Das Schweigen der Lämmer - Thomas Harris - E-Book
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Das Schweigen der Lämmer E-Book

Thomas Harris

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Beschreibung

Die Faszination des Bösen

Nur ein Mann kann dem FBI noch helfen, den geistesgestörten Frauenmörder „Buffalo Bill“ zu finden: Dr. Hannibal Lecter, der wegen einer Reihe von Verbrechen in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik verwahrt wird. Die junge FBI-Agentin Clarice Starling soll ihn verhören, ohne zu wissen, auf welch teuflisches Spiel sie sich einlässt.

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Das Buch

Mit kalter Mechanik tötet ein Serienmörder seine Opfer: Den Leichen der fünf jungen Frauen wurde die Haut abgezogen. In quälender Langsamkeit ziehen sich die Ermittlungen dahin, bis das FBI den Psychiater Dr. Hannibal Lecter um Mithilfe bittet. Sein messerscharfer Geist, seine Fähigkeit, sich in die Psyche des Täters zu versetzen, sollen die junge FBI-Agentin Clarice Starling zu dem Mörder führen. Allein: Lecter ist selbst Massenmörder, ein kaltblütiger Verbrecher, der im Hochsicherheitstrakt der psychiatrischen Klinik von Baltimore einsitzt. Lecter spielt ein grausames Spiel mit Starling, doch seine Hinweise führen die Ermittler auf die Spur des Täters. Als die Tochter eines US-Senators entführt wird und der Mörder die Vorbereitung zur Häutung trifft, drängt jedoch die Zeit – aber Lecters weitere Mitarbeit hat ihren Preis ...

Der Autor

Thomas Harris arbeitete lange Jahre als Kriminalreporter in Mexico und den USA und war später Redakteur bei Associated Press in New York. Alle seine Romane sind im Heyne Verlag erschienen: Schwarzer Sonntag, gefolgt von Roter Drache und Das Schweigen der Lämmer, ein Buch, das wochenlang die Bestsellerliste der New York Times anführte. Die Verfilmung wurde 1991 mit Fünf Oscars ausgezeichnet.

Außerdem lieferbar: Hannibal.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Kapitel 35 Kapitel 36 Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Kapitel 43 Kapitel 44 Kapitel 45 Kapitel 46 Kapitel 47 Kapitel 48 Kapitel 49 Kapitel 50 Kapitel 51 Kapitel 52 Kapitel 53 Kapitel 54 Kapitel 55 Kapitel 56 Kapitel 57 Kapitel 58 Kapitel 59 Kapitel 60 Kapitel 61Copyright

Dem Andenken meines Vaters

Wenn ich nach Menschenart in Ephesus mit wilden Tieren gekämpft habe, was nützt es mir, wenn die Toten nicht auferstehen?

1. KORINTHERBRIEF

Muß ich auf einen Totenkopf am Ring schauen, wenn ich einen im Gesicht habe?

JOHN DONNE, ›Andachtsübungen‹

1

Die Abteilung Verhaltensforschung, die beim FBI für Serienmorde zuständig ist, befindet sich, halb unter der Erde, im untersten Geschoß der Academy in Quantico. Nach einem raschen Fußmarsch von Hogan’s Alley auf dem Schießstand kam Clarice Starling mit rotem Kopf dort an. Weil sie sich auf dem Schießstand bei einer Festnahmeübung mit Feindbeschuß auf den Boden geworfen hatte, hatte sie Grashalme im Haar und Grasflecken auf ihrer FBI-Academy-Windjacke.

Im Vorzimmer war niemand, deshalb brachte sie sich anhand ihres Spiegelbilds in der Glastür rasch in Ordnung. Sie wußte, sie sähe, auch ohne sich groß zurechtzumachen, ganz passabel aus. Ihre Hände rochen nach Pulverdampf, aber um sie zu waschen, reichte die Zeit nicht – Abteilungschef Crawfords Anordnung hatte gelautet: sofort.

Sie traf Jack Crawford allein in der Bürosuite an. Er stand inmitten des allgemeinen Durcheinanders am Schreibtisch von jemand anderem und telefonierte, so daß sie zum erstenmal seit einem Jahr Gelegenheit hatte, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Was sie sah, beunruhigte sie.

Normalerweise sah Crawford aus wie ein sportlicher Ingenieur mittleren Alters, der sich sein Collegestudium mit Baseballspielen verdient haben könnte – ein geschickter Fänger, der an der Home Plate nichts anbrennen ließ. Doch jetzt war er mager, sein Hemdkragen war zu weit, und er hatte dunkle Tränensäcke unter den geröteten Augen. Jeder, der Zeitung lesen konnte, wußte, in der Verhaltensforschung war der Teufel los. Starling hoffte, Crawford hatte nicht zu trinken angefangen. Das schien hier höchst unwahrscheinlich.

Crawford beendete das Telefongespräch mit einem scharfen »Nein«. Er zog ihre Personalakte unter seinem Arm hervor und schlug sie auf.

»Starling, Clarice M., guten Morgen.«

»Hallo.« Ihr Lächeln war nur höflich.

»Es gibt nichts zu beanstanden. Hoffentlich haben Sie sich keine Sorgen gemacht, daß ich Sie herbestellt habe.«

»Habe ich nicht.«Nicht ganz wahr, dachte Starling.

»Ihre Ausbilder sagen, Sie machen sich gut, oberstes Viertel der Klasse.«

»Das hoffe ich, aber sie haben die Bewertungen noch nicht am Schwarzen Brett ausgehängt.«

»Ab und zu erkundige ich mich bei ihnen.«

Das überraschte Starling; sie hatte Crawford als einen Rekrutenwerber abgeschrieben, der sich einen Dreck um sie scherte.

Kennengelernt hatte sie Special Agent Crawford als Gastdozenten an der University of Virginia. Die Qualität seiner kriminologischen Seminare hatte maßgeblich dazu beigetragen, daß sie zum FBI gegangen war. Als sie die Zulassung zur Academy erhielt, schrieb sie ihm einen Brief, auf den er jedoch nicht antwortete, und in den drei Monaten, die sie inzwischen in Quantico in Ausbildung war, hatte er keine Notiz von ihr genommen.

Starling stammte aus einer Familie, in der man andere nicht um Gefallen bat oder sich aufdrängte, aber Crawfords unerklärliches Verhalten hatte sie ihren Schritt bedauern lassen. Doch als sie jetzt vor ihm stand, mochte sie ihn wieder, stellte sie zu ihrem Bedauern fest.

Offensichtlich stimmte etwas nicht mit ihm. Crawford war nicht nur intelligent, sondern hatte auch einen gewissen Stil, was Starling zum erstenmal an seinem Sinn für die Farben und Materialien seiner Kleidung aufgefallen war, und das selbst innerhalb der wenig Spielraum lassenden Kleiderordnung für FBI-Agenten. Jetzt war er korrekt, aber fad gekleidet, als sei er in der Mauser.

