Das Signal - Patrick Lee - E-Book

Das Signal E-Book

Patrick Lee

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Beschreibung

Ein Anruf mitten in der Nacht: Eine alte Freundin bittet Sam Dryden um Hilfe. Es gilt, einen Mord an vier jungen Mädchen zu verhindern. Doch woher wusste Claire von dem drohenden Verbrechen? Sam erfährt: Claire hat für ein High-Tech-Unternehmen gearbeitet, das kurz zuvor von einer heftigen Explosion verwüstet wurde. Die Firma forschte an einem hochgeheimen Apparat, der sich nun in Claires Händen befindet: Ein Radio, das Sendungen aus der Zukunft empfangen kann. Wer es besitzt, kann den Lauf der Geschichte ändern. Kurz darauf ist Claire in der Gewalt eines hochgeheimen Konsortiums, das die Technologie seit ihren Anfängen in den Laboratorien Hitlerdeutschlands zu kontrollieren und zu nutzen sucht. Und Sam befindet sich auf der Flucht, mit dem Gerät, im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Der zweite Teil der Erfolgsserie um den Ex-Agenten Sam Dryden.

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Seitenzahl: 478

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Patrick Lee

Das Signal

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Anruf mitten in der Nacht: Eine alte Freundin bittet Sam Dryden um Hilfe. Es gilt, einen Mord an vier jungen Mädchen zu verhindern. Doch woher wusste Claire von dem drohenden Verbrechen?

 

Sam erfährt: Claire hat für ein High-Tech-Unternehmen gearbeitet, das kurz zuvor von einer heftigen Explosion verwüstet wurde. Die Firma forschte an einem hochgeheimen Apparat, der sich nun in Claires Händen befindet: Ein Radio, das Sendungen aus der Zukunft empfangen kann. Wer es besitzt, kann den Lauf der Geschichte ändern.

 

Kurz darauf ist Claire in der Gewalt eines hochgeheimen Konsortiums, das die Technologie seit ihren Anfängen in den Laboratorien Hitlerdeutschlands zu kontrollieren und zu nutzen sucht. Und Sam befindet sich auf der Flucht, mit dem Gerät, im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner.

 

Der zweite Teil der Erfolgsserie um den Ex-Agenten Sam Dryden.

Über Patrick Lee

Patrick Lee wurde 1976 in West Michigan geboren. Er begann als Drehbuchautor für Hollywood, später verlegte er sich auf das Schreiben von Romanen. Schon mit seinem ersten Buch, «Die Pforte», schaffte er auf Anhieb den Sprung in die amerikanische Bestsellerliste.

 

Weitere Veröffentlichungen

 

(Die Zeitpforten-Thriller)

Die Pforte

Dystopia

Das Labyrinth der Zeit

 

(Ex-Agent Sam Dryden)

Mindreader

Inhaltsübersicht

WidmungErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelZweiter Teil11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelDritter Teil24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. KapitelVierter Teil43. Kapitel44. Kapitel45. KapitelFünfter Teil46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. KapitelDanksagung

Für Thom und Judy Sharp

Erster Teil

Samstag, 8. August 2015

1

Marnie Calvert nahm den Geruch schon im Wagen wahr. Er drang von außen durch die Lüftungsschlitze herein: ein Gemisch aus verkohltem Holz, oxidiertem Metall und geschmolzenem Kunststoff – Linoleum vielleicht oder Teppichbeschichtung. Aber da war noch ein Geruch, von den anderen überlagert. Ein Geruch, der sie an Gartenpartys mit Freunden erinnerte, an schöne Tage im Park. Sie merkte, wie sich ihr der Magen zusammenzog.

Sie würde sich nicht übergeben. In den acht Jahren, die sie nun beim FBI war, hatte sie sich noch kein einziges Mal übergeben. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und blieb kurz in der offenen Wagentür stehen.

Zehn oder zwölf Einsatzfahrzeuge standen bereits mit rot und blau flackernden Warnlichtern in der nächtlichen Einöde, kalifornische Staatspolizei, Streifenwagen des San Bernardino County Sheriffs, drei Feuerwehrwagen aus Palmdale. Ihre Scheinwerfer erhellten den Tatort: die ausgebrannten Überreste eines Wohnwagens, der einsam und allein am Rand einer Schotterpiste in der Mojave-Wüste stand.

Hier im Freien war der Geruch so überwältigend, dass Marnie sich abwenden musste. Während sie tief durchatmete, betrachtete sie die Landschaft, um ihrer erneut aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden. Fern im Westen sah sie die Lichter der Edwards Air Force Base blinken, dahinter begannen die Ausläufer der San Gabriel Mountains. Der Gebirgszug zeichnete sich schwach vor dem lichtschimmernden Dunst ab, der über Los Angeles hing, etwa siebzig Meilen entfernt. Barstow war die einzige etwas näher gelegene menschliche Ansiedlung, ein verwischter Lichtpunkt im Norden, ansonsten war die Wüste schwarz und leer und brütend heiß – um vier Uhr früh in dieser Nacht Anfang August.

«Agent Calvert?»

Marnie drehte sich um. Ein Hilfssheriff kam von dem grell erleuchteten Tatort auf sie zu, ein untersetzter Mann um die fünfzig, der eben anfing, aus dem Leim zu gehen. Auf seinem Namensschild über dem Dienstabzeichen stand HILLER. Mit ihm hatte Marnie telefoniert.

Sie schloss die Tür ihres Crown Vic und ging ihm entgegen. Ihre Schuhe knirschten auf dem festgebackenen Wüstenboden.

«Meine Spurentechniker sind schon unterwegs», sagte sie.

Hiller nickte und führte sie zwischen zwei Streifenwagen hindurch. Erst jetzt, ohne das störende Flackern der Warnlichter, konnte Marnie die Überreste des Wohnwagens vollständig erfassen. Sie ließ die Hand sinken, mit der sie ihre Augen abgeschirmt hatte, stand einfach nur da und starrte auf den Wohnwagen.

Von ihm war fast nichts mehr übrig. Dach und Wände waren vollständig verbrannt, und selbst der Boden war zu einem großen Teil zwischen die aufgeschichteten Betonschalsteine gestürzt, auf denen der Wagen aufgelegen hatte. Nur Teile des Metallgestänges standen noch aufrecht, verbunden durch schwach gewölbte Dachverstrebungen, die wie schwarz verkohlte Rippen anmuteten.

Auf dem Boden neben einem der Feuerwehrwagen lagen vier Leichensäcke aufgereiht. Noch ohne Inhalt.

Marnie war über das Geschehen im Bilde. Die ersten Einzelheiten hatte sie bereits in ihrem Büro im Bundesgebäude in Santa Monica gehört. Alles Weitere hatte sie sich auf der Fahrt hierher telefonisch übermitteln lassen, darunter auch eine Audiodatei, die man ihr gemailt hatte: der Mitschnitt eines Notrufs, der von diesem Wohnwagen aus erfolgt war, vor nicht ganz zwei Stunden. Sie hatte sich den Notruf dreimal angehört und dann die Fenster ihres Crown Vic heruntersurren lassen. Einige Minuten lang war sie wie betäubt, in ihrem Kopf herrschte völlige Leere, während die drückend warme Wüstenluft hereinbrauste.

9-1-1 Notrufzentrale –

Können Sie das orten? Die Stimme eines Mädchens, kaum lauter als ein Flüstern.

Um was für einen Notfall handelt es sich –

Ich rufe über ein Handy an. Können Sie orten, wo ich bin?

Befinden Sie sich in Gefahr?

Keine Antwort.

Miss, befinden Sie sich in Gefahr?

