und ich sehe einige Frauen, die vor dem, was als Fabrik bezeichnet wird, in einem Gitterkäfig stehen und rauchen. Sie tragen die gleiche Gefängniskleidung wie ich, bewacht von Personal in Springerstiefeln und mit Gummiknüppeln.

Die Strafvollzugsbeamtin, die mich in Empfang genommen hat, irrt sich, Biskopsberg ist keine Minigemeinde. Das hier ist eine Raumfähre in einem abgelegenen Teil des Universums, wohin wir zur Strafarbeit geschickt worden sind, und wo ganz eigene Gesetze und Regeln gelten. Wir befinden uns sehr weit von zu Hause entfernt, auf unbestimmte Zeit aus der Zivilisation ausgestoßen.

Die Frauen schauen neugierig in meine Richtung. Eine von ihnen rüttelt am Zaun und pfeift mehrfach laut, als wir vorbeigehen.

Meine Zelle ist etwas größer als die in der Untersuchungshaft. Zehn Quadratmeter statt sieben. Hier hat rechts des schmalen, an der Wand befestigten Betts ein Schreibtisch Platz, und am Fußende steht ein Kleiderschrank, an dessen Seite ein Fernseher montiert ist. Hinter der Tür befindet sich ein Waschbecken, aber keine Toilette, die ist ein Stück weit entfernt auf dem Flur. Die Wache erklärt mir, dass ich vom Einschließen um acht Uhr abends bis um acht Uhr am nächsten Morgen einen Topf benutzen muss, den ich dann in der Toilette zu leeren und richtig zu säubern habe. Über dem Schreibtisch ist ein schmales, vergittertes Fenster aus Panzerglas, das sich nicht öffnen lässt. Ich dachte, ich würde den Wald und die Felder draußen sehen, aber die Betonmauer türmt sich davor auf und verdeckt die Aussicht.

Hier soll ich meine lebenslange Strafe absitzen.

5

Hätte die Ärztin im Universitätskrankenhaus Örebro nicht auf einer zeitweiligen Krankschreibung bestanden, da ich sowohl ein physisches als auch ein psychisches Trauma erlitten habe, wäre ich zu meiner Zelle in Haus D gebracht worden, um sofort in den Gefängnisalltag zurückzukehren. Jetzt darf ich mich in der Krankenabteilung aufhalten, bis mich der Gefängnisarzt als wiederhergestellt betrachtet.

Tina nimmt mich in Empfang. Sie ist eine der Gefängniswärterinnen, die während der gesamten fünf Jahre, die ich hier einsitze, in Biskopsberg gearbeitet hat. Mit besorgter Miene studiert sie meine rasierte, narbige Erscheinung. Sobald die Handschellen und der Gürtel abgenommen sind, hilft sie mir aus dem Rollstuhl und durchsucht mich, um zu kontrollieren, dass ich unter dem weißen Krankenhausnachthemd nichts versteckt habe. Als sie fertig ist, sinke ich auf eines der Betten. Ich würde jetzt alles für eine Dosis Morphin geben, aber als Narkotika eingestufte Medikamente werden in der Haftanstalt nicht leichtsinnig verteilt.

Im Zimmer stehen zwei Betten, mit jeweils einem Tisch daneben. Durch ein hohes, vergittertes Fenster scheint Tageslicht herein. Es riecht schwach nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln. Tina sagt, dass man sich gut um mich kümmern wird und wir uns in der Abteilung sehen, wenn es mir besser geht. Kurz darauf kommt eine ältere, kräftige Frau mit einer runden Brille herein. Sie gibt mir einen mit Deckel und Trinkhalm versehenen Plastikbecher.

»Ich bin Krankenschwester hier in Biskopsberg«, sagt sie. »Sie brauchen Flüssigkeit. Trinken Sie, so viel Sie können.«

»Ich brauche ein Schmerzmittel«, klage ich, obwohl ich weiß, was sie sagen wird.

