Hannibal - Thomas Harris - E-Book
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Hannibal E-Book

Thomas Harris

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Beschreibung

Hannibal Lecter ist zurück

Clarice Starling steckt in einer Krise, seit sie eine Drogendealerin erschossen hat. Doch dann wird sie wieder auf Hannibal Lecter angesetzt, der vor sieben Jahren aus dem Hochsicherheitstrakt entflohen ist. Währenddessen träumt sein großer Gegenspieler Mason Verger von Rache und benutzt Clarice als menschlichen Köder, um an Hannibal Lecter heranzukommen.

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Das Buch

Clarice Starling schläft. Ihre Karriere beim FBI ist in der Krise, seit sie eine Drogendealerin erschossen hat. Aber dann wird sie wieder auf Hannibal Lecter, den Kannibalen, angesetzt, der vor sieben Jahren aus dem Hochsicherheitstrakt entflohen ist.

Auf seinem Landgut träumt Mason Verger, Sadist und schwerreicher Erbe eines Schweinebarons, von Rache. Dr. Lecter brach ihm einst die Wirbelsäule und ließ sein Gesicht von Hunden zerfleischen. Über ein weltweites Informationsnetz lässt er jede Bewegung seines Erzfeindes überwachen. Aber er weiß, dass er den genialen Psychiater nur mit Hilfe eines unwiderstehlichen Köders in seine Gewalt bringen kann …

Der Autor

Thomas Harris, 1940 geboren, begann seine Karriere als Kriminalreporter in den USA und Mexiko, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Er ist Schöpfer der legendären Serienkiller-­Figur Hannibal Lecter, die erstmals in dem Roman Roter Drache auftritt. Der internationale Bestseller Das Schweigen der Lämmer machte Thomas Harris schließlich weltberühmt, die Verfilmungen der Hannibal-Bücher wurden zu großen Erfolgen. Nach einer längeren Pause feiert Harris mit seinem Thriller Cari Mora ein sensationelles Comeback!

THOMAS

HARRIS

HANNIBAL

THRILLER

AUS DEM AMERIKANISCHEN

VON ULRICH BITZ

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Hannibal bei Delacorte Press, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 06/2019

Copyright © 1999 by Yazoo Fabrications Inc.

Copyright © 1999 der deutschsprachigen Ausgabe

by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Copyright © 2000/2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: punchdesign

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-19181-8 V004

www.heyne.de

I

WASHINGTON, D. C.

1

Man sollte annehmen, dass solch ein Tag

förmlich ­danach fiebert anzubrechen …

Clarice Starlings Mustang röhrte die Auffahrt des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in der Massachusetts Avenue hoch, ein Hauptquartier, das man aus Sparsamkeitsgründen von Reverend Sun Myung Moon angemietet hatte.

Die Wagenkolonne der Einsatzgruppe, mit einem zerbeulten Undercover-Lieferwagen an der Spitze und zwei schwarzen SWAT-Vans dahinter, stand mit laufenden Motoren in der Tiefgarage des Gebäudes.

Starling wuchtete die Tasche mit ihrer Ausrüstung aus dem Mustang und hastete zum Führungsfahrzeug hinüber, einem schmutzigweißen, geschlossenen Lieferwagen, der an den Seiten die Aufschrift »Marcell’s Gourmet-Krabben« trug.

Durch die geöffneten Hecktüren beobachteten vier Männer Starlings Auftritt. Der Kampfanzug ließ sie schmal wirken. Trotz des Gewichts der Ausrüstung bewegte sie sich rasch. Ihr Haar glänzte in dem gespenstischen Neonlicht.

»Frauen und Pünktlichkeit«, knurrte ein Officer.

BATF Special Agent John Brigham, für den Einsatz verantwortlich, erstickte jede Diskussion im Keim.

»Sie ist nicht zu spät – ich habe sie erst gerufen, als wir von unserem Informanten grünes Licht hatten«, sagte Brigham. »Sie musste sich erst mal aus Quantico loseisen. – Hey, Starling, hier herüber mit der Tasche.«

»Gimme five, John«, begrüßte ihn Starling.

Ein kurzer Wortwechsel Brighams mit dem heruntergekommenen Undercover-Agenten, der am Steuer saß, und der Lieferwagen fuhr los, bevor die Hecktüren geschlossen waren, hinaus in den freundlichen Herbstnachmittag.

Clarice Starling, die in ihrem Agentinnenleben mehr als genug Überwachungswagen kennengelernt hatte, tauchte unter dem Okular des Periskops hinweg und suchte sich im hinteren Teil des Wagens einen Platz, möglichst nahe den 150 Pfund Trockeneis, die als Kühlung würden herhalten müssen, wenn sie mit ­abgestelltem Motor auf der Lauer lagen.

Der alte Lieferwagen verströmte diesen Ziegenstallgeruch aus Angst und Schweiß, dem mit keiner Putzaktion mehr beizukommen ist. Er hatte über die Jahre hinweg unzählige Firmenaufdrucke über sich ergehen lassen müssen. Die leicht angeschmutzten, verblassenden Schilder waren keine halbe Stunde alt. Die verspachtelten Einschusslöcher waren älter.

Die Rückfenster funktionierten gut getarnt wie Einweg­spiegel.

Starling konnte die großen schwarzen SWAT-Vans, die ihnen folgten, gut sehen. Sie hoffte, dass sie nicht länger als absolut ­nötig in den Wagen zubringen mussten. Immer dann, wenn sie ihr Gesicht dem Fenster zuwandte, musterten ihre männlichen Kollegen sie mit verstohlenem Blick.

FBI Special Agent Clarice Starling machte, wie bisher noch in jedem Alter, eine gute Figur mit ihren zweiunddreißig Jahren, sogar im Kampfanzug.

Brigham griff sich seinen Klemmblock vom Beifahrersitz.

»Wie kommt es eigentlich, Starling, dass du immer wieder in so einer Scheiße landest?« fragte er sie lächelnd.

»Weil du mich immer wieder anforderst«, antwortete sie.

»Für das hier brauche ich dich wirklich. Aber ich sehe doch, dass du mit den Greifern Haftbefehle vollstrecken musst. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber irgendwer in Buzzards Point muss dich hassen. Komm zu mir. Arbeite mit mir. Darf ich dir meine Leute vorstellen? Das hier sind Agent Marquez Burke und John Hare, und dort drüben sitzt Officer Bolton vom Washingtoner Police Department.«

Mehr oder weniger bunt zusammengewürfelte Einsatzgruppen aus Leuten vom Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, der DEA und dem FBI waren Ausdruck der angespannten Haushaltslage in einer Zeit, wo sogar die FBI-Akademie wegen Geldmangels ihre Pforten schließen musste.

Burke und Hare sahen wie Agenten aus. Officer Bolton machte eher den Eindruck eines Vollzugsbeamten. Er war un­gefähr fünfundvierzig, übergewichtig und wirkte leicht aufgedunsen.

Der Bürgermeister von Washington, nach seiner Verurteilung wegen Drogenbesitzes sorgsam darauf bedacht, sich als Mann der harten Hand zu profilieren, legte größten Wert darauf, dass Washingtons Polizei bei jeder größeren Drogenrazzia ihren Anteil am Erfolg abbekam. Darum also Bolton.

»Die Drumgo-Clique kocht heute«, sagte Brigham.

»Evelda Drumgo, als ob ich es nicht geahnt hätte«, sagte Starling, nicht sonderlich erbaut.

Brigham nickte. »Sie betreibt unten am Fluss in der Nähe des Feliciana-Fischmarkts ein Labor. Unserem Informanten zufolge hat sie heute eine Wagenladung ›Ice‹ in Arbeit. Und sie hat für heute Abend Flugtickets zu den Cayman Islands gebucht. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Methamphetamin in kristalliner Form, Straßenname »Ice«, garantiert einen kurzen, heftigen Kick und macht auf der Stelle abhängig.

»Der Stoff ist Sache der DEA. Wir sind einzig und allein an Evelda und ihren illegalen Waffentransporten interessiert. Der Haftbefehl führt halbautomatische Berettas und einige MAC 10s auf, und sie weiß, wo noch mehr davon lagert. Ich will, dass du dich auf Evelda konzentrierst, Starling. Du kennst sie. Meine Leute werden dir den Rücken freihalten.«

»Wenn’s weiter nichts ist«, warf Officer Bolton mit einem zufriedenen Unterton in der Stimme ein.

»Ich glaube, du solltest den Jungs noch ein paar Hintergrundinformationen zu Evelda mit auf den Weg geben, Starling«, sagte Brigham.

Starling antwortete nicht sofort, da der Lieferwagen gerade über Bahngleise rumpelte.

»Die Frau ist brandgefährlich«, sagte sie. »Sie sieht zwar nicht danach aus – schließlich war sie in ihrem früheren Leben Model –, sie wird euch aber bis aufs Blut bekämpfen. Witwe von Dijon Drumgo. Ich habe sie bereits zweimal wegen Verdachts auf Verstoß gegen das RICO verhaftet. Das erste Mal zusammen mit Dijon.

Das letzte Mal kam sie mit einer 9-Millimeter und drei Magazinen an. Als ob das nicht gereicht hätte, hatte sie Tränengas in ihrer Handtasche und ein Butterfly-Messer in ihrem BH. Keine Ahnung, was sie heute so alles mit sich herumschleppt.

Bei der zweiten Verhaftung habe ich sie höflich aufgefordert, sich zu ergeben, was sie auch tat. In der Untersuchungshaft tötete sie eine Mitgefangene namens Marsha Valentine mit einem Löffelstiel. Man kann also nie wissen … Die Frau ist schwer zu durchschauen. Die Grand Jury erkannte auf Notwehr.