Wieder drei Sekunden lang Stille. Dann:

Ich heiße Leah Swain. Ich bin hier mit drei anderen –

Das Mädchen verstummte abrupt, schnappte mit einem ängstlichen kleinen Schrecklaut nach Atem.

Miss?

Wir haben niemanden angerufen!, schrie das Mädchen. Es hörte sich an, als hätte sie das Telefon sinken lassen, als seien ihre Worte an jemanden gerichtet, der mit ihr im Zimmer war. Wir haben niemanden angerufen! Ich schwöre –

Das war alles. Bei diesem Wort brach die Verbindung ab, um 2.04 Uhr und zwanzig Sekunden, der Zeitangabe auf dem Bildschirm der Notrufdisponentin zufolge. Ebenfalls auf dem Bildschirm waren die GPS-Koordinaten der Anruferin verzeichnet; das Mobiltelefon hatte sie automatisch übermittelt, da der Notruf gewählt worden war. Innerhalb der nächsten dreißig Sekunden war eine Streifeneinheit auf der Interstate 15 alarmiert und zum Schauplatz geschickt worden. Fünf Minuten darauf meldete sich der Beamte, der zu dem Zeitpunkt noch zwei Meilen entfernt war, und berichtete, er sehe Flammen. Bei seiner Ankunft brannte der Wohnwagen lichterloh, und von dem registrierten Besitzer, Harold Heeley Shannon, weiß, zweiundsechzig Jahre, vorbestraft wegen diverser Sexualdelikte, fehlte jede Spur. Nur Reifenspuren zeugten noch davon, wo sein Wagen, ein roter Ford Fiesta, gestanden hatte.

Marnie überquerte den staubigen Vorplatz und ging im Uhrzeigersinn um das ausgebrannte Wohnwagenskelett herum, bis ihr der Wind nicht länger entgegenwehte. Aus der Nähe konnte sie nun die eingestürzten Trümmer sehen, die auf der Erde unter dem Wohnwagen gelandet waren: die durchnässten Überreste der Wände, der Decke und des Bodens sowie alles, was sie einst umschlossen hatten.

Nur ein Gegenstand hatte der Hitze getrotzt und seine Gestalt behalten: ein Käfig aus dicken Metallgittern, würfelförmig und mit einer Seitenlänge von gut einem Meter achtzig. Marnie legte die letzten paar Meter zurück, bis zu der Stelle, wo sich die Wand am hinteren Wohnwagenende befunden hatte. Der Käfig stand direkt dahinter, leicht gekippt auf dem zu Schutt verbrannten und eingestürzten Fußboden.

Marnie hatte in ihrer Laufbahn schon manch grausigen Anblick erleben müssen. Einmal hatte sie einen Leichnam gefunden, der nach zwei Jahren in einer versiegelten Plastiktonne vollkommen verwest war. Ein Wirrwarr von Knochen, wie ein Sammelsurium ausrangierter Werkzeuge, in einer zähen Suppe aus Flüssigkeiten, die ausgetreten waren, sich getrennt und gesetzt hatten. Ein andermal hatte sie einen Kriechraum gesehen, in dem eine Frau, einunddreißig Jahre alt, ein Wochenende lang gefangen gehalten worden war, ehe ihr Entführer sie erdrosselt und verscharrt hatte. In einen Balken aus Kiefernholz in der Ecke hatte die Frau mit ihren Fingernägeln eine letzte Botschaft eingekerbt, offenbar in der verzweifelten Hoffnung, dass die Polizei sie dort eines Tages finden würde: Becca, ich hab dich lieb, werde glücklich im Leben, egal was geschieht. Marnie hatte diese Botschaft persönlich überbracht, begleitet von einer Kinderpsychologin. Solche Tage endeten in der Regel in ihrem Keller daheim in West Hills. Dann saß sie eine Stunde oder länger dort unten im Dunkel, mit einem alten Softballhandschuh aus ihrer Zeit in der Little League, die zwanzig Jahre zurücklag, in den Händen und strich über die Nähte und das blankgewetzte Leder. Warum sie das tat, wusste sie nicht genau. Und es interessierte sie dann auch nicht weiter.

In dem Metallkäfig lagen vier Leichen. Schwarz verkohlte Körper, an denen nur noch Kleiderfetzen hafteten. Flach an die Gitterstäbe des Käfigbodens gepresst, so, wie sie gestorben waren: bei dem verzweifelten Versuch, das letzte bisschen Luft einzuatmen.

Marnie spürte, dass Hiller neben sie getreten war.

«Kinder, alle vier», sagte er leise. «Noch nicht mal Teenager, der Größe nach.»

Der Wind drehte sich, nur für einen Moment. Lang genug jedoch, dass Marnie erneut der Geruch entgegenschlug, ehe sie vorbeugend ausatmen konnte – der Geruch, der vertraut war, sogar angenehm und gerade deswegen so entsetzlich. Der Geruch von gebratenem Fleisch.

Leah Swain war vor etwas über drei Jahren spurlos von einem Spielplatz in Irvine verschwunden. Sie war damals gerade acht geworden. Marnie hatte den Fall bearbeitet, zusammen mit einem Dutzend weiterer Polizeibeamter in Los Angeles und San Diego. Die Eltern des Mädchens hatten lokalen und landesweiten Fernsehsendern Interviews gegeben und den oder die Kidnapper ihrer Tochter angefleht, sie freizulassen. Vielleicht waren die Interviews hier in diesem Wohnwagen über einen Fernseher geflimmert, wo Leah in einem Käfig saß. Wo sie die letzten drei Jahre zugebracht hatte. Wo sie heute Abend irgendwie an Harold Shannons Handy gekommen war. Wo sie verbrannt war.

«Wir haben das Kennzeichen und die Fahrzeugbeschreibung an alle Streifenwagen in Kalifornien und Nevada rausgegeben», sagte Hiller. «Außerdem Shannons Foto, aus seinem Führerschein.»

Marnie kannte das Bild, es war ihr auf ihr Smartphone gemailt worden. Es sah aus wie ein Verbrecherfoto. Eingefallenes Gesicht, tiefliegende Augen, lange Haare und ein gekräuselter Bart, der an Stahlwolle erinnerte.

Aus dem Augenwinkel nahm Marnie Autoscheinwerfer wahr, die in der Ferne auftauchten. Sie blickte dem Fahrzeug entgegen. Es war noch etwa eine halbe Meile entfernt, ließ es auf der von Waschbrettrillen durchzogenen Schotterpiste langsam angehen. Ihre Spurentechniker vermutlich. Sie entschied, an ihrem Wagen auf sie zu warten, doch als sie dort ankam, erkannte sie, dass es sich nicht um ein Fahrzeug des FBI handelte, sondern um einen Übertragungswagen für ABC7 News aus Los Angeles.

Sie lehnte sich an ihren Crown Vic und rieb sich über die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, merkte sie, dass einige der Polizisten zu ihr herübersahen. Vielleicht dachten sie, sie würde weinen. Vielleicht zogen sie aus ihrem Äußeren den Schluss, dass sie für den Job zu weich war. Das war in Ordnung. Sollten sie denken, was sie wollten. Sie stieß sich vom Wagen ab und entfernte sich von dem Schauplatz, marschierte los in die schwarze Finsternis, wo sie niemand sehen konnte und sie das Zittern ihrer Hände zulassen konnte. Sie würde sich nicht übergeben, sie würde auch nicht weinen, dem Zittern ihrer Hände aber würde sie ungehemmt freien Lauf lassen. Der Zorn musste sich irgendwie einen Weg suchen, deswegen.