»Ich hätte da einen Auftrag, bei dem ich an Sie gedacht habe«, sagte er. »Eigentlich ist es gar kein richtiger Auftrag, eher eine interessante Nebenbeschäftigung. Nehmen Sie Berrys Sachen von dem Stuhl da und setzen Sie sich. Sie haben hier geschrieben, daß Sie sofort zur Verhaltensforschung wollen, wenn Sie mit der Academy fertig sind.«

»Das ist richtig.«

»Sie haben zwar viel forensische Praxis, aber so gut wie keine Erfahrung im Polizeidienst. Das Minimum sind sechs Jahre.«

»Mein Vater war Marshal, ich weiß Bescheid.«

Crawford lächelte verhalten. »Was Sie allerdings vorweisen können, sind zwei Hauptabschlüsse in Psychologie und Kriminologie. Und wie viele Sommer haben Sie in einer Nervenheilanstalt gearbeitet – zwei?«

»Zwei.«

»Ihre Therapeutenlizenz, ist sie noch gültig?«

»Sie ist noch zwei Jahre gültig. Ich habe sie gemacht, bevor Sie das Seminar an der UVA hielten – bevor ich beschloß, mich hier zu bewerben.«

»Sie gerieten allerdings in den Einstellungsstopp.«

Starling nickte. »Trotzdem hatte ich Glück – ich machte noch rechtzeitig meinen Abschluß in forensischer Chemie. Deshalb konnte ich im Labor arbeiten, bis in der Academy ein Platz frei wurde.«

»Sie haben mir geschrieben, daß Sie hierherkommen würden, aber ich glaube, ich habe Ihnen nicht geantwortet – ich weiß, ich habe nicht geantwortet. Ich hätte es tun sollen.«

»Sie hatten genug anderes zu tun.«

»Wissen Sie etwas über VI-CAP?«

»Ich weiß, es ist die Abkürzung für das Violent Criminal Apprehension Program. Im Law Enforcement Bulletin stand, Sie arbeiten an einer Datenbank, die aber noch nicht einsatzreif ist.«

Crawford nickte. »Wir haben einen Fragebogen entwickelt. Er eignet sich für alle bekannten Serienmörder der jüngsten Vergangenheit.« Er reichte ihr einen dicken, provisorisch zusammengehefteten Stoß Papiere. »Er besteht aus einem Teil für Ermittler und einem für überlebende Opfer, so vorhanden. Der blaue Teil ist für den Mörder, falls er die Fragen beantworten will, und der rosa Teil enthält eine Reihe von Fragen, die ein psychologischer Gutachter dem Mörder stellt, wobei er sowohl seine Reaktionen wie seine Antworten festhält. Es ist eine Menge Schreibkram.«

Schreibkram. Clarice Starlings Eigeninteresse schnüffelte los wie ein eifriger Beagle. Sie witterte ein Stellenangebot  – vermutlich irgendeine stumpfsinnige Tätigkeit wie Basisdaten in ein neues Computerprogramm eingeben. Einerseits war es verlockend, schon mal, egal in welcher Funktion, ein Bein in der Verhaltensforschung zu haben, andererseits wußte sie, was mit Frauen passierte, die einmal als Sekretärin abgestempelt waren – man wurde diesen Makel bis an sein Lebensende nicht mehr los. Eine Entscheidung kam auf sie zu, und sie wollte sich gut entscheiden.

Crawford wartete auf etwas – er mußte ihr eine Frage gestellt haben. Starling versuchte angestrengt, sich daran zu erinnern:

»Mit welchen Tests haben Sie schon Erfahrung? Minnesota Multiphasic, haben Sie den mal gemacht? Rorschach?«

»Den MMPI ja, Rorschach nie. Ich habe den TAT gemacht und mit Kindern auch Bender-Gestalt.«

»Sind Sie schreckhaft, Starling?«

»Bisher nicht.«

»Wissen Sie, wir haben versucht, sämtliche zweiunddreißig Serienmörder, die sich in Haft befinden, zu vernehmen und zu untersuchen, um für ungelöste Fälle eine Datenbank zur Erstellung von Psychogrammen aufzubauen. Die meisten haben mitgemacht – ich glaube, sie können gar nicht anders, als sich aufzuspielen, jedenfalls viele von ihnen. Siebenundzwanzig zeigten sich kooperationsbereit. Vier Todeskandidaten mit anhängigen Gnadengesuchen haben sich verständlicherweise gesperrt. Aber den, der uns am meisten interessiert, konnten wir bisher noch nicht rumkriegen. Ich möchte, daß Sie morgen in der Anstalt Ihr Glück mit ihm versuchen.«

Clarice spürte ein freudiges Klopfen in der Brust, aber auch eine gewisse Besorgnis.

»Wer ist der Kandidat?«

»Der Psychiater – Dr. Hannibal Lecter.«

Auf diesen Namen folgt unter zivilisierten Menschen immer ein kurzes Schweigen.

Starling sah Crawford unverwandt an, aber sie war eine Spur zu reglos. »Hannibal der Kannibale.«

»Ja.«

»Aha, hm – okay, gut. Ich freue mich über die Chance, aber ich sollte Ihnen vielleicht sagen, daß ich mich frage – warum ich?«

»In erster Linie, weil Sie abkömmlich sind«, sagte Crawford. »Ich rechne nicht damit, daß er mitmacht. Er hat bereits abgelehnt, aber das lief über einen Mittelsmann – den Leiter der Klinik. Ich muß sagen können, unser qualifizierter psychologischer Gutachter hat ihn aufgesucht und persönlich gefragt. Für diese Entscheidung gibt es Gründe, die nichts mit Ihrer Person zu tun haben. Ich habe in dieser Abteilung niemanden mehr, der es tun könnte.«

»Personelle Engpässe – Buffalo Bill – und die Geschichte in Nevada.«

»Ganz richtig, Starling. Das alte Lied – nicht genug Menschenmaterial.«

»Sie sagten, morgen – Sie haben es eilig. Irgendwelche Auswirkungen auf ein laufendes Ermittlungsverfahren?«

»Nein, aber ich wünschte, es wäre so.«

»Wenn er nicht mitmacht – möchten Sie trotzdem ein psychologisches Gutachten?«

»Nein. Ich stecke bereits bis zum Bauchnabel in Patientunzugänglich-Gutachten über Dr. Lecter, und jedes fällt anders aus.«

Crawford schüttelte zwei Vitamin-C-Tabletten in seine Handfläche und gab am Eiswasserspender noch ein Alka-Seltzer dazu, bevor er alles hinunterspülte. »Es ist wirklich lachhaft, wissen Sie; Lecter ist Psychiater und schreibt selbst für psychiatrische Zeitschriften – lauter hochkarätige Beiträge –, aber nie über seine eigenen kleinen Anomalien. Einmal tat er so, als ließe er sich von Chilton, dem Anstaltsleiter, verschiedenen Tests unterziehen – saß mit einer Blutdruckmanschette um seinen Penis da und sah sich Bilder von Autounfällen an –, doch dann veröffentlichte Lecter vor Chilton, was er über ihn herausgefunden hatte, und stellte ihn in aller Öffentlichkeit bloß. Er antwortet auf ernsthafte Zuschriften von Psychiatriestudenten in Forschungsbereichen, die nichts mit seinem Fall zu tun haben, und das ist alles, was er tut. Wenn er nicht mit Ihnen sprechen will, möchte ich nur einen simplen Bericht. Wie sieht er aus, wie sieht seine Zelle aus, was macht er. Lokalkolorit sozusagen. Nehmen Sie sich vor der Presse in acht, wenn Sie die Anstalt betreten oder verlassen. Nicht vor der richtigen Presse, vor der Regenbogenpresse. Sie lieben Lecter noch inniger als Prinz Andrew.«

»Hat ihm nicht so ein Revolverblatt fünfzigtausend Dollar für ein paar Rezepte angeboten? Irgendwas ist mir da in Erinnerung.«

Crawford nickte. »Ich bin ziemlich sicher, daß der National Tattler jemanden in der Klinik geschmiert hat. Sobald ich einen Termin für Sie vereinbare, wissen sie vermutlich, daß Sie kommen.«

Crawford beugte sich vor, bis sein Gesicht einen halben Meter von ihrem entfernt war. Sie sah, wie die Tränensäcke unter seinen Augen hinter den Gläsern der Lesebrille verschwammen. Er hatte vor kurzem mit Listerin gegurgelt.