Die Anklagen wegen Verstoßes gegen das Rauschmittelgesetz hat sie abgewehrt. Einige Anklagen wegen Waffenhandels wurden fallengelassen, da sie minderjährige Kinder hat und ihr Ehemann gerade bei einem drive-by in der Pleasant Avenue ums Leben gekommen war. Möglicherweise ging letzteres auf das Konto der Spliffs.

Ich werde sie auffordern, die Waffen zu strecken. Ich hoffe, dass sie das tun wird – wir geben ihr in jedem Fall Gelegenheit dazu. Aber – und nun hören Sie mir gut zu – sollten wir gezwungen sein, Evelda Drumgo zu überwältigen, dann will ich von ­Ihnen Einsatz sehen. Glauben Sie bloß nicht, meine Herren, Sie könnten Evelda und mich in einem Schlammringkampf bewundern.«

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Starling sich diesen Männern untergeordnet. Nun hörten sie zwar nicht gern, was sie sagte, aber sie hatte zu viel erlebt, um sich darum zu scheren.

»Evelda Drumgo ist durch Dijon den Trey-Eight Crips verbunden«, sagte Brigham. »Sie steht unter dem Schutz der Crips, sagt unser Informant. Die Crips sind für die Verteilung der Ware entlang der Küste verantwortlich. Das Engagement der Crips richtet sich in allererster Linie gegen die Spliffs. Ich weiß nicht, wie sich die Crips verhalten werden, wenn sie uns sehen. Sie gehen Zusammenstößen mit uns für gewöhnlich aus dem Weg.«

»Eines sollten Sie noch wissen – Evelda ist HIV-positiv«, sagte Starling. »Das hat sie Dijon zu verdanken, mit dem sie sich die Nadel teilte. Als sie es in der Untersuchungshaft herausfand, rastete sie aus. An diesem Tag hat sie auch Marsha Valentine getötet und die Wachen angegriffen. Sollte sie nicht bewaffnet sein und trotzdem kämpfen, dann stellen Sie sich darauf ein, dass sie versuchen wird, Sie mit jeder Körperflüssigkeit, die sie absondern kann, in Berührung zu bringen. Sie wird spucken und beißen und nicht zögern, Sie anzupissen oder zuzuscheißen, wenn Sie sie in Gewahrsam nehmen wollen. Aus diesem Grund sind Handschuhe und Masken Pflicht. Falls Sie sie in einem Streifenwagen unterbringen wollen und ihr die Hand auf den Kopf legen, achten Sie auf mögliche Haarnadeln, und sorgen Sie dafür, dass ihr Fußfesseln angelegt werden.«

Burke und Hare machten sehr lange Gesichter. Officer Bolton schien irgendwie unglücklich zu sein. Mit seinem stoppeligen Kinn wies er auf Starlings Waffe, einen .45er Colt, dem man den häufigen Gebrauch förmlich ansah. Der Griff der Waffe war mit Gaffertape umwickelt. Starling trug sie in einem Yaqui-Holster hinten rechts an der Hüfte. »Laufen Sie die ganze Zeit mit gespannter Waffe rum?«

»Gespannt und verriegelt jede Minute des Tages«, sagte ­Starling.

»Nicht ganz ungefährlich«, sagte Bolton.

»Kommen Sie mit auf den Schießstand, und ich zeige es ­Ihnen, Officer.«

Brigham ging dazwischen. »Bolton, ich war Starlings Aus­bilder, als sie bei den Interservice-Meisterschaften drei Jahre in Folge Champion im Pistolenschießen wurde. Starlings Waffe ist das letzte, worum Sie sich hier Sorgen machen müssen. Die Jungs vom Geiselbefreiungsteam, die Velcro Cowboys, wie haben sie dich damals, als du sie ausgebremst hast, noch genannt, Starling? Annie Oakley?«

»Poison Oakley«, sagte sie und blickte zum Rückfenster ­hinaus.

Starling fühlte sich unter all diesen Männern um sie herum sehr einsam in dem stinkenden Überwachungswagen. Chaps, Brut, Old Spice, Schweiß und Leder. Furcht beschlich sie. Ein fader, leicht metallischer Geschmack verklebte ihr den Mund. Ein Bild vor ihrem geistigen Auge: ihr Vater, der nach Tabak und starker Seife roch, wie er mit seinem Taschenmesser, dem die Spitze abgebrochen war, eine Orange schälte; wie er, mit ihr in der Küche sitzend, die Orange teilte. Die immer kleiner werdenden Rücklichter des Pick-ups von ihrem Vater in der Nacht, als er zur Streife aufbrach, von der er nicht lebend zurückkehren sollte. Seine Kleider im Schrank. Das Hemd, das er immer trug, wenn er zum Square dance ging. Ein paar schöne Kleider in ihrem eigenen Schrank, die sie niemals wieder würde anziehen können. Traurige Partykleider auf Kleiderbügeln, wie Spielzeug auf einem Dachboden.

»X minus zehn Minuten«, meldete sich der Fahrer.

Brigham schaute kurz durch die Windschutzscheibe und dann auf seine Uhr. »So sieht es vor Ort aus«, sagte er. Er hatte mit Filzstift hastig auf einem Blatt Papier einen Lageplan skizziert und präsentierte eine schlechte, vom Grundbuchamt zugefaxte Kopie des Gebäudegrundrisses. »Der Fischmarkt gehört zu einer Reihe von Geschäften und Warenhäusern am Flussufer. Die Parcell Street mündet dort auf diesem kleinen Platz vor dem Fischmarkt in die Riverside Avenue.

Wie ihr seht, liegt das Gebäude des Fischmarkts unmittelbar am Wasser. Entlang der Rückseite haben sie einen Anlegesteg. Das Labor von Evelda grenzt ebenerdig an das Gebäude an. Den Eingang könnt ihr hier auf der Vorderseite neben der Überdachung des Fischmarkts erkennen. Während das Labor in Betrieb ist, wird Evelda im Umkreis von wenigstens drei Blocks ihre Leute auf Posten stehen haben. In der Vergangenheit hat ihr Frühwarnsystem perfekt funktioniert. Es ist ihr bis jetzt jedes Mal gelungen, den Stoff zu entsorgen, bevor wir zuschlagen konnten. Um das zu verhindern, erfolgt der Zugriff durch Team Nr. 3 von einem Fischerboot aus genau um 15.00 Uhr. Wir können mit dem Auto näher an das Gebäude als die anderen, ein paar Minuten vor der Razzia fahren wir direkt vor der Vordertür vor. Flüchtet Evelda vorne raus, fangen wir sie hier ab. Bleibt sie im Gebäude, gehen wir rein, sobald das DEA-Team den Hintereingang gestürmt hat. Das Team aus Wagen Nr. 2 deckt die Operation, sieben Mann, die Punkt 15.00 Uhr reinkommen, wenn wir ihnen nicht vorher ein Zeichen geben.«

»Und wie kommen wir durch die Tür?« fragte Starling.

Burke schaltete sich ein. »Falls die Lage es zulässt, nehmen wir den Rammbock. Sollten wir aber Blendgranaten oder Schüsse hören, hat Freund Avon hier das Wort.« Er tätschelte seine Schrotflinte.

Starling hatte sie schon hin und wieder im Einsatz gesehen. »Avon« ist eine mit feinpudrigem Blei geladene großkalibrige ­Patrone, mit der man ein Türschloss herausblasen kann, ohne eventuell dahinterstehende Personen zu verletzen.

»Eveldas Kinder? Wo sind die?« fragte Starling.

»Unser Informant hat gesehen, wie Evelda sie in der Kindertagesstätte abgeliefert hat«, antwortete Brigham. »Er hat den Überblick, ist dicht dran an der Familie, so dicht, wie man eben mit safer sex dran sein kann.«

Brighams Kopfhörer erwachte zum Leben. Er suchte den Teil des Himmels ab, den er durch das Rückfenster sehen konnte. Dabei sprach er in sein Kehlkopfmikro: »Gilt vielleicht nur dem Verkehr.« Zum Fahrer gewandt sagte er: »Team Nr. 2 hat gerade den Helikopter einer Fernsehstation ausgemacht. Siehst du irgend etwas?«

»Nein.«

»Hoffen wir, dass er sich wirklich nur für den Verkehr interessiert. Aufsitzen, bringen wir das Ganze hinter uns.«

Selbst 150 Pfund Trockeneis bescheren fünf Menschen an ­einem warmen Tag in einem engen Lieferwagen keine angenehme Temperatur, zumal wenn sie in voller Kampfausrüstung unterwegs sind. Als Bolton seine Arme hob, bewies er damit einmal mehr, dass ein Spritzer Deo nicht ganz dasselbe ist wie eine Dusche. Clarice Starling hatte in ihr Hemd Schulterpolster eingenäht, um das Gewicht der Kevlar-Weste, die ihr hoffentlich genügend Schutz bot, leichter tragen zu können. Das Gewicht der Weste fiel durch eine zusätzliche Keramikplatte am Rücken deutlich höher aus.

Tragische Erfahrung hatte den Wert einer Rückenplatte nachdrücklich vorgeführt. Sich mit einem Team, das man nicht kennt und dessen Leute über unterschiedliche Trainingsniveaus verfügen, bei einer Razzia gewaltsam irgendwo Zutritt zu verschaffen ist ein gefährliches Unternehmen. Wie schnell hat einem eine Kugel die Wirbelsäule zerschmettert, wenn man einer Gruppe vorangeht, die unerfahren und von Angst getrieben agiert.

Zwei Meilen vom Fluss entfernt bog der Wagen Nr. 3 ab, um das Team der DEA bei dem Fischerboot abzusetzen. Wagen Nr. 2 ließ sich zurückfallen und hielt von nun an diskret Abstand zu dem weißen Lieferwagen.