Hundert Meter westlich von dem Wohnwagen blieb sie stehen – in den Wüstenboden dort war ein tiefer, breiter Arroyo gefurcht, ein ausgetrocknetes Flussbett, das von einem Wasserdurchlass unter der Straße aus in Richtung Süden verlief. Der Boden des Arroyo war mit Abfall und Unrat aller Art übersät, der sich über die Jahre dort angesammelt hatte: schartige Motorteile voller scharfer Kanten, defekte Haushaltsgeräte, Plastiksäcke voller Müll, die von Tieren aufgerissen worden waren. All das lag im Dunkel unterhalb des Wüstenbodens, sodass der Arroyo in der Finsternis kaum auszumachen war. Trotz des hell angeleuchteten Tatorts, von dem aus Licht in die Wüste hinausstrahlte, wäre Marnie um ein Haar mitten hineingestolpert.

Kurz entschlossen setzte sie sich am Rand des Flusslaufs nieder. Im schwachen Licht musste sie beim Anblick des Abfalls unwillkürlich an die Höhle eines Löwen denken, in der Knochen herumlagen. Leah Swain war in der Höhle eines Löwen gelandet, weil sie in den falschen zehn Minuten auf einen Spielplatz gegangen war. Eine bessere Antwort als diese würde es wohl nie geben.

Marnie richtete den Blick zum Horizont, um Ausschau nach den Spurentechnikern zu halten. Sie spürte, wie sich in ihren Händen ein erstes Zittern und Beben bemerkbar machte.

2

Vier Stunden davor, als Leah Swain noch am Leben war und darauf wartete, dass Harold Shannon schlafen ging, während sie zu dem Handy starrte, das er auf dem Beistelltisch hatte liegenlassen, eben noch zu erreichen mit der Fußleiste, die sie mit viel Geduld von der Wand hinter dem Käfig abgelöst hatte, ließ Sam Dryden seinen Blick über den Pazifik schweifen.

Er befand sich zwei Meilen landeinwärts, in den Hügeln oberhalb von El Sedero, Kalifornien. Von seinem Standort aus waren die Lichter unten an der Uferpromenade und im Yachthafen zu sehen; das Meer dahinter war ein gähnendes schwarzes Nichts. Die Stadt selbst war ruhig, nur hie und da brannte noch Licht. Das Ende eines Freitagabends, einige Minuten nach Mitternacht.

Dryden stand auf dem Balkon eines Häuschens, dessen Garten von hundertjährigen Nadelbäumen eingerahmt war. Ihre Zweige waren noch nass von dem Regenschauer, der vor einer Stunde niedergegangen war, die Nachtluft duftete intensiv nach Kiefern und Zedern. Jetzt hatte es aufgeklart, und am schwarzen Himmel leuchteten die Sterne, so klar und scharf umrissen wie Stecknadelköpfe.

Er wohnte nicht hier, doch konnte er sein Haus von hier oben aus sehen, unten am Wasser. Dieses Häuschen hatte er gekauft, um es herzurichten und dann weiterzuverkaufen – so wie schon zwei andere Immobilien, die er in den vergangenen zwei Jahren rundumsaniert und mit Gewinn weiterverkauft hatte, wobei die Häuser von Mal zu Mal größer wurden, je mehr Routine er bei der anfallenden Arbeit entwickelte. Sie entsprach zwar kein bisschen den Fähigkeiten, die er sich in seinem früheren Beruf angeeignet hatte, aber das störte ihn nicht. Wenn es nach ihm ging, wollte er das, was er dort gelernt hatte, nie wieder anwenden.

Der Wind frischte auf, fuhr in die Bäume, von denen sich Wassertropfen lösten und zu Boden prasselten. Dryden stand eine Weile da und lauschte dem Geräusch, dann wandte er sich um und ging ins Haus zurück.

Das Wohnzimmer war komplett entkernt. Als er das Haus kaufte, war es noch mit den originalen alten Stromleitungen, aus den Dreißigern vermutlich, versehen: Drehknopfschalter, vorsintflutliche Guttapercha-Kabel und Kabelträger aus Keramik, dafür im gesamten Haus kein einziger Schutzleiter. Dass es noch nicht vor fünfzig Jahren niedergebrannt war, grenzte an ein Wunder. Dryden hatte alles herausgerissen und den gesetzlichen Vorgaben entsprechend erneuert. Dasselbe galt für die sanitäre Einrichtung.

Auch den Grundriss des Hauses hatte er verändert. Die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer eingerissen, sodass sie einen durchgehenden großen Raum bildeten. Er hatte Türdurchgänge und Fenster vergrößert. Nun wirkte alles heller, luftiger.

Heute hatte er das Haus bis in den späten Abend hinein komplett mit Glaswolle isoliert. Dabei trug er zwar eine Atemschutzmaske samt Schutzbrille, seine Haut und die Haare waren jedoch völlig mit dem Zeug überzogen, als er fertig war. Vor einer halben Stunde hatte er geduscht – das Badezimmer war ebenfalls entkernt, die neue Badewanne mit den Löwenfüßen aber stand bereits an Ort und Stelle, mit einer blauen Plane ringsherum als behelfsmäßigem Duschvorhang –, und nun war er wieder sauber, während er durch die Zimmer streifte und das Ergebnis seiner Arbeit besichtigte. Am Morgen hatten seine Schritte noch im Haus widergehallt; jetzt waren sie merklich gedämpft, ihr Klang wurde ganz von der Glaswolle absorbiert. Veränderung. Fortschritt.

Bisweilen fragte er sich, warum sich nicht mehr Leute auf diese Art handwerklicher Arbeit verlegten. Sie konnte auch nervig sein, keine Frage; es konnte passieren, dass man den Putz von der Wand schlug und dahinter Holzbohlen zum Vorschein kamen, durch und durch morsch, wodurch sich Arbeitspensum und Aufwand entsprechend erhöhten. Trotz derlei unliebsamer Überraschungen aber überwogen die Vorteile, eindeutig. Weil diese Arbeit konkret und greifbar war, nicht abstrakt. Sichtbare Ergebnisse erbrachte, die vor einem Gestalt annahmen. Und wenn man sich schmutzig machte, konnte man sich hinterher im wahrsten Sinne des Wortes rein waschen. Sägemehl und Isolierstoff und Gipskartonspritzer auf der Haut – all das wurde unter der Dusche vom Wasser abgespült und verschwand rückstandslos im Abfluss, so einfach war das. Nicht jeder Beruf war so klar und angenehm unkompliziert.

Er trat ins Schlafzimmer. In der Ecke lehnte ein Teil der Materialien für den Wandschrank, die diese Woche angeliefert worden waren: diverse Regalbretter und ein großer gerahmter Wandspiegel. Von der Tür aus fiel ihm sein Spiegelbild ins Auge. Sportlich und durchtrainiert war er auch früher schon gewesen, die regelmäßige körperliche Arbeit aber, seit er mit Umbauten beschäftigt war, hatte ihm keinesfalls geschadet. Im Gegenteil. Ihm gefiel, was er im Spiegel sah. Nicht übel für achtunddreißig.

Er schaltete das Licht im Schlafzimmer aus und kehrte auf den Balkon zurück. Blickte wieder auf die Stadt und zum Meer hinüber. Weit draußen über dem Wasser konnte er die Lichter einer Passagiermaschine blinken sehen, im Anflug vermutlich auf den Flughafen von Los Angeles, eine Stunde küstenabwärts von El Sedero. Er betrachtete das Flugzeug noch immer, als sein Handy klingelte. Er nahm es aus der Hosentasche und warf einen Blick aufs Display: Die Nummer sagte ihm nichts. Dryden tippte auf die Antworttaste und meldete sich mit einem schlichten «Hallo».

Eine Frau antwortete. «Bist du bei dir zu Hause?»

Dryden erkannte die Stimme sofort – es war eine alte Freundin: Claire Dunham.