»Und jetzt hören Sie mir bitte sehr genau zu, Starling. Habe ich Ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit?«

»Ja, Sir.«

»Seien Sie extrem vorsichtig mit Hannibal Lecter. Dr. Chilton, der Leiter der Nervenklinik, wird die Modalitäten Ihrer Begegnung mit Lecter bis in alle Einzelheiten mit Ihnen durchgehen. Weichen Sie nicht davon ab. Weichen Sie, egal, aus welchem Grund, nicht ein Jota davon ab. Falls Lecter überhaupt mit Ihnen spricht, wird er nur versuchen, etwas über Sie herauszubekommen. Es ist die Art Neugier, die eine Schlange in ein Vogelnest spähen läßt. Uns ist beiden klar, daß der Erfolg von Vernehmungen immer von einer gewissen Gegenseitigkeit abhängt, aber erzählen Sie ihm keine persönlichen Dinge von sich. Es kann nicht in Ihrem Interesse sein, daß er solche Dinge über Sie weiß. Sie wissen, was er mit Will Graham angestellt hat.«

»Ich habe damals davon gelesen.«

»Als Will ihm auf die Schliche zu kommen begann, schlitzte er ihn mit einem Teppichschneider auf. Ein Wunder, daß Will überlebt hat. Erinnern Sie sich an den Roten Drachen? Lecter hetzte Francis Dolarhyde auf Will und seine Familie. Dank Lecter sieht Wills Gesicht aus wie von Picasso gemalt. In der Anstalt hat er eine Schwester zerfleischt. Tun Sie Ihre Arbeit, aber vergessen Sie nie, was er ist.«

»Und was ist er? Wissen Sie das?«

»Ich weiß, er ist ein Monster. Was darüber hinausgeht – das kann niemand mit Gewißheit sagen. Vielleicht finden Sie es heraus; ich habe Sie nicht zufällig ausgesucht, Starling. Sie haben mir ein paar interessante Fragen gestellt, als ich an der UVA war. Der FBI-Direktor bekommt Ihren eigenen Bericht mit Ihrer Unterschrift vorgelegt – falls er klar und knapp und gut gegliedert ist. Darüber befinde ich. Und er liegt mir bis Sonntag früh neun Uhr vor. Okay, Starling, machen Sie sich wie besprochen an die Arbeit.«

Crawford lächelte sie an, aber seine Augen waren tot.

2

Dr. Frederick Chilton, achtundfünfzig, Leiter des Baltimore State Hospital für geistesgestörte Straftäter, hat einen langen, breiten Schreibtisch, auf dem keine harten oder scharfen Gegenstände sind. Einige Mitarbeiter nennen ihn ›den Wallgraben‹. Andere Mitarbeiter wissen nicht genau, was ein Wallgraben ist. Dr. Chilton blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen, als Clarice Starling sein Büro betrat.

»Wir hatten schon eine Menge Polizisten hier«, sagte Chilton, ohne aufzustehen, »aber ich kann mich nicht an einen so attraktiven erinnern.«

Ohne überlegen zu müssen, wußte Starling, daß der fettige Glanz auf seiner ausgestreckten Hand von Lanolin herrührte, weil er sich ständig über die Haare strich. Sie ließ sie los, bevor er das tat.

»Es ist doch Miß Sterling, oder nicht?«

»Starling, Herr Doktor, mit einem a. Danke, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben.«

»Jetzt greift also auch das FBI schon auf Mädchen zurück, wie überall sonst, ha, ha.« Er schob das Tabakgrinsen nach, mit dem er seine Sätze voneinander trennte.

»Das FBI macht Fortschritte, Dr. Chilton. Auf jeden Fall.«

»Werden Sie mehrere Tage in Baltimore bleiben? Sie sollten nämlich wissen, wenn man sich in der Stadt auskennt, kann man sich hier genausogut amüsieren wie in Washington oder New York.«

Um sich sein Lächeln zu ersparen, wandte sie den Blick ab und wußte sofort, daß er ihren Abscheu bemerkt hatte. »Ich glaube gern, daß Baltimore eine tolle Stadt ist, aber meine Anweisungen lauten, Dr. Lecter zu treffen und mich heute nachmittag zurückzumelden.«

»Kann ich Sie vielleicht später irgendwo in Washington erreichen, falls sich etwas Neues ergibt?«

»Natürlich. Nett von Ihnen, daß Sie daran denken. Für dieses Projekt ist Special Agent Jack Crawford zuständig, und über ihn können Sie mich jederzeit erreichen.«

»Verstehe.« Seine rosa gefleckten Wangen bissen sich mit dem künstlichen Rotbraun seiner Haare. »Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis.« Er ließ sie stehen, während er in aller Ruhe ihren Ausweis studierte. Dann gab er ihn ihr zurück und stand auf. »Es wird nicht lange dauern. Kommen Sie mit.«

»Ich dachte, Sie würden mir genaue Instruktionen erteilen, Dr. Chilton«, sagte Starling.

»Das mache ich unterwegs.« Er sah auf die Uhr, als er hinter dem Schreibtisch hervorkam. »In einer halben Stunde habe ich eine Verabredung zum Mittagessen.«

Verdammt noch mal, sie hätte ihn besser, schneller durchschauen sollen. Vielleicht war er doch kein totaler Widerling. Er könnte etwas Brauchbares wissen. Es hätte nicht geschadet, ausnahmsweise etwas Süßholz zu raspeln, auch wenn das nicht zu ihren Stärken gehörte.

»Dr. Chilton, jetzt habe ich eine Verabredung mit Ihnen. Wir haben uns bei der Terminabsprache nach Ihnen gerichtet, damit Sie etwas Zeit für mich hätten. Vielleicht kommt bei dem Gespräch etwas heraus – unter Umständen muß ich einige seiner Antworten mit Ihnen besprechen.«

»Das bezweifle ich sehr. Ach, ich muß noch einen Anruf machen, bevor wir gehen. Wenn Sie im Vorzimmer auf mich warten würden.«

»Ich würde gern meinen Mantel und Regenschirm hierlassen.«

»Draußen«, sagte Chilton. »Geben Sie die Sachen Alan im Vorzimmer. Er wird sie wegbringen.«

Alan trug die schlafanzugähnliche Anstaltskleidung, die an die Insassen ausgegeben wurde. Er wischte gerade mit dem Hemdzipfel Aschenbecher aus.

Als er Starlings Mantel an sich nahm, fuhr er mit der Zunge in seiner Wange herum.

»Danke«, sagte sie.

»Gern geschehen, sehr gern sogar. Wie oft scheißen Sie?«

»Was haben Sie gerade gesagt?«

»Kommt sie la-a-a-a-nnng raus?«

»Ich hänge meine Sachen selber auf.«

»Sie haben nichts, was Ihnen den Blick versperrt – Sie können sich vorbeugen und zusehen, wie sie rauskommt und ob sich ihre Farbe verändert, wenn sie mit der Luft in Berührung kommt, machen Sie das? Sieht es aus, als hätten Sie einen großen braunen Schwanz?« Er ließ den Mantel nicht los.

»Dr. Chilton möchte Sie in seinem Büro sprechen«, sagte Starling. »Sofort.«

»Nein, will ich nicht«, sagte Dr. Chilton. »Häng den Mantel in den Schrank, Alan, und nimm ihn nicht raus, während wir weg sind. Los. Ich hatte eine Sekretärin, aber die Budgetkürzungen zwangen mich, Sie zu entlassen. Jetzt erledigt das Mädchen, das Sie reingelassen hat, drei Stunden am Tag die Schreibarbeiten, und den Rest der Zeit habe ich Alan. Wo bleiben bloß all diese Sekretärinnen, Miß Starling?« Seine Brillengläser blitzten sie an. »Tragen Sie eine Waffe?«

»Nein, ich trage keine Waffe.«

»Dürfte ich Ihre Handtasche und Ihre Aktenmappe sehen?«

»Sie haben meinen Ausweis gesehen.«

»Und darin steht, Sie befinden sich noch in Ausbildung. Lassen Sie mich Ihre Sachen sehen, bitte.«

Clarice Starling zuckte zusammen, als das erste der massiven Stahltore hinter ihr zuschlug und der Riegel zuschnappte. Chilton ging etwas vor ihr den in Amtsstubengrün gestrichenen Korridor hinunter. Die Atmosphäre war geprägt von Desinfektionsmittelgeruch und fernem Türenschlagen. Starling ärgerte sich über sich selbst, daß sie Chilton die Finger in ihre Aktenmappe und ihre Handtasche hatte stecken lassen, und um sich konzentrieren zu können, trat sie fest auf ihren Ärger. Es ging schon wieder. Sie spürte den stabilen Unterbau ihrer Selbstbeherrschung wie einen festen Kieseluntergrund in einer starken Strömung.