Die Verwahrlosung der Gegend nahm immer stärkere Züge an. Etwa ein Drittel der Gebäude war mit Brettern vernagelt. Am Straßenrand standen ausgebrannte Autowracks ohne Räder auf Kisten. Junge Männer hingen vor Bars und kleinen Läden an Straßenecken herum. Kinder tobten um eine brennende Matratze auf dem Gehweg.

Falls Eveldas Security auf Posten war, war sie auf den ersten Blick unter den Einheimischen auf dem Gehweg nicht auszumachen. In der Nähe der Schnaps- und Gemüseläden saßen Männer in geparkten Wagen und unterhielten sich.

Ein schäbiges Chevy-Impala-Cabrio mit vier jungen Schwarzen schob sich in den spärlich dahinfließenden Verkehr und folgte dem Lieferwagen. Um die Mädchen, an denen sie vorbeifuhren, zu beeindrucken, ließen die jungen Männer die Schnauze des Impalas immer wieder auf und nieder hüpfen. Der Bass ihrer Stereoanlage brachte das dünne Blech des Lieferwagens zum ­Vibrieren.

Starling beobachtete den Chevy Impala durch das Einwegglas des Rückfensters und erkannte, dass die Männer indem Cabrio keine wirkliche Bedrohung darstellten – Straßenkreuzer der Crips kamen entweder als großräumige Limousinen oder Kombis daher und waren alt genug, um sich gut in die triste Umgebung einzufügen. Die Rückfenster heruntergelassen, hatten sie eine Besatzung von drei, manchmal auch vier Mann. Ein Basketball-­Team in einem Buick kann bedrohlich wirken, wenn man keinen kühlen Kopf bewahrt.

Als sie an einer Ampel halten mussten, nahm Brigham die Schutzhülle vom Okular des Periskops und berührte Bolton am Knie.

»Riskieren Sie mal einen Blick. Schauen Sie sich um, ob sich irgendeine lokale Größe auf der Straße herumtreibt«, sagte Brigham. Der Kopf des Periskops war gut getarnt in einem Ventilator auf dem Dach des Lieferwagens untergebracht. Man konnte mit ihm lediglich nach rechts und links schauen.

Bolton machte einen Schwenk, hielt inne und rieb sich die Augen.

»Das Ding wackelt zu sehr bei laufendem Motor«, sagte er.

Brigham erkundigte sich über Funk nach dem Stand der Dinge bei dem Team auf dem Fischerboot. »Sie sind vierhundert Meter flussabwärts, näher kommend«, wiederholte er für seine Crew im Lieferwagen.

Einen Block von der Parcell Street entfernt wurde der Lieferwagen genau gegenüber dem Fischmarkt durch eine rote Ampel zum Halten gezwungen. Die Ampelphase schien eine kleine Ewigkeit dauern zu wollen. Der Fahrer tat so, als prüfte er den rechten Seitenspiegel, und sagte, ohne den Mundwinkel zu verziehen: »Es sieht ganz so aus, als wollten heute nicht gerade viele Leute Fisch kaufen. Wir sind da.«

Die Ampel sprang auf Grün, und um 14.57 Uhr, drei Minuten vor der X-Zeit, hielt der zerbeulte Lieferwagen direkt vor dem Feliciana Fish Market am Straßenrand. Der Platz hätte nicht besser sein können.

Im hinteren Teil des Lieferwagens hörten sie, wie der Fahrer die Handbremse anzog.

Brigham trat das Okular an Starling ab. »Schau dich um.«

Starling ließ das Periskop die Vorderfront des Gebäudes entlanggleiten. Auf dem Bürgersteig reihten sich unter einer Leinenmarkise Tische und Verkaufsstände mit feucht schimmerndem Fisch. Snapper von den Ufern Carolinas lagen, sortiert nach Größe, auf geschrotetem Eis. Krebse in offenen Kisten bewegten ihre Scheren. In einem Wassertank schoben sich Hummer übereinander. Die cleveren Fischhändler hatten feuchte Pads auf die Augen der großen Fische gelegt, damit sie bis zum Abend ihren Glanz behielten, wenn die mit allen Wassern gewaschenen Hausfrauen karibischer Abstammung zu ihrem allabendlichen Gang über den Markt eintrudelten und die Ware beäugten und an ihr schnupperten.

Das Sonnenlicht zauberte im feinen Sprühregen draußen am Tisch, wo die Fische ausgenommen und gesäubert wurden, einen Regenbogen in die Luft. Ein südamerikanisch wirkender Mann mit stämmigen Unterarmen schlitzte gerade mit einem geschwungenen Messer geschickt einen Mako-Hai auf und spülte den riesigen Fisch mit dem harten Strahl einer Spritzpistole ab. Das blutige Wasser lief in den Rinnstein, und Starling hörte es unter dem Lieferwagen glucksen.

Starling beobachtete den Fahrer dabei, wie er den Fischhändler ansprach, diesem eine Frage stellte. Der Fischhändler schaute auf seine Armbanduhr, zuckte mit den Achseln und wies mit der Hand auf ein nahegelegenes Café. Der Fahrer wanderte noch ein paar Minuten ziellos über den Markt, zündete sich eine Zigarette an und trollte sich dann in Richtung Café davon.

Irgendwo orgelte ein Ghettoblaster »La Macarena«, und das mit einer solchen Lautstärke, dass es Starling noch im Lieferwagen klar und deutlich hörte. Nie wieder in ihrem Leben sollte sie dieses Lied ertragen können.

Die Tür, auf die es ankam, lag rechts von ihnen. Eine doppelte Tür aus Stahl. Davor eine Betonstufe.

Starling wollte gerade das Periskop freigeben, als sich die Tür öffnete. Ein großer Weißer, bekleidet mit einem Hawaiihemd und Sandalen, trat heraus. Mit der einen Hand hielt er einen Schulranzen vor seine Brust gepresst. Die andere ruhte, den Blicken entzogen, dahinter. Ein drahtiger Schwarzer mit einem Regenmantel über dem Arm tauchte hinter ihm in der Türfüllung auf.

»Aufgepasst!« zischte Starling.

Hinter den beiden Männern erschien, Nofretete gleich, Evel­da Drumgo. Ihr schönes Gesicht spähte prüfend über deren Schultern.

»Soeben verlässt Evelda mit zwei Leuten das Haus. Es sieht ganz danach aus, als ob die beiden bewaffnet sind«, sagte ­Starling.

Sie konnte sich nicht schnell genug vom Okular lösen und krachte mit Brigham zusammen. Starling setzte ihren Helm auf.

Brigham gab über Funk durch: »An alle Einheiten, wir schlagen zu: Showdown, Showdown. Sie kommt auf unserer Seite raus. Wir gehen rein.«

»Wir schalten sie mit so wenig Aufsehen wie möglich aus«, sagte Brigham. Er lud mit einer fließenden Bewegung seine Pumpgun durch. »Das Boot trifft in dreißig Sekunden hier ein. Ab dafür.«

Starling landete zuerst auf dem Boden. Eveldas Zöpfe flogen, als sie den Kopf herumriss. Starling brüllte, die Männer mit den Waffen im Anschlag neben sich wissend: »Alles runter auf den Boden. Ich sagte, runter mit euch auf den Boden.«

Evelda schob sich zwischen die beiden Männer. Sie trug ein Wickeltuch um den Hals, in dem ein Baby lag.

»Wartet, wartet, wir wollen keinen Ärger«, sagte sie zu den beiden Männern an ihrer Seite. »Wartet, wartet.« Gemessenen Schrittes, ganz Königin, das Baby im Wickeltuch mit herunterhängender Decke hoch vor sich her haltend, trat sie auf Star­ling zu.

Gib ihr etwas Raum. Starling ließ ihre Waffe zurück in das Holster gleiten und streckte Evelda die leeren Handflächen entgegen. »Evelda! Ergib dich. Komm zu mir herüber.«

Hinter Starling heulte ein schwerer V8-Motor auf. Reifen quietschten. Sie konnte sich nicht umdrehen. Bitte, lass es die Verstärkung sein. Evelda ignorierte Starling und schritt auf Brigham zu. Die Decke flatterte kurz auf, als das MAC 10 dahinter losging. Brigham sank getroffen zu Boden, sein Gesichtsschutz blutverschmiert.

Der schwergewichtige weiße Mann ließ die Schultasche fallen. Burke sah die Maschinenpistole und feuerte seine Schrotflinte ab. Die Avon-Patrone verpuffte harmlos in der Luft. Er griff nach der Waffe, die in seinem Holster steckte. Nicht schnell genug. Ein Feuerstoß zerriss Burke oberhalb seiner Leistengegend und unterhalb der kugelsicheren Weste. Als der Weiße seine Waffe in Richtung Starling schwang, hatte diese bereits ihre Pistole gezogen und in Anschlag gebracht. Noch bevor er feuern konnte, zerfetzten ihm zwei Schüsse das Hawaiihemd.

Schüsse hinter Starling. Der drahtige Schwarze ließ den Regenmantel, der über der Hand mit der Waffe gelegen hatte, zu Boden gleiten und zog sich in den Hauseingang zurück. Wie von einer eisernen Faust getroffen, trieb es Starling nach vorne. Sämtliche Luft entwich ihr aus der Lunge. Sie warf sich herum und sah den Straßenkreuzer der Crips quer auf der Straße stehen. Eine Cadillac-Limousine mit offenen Fenstern. Zwei Schützen saßen im Cheyenne-Stil in den Fenstern auf der Fahrerseite und feuerten über das Dach hinweg. Ein dritter nahm Starling vom Rücksitz aus unter Feuer. Mündungsfeuer und Pulverdampf aus drei Waffen. Kugeln pfiffen durch die Luft.