Ihr Tonfall fiel ihm auf. Aufgeregt, drängend, wie unter Adrenalin.

«Nein. Aber ganz in der Nähe», sagte Dryden. «Wieso?»

«Du bist in El Sedero?»

«Ja. Warum?»

Wieder überging Claire seine Nachfrage. «Wie schnell kannst du in Barstow sein? In zwei Stunden?»

Dryden dachte kurz nach. Er stellte sich die direkteste Route dorthin vor, und um diese Nachtzeit herrschte wohl kaum nennenswert Verkehr.

«Ja, kommt ungefähr hin», antwortete er.

«Wir müssen uns dringend in der Nähe treffen. Fahr sofort los. Treffpunkt südlich von Barstow an der Interstate Fünfzehn. In einem Nest namens Arrowhead, das ist bloß eine Ausfahrt mit einer Tankstelle. Warte dort auf mich.»

Durchs Telefon hörte Dryden ein weiteres Geräusch: das Dröhnen schwerer Autoreifen auf Asphalt. Es schwoll an und verlor sich dann wieder im Nichts, innerhalb weniger Sekunden. Vor seinem geistigen Auge sah er Claire in ihrem Auto vor sich, auf einer Autobahn, wie sie gerade einen Sattelschlepper überholte. Falls sie von sich zu Hause aus kam, sie wohnte oben in der Bay Area, und bis zwei Uhr morgens in Barstow zu sein hoffte, musste sie bereits die halbe Wegstrecke zurückgelegt haben.

«Was ist denn los?», fragte Dryden.

Bei Claires Antwort merkte er, dass sie mehr als bloß gestresst war. Aus ihrer Stimme sprach Angst – wirkliche, tiefe Angst.

«Erklär ich dir, wenn wir uns sehen», sagte sie. «Ach ja, lass dein Telefon zu Hause. Danke, Sam.»

Sie beendete das Gespräch. Dryden stand noch einen Augenblick lang da und ließ ihre Worte Revue passieren. Die Anweisung hinsichtlich seines Telefons verhieß nichts Gutes. Das in Smartphones integrierte GPS-Modul versorgte den Netzbetreiber fortlaufend mit Daten zu seinem aktuellen Standort. Was auch immer Claire Dunham in der Gegend von Barstow vorhatte – ihrer beider Anwesenheit sollte auf keinen Fall registriert werden.

Claire war nicht die Sorte Mensch, die mutwillig unnötige Risiken einging. Eher im Gegenteil: Sie war einer der wenigen Menschen, denen Dryden voll und ganz vertraute.

Fahr sofort los.

Dryden ging ins Haus zurück und schloss die Schiebetür des Balkons hinter sich. Zwanzig Sekunden später saß er am Steuer seines Ford Explorer.

3

Arrowhead entsprach genau der Beschreibung, die Claire ihm am Telefon gegeben hatte. Eine Ausfahrt auf eine Landstraße mit bröckeligem Asphalt, die von Westen nach Osten verlief, aus der Wüste heraus und wieder in sie hinein. Zu beiden Seiten hin nichts als pechschwarze, leere Finsternis. Barstow befand sich zehn Meilen weiter im Nordosten.

Unweit der Ausfahrt gab es ein heruntergekommenes Diner und eine Sunoco-Tankstelle. Nur sie hatte um diese Uhrzeit geöffnet und warf einen milchigen Lichtschein auf das karg bewachsene Buschland ringsum.

Dryden fuhr um 1.58 Uhr von der I-15 ab, steuerte auf den dunklen Parkplatz des Diners und machte den Motor aus. Bis auf den Mitarbeiter in der Tankstelle war weit und breit keine Menschenseele zu sehen.

Dryden behielt die Zufahrtsstraße und die Autobahn im Auge und wartete.

Claire Dunham.

In was genau mochte sie verwickelt sein?

Dryden hatte sie zehn Jahre zuvor kennengelernt, in jenem früheren Leben, an das er heute nur noch ungern zurückdachte. Claire war Technikerin gewesen, eine Expertin auf dem Gebiet der elektronischen Hardware, die Dryden und seine Leute auf der ganzen Welt eingesetzt hatten. Sie war bei Einsätzen häufig mit vor Ort gewesen und hatte mit ihm und den anderen manch brenzlige Situation durchgestanden.

Viele von denen, die mit ihr zu tun hatten, in erster Linie Männer, taten sich im Umgang mit ihr schwer. Sie sei kalt, hieß es, unzugänglich, gleichgültig gegenüber anderen. Dryden hatte diese Wahrnehmung anfangs geteilt, bis er sie besser kannte und zu der Einsicht gelangte, dass man ihr damit unrecht tat. Claire Dunhams Unzugänglichkeit war nämlich keine Einbahnstraße. Sie selbst war außerstande, aus dem Verhalten anderer Menschen schlau zu werden, ein Manko, mit dem sie sich anscheinend schon vor langer Zeit arrangiert hatte, vermutlich bereits als Kind. Irgendwann hatte sie wohl aufgehört, es auch nur zu versuchen, was jeder andere an ihrer Stelle wohl genauso getan hätte. Kalt aber war sie keineswegs, ganz und gar nicht. Einmal war ein herrenloser Hund in die Gästeunterkunft für Offiziere auf dem Flugplatz Bagram gestreunt, und Claire hatte sich seiner sofort angenommen. Das Tier bot einen erbarmungswürdigen Anblick, es ähnelte mit seinem völlig verfilzten Fell einem Jutesack voller Schraubenschlüssel, weil es bis auf die Knochen abgemagert war. Im Stillen hatte Dryden ihm keinerlei Überlebenschancen eingeräumt, trotz Claires fürsorglicher Bemühungen, ihn aufzupäppeln – sie gab ihm nicht nur zu fressen, sondern trieb auch Medikamente für drei oder vier Krankheiten auf, an denen das Vieh litt –, aber auch dies sollte sich als Irrtum erweisen: Der Hund hatte noch acht glückliche Jahre gelebt, meist wohlig in der Sonne ausgestreckt an dem Pool, der zu Claires Haus oben in San José gehörte.

Gut eine Meile westlich des Autobahnkreuzes tauchten auf einer Erhebung Scheinwerfer auf, die mit hoher Geschwindigkeit näher kamen.

Dryden stieg aus. Er konnte das Zischen von Reifen auf Asphalt hören, das Heulen eines PS-starken Motors, aus dem das Letzte herausgeholt wurde. Gleich darauf bog der Wagen rasant in den Lichtschein der Tankstelle ein, und Dryden erkannte den Umriss von Claire Dunhams Landrover. Mit einer Vollbremsung kam das Fahrzeug zum Stehen. Claire beugte sich hinüber, öffnete die Beifahrertür und gab ihm eilig Zeichen einzusteigen.

Dryden hatte sich kaum auf den Sitz fallen lassen, als Claire auch schon mit aufheulendem Motor weiterfuhr. Binnen Sekunden hatten sie die Überführung hinter sich gelassen und rasten auf der Landstraße hinaus in die leere Wüste östlich der I-15. Claire gab Vollgas, sie brausten mit über hundertfünfzig Sachen dahin.

Sie sah verstört aus, maßlos angespannt. Im Schein der Armaturenanzeige glänzte ihr Gesicht vor Schweiß, trotz der voll aufgedrehten Klimaanlage. Ihre großen grünen Augen, die normalerweise eine so unerschütterliche Ruhe ausstrahlten, huschten immer wieder unruhig zu der digitalen Uhrenanzeige an der Konsole, die nun 2.01 Uhr anzeigte.