»Ich kann Ihnen nur Alvedon anbieten. Wenn Sie noch immer starke Schmerzen haben, dann müssen Sie das mit dem Doktor besprechen.« Sie geht, kommt aber umgehend zurück und hält mir einen kleinen Pappbecher mit zwei weißen Tabletten darin hin. Ich bedanke mich und spüle die Pillen mit dem Wasser runter.

»Bei Bedarf drücken Sie auf den Alarmknopf da«, fährt sie fort. »Versuchen Sie, sich auszuruhen, das ist die allerbeste Medizin.«

Nachdem sie gegangen ist, lege ich mich ins Bett und hoffe, dass die Tabletten helfen.

Als es das nächste Mal im Schloss rasselt, ist es vor dem Fenster dunkel, ich habe den ganzen Nachmittag geschlafen. Ein Gefängniswärter kommt mit einer Frau herein, die sich auf seinen Arm stützt. Sie legt sich in das andere Krankenbett, und der Wachmann deckt sie zu, bevor er uns verlässt. Nach einer Weile hieve ich mich auf die Ellenbogen und sage Hallo, erhalte aber keine Antwort. Ich komme ins Sitzen, stelle die Füße auf den Boden und spüre das kalte Linoleum unter den Fußsohlen. Entweder hört sie mich nicht, oder sie schläft bereits, denke ich und mache einen Schritt nach vorn. Als ich sehe, wer dort liegt, weiche ich wieder zurück, aber die Frau schlägt die Augen auf und sieht mich direkt an.

Ich bin mit Adriana Hansen eingeschlossen, der Königin von Biskopsberg. Eine übel berüchtigte und sehr gefährliche Frau. Selbstverständlich habe ich sie in der Haftanstalt schon oft gesehen, hatte aber nie etwas mit ihr zu tun.

»Ich habe gehört, dass Anne dich in Notwehr beinahe umgebracht hat«, sagt sie schleppend. »Macht dich das zum Opfer oder zur Täterin? Oder zu beidem?«

Ich verstehe nicht, was sie meint und lasse die Frage unbeantwortet. Sie reagiert mit einem heiseren Lachen. Ich kehre zu meinem Bett zurück und lege mich hin. In der Stille spüre ich ihre Blicke auf mir, und nach einer Weile sagt sie, dass sie meine Gesellschaft mag.

»Das wird nett, einander kennenzulernen.«

Ein weiteres Lachen erklingt, und ich tue so, als würde ich schlafen, bis ich in einen fiebrigen Dämmerschlaf abdrifte.

*

Der Geruch. War er es, der mich geweckt hat? Was riecht so entsetzlich? Die Übelkeit kriecht mir die Kehle hoch. Am Haaransatz sticht es wie von Nadeln. Ich lege mich auf die Seite und schließe die Augen, bezwinge den Reflex mich zu übergeben. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich auf dem Laken vor mir ein dunkelrotes Tuch. Ich berühre es und stelle fest, dass meine Finger und meine Hand dieselbe Farbe haben. Beide Hände sind damit bedeckt, ebenso die Unterarme. Wie sehr ich auch zu verstehen versuche, womit ich eingeschmiert bin und was so riecht, so dauert es doch, bis die Einsicht einkehrt.

Rot und klebrig, ein schwerer, metallischer Geruch. Mit den Händen taste ich meinen Körper ab, spüre nach und frage mich, wo ich blute. Ich fahre mir über das Gesicht, über meinen Kopf. Am linken Unterarm habe ich zwei Schnittwunden, ansonsten bin ich unversehrt. Es ist so viel Blut, im ganzen Bett. Ich setze mich auf, und als ich vorsichtig aufstehe, pocht es im Kopf in einem rhythmischen Puls gegen die Schläfen.

Blut auf dem Boden und an der Wand, überall im Gästehaus ist es rot.

Ich wackle ins Badezimmer und sehe im Spiegel, dass mir die Wimperntusche die Wangen hinuntergelaufen ist und die Haare zerzaust sind. Und die Sachen, ich bin voller Blut. Ich streife sie ab und fange an zu schrubben.

*