Starling hechtete zwischen zwei parkende Autos, sah, wie sich Burke auf der Straße wand und Brigham vollkommen regungslos dalag. Eine rote Pfütze breitete sich um seinen Helm herum aus. Hare und Bolton feuerten, zwischen parkende Autos gekauert, von irgendwoher auf der anderen Straßenseite. Ein Platzregen aus Splittern und Glas ergoss sich über die beiden. Ein Auto­reifen zerplatzte mit lautem Knall. Das Feuer der automatischen Waffen nagelte sie fest. Starling, mit einem Fuß in dem noch immer Wasser führenden Rinnstein, hob kurz den Kopf, um die Lage zu sondieren.

Immer noch feuerten die beiden in den Fenstern sitzenden Schützen über das Autodach hinweg. Der Fahrer, eine Pistole in der freien Hand, entleerte ein Magazin. Ein vierter Mann auf dem Rücksitz hatte die Tür geöffnet und zerrte Evelda mit ihrem Baby ins Auto. Sie hatte die Schultasche bei sich. Die Crips feuerten aus allen Rohren auf Bolton und Hare. Dann stieg Qualm von den Hinterreifen des Cadillacs auf. Das Auto begann sich schlingernd in Bewegung zu setzen.

Starling richtete sich auf, folgte mit der Waffe dem Wagen und erledigte den Fahrer mit einem Schuss in die Schläfe. Zwei weitere Schüsse rissen den im vorderen Fenster sitzenden Schützen brutal nach hinten weg. Sie ließ das Magazin aus dem .45er Colt fallen und hatte, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde ihre Augen vom Wagen zu nehmen, noch ehe das leere auf dem Boden angekommen war, ein neues hineingejagt.

Der Cadillac streifte eine Reihe parkender Wagen auf der ­gegenüberliegenden Straßenseite und kam mit einem hässlichen metallischen Knirschen zum Stehen.

Starling ging auf den Cadillac zu. Einer der Schützen saß noch immer im Rückfenster. Er verdrehte die Augen und stieß mit den Händen wild gegen das Wagendach. Sein Oberkörper war zwischen einem geparkten Wagen und dem Cadillac eingeklemmt. Seine Waffe schlidderte vom Dach herunter. Leere Hände erschienen im hinteren Seitenfenster. Ein Mann mit einem blauen Tuch um den Kopf kroch hervor. Er hob die Hände und rannte weg. Starling ignorierte ihn. Von rechts krachten Schüsse aus einem Gewehr. Der Flüchtende geriet ins Taumeln und stürzte kopfüber hin, versuchte noch, unter einen der parkenden Wagen zu kriechen. Über Starling knatterten die Rotorblätter eines Helikopters.

Irgend jemand schrie über den Fischmarkt: »Unten bleiben. Unten bleiben.« Menschen kauerten unter den Marktständen. Ein feiner Sprühregen stob von dem Tisch auf, wo Augenblicke zuvor noch der Hai ausgenommen worden war.

Starling näherte sich dem Cadillac. Irgend etwas bewegte sich im Fond des Wagens. Der Cadillac schwankte. Herzzerreißende Schreie des Babys. Gewehrfeuer. Das Rückfenster zersplitterte. Glas fiel ins Wageninnere.

Starling hob den Arm und schrie, ohne sich umzudrehen: »FEUEREINSTELLEN. Stellt das Feuer ein. Haltet die Tür im Blick. Hinter mir. Lasst bloß die Eingangstür der gottverdammten Fischhütte nicht aus den Augen.«

»Evelda.« Bewegung auf dem Rücksitz des Cadillacs. Jämmerliches Schluchzen des Babys. »Evelda, ich will deine Hände am Fenster sehen.«

Evelda Drumgo kam jetzt heraus. Noch immer schluchzte das Baby. Von irgendwoher dröhnte »La Macarena«. Evelda war ausgestiegen und ging, den schönen Kopf nach vorn gebeugt und ihre Arme um das Baby geschlungen, auf Starling zu.

Burke wand sich zwischen den beiden Frauen auf dem Boden. Seine Bewegungen waren mittlerweile langsamer geworden. Er hatte viel Blut verloren. Der Rhythmus von »La Macarena« ruckelte mit Burke dahin. Jemand hastete gebückt zu ihm, legte sich neben ihn und versuchte, die Blutung zu stillen.

Starling hielt den Lauf ihrer Waffe vor Evelda auf den Boden gesenkt. »Evelda, ich will deine Hände sehen, mach schon. Bitte, lass mich deine Hände sehen.«

Die Decke beulte sich aus. Evelda mit ihren Zöpfen und den dunklen, ägyptisch anmutenden Augen hob langsam den Kopf und schaute Starling in die Augen.

»Du also bist es, Starling«, sagte sie.

»Evelda, tu jetzt nichts Unüberlegtes. Denk an dein Baby.«

»Lass uns Körperflüssigkeiten austauschen, bitch.«

Die Decke flatterte kurz auf. Ein Knall zerriss die Luft. Starling schoss Evelda Drumgo durch die Oberlippe und blies ihr damit den Hinterkopf weg.

Ein stechender Schmerz an der linken Schläfe raubte Starling einen Augenblick lang die Sinne und ließ sie zu Boden gehen. Evelda saß mit seltsam weggeknickten Beinen nach vorn gebeugt auf der Straße. Blut schoss ihr aus dem Mund und ergoss sich über das Baby, dessen Schreie durch ihren Körper gedämpft wurden. Starling kroch zu Evelda hinüber und zerrte ohne Erfolg an dem Tuch. Sie fischte das Butterfly-Messer aus Eveldas BH, ließ es, ohne hinzuschauen, aufschnappen und zerschnitt das Wickeltuch. Das Baby war glitschig und rot und drohte ihr aus den Händen zu gleiten.

Starling hielt es im Arm und schaute sich mit schmerzverzerrtem Blick um. Sie sah die Wasserschleier in der Luft verwirbeln und rannte zu dem Tisch, an dem zuvor der Mann mit dem Hai gestanden hatte. Mit einer Armbewegung wischte sie Messer und Fischinnereien beiseite und legte das Baby auf das Hackbrett. Dann griff sie nach der Spritzpistole und richtete den Wasserstrahl auf das schwarze Kind, das, den Kopf des Hais neben sich, auf der weißen Unterlage vor ihr lag. Evelda Drumgos HIV-­positives Blut wurde zusammen mit ihrem eigenen, das auf den Kleinen hinuntergetropft war, in einem einzigen Strom fortgespült, der so salzig war wie das Meer.

Wasser stob auf. Ein künstlicher Regenbogen stand wie ein Zeichen Gottes zitternd im Wasserschleier über dem, was wie ein Akt blinder Schicksalswut anmutete. Soweit sie erkennen konnte, hatte der kleine Mann keine äußeren Verletzungen davongetragen. Aus den Lautsprechern dröhnte noch immer »La Macarena«. Ein Blitzlicht zuckte wie ein Stroboskop, bis es Hare endlich gelang, den Fotografen wegzuzerren.

2

Kurz nach Mitternacht, eine Sackgasse in einer Arbeitergegend in Arlington, Virginia. Eine warme Herbstnacht. Es hat geregnet. Das Auffrischen des Windes kündigt eine Kaltfront an. Der Geruch von Humus und nassem Laub liegt in der Luft. Ein Heimchen zirpt. Es verstummt, als es von dumpfen Vibrationen erfasst wird. Ein 5,0-Liter-Mustang mit stählernen Ansaugstutzen biegt in die Sackgasse ein. Ihm folgt ein Polizeiwagen. Die zwei Autos fahren die Auffahrt eines gepflegten Zweifamilienhauses hinauf und halten an. Der Mustang verröchelt im Leerlauf. Als der Motor verstummt ist, wartet das Heimchen einen Moment, dann stimmt es wieder sein Lied an, das letzte vor dem ersten Frost, das letzte in seinem kurzen Leben.

Ein Federal Marshal in Uniform steigt aus und geht um den Wagen herum. Er öffnet die Beifahrertür. Clarice Starling steigt aus. Ihr Kopf ist bandagiert. Rötliche Betaisodona-Flecken sind auf ihrem Hals über dem grünen Operationskittel verschmiert, den sie statt eines Hemdes trägt. Ihre Habseligkeiten hat sie in einer Plastiktasche mit Reißverschluss untergebracht – ein Päckchen mit Pfefferminz-Pastillen und ihre Schlüssel, ihr Ausweis als Special Agent des FBI, ein Schnell-Lader mit fünf Patronen, eine kleine Dose Tränengas. Mit der Tasche zusammen trägt sie einen Gürtel und ein leeres Holster.

Der Federal Marshal händigt ihr die Autoschlüssel aus.

»Vielen Dank, Bobby.«

»Willst du, dass Pharon und ich noch auf einen Sprung mit reinkommen und dir Gesellschaft leisten? Oder soll Sandra kommen? Sie wartet auf mich. Ich kann sie herüberfahren, für den Fall, dass du nicht allein sein willst …«

»Nein, ich werde jetzt einfach da hineingehen. Ardelia muss jeden Augenblick nach Hause kommen. Trotzdem vielen Dank für das Angebot, Bobby.«

Als er sieht, dass Starling wohlbehalten im Haus angekommen ist, kehrt der Marshal zum Polizeiwagen zurück, wo sein Partner auf ihn wartet. Der Motor springt an. Das Fahrzeug setzt sich in Bewegung.

Die Waschküche in Starlings Haus ist warm und riecht nach Weichspüler. Die Schläuche der Waschmaschine und des Wäschetrockners werden durch eine Plastikfessel zusammengehalten.