In einer solchen Verfassung hatte Dryden sie bislang nur selten erlebt und nur in Situationen, wenn sie im Umgang mit Menschen überfordert war und in Verlegenheit geriet. Sie derart außer sich zu sehen war mehr als ungewöhnlich.

«Was ist los?», fragte Dryden.

Claire fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wischte sie an ihrem T-Shirt ab und umklammerte wieder das Lenkrad.

«Könnte ich dir jetzt nicht erklären. Das erfährst du schon noch. Bald.» Erneut huschte ihr Blick auf die Uhr. «Scheiße.»

«Warum versuchst du’s nicht einfach?»

Claire sagte nichts. Griff stattdessen hinter sich auf den Rücksitz und zerrte einen schwarzen Seesack nach vorne auf ihren Schoß. Er war bereits offen. Sie griff hinein, holte eine Beretta, Kaliber 9 mm, heraus, und reichte sie Dryden.

«Geladen, mit einer Kugel schon im Patronenlager», erklärte sie knapp.

Dryden nahm die Pistole entgegen, vergewisserte sich, dass sie gesichert war, und ließ sie dann auf seinem Oberschenkel ruhen. Claire war, wie er mit einem Seitenblick feststellte, ebenfalls mit einer Beretta ausgerüstet, umgeschnallt in einem Schulterholster.

Sie griff wieder in den Seesack und holte noch etwas heraus, größer als eine Pistole. Ein gedrungenes schwarzes Gerät, so groß wie eine Pausenbrotdose, mit einem zusammengeklappten Dreibeinstativ an der Unterseite. Dryden erkannte es sofort; früher, in ihrem alten Leben, hatten Claire und er solche Dinge häufig benutzt. Es handelte sich um ein Lasermikrophon, dessen Strahl Klangvibrationen auf einer Glasscheibe messen konnte. Man richtete es auf ein Fenster und konnte so von außen Geräusche innerhalb eines Gebäudes belauschen.

Dass Claire ein solches Mikro besaß, wunderte ihn nicht weiter; nach ihrer beider Ausscheiden aus dem Militär vor acht Jahren hatte sie sich im Sektor private Sicherheitsdienstleistungen selbständig gemacht. Als ehemalige Army-Spezialistin war sie überaus gefragt, sie arbeitete für eine Reihe Hightech-Unternehmen im Silicon Valley, wobei sie nicht nur für die Sicherheit von Firmengeländen zuständig war, sondern auch für die private Sicherheit der Führungskräfte. Soweit Dryden wusste, engagierten Unternehmen sie mitunter sogar, um diskret Mitarbeiter zu überprüfen, denen man nicht mehr voll und ganz vertraute. Und dieses Misstrauen erwies sich nur zu oft als vollauf gerechtfertigt.

Claire klappte mit einer Hand das Stativ auf, um das Mikro einsatzbereit zu machen. Genau da ging der Straßenbelag von Asphalt in Schotter über, und der Landrover, der mit knapp 160 km/h dahinschoss, wurde heftig durchgerüttelt. Immer wieder passierten sie Bodenwellen, auf denen das Fahrzeug ins Rumpeln geriet wie eine Waschmaschinentrommel, in der sich ein schwerer Backstein mitdrehte.

«Herrgott noch mal», zischte Claire.

Sie fuhren über eine kleine Erhebung in der Landschaft, und da entdeckte Dryden in der Dunkelheit vor ihnen einen Lichtpunkt in der Ferne. Eine einzelne Glühbirne über einer Hausveranda, tippte er, noch etwa eine Meile entfernt.

«Da ist es.» Claires Blick war starr auf das ferne Licht geheftet, während sie nach und nach vom Gas ging, das Fahrzeug erst auf 110 und dann auf 80 km/h verlangsamte. Das Jaulen des Motors dämpfte sich und ging in ein leises Brummen über. Offenbar wollte sie nicht, dass ihr Kommen akustisch bemerkt wurde.

Erneut nahm sie eine Hand vom Steuer und öffnete ein Fach seitlich an dem Lasermikro, in dem sich ein halbes Dutzend drahtloser Ohrhörer befand. Einen davon reichte sie Dryden, ehe sie sich selbst einen ins Ohr stöpselte. Dryden folgte ihrem Beispiel.

Das Verandalicht war jetzt noch eine halbe Meile entfernt. Dryden konnte gerade so den Umriss des Gebäudes erkennen, vor dem es befestigt war, geduckt und kastenartig. Ein Wohnwagen. Davor stand ein roter Kleinwagen.

Claire fuhr weiter konstant achtzig und schaltete etwa dreihundert Meter vor ihrem Ziel das Licht des Landrover aus. So waren die Scheinwerfer in dem Wohnwagen auf keinen Fall zu bemerken, ob die Fenster nun Vorhänge hatten oder nicht.

Ohne die Lichtkegel versank die Wüste in schwarze Finsternis. Claire fluchte leise, nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen ausrollen. Sie legte den Leerlauf ein, ohne den Motor auszuschalten, stieg aus, eilte um die Tür herum und stellte das Mikrophon vorn auf die Kühlerhaube. Dryden stieg ebenfalls aus und konnte gleich den roten Laserpunkt sehen, der auf dem Platz vor dem Wohnwagen vor und zurück zitterte, während Claire das Mikro ausrichtete.

Sie beugte sich zur Seite, peilte ihr Ziel über das Gerät hinweg an und richtete den Strahl schließlich direkt auf ein Fenster am Nordende des Wohnwagens. Nachdem sie es fixiert hatte, ließ sie das Mikro los, zog dann ihre Waffe und setzte sich im Laufschritt in Bewegung, auf den Wohnwagen zu. Dryden schloss sich ihr an. Seine Schritte waren kaum zu hören, ebenso wenig wie ihre. Sich auf körnigem Wüstenboden so flink und geräuschlos wie möglich vorwärtszubewegen hatten sie beide schon vor langer Zeit gelernt.

Durch den Ohrhörer vernahm Dryden nach und nach Geräusche aus dem Wohnwageninneren. Seltsame Geräusche. Eine Art leises, gedämpftes Kratzen – es erinnerte ihn an eine Katze, die ein Polstermöbel bearbeitete, um es aufzureißen. Dabei mit ihren Krallen wiederholt im Gewebe hängen blieb und abrutschte, immer und immer wieder.

Dann hörte das Geräusch auf.

Einige Sekunden lang blieb es völlig still.

Er und Claire waren noch etwa zweihundertfünfzig Meter von dem Wohnwagen entfernt. Die nackte Verandaglühbirne verbreitete ein trübes gelbes Licht, sechzig Watt, wenn’s hochkam. Das Gelände zwischen ihnen beiden und dem Eingang des Wohnwagens jedenfalls war in tiefe Finsternis gehüllt.

Da plötzlich drang ein unverwechselbares Geräusch aus Drydens Ohrhörer: das digitale Klicken eines iPhones, das gerade eingeschaltet wurde. Für Claire, die links neben ihm lief, das Signal, einen deutlichen Zahn zuzulegen.

Drei Töne waren in rascher Folge zu vernehmen, der erste sehr hoch, die beiden anderen erheblich tiefer und obendrein identisch.

In dem Wohnwagen hatte jemand den Notruf 9-1-1 gewählt.

Noch zweihundert Meter.

Das Klingeln des ausgehenden Anrufs war eben noch zu hören. Es tutete einmal, dann meldete sich eine blecherne Stimme am anderen Ende. Die Worte konnte Dryden zwar nicht verstehen, doch erraten konnte er sie schon.

Nun sprach eine andere Stimme, leise, fast flüsternd, aber viel leichter zu verstehen. Die Stimme eines jungen Mädchens, im Wohnwagen. «Können Sie das orten?»