»Lecter ist eine ziemliche Belastung«, sagte Chilton über seine Schulter. »Jeden Tag ist ein Wärter mindestens zehn Minuten allein damit beschäftigt, aus den Publikationen, die er erhält, die Heftklammern zu entfernen. Wir haben versucht, seine Zeitschriftenabonnements zu streichen oder zu reduzieren, aber er hat einen Antrag gestellt, und das Gericht hat gegen uns entschieden. Der Umfang seiner Privatkorrespondenz war enorm. Zum Glück ist er deutlich zurückgegangen, seit er in den Nachrichten im Schatten anderer Kreaturen steht. Eine Weile sah es so aus, als wollte jeder kleine Student, der eine Diplomarbeit in Psychologie schrieb, etwas von Lecter darin haben. Die medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichen immer noch Sachen von ihm, aber nur wegen des Gruseleffekts, den sein Name im Autorenverzeichnis mit sich bringt.«

»Im Journal of Clinical Psychiatry hat er, wie ich fand, einen guten Aufsatz über Operationssucht geschrieben«, sagte Starling.

»Finden Sie, ja? Wir haben Lecter zu studieren versucht. Wir dachten, ›hier ist eine Gelegenheit für eine bahnbrechende Studie‹ – es kommt selten vor, daß man so jemanden lebend bekommt.«

»So jemanden was?«

»Einen reinen Soziopathen, denn das ist er nur zu offensichtlich. Aber er ist undurchschaubar, viel zu raffiniert für die normalen Tests. Und dazu kommt noch: Er haßt uns wie die Pest. Er denkt, ich bin sein Racheengel. Crawford ist sehr clever – finden Sie nicht? –, Sie auf Lecter anzusetzen.«

»Wie meinen Sie das, Dr. Chilton?«

»Eine junge Frau, die ›ihn anmacht‹, wie man das wohl nennt. Ich glaube, Lecter hat schon mehrere Jahre kein weibliches Wesen mehr gesehen – vielleicht hat er mal einen flüchtigen Blick auf eine Angehörige des Reinigungspersonals erhascht. Wir lassen hier grundsätzlich keine Frauen rein. In einer geschlossenen Anstalt gibt das immer Ärger.«

Sie können mich mal, Chilton. »Ich habe an der University of Virginia meinen Abschluß mit Auszeichnung gemacht, Doktor. Das ist keine Benimmschule.«

»Dann müßten Sie sich eigentlich die Grundregeln merken können: Fassen Sie nicht durch die Gitterstäbe, fassen Sie die Gitterstäbe nicht an. Reichen Sie ihm nichts als weiches Papier. Keine Kugelschreiber, keine Bleistifte. Manchmal hat er seine eigenen Filzschreiber. Das Papier, das Sie ihm geben, muß ohne Heft – oder Büroklammern oder Stecknadeln sein. Sämtliche Gegenstände kommen nur durch den Essensschub wieder heraus. Ohne Ausnahme. Nehmen Sie nichts, was er Ihnen durch die Gitterstäbe zuzustecken versucht. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Sie hatten zwei weitere Tore passiert und das natürliche Licht hinter sich gelassen und mit ihm auch die Zellenblöcke, in denen die Häftlinge Kontakt miteinander haben können. Sie waren jetzt unten in dem Bereich, wo es keine Fenster und keine Kontakte geben darf. Die Lampen im Flur sind mit massiven Gittern versehen, wie die Lichter in den Maschinenräumen von Schiffen. Dr. Chilton blieb unter einem stehen. Als ihre Schritte verstummt waren, konnte Starling irgendwo hinter der Mauer das gezackte Fragment einer vom Schreien ruinierten Stimme hören.

»Lecter verläßt seine Zelle nur gefesselt und mit Beißschutz«, fuhr Chilton fort. »Ich werde Ihnen sagen, warum. Das erste Jahr nach seiner Einlieferung war seine Führung mustergültig. Die strengen Sicherheitsvorkehrungen wurden geringfügig gelockert – das war unter meinem Vorgänger, damit wir uns nicht mißverstehen. Am Nachmittag des achten Juli neunzehnhundertsechsundsiebzig klagte er über Schmerzen in der Brust, worauf er in die Krankenstation gebracht wurde. Um leichter ein EKG machen zu können, wurden ihm die Fesseln abgenommen. Als sich die Schwester über ihn beugte, hat er sie so zugerichtet.« Chilton reichte Clarice Starling eine eselsohrige Fotografie. »Die Ärzte konnten eins ihrer Augen retten. Lecter war die ganze Zeit an die Meßgeräte angeschlossen. Er hat ihr den Kiefer gebrochen, um an ihre Zunge zu kommen. Sein Puls ist nie über fünfundachtzig gestiegen, nicht einmal, als er sie hinunterschluckte.«

Starling wußte nicht, was schlimmer war, das Foto oder Chiltons Aufmerksamkeit, als er mit flinken, gierigen Augen ihr Gesicht abtastete. Sie mußte an ein durstiges Huhn denken, das Tränen von ihrem Gesicht pickte.

»Ich halte ihn hier drinnen fest«, sagte Chilton und drückte auf einen Knopf neben einer massiven Flügeltür aus Sicherheitsglas. Ein kräftiger Wärter ließ sie ihn den Block dahinter.

Starling traf eine unbequeme Entscheidung und blieb unmittelbar hinter der Tür stehen. »Dr. Chilton, wir brauchen diese Testergebnisse dringendst. Wenn Dr. Lecter Sie als seinen Feind betrachtet – wenn er auf Sie fixiert ist, wie Sie gerade gesagt haben –, haben wir vielleicht mehr Glück, wenn ich allein an ihn herantrete. Was denken Sie?«

Chiltons Wange zuckte. »Das soll mir recht sein. Aber warum haben Sie mir das nicht gleich in meinem Büro gesagt? Dann hätte ich einen Wärter mit Ihnen herschicken und mir die Mühe sparen können.«

»Ich hätte es Ihnen dort vorschlagen können, wenn Sie mich dort instruiert hätten.«

»Ich glaube nicht, daß ich Sie noch einmal sehen werde, Miß Starling ... Barney, klingeln Sie nach jemandem, der sie rausbringt, wenn sie mit Lecter fertig ist.«

Chilton ging, ohne sie noch einmal anzusehen.

Jetzt waren nur noch der hünenhafte, teilnahmslose Wärter da und die lautlose Uhr hinter ihm und sein Drahtgeflechtschrank mit dem Tränengasspray und den Fesseln, dem Beißschutz und der Betäubungspistole. In einer Wandhalterung befand sich eine lange Stange mit einem U-förmigen Ende, mit der man Tobende an die Wand drücken konnte.

Der Wärter sah sie an. »Hat Ihnen Dr. Chilton gesagt, daß Sie nicht ans Gitter fassen sollen?« Seine Stimme war hoch und heiser. Sie erinnerte sie an Aldo Ray.

»Ja, das hat er mir gesagt.«

»Okay. Sie ist ganz hinten, die letzte Zelle auf der rechten Seite. Gehen Sie in der Mitte des Gangs, und kümmern Sie sich nicht um das, was um Sie herum passiert. Sie können ihm seine Post bringen – damit Sie einen besseren Einstand haben.« Insgeheim schien sich der Wärter zu amüsieren. »Legen Sie sie einfach in das Schubfach und schieben es ihm rein. Wenn das Fach drinnen ist, können Sie es entweder mit der Schnur selbst wieder rausziehen, oder er schiebt es zurück. Er kann Sie da, wo es rauskommt, nicht erreichen.« Damit gab ihr der Wärter zwei Zeitschriften, deren lose Seiten nicht mehr sauber aufeinanderlagen, drei Zeitungen und mehrere geöffnete Briefe.