Starling legt die Tasche mit ihren Habseligkeiten auf die Waschmaschine. Die Autoschlüssel machen auf der Metalloberfläche ein lautes Geräusch. Sie entnimmt der Maschine eine Ladung Wäsche und stopft sie in den Wäschetrockner. Dann zieht sie ihre Hose aus und wirft sie in die Waschmaschine. Es folgen der Kittel und ihr blutbefleckter BH. Anschließend startet sie den Waschvorgang. Sie trägt Socken und einen Slip und einen Revolver Kaliber.38 mit abgedecktem Abzugshahn in einem Knöchelholster. Sie hat blaue Flecken auf dem Rücken, an den Rippen und eine Hautabschürfung am rechten Ellbogen. Ihr rechtes Auge und ihre rechte Wange beginnen sich bläulich zu verfärben.

Wasser gurgelt. Die Waschmaschine startet das Programm. Starling hüllt sich in ein großes Badehandtuch und tappt in das Wohnzimmer. Sie kommt mit einem halbvollen Whiskeyglas Jack Daniel’s zurück. Sie lässt sich auf eine Gummimatte vor der Waschmaschine niedersinken und lehnt sich mit dem Rücken gegen die laufende Maschine. Es ist dunkel. Die Maschine, angenehm warm, gluckst und arbeitet vor sich hin. Starling sitzt mit nach oben gewandtem Gesicht auf dem Boden. Ein paar trockene Schluchzer erschüttern ihren Körper, bevor die ersten Tränen kommen. Heiße Tränen rollen ihr über die Wangen.

Ardelia Mapp kam nach einer langen Fahrt von Cape May gegen 0.45 Uhr nach Hause. Sie verabschiedete sich von ihrem Be­gleiter an der Tür und betrat gerade ihr Badezimmer, als sie das Wasser rauschen hörte, die Waschmaschine, die zu schleudern anfing.

Sie ging in den rückwärtigen Teil des Hauses und schaltete in der Küche, die sie sich mit Starling teilte, das Licht ein. Sie sah Starling in der Waschküche auf dem Boden sitzen, einen Verband um den Kopf.

»Starling! Oh, Baby.« Eilig kniete sie sich neben Starling nieder. »Was ist passiert?«

»Ich bin angeschossen worden, Ardelia. Ein Streifschuss am Ohr. Sie haben mich im Walter Reed Hospital ärztlich versorgt. Tu mir einen Gefallen und lass das Licht aus, okay?«

»Okay. Kann ich dir irgend etwas Gutes tun? Ich habe nichts mitbekommen – wir haben Tapes im Auto gehört – erzähl mir, was –«

»John ist tot, Ardelia.«

»Nicht Johnny Brigham!« Mapp und Starling waren beide in Brigham verliebt gewesen, als er auf der FBI-Akademie für ihre Ausbildung an der Waffe verantwortlich war. Sie hatten immer versucht, durch den Ärmel seines Hemdes hindurch sein Tattoo zu entziffern. Starling nickte und wischte sich wie ein kleines Kind die Tränen mit dem Handrücken aus den Augen. »Evelda Drumgo und die Crips. Evelda hat ihn erschossen. Sie haben auch Burke erwischt, Marquez Burke vom BATF. Wir sind alle zusammen reingegangen. Evelda muss einen Tip bekommen ­haben. Das Fernsehen war zum selben Zeitpunkt wie wir vor Ort. Ich sollte Evelda übernehmen. Sie wollte sich einfach nicht ergeben, Ardelia. Sie wollte einfach nicht aufgeben. Sie hat ein Baby bei sich gehabt. Wir haben aufeinander geschossen. Sie ­ist tot.«

Mapp hatte noch nie zuvor in ihrem Leben Starling weinen sehen.

»Ardelia, ich habe heute fünf Leute getötet.«

Mapp setzte sich neben Starling auf den Boden und legte den Arm um sie. Zusammen lehnten sie gegen die laufende Waschmaschine. »Was ist aus Eveldas Baby geworden?«

»Ich habe das Blut von ihm abgewaschen. Soweit ich erkennen konnte, hatte er keine äußeren Verletzungen. Im Krankenhaus haben sie gesagt, rein körperlich gesehen sei er in Ordnung. Sie werden ihn in ein paar Tagen in die Obhut von Eveldas Mutter entlassen. Weißt du, Ardelia, was Evelda zu mir gesagt hat, kurz bevor sie starb? Sie sagte: ›Lass uns Körperflüssigkeiten austauschen, bitch.‹«

»Ich mach’ dir was zurecht«, sagte Mapp.

»Was?« fragte Starling.

3

Das Morgengrauen brachte die Zeitungen und die ersten Nachrichten im Fernsehen.

Mapp kam mit ein paar Muffins herüber, als sie hörte, dass Starling auf war. Zusammen schauten sie sich die Berichte im Frühstücksfernsehen an.

CNN und die anderen Stationen hatten das Filmmaterial angekauft, das von der Kamera des WFUL-Helikopters direkt über der Szene stammte. Die Bilder waren in jeder Hinsicht spekta­kulär.

Starling sah sie sich an. Einmal. Sie musste mit eigenen Augen sehen, dass Evelda zuerst geschossen hatte. Sie suchte den Blick Mapps, sah den Ärger in deren braunem Gesicht.

Dann stand sie auf und rannte hinaus. Sie musste sich übergeben.

»Das ist schwerverdauliche Kost«, sagte sie, als sie bleich und mit zittrigen Knien aus dem Badezimmer zurückkam.

Wie gewöhnlich traf Mapp den Nagel auf den Kopf. »Die entscheidende Frage, die du dir stellen solltest, lautet, was empfinde ich, Clarice Starling, angesichts des Todes dieser schwarzen Frau, die ein Kind auf dem Arm trug. Und die Antwort darauf lautet: Sie hat zuerst auf dich geschossen. Ich will, dass du das hier überlebst. Und, Starling, denk daran, wer für die wahnsinnige Politik, die hinter dem Ganzen steckt, verantwortlich ist. Vergiss nicht, welcher irrwitzigen Logik du es zu verdanken hast, dass ihr beide, du und Evelda Drumgo, an diesem traurigen Ort aufeinandertreffen musstet, um mit Waffengewalt das Drogenproblem unter euch auszumachen. Was für ein Irrsinn! Ich hoffe, dass du dir ernsthafte Gedanken darüber machst, ob du weiterhin für die Herren der Schöpfung den Kopf hinhalten willst.«

Wie um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen, schenkte sie Starling und sich Tee nach. »Willst du, dass ich heute bei dir bleibe? Ich kann mir den Tag freinehmen.«

»Danke. Aber das brauchst du nicht. Wenn du kannst, ruf mich von der Arbeit aus an.«

Der National Tattler, einer der großen Gewinner des Booms der Boulevardpresse in den neunziger Jahren, brachte eine Extraausgabe heraus, die, sogar an den eigenen Maßstäben gemessen, alles bisher Dagewesene übertraf. Jemand hatte sie am späten Vormittag gegen die Hauswand gedonnert. Starling fand sie, als sie der Ursache für den dumpfen Schlag auf den Grund gehen wollte. Sie war auf das Schlimmste gefasst und wurde nicht enttäuscht.

»TODESENGELCLARICESTARLING, DIEKILLERMASCHINEDESFBI«, tönte die Überschrift in 72-Punkt Gothic Railroad. Drei Fotos auf der Titelseite: Clarice Starling in Uniform, wie sie einen .45er Colt im Wettkampf abfeuert, Evelda Drumgo auf der Straße, über ihr Baby gebeugt, den Kopf geneigt wie eine Madonna von Cimabue, der jemand das Hirn weggeblasen hat, und noch einmal Starling, als sie das schwarze, nackte Baby zwischen Messer, Fischinnereien und den Kopf eines Hais auf das weiße Hackbrett legt.

Die Bildunterschrift lautete:

FBI Special Agent Clarice Starling, die den Serienkiller Jame Gumb ins Jenseits befördert hat, darf fünf weitere Kerben in ihren Colt machen. Mutter mit Kind auf dem Arm und zwei Polizisten unter den Toten einer verpfuschten Drogenrazzia.

Die Titelgeschichte war der Drogenkarriere von Evelda und Dijon Drumgo und dem Auftauchen der Crips in dem von Gang-­Streitigkeiten heimgesuchten Washington, D. C., gewidmet. Der Militärdienst des getöteten Officers John Brigham wurde kurz erwähnt, und seine Auszeichnungen waren aufgezählt. Starling kam in den Genuss einer eigenen Spalte. Unter einem Schnappschuss, der sie mit sichtlich gerötetem Gesicht und einem tief ausgeschnittenen Kleid bei einem Restaurantbesuch zeigte, stand zu lesen:

Clarice Starling, FBI Special Agent, hatte ihre fünfzehn Minuten Ruhm, als sie den Serienkiller Jame Gumb, genannt »Buffalo Bill«, vor sieben Jahren in dessen Keller erschoss. Nun sieht sie möglichen disziplinarrechtlichen Schritten und zivilrechtlichen Auseinandersetzungen entgegen, was die Begleitumstände des Todes einer Mutter aus Washington betrifft, die im Verdacht der Herstellung und des Vertriebs von Drogen stand. (Siehe die Titelgeschichte auf Seite eins.)

»Das könnte das Ende ihrer Karriere bedeuten«, war aus dem Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms zu erfahren. »Wir kennen zwar noch nicht alle Einzelheiten, die zu dieser Katastrophe führten, aber John Brigham könnte heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch am Leben sein. Sein Tod ist das letzte, was das FBI nach Ruby Ridge gebrauchen kann«, so die Quelle, die ungenannt bleiben wollte.