Die Notrufdisponentin wollte etwas erwidern, aber das Mädchen fiel ihr ins Wort. «Ich rufe über ein Handy an. Können Sie orten, wo ich bin?»

Ein schneller Redeschwall von der Disponentin. Für Dryden so gut wie unverständlich, bis auf ein Wort: Gefahr.

Diesmal gab das Mädchen keine Antwort.

Die Disponentin sprach wieder, aus dem Wohnwagen kam aber immer noch keine Reaktion. Sekunden vergingen.

Dann sagte das Mädchen: «Ich heiße Leah Swain. Ich bin hier mit drei anderen –»

Weiter kam sie nicht. Schnappte plötzlich erschrocken nach Luft, voller Angst.

Dryden meinte, noch einen letzten Laut von der Disponentin zu hören, dann fing das Mädchen an zu schreien, mit hoher, panischer Stimme.

«Wir haben niemanden angerufen! Wir haben niemanden angerufen! Ich schwöre es, wirklich nicht! Wir haben niemanden angerufen!»

Kurz hörte es sich an, als würde das Mädchen irgendwie gleichzeitig reden und schreien. Dann erst begriff Dryden, was er tatsächlich hörte: In dem Wohnwagen war noch ein anderes Mädchen. Vielleicht sogar noch mehrere.

Während ihm dieser Gedanke noch durch den Kopf schoss, war auch schon eine Männerstimme zu hören, über die Mädchen hinwegbrüllend. «Was hast du getan? Verdammte Scheiße, was hast du gemacht?»

Claire, irgendwo im Dunkel neben Dryden, fluchte und spurtete weiter. Dryden schloss zu ihr auf. Obwohl Claire ihm über die Menschen in dem Wohnwagen nichts erzählt hatte, waren die Kernpunkte der Situation so eindeutig und klar umrissen wie die Spitzen an einem Stacheldraht.

Die Mädchen weinten und schrien inzwischen so laut, dass das Geschrei des Mannes kaum noch zu verstehen war, bis auf die mehrfach wiederholte Drohung: Ich bring euch um. Er war völlig außer sich, so sehr, dass sich seine Stimme kaum noch menschlich anhörte, mehr wie das Geheul eines Tieres. Das war der letzte Gedanke, der Dryden durch den Kopf ging, ehe sich unter ihm die Erde auftat.

Eben spurtete er noch über den Wüstenboden, dann fand sein Fuß plötzlich keine Fläche mehr vor, auf die er hätte treten können. Er sauste ungebremst in die Tiefe. Dryden merkte, wie er vornüberkippte, und riss beide Arme nach vorn, wobei er mitbekam, dass Claire neben ihm genau dasselbe tat. Eine flaue halbe Sekunde lang hatte er die Schreckensvision, in einen Abgrund zu stürzen, über dreißig Meter tief, dann knallte er mit einem Knie mit voller Wucht gegen eine Metallkante, und ein stechender Schmerz durchfuhr sein Bein. Seine Hände landeten zwischen Mülltüten und lauter Kunststoffteilen – zerbrochene Gehäuse von Küchenmaschinen und wer weiß was sonst noch. Claire, vielleicht anderthalb Meter neben ihm, war offenbar zwischen ähnlichem Unrat gelandet und kämpfte sich bereits wieder auf die Beine, um auf der anderen Seite aus dem Graben zu klettern, in den sie gestürzt waren – ein mit Müll und Unrat übersäter Arroyo.

Dryden bewegte sein Bein und stellte erleichtert fest, dass es nicht verletzt war. Er hatte sich die Kniescheibe böse angestoßen, gebrochen aber war gottlob nichts.

Das hysterische Geschrei des Mannes in dem Wohnwagen ging unterdessen pausenlos weiter. «Ich bring euch um, verfluchte Scheiße, kapiert ihr, was das heißt?»

Dryden hielt nach wie vor die Beretta umklammert, die Claire ihm gegeben hatte. Er stieß sich mit der freien Hand vom Boden hoch, rappelte sich auf und setzte sich hastig in Bewegung, auf die andere Seite des Arroyo zu –

Er wurde jedoch nach dem ersten Schritt unsanft ausgebremst, weil sein anderes Bein festhing.

Seine Jeans hatte sich irgendwie verhakt. Eine spitze Metallecke, die das Gewebe in Wadenhöhe durchbohrt hatte und nun festhielt wie ein Widerhaken.

Claire schien sich ebenfalls in irgendetwas verheddert zu haben. Dryden hörte ein eigenartiges Knarren und Ächzen, wie von verrosteten Sprungfedern. Ein altes Bettgestell anscheinend, in dem sie feststeckte und aus dem sie sich zu befreien suchte. Und zwar so energisch, dass dabei das gesamte Gestell auf dem sperrigen Unrat wackelte und kippelte.

Der Mann in dem Wohnwagen war inzwischen in eine Art manisches Gebrabbel verfallen – «Bring euch um … bring euch um …» –, als würde er jetzt nur noch ein Selbstgespräch führen. Dann knallte es mehrmals laut, Holz schlug gegen Holz, als würden Schranktüren aufgerissen, eine nach der anderen. Das Geräusch von Büchsen, Schachteln, Packungen, die ungeduldig mit der Hand beiseitegefegt wurden, auf der hektischen Suche nach irgendetwas.

Dryden riss sein verhaktes Bein mit aller Kraft nach vorn, in der Absicht, den Hosenstoff entzweizureißen, aber vergebens. Schlimmer noch: Jetzt verschob sich der Unrat unter ihm. Er fand keinen festen Halt mehr, von dem aus er sich losreißen konnte.

«Bring euch um … bring euch um … DA IST ES JA!»

Das Knallen der Schranktüren hörte auf, zusammen mit dem Gebrabbel. Zu hören war jetzt nur noch das verzweifelte Schluchzen und Schreien der Mädchen.

Dryden schob die Pistole hinten in seinen Hosenbund und tastete in der Dunkelheit nach irgendetwas, woran er sich festhalten konnte. Ein Ellbogen stieß leicht gegen eine Oberfläche aus Metall, die einen dumpfen Widerhall erzeugte. Eine Waschmaschine oder ein Trockner, halb versunken im Unrat des Arroyo. Dryden beugte sich über das Gerät und umfasste die gegenüberliegende Kante mit beiden Händen wie den Rand einer Klippe, die er erklimmen wollte. Dann stemmte er sich in die Höhe und merkte, wie der Jeansstoff endlich nachgab und am Ende entzweiriss. Nun konnte er beide Beine mit Leichtigkeit nachziehen. Er zog sie hoch bis an die Brust, stemmte sie auf das Gerät und hechtete dann mit einem Satz nach vorn wie ein Läufer, der von einem Startblock schnellt. Gleich darauf landete er wieder auf dem Wüstenboden, auf allen vieren, rappelte sich hastig auf und spurtete los, so schnell es nur ging.

Noch hundert Meter bis zum Wohnwagen.

Noch fünfundsiebzig.

Noch fünfzig.

«Wollt ihr sehen, was ihr davon habt?», kreischte der Mann in dem Wagen. «Das werdet ihr gleich sehen, verdammte Scheiße!»

Dryden zog die Beretta und legte die letzten fünfzig Meter beflügelt von Adrenalin so schnell zurück, dass er fast das Gefühl hatte zu fliegen.

Vor der Tür des Wohnwagens befand sich eine kleine Veranda, zu der zwei Stufen hinaufführten. Die Tür war so konstruiert, dass sie nach außen aufging, die verrosteten Scharniere ließen sie aber beinahe aus dem Rahmen fallen. Dryden sprang, ohne abzubremsen, mit einem Satz auf die Veranda und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Der billige Rahmen gab nach, die Tür flog nach innen auf, und schon war er in dem Wagen. Mit einem Blick erfasste er die Situation.