Der Gang war etwa zehn Meter lang, mit Zellen auf beiden Seiten. Einige waren Gummizellen mit einem Beobachtungsfenster, hoch und schmal wie eine Schießscharte, in der Mitte der Tür. Andere waren normale Gefängniszellen, zum Gang hin offen, nur mit einem Gitter versehen. Clarice Starling war sich der Gestalten in den Zellen bewußt, aber sie versuchte, sie nicht anzusehen. Sie hatte schon mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als eine Stimme zischte: »Ich kann deine Fotze riechen.« Sie ließ sich nicht anmerken, daß sie es gehört hatte, und ging weiter.

In der letzten Zelle waren die Lichter an. Sie wußte, daß ihre Absätze sie ankündigten, als sie auf die linke Seite des Gangs ausscherte, um im Näherkommen hineinzusehen.

3

Dr. Lecters Zelle befindet sich ein gutes Stück hinter den anderen, und man blickt von dort nur auf einen Schrank auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges. Sie ist auch in anderer Hinsicht einzigartig. Hinter dem Gitter, das sie vom Gang abgrenzt, befindet sich in einem Abstand, der größer ist als die Reichweite eines Menschen, eine zweite Barriere, ein kräftiges Nylonnetz, das vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand gespannt ist. Hinter dem Netz konnte Starling einen am Boden festgeschraubten Tisch sehen, auf dem sich Taschenbücher und Papiere türmten, sowie einen Stuhl, ebenfalls festgeschraubt.

Dr. Hannibal Lecter lag auf seiner Pritsche und blätterte in der italienischen Ausgabe der Vogue. Er hielt die losen Seiten in der rechten Hand und legte sie mit der linken eine nach der anderen neben sich. An der linken Hand hat Dr. Lecter sechs Finger.

Clarice Starling blieb ein Stück vor dem Gitter stehen, in einem Abstand, der in etwa einer kleinen Eingangsdiele entsprach.

»Dr. Lecter.« Sie fand, daß sich ihre Stimme ganz passabel anhörte.

Er blickte von seiner Lektüre auf.

Eine Sekunde lang dachte sie, sein Blick summte, aber was sie hörte, war nur ihr Blut.

»Mein Name ist Clarice Starling. Könnte ich mit Ihnen sprechen?« In ihrem Abstand und ihrem Tonfall kam Höflichkeit zum Ausdruck.

Den Finger an die gespitzten Lippen gedrückt, dachte Dr. Lecter nach. Dann stand er gemächlich auf und kam in seinem Käfig geschmeidig nach vorn. Unmittelbar vor dem Nylonnetz blieb er, ohne es anzusehen, stehen, als hätte er sich für diesen Abstand entschieden.

Sie konnte sehen, er war klein, gepflegt; in seinen Händen und Armen entdeckte sie drahtige Kraft, ähnlich ihrer eigenen.

»Guten Morgen«, sagte er, als käme er an die Tür. Seine kultivierte Stimme hatte etwas metallisch Rauhes, möglicherweise von mangelnder Übung.

Dr. Lecters Augen sind kastanienbraun, und sie reflektieren das Licht in Nadelspitzen aus Rot. Manchmal scheinen die Lichtpunkte wie Funken in sein Innerstes zu fliegen. Seine Augen erfaßten Starling ganz.

Sie kam ein gemessenes Stück näher ans Gitter. Die Haare auf ihren Unterarmen stellten sich auf und drückten gegen ihre Ärmel.

»Herr Doktor, wir haben mit der Erstellung eines Psychogramms massive Probleme. Ich möchte Sie um Ihre Hilfe bitten.«

»Mit ›wir‹ ist wohl die Abteilung Verhaltensforschung in Quantico gemeint. Sie sind eine von Jack Crawfords Leuten, nehme ich an.«

»Das bin ich, ja.«

»Dürfte ich Ihre Referenzen sehen?«

Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich habe sie im ... Büro gezeigt.«

»Sie meinen, Sie haben sie Dr. phil. Frederick Chilton gezeigt?«

»Ja.«

»Haben Sie seine Referenzen gesehen?«

»Nein.«

»Die akademischen geben nicht viel her, kann ich Ihnen versichern. Haben Sie Alan kennengelernt? Ein reizender Bursche, nicht? Mit wem von beiden würden Sie sich lieber unterhalten?«

»Alles in allem, mit Alan, würde ich sagen.«

»Sie könnten eine Journalistin sein, die Chilton für Geld hereingelassen hat. Ich glaube, ich habe ein Recht, Ihre Papiere zu sehen.«

»Na schön.« Sie hielt ihren laminierten Ausweis hoch.

»Aus dieser Entfernung kann ich ihn nicht lesen. Schieben Sie ihn mir bitte rein.«

»Das darf ich nicht.«

»Weil er hart ist?«

»Ja.«

»Fragen Sie Barney.«

Der Wärter kam und überlegte. »Dr. Lecter, ich lasse das zu Ihnen rein. Aber wenn Sie es nicht zurückgeben, wenn ich Sie darum bitte – wenn Sie uns Ärger machen und wir Sie ruhigstellen müssen, um es zurückzubekommen –, werde ich sauer. Und wenn ich sauer werde, bleiben Sie gefesselt, bis ich wieder besser auf Sie zu sprechen bin. Essen durch den Schlauch, zweimal am Tag die Windeln gewechselt, die ganze Latte. Und ich behalte eine Woche lang Ihre Post ein. Kapiert?«

»Sicher, Barney.«

Der Ausweis wurde im Fach durchgeschoben, und Dr. Lecter hielt ihn ans Licht.

»Sie befinden sich noch in Ausbildung? Hier steht ›in Ausbildung‹. Jack Crawford schickt jemanden, der sich noch in Ausbildung befindet, um mich zu interviewen?« Er tippte mit dem Ausweis gegen seine kleinen weißen Zähne und sog seinen Geruch ein.

»Dr. Lecter«, sagte Barney.

»Aber sicher.« Er legte den Ausweis in das Fach zurück, und Barney zog es nach draußen.

»Ich befinde mich an der Academy noch in Ausbildung, ja«, sagte Starling. »Aber wir unterhalten uns nicht über das FBI – wir sprechen über Psychologie. Können Sie nicht für sich selbst entscheiden, ob ich für das, worüber wir sprechen, qualifiziert bin?«

»Ammmm«, sagte Dr. Lecter. »Also ... das ist ganz schön raffiniert von Ihnen. Barney, wie sieht es aus? Könnte Officer Starling vielleicht einen Stuhl haben?«

»Von einem Stuhl hat Dr. Chilton nichts gesagt.«

»Was sagen Ihnen Ihre Manieren, Barney?«

»Möchten Sie einen Stuhl?« fragte Barney sie. »Wir hätten einen hinstellen können, aber er – na ja, normalerweise bleibt niemand so lange.«

»Ja, bitte«, sagte Starling.

Barney holte einen Klappstuhl aus dem abgeschlossenen Schrank auf der anderen Seite des Ganges, stellte ihn auf und ließ sie allein.