Clarice Starlings schillernde Karriere begann bereits kurz nach ihrem Eintritt in die FBI-Akademie. Als Absolventin der Universität Virginia in den Fächern Psychologie und Krimi­nologie (mit Auszeichnung) wurde sie mit der Aufgabe betraut, den berühmt-berüchtigten Dr. Hannibal Lecter zu interviewen, den Lesern unseres Blattes als »Hannibal the Cannibal« bekannt. Das FBI erhoffte sich von Lecter Aufschluss über den Aufenthaltsort von Jame Gumb, der Catherine Martin, die Tochter der ehemaligen US-Senatorin von Tennessee, entführt hatte.

Agent Starling war bei den Interservice-Meisterschaften drei Jahre in Folge Champion im Pistolenschießen, bevor sie sich aus dem Wettkampfgeschehen zurückzog. Es mutet wie tragische Ironie an, dass Officer Brigham, der im Einsatz an ­ihrer Seite starb, in Quantico ihr Ausbilder und bei den Wettkämpfen ihr Trainer war.

Ein Sprecher des FBI teilte mit, dass Agent Starling für die Dauer der internen Untersuchung des FBI bei voller Bezahlung von ihren dienstlichen Pflichten entbunden werde. Allgemein wird von einer Anhörung vor dem Amt für Verantwortlich­keiten im Dienst, auch »Inquisition« genannt, gegen Ende der ­Woche ausgegangen.

Wie von Verwandten der getöteten Evelda Drumgo zu hören ist, beabsichtigt man dort, die US-Regierung und Starling wegen rechtswidrig herbeigeführtem Tod auf Schadenersatz zu verklagen.

Der drei Monate alte Sohn von Evelda Drumgo, der auf den dramatischen Bildern im Arm seiner Mutter zu sehen ist, blieb unverletzt.

Rechtsanwalt Telford Higgins, der die Drumgo-Familie in zahlreichen Gerichtsverhandlungen vertreten hat, behauptete, dass die von Special Agent Starling benutzte Waffe, ein modifizierter halbautomatischer. 45er Colt, nicht als Dienstwaffe für die Polizeieinheiten der Stadt Washington zugelassen ist. »Sie ist eine ebenso gefährliche wie todbringende Waffe, die in keiner Weise für den Polizeigebrauch geeignet ist«, sagte der bekannte Strafverteidiger. »Ihr bloßer Einsatz stellt bereits eine bewusst fahrlässige Gefährdung menschlichen Lebens dar.«

Der Tattler hatte Clarice Starlings nicht gelistete private Telefonnummer von einem seiner Informanten gekauft und rief Starling so lange an, bis diese den Hörer neben den Apparat legte und ihr FBI-Handy für Gespräche mit dem Büro benutzte.

Starling hatte kaum Schmerzen, jedenfalls so lange, wie sie den Verband am Ohr und die geschwollene Gesichtshälfte nicht berührte. Wenigstens pochte die Wunde nicht unangenehm. Zwei Tylenol hielten sie schmerzfrei. Sie musste nicht auf die Percocet zurückgreifen, die ihr der Arzt für den Fall stark auftretender Schmerzen verschrieben hatte. Mit Schmauchspuren an den Händen und Spuren getrockneter Tränen auf ihren Wangen nickte sie, gegen das Kopfbrett ihres Bettes gelehnt, ein. Die Washington Post glitt von der Bettdecke auf den Boden.

4

Du verliebst dich in das Bureau,

aber das Bureau verliebt sich nicht in dich.

Maxime in der FBI-Trennungsberatung

Die Sporthalle im J.-Edgar-Hoover-Gebäude war zu dieser frühen Stunde beinahe leer. Zwei Männer mittleren Alters trabten gemächlich auf dem Laufband. Das Gerassel der Beinpresse in der hinteren Ecke des Raumes und die Rufe und Aufschläge ­eines Raquetball-Spiels hallten in dem großen Raum wider.

Die Stimmen der beiden Laufenden klangen gedämpft. Jack Crawford lief mit dem FBI-Direktor Tunberry auf dessen besonderen Wunsch hin. Sie hatten bereits zwei Meilen hinter sich gebracht und kamen langsam ins Keuchen.

»Blaylock vom BATF sitzt wegen Waco wie auf glühenden Kohlen. Es wird nicht sofort passieren, aber er ist unten durch, und das weiß er«, sagte der Direktor. »Er könnte genauso gut ­Reverend Moon davon in Kenntnis setzen, dass er auszuziehen gedenkt.«

Die Tatsache, dass das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in Washington Büroräume von Reverend Sun Myung Moon angemietet hatte, trug beim FBI regelmäßig zur allgemeinen Heiterkeit bei.

»Und Farriday ist draußen wegen Ruby Ridge«, fuhr der ­Direktor fort.

»Das sehe ich noch nicht«, sagte Crawford. Er hatte in den siebziger Jahren zusammen mit Farriday in New York Dienst getan, als der Mob die Außenstelle des FBI in der Third Avenue Ecke 69th Street besetzt hatte. »Farriday ist ein guter Mann. Man kann ihn nicht dafür verantwortlich machen.«

»Ich habe es ihm gestern morgen mitgeteilt.«

»Er geht ohne Widerstreben?« fragte Crawford.

»Lass es mich so formulieren, er behält seine Vergünstigungen. Die Zeiten sind gefährlich, Jack.«

Beide Männer rannten mit hocherhobenem Kopf. Ihr Tempo erhöhte sich ein wenig. Aus den Augenwinkeln beobachtete Crawford, wie der Direktor seine körperliche Verfassung taxierte.

»Wie alt bist du jetzt, Jack, sechsundfünfzig?«

»Das ist richtig.«

»Noch ein Jahr bis zum vorgezogenen Ruhestand. Viele hören mit achtundvierzig, fünfzig auf, solange sie noch Aussichten auf einen anderen Job haben. Du hast das nie gewollt. Du hast dich nach Bellas Tod in Arbeit gestürzt.«

Als Crawford nicht sofort antwortete, begriff der Direktor, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Das soll nicht heißen, dass es einfach war, Jack. Gerade gestern noch sagte Doreen, wie schwer es gewesen –«

»Es gibt noch immer viel zu tun in Quantico. Wir wollen die VICAP fürs Web neu durchorganisieren, so dass jeder Polizist darauf zugreifen kann. Du hast es doch im Haushaltsplan ge­sehen.«

»Ist es dir eigentlich jemals in den Sinn gekommen, Direktor zu werden, Jack?«

»Der Job passt nicht zu mir.«

»Du hast recht, Jack. Du bist kein Politiker. Du hättest nie Direktor sein können. Du hättest nie Eisenhower sein können, Jack, oder ein Omar Bradley.« Er bedeutete Crawford anzuhalten. Schwer atmend standen sie beide neben dem Laufband.

»Du hättest allerdings Patton sein können, Jack. Du könntest sie durch die Hölle führen, und sie würden dich immer noch lieben. Das ist eine Gabe, die ich nicht habe. Ich muss sie immer antreiben.« Tunberry blickte sich kurz um, nahm sein Handtuch von der Bank und drapierte es, ganz Richter, dem Todesurteile leicht von der Hand gehen, wie eine Robe um seine Schultern. Seine Augen strahlten.

Manche Leute müssen ihre Wut mobilisieren, um stark zu wirken, dachte Crawford, als er Tunberrys Mund beim Sprechen beobachtete.

»Was die Geschichte der verstorbenen Mrs. Drumgo mit ­ihrem MAC 10 und ihrem Crack-Labor angeht, die mit einem Baby auf dem Arm erschossen worden ist: Die Rechtsaufsicht verlangt nach einem Opfer. Frisches, blökendes Fleisch. Des­gleichen die Medien. Die DEA muss ihnen einen Brocken hin­werfen. Das BATF muss es, wir müssen es. Aber in unserem Fall wären sie vielleicht auch mit einem Stück Federvieh zufrieden. Krendler meint, wir sollten ihnen Clarice Starling servieren. Dann würden sie uns in Frieden lassen. Ich stimme mit ihm überein. BATF und DEA müssen die Suppe für die Planung der Razzia auslöffeln. Starling hat abgedrückt.«

»Auf eine Polizistenmörderin, die zuerst geschossen hat.«

»Es sind die Bilder, Jack. Du begreifst es einfach nicht. Die Öffentlichkeit hat nicht gesehen, wie Evelda Drumgo John Brigham erschoss. Die Leute haben nicht gesehen, wie Evelda das Feuer auf Starling eröffnet hat. Du siehst es nicht, wenn du nicht weißt, auf was du zu schauen hast. 200 Millionen Menschen, von denen ein Zehntel zur Wahl geht, haben Evelda Drumgo ­auf der Straße sitzen sehen, wie sie versucht, ihr Baby zu schützen. Jemand hat ihr dabei das Hirn weggeblasen. Sag es nicht, Jack – ich weiß, dass du eine Zeitlang gedacht hast, Starling sei dein Protegé. Aber sie hat eine vorlaute Klappe, Jack, und sie ­ist mit gewissen Leuten von Anfang an nicht richtig warm geworden –«

»Krendler ist ein Sesselfurzer.«

»Hör mir gut zu, und unterbrich mich nicht, bis ich fertig bin. Starlings Karriere war ohnehin im Sinkflug begriffen. Die Verwaltung macht ihr den Abgang leicht. Starling nimmt in rechtlicher Hinsicht keinen Schaden. Der Papierkram wird nicht schlimmer als bei einer zeitweiligen Suspendierung vom Dienst aussehen – sie wird wieder einen Job bekommen. Jack, du hast etwas Großartiges für das FBI geleistet, du hast die Abteilung für Verhaltensforschung aufgebaut. Viele Leute glauben, dass du es mit etwas mehr Werbung in eigener Sache viel weiter als nur zum Abteilungsleiter hättest bringen können, dass du einfach mehr verdient hast. Ich werde der erste sein, der das auch öffentlich sagt, Jack. Du wirst als stellvertretender Direktor in den Ruhestand gehen. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

»Du meinst, wenn ich mich aus dieser Sache raushalte?«

»Den normalen Gang der Ereignisse vorausgesetzt, Jack. Wenn wieder Ruhe eingekehrt ist im Königreich, wird genau das passieren. Jack, schau mich an.«

»Ja, Direktor Tunberry?«

»Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl. Halt dich raus aus der Angelegenheit. Setz nicht alles aufs Spiel, Jack. Manchmal muss man wissen, wann es Zeit ist, wegzuschauen. Ich habe das auch schon getan. Hör zu, ich weiß, es ist hart. Glaube mir, ich weiß, wie du dich fühlst.«

»Wie ich mich fühle? Ich fühle mich wie jemand, der dringend unter die Dusche muss«, sagte Crawford.