Ein großer Eisenkäfig mit vier Mädchen darin, die sich schreiend umklammert hielten.

Ein spindeldürrer Mann mit langen grauen Haaren und einem langen grauen Bart, der mit den Fingern am Verschluss einer Flasche Feuerzeugbenzin herumknibbelte. Sie offenbar gerade öffnen wollte.

Beim Krachen der Tür schnellte der Mann herum, mit einer Miene, die zwischen Zorn und Verblüffung schwankte. Wie schon die Stimme aus dem Ohrhörer vermittelte auch das Gesicht des Typen den Eindruck eines Wesens, das nicht ganz menschlich war. Eher eine Art Raubtier, tückisch und unberechenbar. Wild und instinktgesteuert.

Der Blick des Mannes huschte von Dryden zu dem heillos zugemüllten Tresen, der den Wohnraum von der Küche abtrennte. Inmitten des Durcheinanders dort lag ein Jagdmesser mit einer fünfundzwanzig Zentimeter langen Klinge, gerade anderthalb Meter entfernt.

Der Typ wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dryden zu, verengte die Augen, während er offenbar in Windeseile seine Chancen überschlug. Dryden wartete nicht, bis er damit fertig war. Er hob die Beretta, zielte und jagte ihm zwei Kugeln in die Stirn. Der Mann zuckte, kippte nach hinten um und landete als zusammengesacktes Häuflein am Boden vor der Wand.

Die Flasche mit Feuerzeugbenzin landete neben ihm.

Noch immer versiegelt.

Stille senkte sich herab. Die Mädchen waren mit einem Mal verstummt. Rangen hicksend um Atem, während sie Dryden mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.

Draußen das Geräusch von Laufschritten. Claire sprang auf die Veranda, stürzte herein und bremste kurz hinter Dryden ab. Die Blicke der Mädchen wanderten in einem fort hin und her, von Claire zu Dryden und wieder zurück.

Alle vier waren noch Kinder, vielleicht zwischen acht und zwölf Jahren. Sie trugen schlichte T-Shirts und Leggings. Alle hatten langes, ordentlich gebürstetes Haar und sorgsam gekürzte Fingernägel und machten auch sonst einen sauberen, reinlichen Eindruck.

Wie liebevoll gepflegte Haustiere, dachte Dryden spontan und hätte dem Toten am liebsten noch die restlichen Kugeln in die Visage geballert.

Ihm fiel ein iPhone ins Auge, das auf dem Boden des Käfigs lag, dazu ein langer Streifen Fußleiste, der ein kleines Stück zwischen dem Gitter herausragte. Ein einziger Nagel befand sich noch in der Leiste, genau an dem Ende, das aus dem Käfig ragte. Dryden betrachtete den Nagel und das iPhone und dachte an das kratzende Geräusch, das er vor dem Notruf gehört hatte: Es war das Geräusch des Nagels gewesen, der sich immer wieder in den Schlingen des Teppichs verhakte, während die Mädchen mit ihm das Telefon zu sich herüberzogen, wo auch immer es davor gelegen haben mochte. Sobald sie das Telefon in den Händen hielten, hatten sie die Polizei angerufen.

«Komm, wir müssen abhauen», sagte Claire.

Dryden sah sie an. Ihre Anspannung war offenbar verflogen, größtenteils jedenfalls. Er rief sich vor Augen, wie sie auf der Fahrt hierher immer wieder nervös auf die Uhr geschaut hatte. Als hätte sie geahnt, dass die Zeit unerbittlich ablief.

«Wie zum Teufel hast du gewusst, was hier los war?», fragte Dryden.

«Später», erwiderte Claire. «Jetzt müssen wir los.»

Dryden rührte sich nicht von der Stelle. Blickte von Claire zu den Mädchen und dann zu dem Telefon in dem Käfig, während er aus dem Geschehen irgendwie schlau zu werden versuchte.

«Das erkläre ich dir alles noch», versicherte Claire. «Ich führe es dir vor. Aber nicht jetzt.»

Dryden starrte sie wortlos an. Claire sah schlecht aus. Erst jetzt, wo er sie bei hellem Licht sah, fiel ihm das so richtig auf. Sie war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Körperlich sah sie aus wie immer, eine sportlich-schlanke Frau von einem Meter dreiundsiebzig, nicht sichtbar abgemagert oder so, und doch wirkte sie eigenartig geschwächt. Abgekämpft irgendwie. Als wäre sie am Ende ihrer Kräfte. Eine lange Autofahrt und ein kurzer Spurt allerdings konnten sie kaum derart ausgelaugt haben. Ausgeschlossen.

«Ich erkläre dir alles», bekräftigte sie abermals und wandte sich zum Gehen. Hielt aber dann noch einmal inne und drehte sich um, als hätte sie irgendwas vergessen. Spähte suchend auf dem Boden neben Dryden umher, bis sie die beiden leeren Patronenhülsen aus der Beretta gefunden hatte, bückte sich, las sie auf und ließ sie in der Hosentasche verschwinden. Dann ging sie an Dryden vorbei ins Freie, hinaus auf die kleine Holzveranda.

Dryden musterte noch einmal den Käfig. Ein Gebilde aus grob zusammengeschweißten Eisenstäben, offenbar Marke Eigenbau. Mit einer primitiven Tür aus den gleichen Stäben, gesichert mit einem schweren Vorhängeschloss.

Er hatte noch immer damit zu tun, die Gesamtsituation zu erfassen, ein deprimierendes Detail nach dem anderen.

Die vier Mädchen starrten ihn mit ihren verweinten Augen unverwandt stumm durch die Gitter an.

Von draußen drang Claires Stimme herein. Drängend. Ungeduldig. «Für sie wird schon gesorgt, wenn die Polizei hier eintrifft. Bis dahin müssen wir verschwunden sein. Nun komm schon.»

Nach kurzem Zögern gab Dryden sich einen Ruck, wandte sich um und trat ins Freie. Claire rannte bereits auf die Schotterstraße zu, wo der Landrover stand. Von der Autobahn her, noch weit entfernt, war das Geheul einer Polizeisirene im Dunkel der Nacht zu vernehmen. Dryden sprang mit einem Satz von der Veranda und beeilte sich, Claire zu folgen.

4

Marnie Calvert nahm den Geruch schon im Wagen wahr. Er drang von außen durch die Lüftungsschlitze herein: ein Gemisch aus alkalihaltigem Staub und Kerosinabgasen. Ein Hubschrauber war gerade gelandet, ganz in der Nähe; das Landemanöver hatte sie vom Auto aus beobachten können, während sie die letzte halbe Meile hierher zurücklegt hatte.

Sie stellte den Motor ab, stieg aus und blieb kurz in der offenen Wagentür stehen.

Zehn oder zwölf Einsatzfahrzeuge standen bereits mit rot und blau flackernden Warnlichtern in der nächtlichen Einöde, kalifornische Staatspolizei, Streifenwagen des San Bernardino County Sheriffs, drei Rettungswagen aus Palmdale. Ihre Scheinwerfer erhellten den Tatort: ein heruntergekommener alter Wohnwagen, vor dem ein roter Ford Fiesta parkte, einsam und allein am Rand einer Schotterpiste in der Mojave-Wüste.

Hier im Freien hing noch immer der Staub in der Luft, den der Hubschrauber aufgewirbelt hatte, aber die Schwaden verzogen sich bereits nach und nach in Richtung Buschland. Die Wüste war schwarz und leer und brütend heiß – um vier Uhr früh an diesem Morgen Anfang August.

«Agent Calvert?»