»So«, begann Lecter, der seitlich an seinem Tisch saß, so daß er sie direkt ansah. »Was hat Miggs zu Ihnen gesagt?«

»Wer?«

»Unser multipler Freund Miggs ein paar Zellen weiter. Er hat sie angezischt. Was hat er gesagt?«

»Er sagte: ›Ich kann deine Fotze riechen.‹«

»Ach? Ich kann das nicht. Sie benutzen Evyan Hautcreme, und manchmal tragen Sie L’Air du Temps, aber heute nicht. Heute haben Sie sich bewußt nicht parfümiert. Welche Gefühle ruft das, was Miggs gesagt hat, in Ihnen hervor?«

»Er ist aus Gründen feindselig, die ich nicht kenne. Das ist schade. Er verhält sich den Leuten gegenüber feindselig, die Leute verhalten sich ihm gegenüber feindselig. Ein ewiger Kreislauf.«

»Sind Sie ihm gegenüber feindselig?«

»Es tut mir leid, daß er krank ist. Ansonsten interessiert mich nicht, was er sagt. Woher wissen Sie das mit dem Parfüm?«

»Ein Hauch aus Ihrer Handtasche, als Sie Ihren Ausweis herausgeholt haben. Eine schöne Handtasche ist das.«

»Danke.«

»Sie haben Ihre beste Handtasche mitgenommen, nicht?«

»Ja.« Es stimmte. Sie hatte sich für die klassisch legere Handtasche entschieden, und es war das beste Stück, das sie besaß.

»Sie ist wesentlich besser als Ihre Schuhe.«

»Was nicht ist, kann noch werden.«

»Daran zweifle ich nicht im geringsten.«

»Sind die Zeichnungen an den Wänden von Ihnen, Herr Doktor?«

»Glauben Sie, ich habe einen Innenarchitekten kommen lassen?«

»Die über dem Waschbecken, ist das eine europäische Stadt?«

»Florenz. Der Palazzo Vecchio und der Duomo, vom Belvedere aus gesehen.«

»Haben Sie das nach der Erinnerung gezeichnet? Alle Details?«

»Erinnerungen, Officer Starling, sind das, was ich statt eines Blicks habe.«

»Die andere ist eine Kreuzigungsszene? Das Kreuz in der Mitte ist leer.«

»Es ist Golgatha nach der Kreuzabnahme. Buntstifte und Magic Marker auf Pergamentpapier. Das ist, was der Dieb, dem das Paradies versprochen wurde, wirklich bekam, als sie das Osterlamm weggeschafft hatten.«

»Und was bekam er?«

»Die Beine gebrochen natürlich, genau wie sein Leidensgenosse, der Christus verspottet hatte. Kennen Sie denn das Johannesevangelium nicht? Dann sollten Sie sich vielleicht Duccio ansehen – er malt sehr genaue Kreuzigungen. Wie geht es Will Graham? Wie sieht er aus?«

»Ich kenne Will Graham nicht.«

»Aber Sie wissen, wer er ist. Jack Crawfords Protegé. Ihr Vorgänger. Wie sieht sein Gesicht aus?«

»Ich habe ihn nie gesehen.«

»Das nennt man ›ein paar alte Problemfälle anschneiden‹, Officer Starling, wenn Sie nichts dagegen haben?«

Momente des Schweigens, dann wagte sie den Sprung.

»Ich wüßte etwas Besseres. Wir könnten hier ein paar alte Schnitte problematisieren. Ich habe –«

»Nein. Nein, das ist töricht und falsch. Machen Sie bei einer Überleitung nie eine geistreiche Bemerkung. Wenn Sie eine geistreiche Bemerkung verstehen und darauf eingehen, hat das zur Folge, daß Ihr Gesprächspartner eine rasche gedankliche Analyse vornimmt, die sich negativ auf die Stimmung auswirkt. Schließlich tasten wir uns auf der schmalen Planke der Stimmung voran. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sie waren höflich und empfänglich für Höflichkeit, Sie hatten ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, indem Sie die peinliche Wahrheit über Miggs erzählt haben, und dann kommen Sie mit einer schwerfälligen Überleitung auf Ihren Fragebogen zu sprechen. Das geht nicht.«

»Dr. Lecter, Sie sind ein erfahrener Psychiater. Trauen Sie mir allen Ernstes zu, ich könnte versuchen, mir auf eine so plumpe Tour Ihr Vertrauen zu erschleichen? Da hätte ich eigentlich etwas mehr Menschenkenntnis von Ihnen erwartet. Ich bitte Sie, den Fragebogen zu beantworten, und entweder tun Sie es, oder Sie tun es nicht. Würden Sie sich denn etwas dabei vergeben, wenn Sie mal einen Blick hineinwerfen?«

»Officer Starling, haben Sie eine der Studien gelesen, die Ihre Abteilung Verhaltensforschung veröffentlicht hat?«

»Ja.«

»Ich auch. Kindischerweise hat sich das FBI geweigert, mir das Law Enforcement Bulletin zuzuschicken, aber ich beschaffe es mir antiquarisch. Außerdem habe ich die News von John Jay und die psychiatrischen Fachzeitschriften. Sie unterteilen die Menschen, die Serienmord praktizieren, in zwei Gruppen – organisiert und nicht organisiert. Was halten Sie davon?«

»Es ist eine ... fundamentale Unterteilung. Offensichtlich...«

»Simplifizierend ist das Wort, das Sie meinen. Tatsache ist, die meiste Psychologie ist infantil, Officer Starling, und das, was man in der Verhaltensforschung praktiziert, bewegt sich auf demselben Niveau wie die Phrenologie. Das fängt schon damit an, wer heutzutage Psychologie betreibt. Gehen Sie in das psychologische Institut eines x-beliebigen Colleges, und sehen Sie sich die Studenten und den Lehrkörper an: begeisterte Funkamateure und andere Dilettanten mit Charakterdefiziten. Schwerlich die größten Geister auf dem Campus. Organisiert und nicht organisiert – wirklich eine bahnbrechende Idee.«

»Wie würden Sie die Klassifizierung ändern?«

»Ich würde sie nicht ändern.«

»Weil wir gerade von Publikationen sprechen. Ich habe Ihre Aufsätze über Operationssucht sowie linksseitige und rechtsseitige Gesichtsausdrücke gelesen.«

»Ja, sie waren erstklassig«, sagte Dr. Lecter.

»Das fand ich auch, und Jack Crawford ebenfalls. Er hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Das ist ein Grund, weshalb er unbedingt möchte, daß Sie –«

»Der Stoiker Crawford möchte etwas unbedingt? Er muß sehr beschäftigt sein, wenn er auf jemanden aus der Studentenschaft zurückgreift.«

»Das ist er, und er möchte –«

»Beschäftigt mit Buffalo Bill.«

»Wahrscheinlich.«

»Nein. Nicht ›wahrscheinlich‹. Officer Starling, Sie wissen sehr genau, es ist Buffalo Bill. Ich dachte, Jack Crawford könnte Sie hergeschickt haben, um mich nach ihm zu fragen.«

»Nein.«

»Dann haben Sie sich nur noch nicht dazu durchgerungen.«

»Nein, ich bin gekommen, weil wir Ihre –«

»Was wissen Sie über Buffalo Bill?«

»Niemand weiß viel.«

»Stand alles in den Zeitungen?«

»Ich denke schon. Dr. Lecter, ich habe kein vertrauliches Material über diesen Fall zu sehen bekommen, meine Aufgabe ist –«

»Wieviel Frauen hat Buffalo Bill benutzt?«

»Die Polizei fand fünf.«

»Alle geschunden?«

»Teilweise, ja.«

»Die Zeitungen sind nie darauf eingegangen, wie er zu seinem Namen gekommen ist. Wissen Sie, warum er Buffalo Bill genannt wird?«

»Ja.«

»Sagen Sie es mir.«

»Ich sage es Ihnen, wenn Sie sich diesen Fragebogen ansehen.«

»Ich sehe ihn mir an, mehr nicht. Und jetzt, warum?«

»Es fing alles im Morddezernat von Kansas City an. Ein schlechter Scherz.«

»Ja ...?«

»Sie nennen ihn Buffalo Bill, weil er seinen Opfern die Haut abzieht.«

Anstatt sich unbehaglich zu fühlen, stellte Starling fest, kam sie sich jetzt ordinär vor. Vor die Wahl gestellt, hätte sie sich lieber unbehaglich gefühlt.

»Schieben Sie mir den Fragebogen durch.«

Starling legte den blauen Abschnitt in das Schubfach und gab ihm einen Stoß. Sie saß still da, während ihn Lecter überflog.