5

Starling war eine gute, aber keine überpenible Hausfrau. Ihre Hälfte des Doppelhauses war sauber, und sie fand bei Bedarf alles. Doch Dinge hatten bei ihr die Angewohnheit, sich anzusammeln – unsortierte, saubere Wäsche, zu viele Zeitschriften an zu wenigen Orten. Ihre Wäsche pflegte sie grundsätzlich erst in allerletzter Minute zu bügeln. Auf Fragen der Kleiderordnung verschwendete sie kaum Zeit. Mit anderen Worten, sie kam gut ­zurecht.

Wenn sie Ordnung um sich brauchte, dann ging sie durch die gemeinsame Küche in Ardelias Hälfte. War Ardelia da, profitierte sie von ihrem Rat, was immer hilfreich war, wenn auch zuweilen treffender, als ihr lieb war. War Ardelia nicht da, durfte Starling die perfekte Ordnung von Mapps Wohnung nutzen, um nachzudenken, solange sie dort nichts von sich zurückließ. Und so saß sie heute hier, in einer dieser Wohnungen, die den Geist ihrer Bewohner atmen, unabhängig davon, ob diese nun zu Hause sind oder nicht.

Starling saß da und schaute auf die Police der Lebensversicherung von Mapps Großmutter, die in einem von Hand gefertigten Rahmen an der Wand hing, so wie sie auch schon in dem Farmhaus der Großmutter und während Ardelias Kindheit in der Sozialwohnung ihrer Eltern gehangen hatte. Mapps Großmutter hatte Gemüse und Blumen verkauft und sich das Geld für die Versicherungsbeiträge vom Mund abgespart. Am Ende war sie in der Lage gewesen, die Police zu beleihen, um Ardelia den Weg durchs College zu ebnen. Es gab auch ein Bild von der zierlichen alten Frau mit den dunklen, altersweisen Augen. Sie unternahm nicht einmal den Versuch zu lächeln, diese Frau mit dem weißen gestärkten Kragen und dem breitkrempigen Strohhut.

Ardelia wusste um ihre Wurzeln, bezog daraus tagtäglich ihre Kraft. Starling versuchte sich ihrer Herkunft zu vergewissern. Das Waisenhaus der Lutheraner in Bozeman hatte sie mit Kleidung und Nahrung versorgt. Ihr war dort anständiges Benehmen beigebracht worden. Aber für das, was sie jetzt brauchte, musste sie ihr eigenes Blut befragen.

Was hat man denn schon groß vorzuweisen, wenn man wie du aus weißen Arme-Leute-Verhältnissen stammt? Wenn man in einer Gegend groß geworden ist, die noch in den fünfziger Jahren Sanierungsgebiet war. Wenn man von Leuten abstammt, die auf dem Campus als crackers und rednecks verlacht werden oder von denen herablassend als armen weißen Appalachen die Rede ist. Wenn sogar der sonst nicht gerade sicher auftretende Südstaatenadel, der schwerer körperlicher Arbeit nicht die geringste Wertschätzung entgegenbringt, von deinen Leuten nur als Hinterwäldlern spricht – welches Erbe versorgt dich dann mit Vorbildern? Dass wir ihnen das erste Mal bei Bull Run eine ordentliche Tracht Prügel verpasst haben? Dass der Ururgroßvater seine Sache bei Vicksburg gut gemacht hat? Dass eine Ecke von Shiloh auf ewig Yazoo City heißen wird?

Es liegt ungleich mehr Ehre darin und ergibt mehr Sinn, dass du aus dem, was dir geblieben ist, den gottverdammten vierzig Morgen Land und dem dreckigen Esel, etwas gemacht hast. Aber das eben musst du erst einmal begreifen. Das wird dir niemand sagen.

Starling hatte die FBI-Ausbildung mit Bravour absolviert, weil es nichts gab, auf das sie hätte zurückgreifen können. Sie war ein Großteil ihres Lebens gezwungen gewesen, in Institutionen zu überleben, deren Regeln zu akzeptieren und sie konsequent für die eigene Sache zu nutzen. Sie war noch immer irgendwie vorangekommen, hatte ein Stipendium ergattert oder Aufnahme in das Team gefunden. Ihr Scheitern nach einem brillanten Start beim FBI war eine neue, eine zutiefst schreckliche Erfahrung für sie. Immer und immer wieder stieß sie gegen unsichtbare Wände wie ein in eine Flasche eingesperrtes Insekt.

Man ließ ihr nur vier Tage für die Trauer um John Brigham, der vor ihren Augen getötet worden war. Vor langer Zeit hatte John Brigham sie einmal etwas gefragt, und sie hatte nein gesagt. Und dann hatte er sie gefragt, ob sie trotzdem Freunde bleiben könnten, und es genauso gemeint, wie er es gesagt hatte, und sie hatte ja gesagt, und es war ihr ernst damit gewesen.

Sie musste sich mit der Tatsache abfinden, dass durch ihre Hand fünf Menschen auf dem Feliciana-Fischmarkt umgekommen waren. Immer wieder stand ihr das Bild des Crips vor Augen, der sich, eingekeilt zwischen zwei Wagen, ans Autodach klammerte und mit ansehen musste, wie ihm die Waffe entglitt.

Einmal besuchte sie dem eigenen Seelenheil zuliebe das Krankenhaus, um nach Eveldas Baby zu sehen. Eveldas Mutter war da und hielt ihren Enkel im Arm. Er sollte gerade entlassen werden. Sie kannte Starling von den Bildern in den Zeitungen. Sie übergab den Kleinen einer Schwester und schlug Starling, bevor diese begriff, was vor sich ging, hart ins Gesicht.

Starling erwiderte den Schlag nicht, der sie auf der bandagierten Seite des Kopfes getroffen hatte, sondern drückte die alte Frau im Polizeigriff so lange gegen die Scheibe des Schwesternzimmers, bis diese mit wutverzerrtem Gesicht klein beigab. Das Fenster war beschlagen und mit Speichel verschmiert, als sie sie losließ.

Starling rann Blut über den Hals, und der Schmerz machte sie schwindelig. Das Ohr musste nochmals in der Notaufnahme genäht werden. Sie lehnte es ab, Anzeige zu erstatten. Ein Pfleger dort gab dem Tattler einen Tip und bekam dafür dreihundert Dollar.

Sie musste das Haus noch zweimal verlassen, einmal, um das Begräbnis von John Brigham zu arrangieren, und dann, um ihm auf der nationalen Gedenkstätte Arlington die letzte Ehre zu erweisen. Brigham, dem bis auf wenige entfernte Verwandte niemand nahe stand, hatte in seinem letzten Willen verfügt, dass Starling sich um ihn und seinen Nachlass kümmern sollte.

Der Grad seiner Gesichtsverletzungen machte einen geschlossenen Sarg erforderlich. Aber Starling hatte trotzdem, so gut sie konnte, auf sein Äußeres geachtet und ihn in seiner makellosen blauen Marineuniform mitsamt seinen Auszeichnungen zur letzten Ruhe betten lassen.

Nach den Begräbnisfeierlichkeiten übergab Brighams Anwalt Starling eine Kiste mit dessen persönlichen Dingen. Neben seinen Waffen und seiner Dienstmarke enthielt sie eine Reihe von Gegenständen, die zu seinen Lebzeiten auf seinem notorisch mit Akten überladenen Schreibtisch gestanden hatten, so auch den von Brigham so geliebten kitschigen Wettervogel aus Plastik, der aus einem Glas trank.

In fünf Tagen hatte Starling in einer Anhörung, die viel­leicht das Aus für ihre Karriere bedeutete, Rede und Antwort ­zu stehen. Mit Ausnahme einer Nachricht von Jack Crawford war ihr Telefon stumm geblieben, und es gab nun auch keinen John Brigham mehr, mit dem sie über alles hätte sprechen können.

Sie rief ihren Rechtsbeistand bei der für das FBI zuständigen Berufsgenossenschaft an. Der einzige Rat, den sie von ihm zu hören bekam, war, keine auffälligen Ohrringe oder offene Schuhe bei der Anhörung zu tragen.

Tag für Tag kochten die Zeitungen und das Fernsehen die Geschichte von Evelda Drumgos Tod in immer neuen Variationen hoch.

Hier, in der perfekten Ordnung von Mapps Haus, versuchte Starling, mit sich und ihrer Situation ins reine zu kommen.

Das, was dich früher oder später zerstören wird, ist die Versuchung, in den Chor deiner Kritiker mit einzustimmen, um sich deren Wohlwollen zu erkaufen.

Ein Geräusch drang an ihr Ohr.

Starling versuchte sich genau an ihre eigenen Worte im Lieferwagen zu erinnern. War es mehr als das bloß Notwendige gewesen? Das Geräusch drang noch immer an ihr Ohr.

Brigham forderte sie dazu auf, die anderen mit der Vorgeschichte Eveldas vertraut zu machen. Hatte sie so etwas wie Feindseligkeit zum Ausdruck gebracht, irgend etwas –

Das Geräusch begann lästig zu werden.

Sie hielt inne und begriff, dass die Klingel nebenan schrillte. Wahrscheinlich ein Reporter. Oder die Zustellung der Vorladung. Sie schob den Vorhang des Fensters zur Straße ein wenig beiseite und spähte hinaus. Sie sah, wie sich der Postbote umdrehte, um zu seinem Wagen zurückzugehen. Sie öffnete Mapps Eingangstür und fing ihn ab. Sie drehte sich mit dem Rücken zum auf der anderen Straßenseite parkenden Fahrzeug der Presse. Belauert von einem Teleobjektiv, unterschrieb sie die Empfangsbestätigung und erhielt einen edlen, mit Seidenpapier gefütterten malvenfarbenen Umschlag ausgehändigt. Obwohl sie durch die Ereignisse der letzten Tage unkonzentriert und psychisch angeschlagen war, erinnerte sie der Umschlag dunkel an etwas. Wieder im Haus, den neugierigen Blicken entzogen, schaute sie auf die Adresse. Eine feingeschwungene, gestochen scharfe Handschrift.

Trotz des grauenhaften Dröhnens in Starlings Schädel schlug etwas Alarm in ihr. Sie fühlte, wie ihre Bauchdecke zu zittern ­anfing, so als ob sie von etwas Kaltem berührt worden wäre.

Starling nahm den Umschlag an den Ecken und trug ihn in die Küche. Dort entnahm sie ihrer Handtasche ein paar weiße Handschuhe zum Sicherstellen von Beweismitteln. Sie presste den Umschlag auf die harte Oberfläche des Küchentisches und befühlte ihn sorgfältig. Obwohl das Papier steifer war als bei gewöhnlichen Umschlägen, hätte sie die durch eine Uhrenbatterie verursachte Verdickung gefühlt, deren ein C-4-Blatt zur Explosion bedurfte. Sie wusste, der Umschlag gehörte eigentlich vor ein Fluoroskop. Wenn sie ihn einfach so öffnete, würde sie möglicherweise Schwierigkeiten bekommen. Schwierigkeiten? Richtig. Krampf!

Sie schlitzte den Umschlag mit einem Küchenmesser auf und entnahm ihm ein einzelnes, seidenmatt schimmerndes Blatt. Sie wusste, noch ehe sie einen Blick auf die Unterschrift geworfen hatte, von wem der Brief war.

Meine liebe Clarice,

mit Aufmerksamkeit und Interesse habe ich Ihr In-Ungnade-­Fallen und die erniedrigende Diskussion um Ihre Person in ­der Öffentlichkeit mitverfolgt. Die um meine Person hat mich nie sonderlich beeindruckt, sieht man von den Unannehmlichkeiten ab, die eine Inhaftierung so mit sich bringt. Aber ­Ihnen dürfte für derlei der Blick fehlen.

Bei unseren Diskussionen im Kerker drängte sich mir der Eindruck auf, dass Ihr Vater, der tote Nachtwächter, eine besondere Stellung in Ihrem Wertesystem einnimmt. Ich denke, die Beendigung von Jame Gumbs Karriere als Couturier hat Sie deswegen mit so großer Befriedigung erfüllt, weil Sie sich der Vorstellung hingeben durften, Ihr Vater hätte es an Ihrer Statt getan.

Gegenwärtig genießen Sie beim FBI keinen sonderlich ­guten Ruf. Haben Sie sich eigentlich immer Ihren Vater als Ihren Vorgesetzten ausgemalt, haben Sie ihn sich etwa als Abteilungsleiter oder – besser sogar als Jack Crawford – als DEPUTYDIRECTOR vorgestellt, der voller Stolz über Ihr Fortkommen wacht? Und wie ist es jetzt? Sehen Sie ihn beschämt und erniedrigt durch Ihre Schande? Ihr Versagen? Das ach ­so bemitleidenswerte Ende einer so vielversprechenden Karriere? Sehen Sie sich selbst schon die niederen Dienste tun, auf die Ihre Mutter verwiesen war, nachdem die Drogen­süchtigen Ihrem DADDY das Lebenslicht ausgeblasen hatten? Hmmmm? Wird sich Ihr Scheitern auf Sie auswirken, werden die Menschen auf ewig fälschlicherweise glauben, dass Ihre Eltern in Wohnwagen hausender weißer Abschaum waren, einzig und allein auf der Welt, um Tornados als Köder zu dienen? Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen, Special Agent Starling.

Denken Sie für einen Augenblick einmal ernsthaft darüber nach, bevor wir weitergehen.

Erlauben Sie mir nun, dass ich Ihnen eine Qualität vor Augen führe, über die Sie verfügen und die Ihnen helfen wird: Sie sind nicht blind vor Tränen, Sie haben die Zwiebeln dazu, um weiterzulesen.

Hier nun eine kleine Übung, die sich unter Umständen als nutzbringend für Sie erweisen wird. Ich möchte, dass Sie für mich hier und heute folgendes tun: Haben Sie eine gusseiserne schwarze Bratpfanne? Sie sind ein Bauernmädchen aus dem Süden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie keine haben. Stellen Sie sie auf den Küchentisch. Schalten Sie die Deckenlampe ein.

Mapp hatte von ihrer Großmutter eine Bratpfanne vererbt bekommen, die sie oft benutzte. Sie verfügte über eine glänzende schwarze Oberfläche, die niemals mit Seife in Berührung kam. Starling stellte die Bratpfanne vor sich auf den Tisch.

Blicken Sie in die Bratpfanne, Clarice. Beugen Sie sich über sie, und schauen Sie hinein. Wenn das die Pfanne Ihrer Mutter wäre, und so, wie es aussieht, könnte sie es ja durchaus sein, dann hätte sie zwischen ihren Molekülen all die Gespräche bewahrt, die in ihrer Gegenwart geführt wurden. All die Wortwechsel, die kleinen Streitigkeiten, die todlangweiligen Offenbarungen, die platten Ankündigungen von Katastrophen, die Grunzer und poetischen Momente der Liebe.

Setzen Sie sich an den Tisch, Starling. Schauen Sie in die Pfanne. Wenn sie sorgsam gepflegt worden ist, dann gleicht sie einer schwarzen Lache, habe ich recht? Fast könnte man meinen, man schaue in einen schwarzen Brunnen. Ihr genaues Ebenbild will sich auf dem Grund einfach nicht zeigen, aber Sie selbst rücken sich dort unten bedrohlich näher. Das Licht hinter sich, erscheinen Sie dort unten als das schwarze Gesicht Ihrer selbst, mit einer Corona, als ob Ihr Haar in Flammen stünde.

Wir alle sind nur elaborierter Kohlenstoff, Clarice. Sie und die Pfanne und Daddy tot in der Erde, kalt wie die Pfanne. Es ist alles noch immer da. Hören Sie. Wie haben sie wirklich geklungen und gelebt – Ihre sich abmühenden Eltern? Die konkreten Erinnerungen sind es, nicht die Imagines, die Ihnen das Herz so schwer machen. Warum war Ihr Vater kein Sheriff mit einem guten Draht zur Meute am Gericht? Warum hat Ihre Mutter auch dann noch in Motels saubergemacht, um Sie zu ernähren, als sie damit scheiterte, Sie beide zusammenzuhalten, bis Sie erwachsen geworden waren? Was ist Ihre lebhafteste Erinnerung an die Küche? Nicht ans Krankenhaus, an die Küche.

Meine Mutter, wie sie das Blut aus dem Hut meines Vaters wäscht.

Was ist Ihre schönste Erinnerung an die Küche?

Mein Vater, wie er mit seinem alten Taschenmesser mit der abgebrochenen Spitze Orangen schält und uns die Schnitze reicht.

Ihr Vater, Clarice, war ein Nachtwächter. Ihre Mutter war ein Zimmermädchen.

War eine große Karriere im Dienst des Staates Ihre Hoffnung oder die Ihrer Eltern? Wie sehr hätte Ihr Vater in einer vermufften Bürokratie gebuckelt, um vorwärtszukommen? Wie vielen Leuten hätte er den Arsch geleckt? Hatten Sie ihn je in Ihrem Leben speichelleckend und katzbuckelnd vor Augen?

Folgen Ihre Vorgesetzten in ihrem Handeln ethischen Grundsätzen, Clarice? Wie steht es mit Ihren Eltern, verfügten sie über moralische Prinzipien? Für den Fall, dass ja, gleichen diese denen Ihrer Vorgesetzten?

Blicken Sie in das Eisen, dem Lug und Trug fremd sind, und erzählen Sie es mir. Haben Sie vor den Augen Ihrer toten Familie versagt? Würden die es wollen, dass Sie alles schlucken? Welche Auffassung vom Schicksal hatten sie? Sie können genau so stark sein, wie Sie es sich wünschen.

Sie sind eine Kriegerin, Clarice. Der Feind ist tot. Das Baby in Sicherheit. Sie sind eine Amazone.

Die stabilsten Elemente des Periodensystems, Clarice, stehen in der Mitte, ungefähr zwischen Eisen und Silber.

Zwischen Eisen und Silber. Das genau denke ich, ist Ihnen angemessen.

Hannibal Lecter

P. S. Sie schulden mir, wie Sie wissen, noch immer eine Auskunft. Erzählen Sie mir, ob Sie immer noch vom Schreien der Lämmer hochschrecken. Platzieren Sie an einem beliebigen Sonntag in der Seufzerspalte der inländischen Ausgabe der Times, der InternationalHeraldTribune und der ChinaMail eine Anzeige. Geben Sie als Empfänger A. A. Aaron an, damit sie als die zuoberst platzierte Anzeige erscheint, und zeichnen Sie mit Hannah.