Er warf ihn in das Fach zurück. »Also wissen Sie, Officer Starling, glauben Sie, mit diesem stumpfen kleinen Instrument können Sie mich sezieren?«

»Nein. Ich glaube, Sie können uns zu einigen Erkenntnissen verhelfen und diese Studie weiterbringen.«

»Und welchen Grund könnte ich haben, das zu tun?«

»Neugier.«

»Auf was?«

»Warum Sie hier sind. Was mit Ihnen passiert ist.«

»Nichts ist mit mir passiert, Officer Starling. Ich bin passiert. Sie können mich nicht auf eine Verquickung äußerer Einflüsse reduzieren. Zugunsten des Behaviorismus haben Sie Gut und Böse über Bord geworfen, Officer Starling. Sie ziehen von vorneherein jedem eine weiße Weste an ... nie hat jemand Schuld an etwas. Sehen Sie mich an, Officer Starling. Bringen Sie es über sich zu sagen, daß ich böse bin? Bin ich böse, Officer Starling?«

»Ich denke, Sie sind destruktiv. Das ist für mich dasselbe.«

»Böse ist lediglich destruktiv? Wenn die Sache so einfach ist, dann sind Unwetter böse. Und es gibt auch noch Feuer – oder Hagel. Für Versicherungsagenten fällt das alles unter ›höhere Gewalt‹.«

»Absichtlich –«

»Ich sammle, sozusagen als Hobby, Kircheneinstürze. Haben Sie den jüngsten in Sizilien mitbekommen? Unglaublich! Während der Messe stürzte die Fassade auf fünfundsechzig Großmütter. War das böse? Wenn ja, wer hat es getan? Wenn es Ihn dort oben gibt, findet Er so etwas einfach großartig, Officer Starling. Typhus und Schwäne – kommt alles von derselben Adresse.«

»Ich kann Ihnen das nicht erklären, Herr Doktor, aber ich weiß, wer es kann.«

Er gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. Die Hand war schön geformt, stellte sie fest, und der Mittelfinger perfekt repliziert. Es ist die seltenste Form der Polydaktylie.

Als er weitersprach, war sein Ton mild und freundlich. »Sie würden mich gern quantifizieren, Officer Starling. Sie sind sehr ehrgeizig, nicht wahr? Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, mit Ihrer guten Handtasche und Ihren billigen Schuhen? Sie kommen mir vor wie ein Bauerntrampel. Sie sind ein frischgeschrubbter, vom Erfolg besessener Bauerntrampel mit einem Hauch von Geschmack. Ihre Augen sind wie billige Glückssteine – nichts als oberflächlicher Glanz, wenn Sie auf irgendeine läppische Antwort lauern. Und dahinter steckt ein kluger Kopf, oder nicht? Sie sind verzweifelt bemüht, nicht wie Ihre Mutter zu sein. Gute Ernährung hat Ihnen zu einem einigermaßen langgestreckten Knochenbau verholfen, aber mehr als eine Generation sind Sie den Minen noch nicht entronnen, Officer Starling. Sind es die West-Virginia-Starlings oder die Oklahoma-Starlings, Officer? Es war völlig offen, ob Sie aufs College gehen oder die Möglichkeiten im Women’s Army Corps nutzen würden, nicht wahr? Darf ich Ihnen etwas Bestimmtes über Sie sagen, Polizeischülerin Starling? Zu Hause in Ihrem Zimmer haben Sie eine Kette mit goldenen Add-a-Beads, und es versetzt Ihnen einen hinterhältigen kleinen Stich, wenn Sie sehen, wie geschmacklos diese Perlen jetzt sind, ist es nicht so? Diese ganzen lästigen Dankeschöns, dieses ganze aufrichtige Gefummel zulassen zu müssen, für jede Perle einmal ganz feucht zu werden. Lästig. Lästig. Ö-ö-ö-de. Klug zu sein verdirbt einem vieles, habe ich recht? Und Geschmack ist unnachsichtig. Wenn Sie über dieses Gespräch nachdenken, werden Sie sich an diesen verletzten Ausdruck in seinem Blick erinnern, als Sie ihm den Laufpaß gaben, wie bei einem dumpfen Tier.

Nachdem die Add-a-Beads kitschig geworden sind, was wird dann noch alles vom selben Schicksal ereilt werden? Das fragen Sie sich doch nachts, oder nicht?« Und das alles sagte Dr. Lecter in denkbar freundlichem Ton.

Starling hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Sie sehen viel, Dr. Lecter. Ich würde nichts von dem, was Sie gesagt haben, abstreiten. Aber jetzt die Frage, die Sie mir auf der Stelle beantworten werden, ob Sie nun wollen oder nicht: Sind Sie stark genug, diese scharfe Beobachtungsgabe auf sich selbst zu richten? Es ist nicht einfach. Ich habe es in den letzten paar Minuten am eigenen Leib verspürt. Wie sieht es aus? Betrachten Sie sich selbst, und schreiben Sie die Wahrheit nieder. Gäbe es denn einen Gegenstand, der komplexer und besser geeignet wäre? Oder haben Sie etwa Angst vor sich selbst?«

»Sie sind ganz schön zäh, nicht wahr, Officer Starling?«

»Es geht so, ja.«

»Und der Gedanke, gewöhnlich zu sein, wäre schrecklich für Sie. Würde das nicht schmerzen? Und wie! Also, Sie sind alles andere als gewöhnlich, Officer Starling. Alles, was Sie haben, ist die Angst davor. Was haben Sie für Add-a-bead-Perlen? Sieben Millimeter?«

»Sieben.«

»Ich hätte da einen Vorschlag. Besorgen Sie sich einige gebohrte Tigeraugen und fädeln Sie sie abwechselnd mit den Goldperlen auf. Sie können entweder immer zwei und drei oder eins und zwei nehmen, je nach dem, was Ihnen am besten gefällt. Die Tigeraugen greifen die Farbe Ihrer eigenen Augen und die Glanzlichter in Ihrem Haar auf. Hat Ihnen mal jemand zum Valentinstag eine Karte geschickt?«

»Ja.«

»Die Fastenzeit hat bereits begonnen. Nur noch eine Woche bis zum Valentinstag, ähmmmm, rechnen Sie damit, welche zu bekommen?«

»Man kann nie wissen.«

»Nein, wirklich nie ... Ich denke gerade über den Valentinstag nach. Das bringt mich auf einen eigenartigen Gedanken. Wenn ich mir’s recht überlege, könnte ich Sie am Valentinstag sehr glücklich machen, Clarice Starling.«

»Wie, Dr. Lecter?«

»Indem ich Ihnen eine schöne Karte schicke. Ich muß mal darüber nachdenken. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Wiedersehen, Officer Starling.«

»Und die Studie?«

»Einmal hat mich ein Volkszähler zu quantifizieren versucht. Ich habe seine Leber mit Fava-Bohnen und einem großen Amarone verspeist. Gehen Sie zurück in die Schule, kleine Starling.«

Höflich bis zum Schluß, kehrte ihr Hannibal Lecter nicht den Rücken zu. Er trat rückwärts von der Absperrung zurück, bevor er sich wieder auf seine Pritsche legte und plötzlich wieder so unnahbar wurde wie ein Kreuzritter aus Stein, der auf einem Sarkophag lag.

Starling fühlte sich mit einem Mal ausgelaugt, so, als hätte sie Blut gespendet. Weil sie ihren Beinen nicht sofort traute, nahm sie sich mehr Zeit als nötig, um die Papiere in ihre Aktenmappe zurückzustecken. Starling war durchtränkt von dem Versagen, das sie verabscheute. Sie klappte den Stuhl zusammen und lehnte ihn gegen den Besenschrank. Sie mußte wieder an Miggs vorbei. Barney in der Ferne schien zu lesen. Sie konnte nach ihm rufen, daß er sie abholte. Miggs konnte sie mal. Es war nicht schlimmer, als in der Stadt jeden Tag an Bauarbeitertrupps oder rüpelhaften Ausfahrern vorbeizumüssen. Sie begann den Gang hinunterzugehen.

Dicht neben ihr zischte Miggs’ Stimme: »Ich habe mir die Pulsadern aufgebissen, damit ich steeeerben kann – siehst du, wie es blutet?«

Sie hätte Barney rufen können, aber sie blickte erschrocken in die Zelle, sah Miggs mit dem Handgelenk einen raschen Schlenker machen und spürte den warmen Spritzer auf ihrer Wange und ihrer Schulter, bevor sie sich abwenden konnte.

Sie entfernte sich von ihm, merkte, daß es Sperma war, kein Blut, und Lecter rief nach ihr, sie konnte ihn hören. Hinter ihr Dr. Lecters Stimme, der scharfe schnarrende Ton stärker ausgeprägt.

»Officer Starling.«

Er war aufgestanden und rief ihr hinterher. Im Gehen kramte sie in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern.

Hinter ihr: »Officer Starling.«

Sie war jetzt auf den kalten Gleisen ihrer Beherrschung und steuerte zügig auf das Tor zu.

»Officer Starling.« Ein neuer Unterton in Lecters Stimme.

Sie blieb stehen. Was, in Gottes Namen, will ich bloß so sehr? Miggs zischte etwas, auf das sie nicht hörte.

Sie stand wieder vor Lecters Zelle, wo sich ihr das seltene Schauspiel des Doktors in Rage bot. Sie wußte, er konnte es an ihr riechen. Er konnte alles riechen.

»Das hätte nie passieren dürfen. Ich finde Taktlosigkeit unsäglich abstoßend.«

Es war, als hätten ihn seine Morde von kleineren Roheiten geläutert. Oder vielleicht, dachte Starling, erregte es ihn, sie auf diese besondere Weise gezeichnet zu sehen. Sie konnte es nicht sagen. Die Funken in seinen Augen flogen in seine Finsternis wie Glühwürmchen in eine Höhle.

Egal, was es ist, mach es dir zunutze, Herrgott noch mal! Sie hielt ihre Aktenmappe hoch. »Bitte machen Sie das hier für mich.«

Vielleicht kam sie zu spät; er hatte sich wieder beruhigt.

»Nein. Aber ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht bereuen, gekommen zu sein. Ich werde Ihnen etwas anderes geben. Ich gebe Ihnen, was Sie am meisten lieben, Clarice Starling.«

»Was ist das, Dr. Lecter?«

»Beruflicher Erfolg natürlich. Es trifft sich ganz hervorragend  – besser hätte es gar nicht kommen können. Der Valentinstag hat mich darauf gebracht.« Das Lächeln über seinen kleinen weißen Zähnen hätte alle möglichen Gründe haben können. Er sprach so leise, daß sie ihn kaum hören konnte. »Sehen Sie nach Ihren Valentinstagsgrüßen in Raspails Wagen. Haben Sie mich verstanden? Sehen Sie nach Ihren Valentinstagsgrüßen in Raspails Wagen. Aber jetzt gehen Sie lieber; ich glaube nicht, daß Miggs es so schnell erneut bringt, auch wenn er verrückt ist, finden Sie nicht auch?«

4

Clarice Starling war aufgeregt, erschöpft, nur noch von ihrer Willenskraft angetrieben. Einige der Dinge, die Lecter gesagt hatte, waren wahr, und einige streiften die Wahrheit nur. Ein paar Sekunden lang hatte sie in ihrem Kopf ein fremdes Bewußtsein wüten gespürt, das wie ein Bär in einem Wohnmobil Sachen von den Regalen warf.

Sie ärgerte sich darüber, was er über ihre Mutter gesagt hatte, und sie mußte ihren Ärger loswerden. Das war etwas Dienstliches.

Sie saß gegenüber der Klinik in ihrem alten Pinto und atmete tief durch. Als die Fenster beschlugen, fühlte sie sich ein wenig vor den Blicken der Passanten geschützt.

Raspail. Sie erinnerte sich an den Namen. Er war ein Patient Lecters und eins seiner Opfer. Sie hatte nur einen Abend mit dem Lecter-Hintergrundmaterial gehabt. Die Akte war umfangreich und Raspail eins von vielen Opfern. Sie mußte die Details nachlesen.

Am liebsten wäre Starling der Sache sofort weiter nachgegangen, aber ihr war klar, daß nur sie es war, die dem Ganzen solche Dringlichkeit beimaß. Der Fall Raspail war vor Jahren abgeschlossen worden. Niemand war gefährdet. Sie hatte Zeit. Besser, sie war gut informiert und gut beraten, bevor sie weitermachte.

Aber unter Umständen nahm Crawford ihr die Sache aus der Hand und gab sie jemand anderem. Dieses Risiko mußte sie eingehen.

Sie versuchte, ihn von einer Telefonzelle anzurufen, mußte sich aber sagen lassen, daß er vor dem Bewilligungsunterausschuß des Kongresses um Zuteilungen für das Justizministerium bettelte.

Sie hätte sich vom Morddezernat des Baltimore Police Department Detailinformationen über den Fall beschaffen können, aber Mord ist keine bundesbehördlich verfolgte Straftat, und sie wußte, sie würden sich die Sache sofort selbst unter den Nagel reißen, keine Frage.

Sie fuhr zurück nach Quantico, zurück zur Abteilung Verhaltensforschung mit ihren anheimelnden braunkarierten Vorhängen und ihren grauen Akten voller Hölle. Dort saß sie – die letzte Sekretärin war längst gegangen – bis spät in den Abend hinein und rollte den Lecter-Mikrofilm durch. Das widerspenstige alte Gerät strahlte wie ein Irrlicht in den abgedunkelten Raum hinein, während Wörter und Negative von Bildern über ihr angespanntes Gesicht schwärmten.

Raspail, Benjamin Rene, weiß, männlich, 46, war erster Flötist des Baltimore Philharmonic Orchestra. Er war Patient in Dr. Hannibal Lecters psychiatrischer Praxis.

Am 22. März 1975 erschien er nicht zu einem Konzert in Baltimore. Am 25. März wurde seine Leiche in einer kleinen Kirche in der Nähe von Falls Church, Virginia, gefunden, wo er, nur mit Frack und weißer Fliege bekleidet, in einer Kirchenbank saß. Die Autopsie ergab, daß Raspails Herz durchbohrt war und Thymus und Bauchspeicheldrüse fehlten.

Clarice Starling, die aus ihrer Kindheit mehr über Fleischverarbeitung wußte, als ihr lieb war, erkannte in den fehlenden Organen das menschliche Pendant zum Kalbsbries wieder.

Im Morddezernat Baltimore glaubte man, sie hätten zur Speisenabfolge eines Essens gehört, das Lecter am Abend nach Raspails Verschwinden für den Präsidenten und den Dirigenten des Baltimore Philharmonic Orchestra gegeben hatte.

Dr. Hannibal Lecter behauptete, nichts über die Angelegenheit zu wissen. Der Präsident und der Dirigent der Philharmoniker sagten aus, sie könnten sich nicht an die einzelnen Gänge des Essens bei Dr. Lecter erinnern, auch wenn Lecter für seine exzellente Küche bekannt war und in kulinarischen Fachzeitschriften zahlreiche Artikel veröffentlicht hatte.

Der Präsident der Philharmoniker mußte daraufhin in einem ganzheitlich orientierten Nervensanatorium in Basel wegen Anorexie und Alkoholismus behandelt werden.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe THE SILENCE OF THE LAMBS erschien bei St. Martins Press, New York

2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 07/2006

Copyright © 1988 by Yazoo Inc.

Copyright © 1990 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München Copyright © 2006 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration und Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich Satz: Leingärtner, Nabburg

eISBN 978-3-641-09665-6

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