Ein Hilfssheriff kam von dem grell erleuchteten Tatort auf sie zu, ein untersetzter Mann um die fünfzig, der eben anfing, aus dem Leim zu gehen. Auf seinem Namensschild über dem Dienstabzeichen stand HILLER. Mit ihm hatte Marnie telefoniert.

Sie schloss die Tür ihres Crown Vic und ging ihm entgegen. Ihre Schuhe knirschten auf dem festgebackenen Wüstenboden.

«Die Mädchen sind gleich hier», sagte Hiller. «Folgen Sie mir bitte.»

 

Die vier Mädchen saßen auf einer Sitzbank aus Metall, die neben einem der Krankenwagen aufgestellt worden war. Sie alle wirkten benommen und natürlich noch immer verängstigt, äußere Verletzungen aber wiesen sie nicht auf, so viel war zu erkennen. Die Rettungssanitäter hockten neben den Mädchen und redeten einfach mit ihnen, so locker und entspannt, wie es an einem solchen Tatort eben möglich war. Sicherlich hatten sie bereits eine erste körperliche Untersuchung vorgenommen, und die Mädchen würden später auf jeden Fall noch ins Krankenhaus gebracht, doch das war reine Formsache.

Marnie überquerte den staubigen Vorplatz und kniete sich vor dem Mädchen ganz links auf der Bank hin, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Es war ein Mädchen, das sie sechs Monate lang täglich vor Augen gehabt hatte; so lange blickte es ihr seinerzeit, nachdem es spurlos von einem Spielplatz verschwunden war, von dem Foto an der Pinnwand in ihrem Büro entgegen. Der Fall hatte Marnie auch in den Jahren seither keine Ruhe gelassen, sie hatte sich die Akte des Öfteren noch einmal vorgenommen.

«Leah?», sagte Marnie.

Die Kleine hatte bisher scheu auf ihre Hände geschaut. Nun hob sie das Gesicht und sah Marnie direkt an. Damals bei ihrem Verschwinden war sie acht Jahre alt gewesen. Inzwischen war sie elf.

Ihre Augen indes wirkten älter, überlegte Marnie. Viel älter. Das Mädchen nickte, sagte aber nichts.

«Hi, Leah. Ich heiße Marnie. Ich bin vom FBI.»

«Kommen meine Mom und mein Dad?»

«Die warten schon im Krankenhaus auf dich. Da bringt dich die Polizei gleich hin, dauert nicht mehr lange.»

«Ich möchte nicht ins Krankenhaus. Ich will nach Hause.»

Leahs Stimme zitterte, sie schien den Tränen nahe, aber sie beherrschte sich tapfer. Als hätte sie traurige Übung darin. Ein Schutzmechanismus der letzten Jahre.

«Hey», sagte Marnie sanft. «Du kommst bald nach Hause, das geht ganz fix. Und rate mal, wer dich da schon sehnsüchtig erwartet – Brezel.»

Bei diesem Namen strahlte in Leahs Augen spontan Freude auf. Das Gefühl schien sie selbst zu überraschen.

Brezel, ein Golden Retriever, war bei Leah Swains Verschwinden im Sommer 2012 noch ein tapsiger Welpe gewesen, gerade drei Monate alt. Marnie hatte den kleinen Hund damals selbst gesehen, als sie die Eltern in ihrem Haus befragte. Vor einer halben Stunde, als sie mit Mr. Swain telefonierte, hatte sie den Retriever im Hintergrund gehört, er bellte wie verrückt, schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen, da konnte Mrs. Swain ihn noch so oft ermahnen und auffordern, sitz zu machen. Hunde verfügten eben über ein ganz besonderes Gespür, eine Art sechsten Sinn; kaum auszudenken, welche Freude und Erleichterung er heute Nacht wahrnehmen mochte.

Leah blinzelte einige Male. Inzwischen konnte sie die Tränen kaum mehr zurückhalten.

«Ich werde dich nicht lange ausfragen, versprochen», sagte Marnie. «Aber kann ich dir drei oder vier Fragen stellen? Die Antworten könnten wichtig sein.»

Leah nickte stumm.

Da hörte Marnie Männerstimmen, die jemanden am Rand des hell erleuchteten Schauplatzes begrüßten. Sie sah sich um und entdeckte einen Mann, den sie auf Anhieb erkannte: den Polizeichef von Los Angeles, der soeben von dem gelandeten Hubschrauber herüberkam. Die Wüste südlich von Barstow, da war sie sich ziemlich sicher, lag weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, aber dies war einer jener Fälle, bei denen sich sämtliche Grenzen verwischten. Und da der Fall noch dazu glücklich ausgegangen war, war Politikern wie ihm naturgemäß daran gelegen, ihr Gesicht medial mit diesem Erfolg in Verbindung zu bringen. Marnie fragte sich, ob der Typ sich wohl auch hätte herfliegen lassen, wenn die Sache anders ausgegangen wäre.

Dieser mögliche andere Ausgang stand ihr kurz ungebeten vor Augen: der Anblick, den sie wahrscheinlich vorgefunden hätte, wenn Harold Heeley Shannon sein Vorhaben in die Tat hätte umsetzen können. Ein Bild des Grauens, das sie sich nur zu lebhaft ausmalen konnte. Erschreckend lebhaft.

Marnie verdrängte den Gedanken und wandte sich wieder Leah zu.

«Du hast der Polizei erzählt, dass wie aus heiterem Himmel zwei Leute im Wohnwagen aufgetaucht sind und Mr. Shannon daran gehindert haben, alles in Brand zu stecken», sagte Marnie. «Ein Mann und eine Frau. Trifft das zu?»

Leah nickte.

«Hast du diese Leute davor schon mal gesehen?», hakte Marnie nach. «Waren es Bekannte von Mr. Shannon?»

Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf.

«Haben sie irgendwas gesagt, zu dir oder den anderen Mädchen?»

Erneutes Kopfschütteln.

«Wie sieht es mit Namen aus?», fragte Marnie. «Haben die beiden sich irgendwie namentlich angesprochen?»

Leah zog leicht die Augenbrauen zusammen, während sie angestrengt nachdachte. «Nein. Ich glaube nicht.»

«Kannst du dich an sonst irgendetwas erinnern, was sie gesagt haben?»

«Sie hatten es eilig. Die Frau hat immer wieder gesagt, sie müssten fort sein, ehe die Polizei kommt. Also sind sie ganz schnell wieder gegangen.»

Leah dachte erneut nach, durchforstete offenbar ihr Gedächtnis, dann schüttelte sie wieder den Kopf. Trotz des Schocks, den man ihr ansah, und der unterdrückten Gefühle auf ihrem Gesicht war zu erkennen, dass das Mädchen nichts verschwieg oder zurückhielt. Sie hatte keine blasse Ahnung, wer der Mann und die Frau gewesen waren oder wie es ihnen gelungen war, genau rechtzeitig vor Ort aufzutauchen, so kurz nach einem Notruf bei der Polizei, den niemand auf Erden hätte vorausahnen können.

 

Wenige Minuten später verließen die Mädchen in einer Kolonne von Polizeifahrzeugen den Schauplatz. Hiller winkte Marnie in den Wohnwagen, in dem die Polizei bisher kaum etwas angerührt hatte; ein Team von Spurentechnikern des FBI aus Santa Monica würde den Tatort fachgerecht untersuchen, sie waren noch unterwegs hierher.

Im Wohnwagen fesselte zunächst der Käfig Marnies Aufmerksamkeit, mindestens zehn Sekunden lang. Dann fiel ihr Blick auf Harold Shannon, der mit offenen Augen dalag, als würde er zur Decke hochstarren, inmitten einer Lache aus Hirnmasse und Unmengen Blut, das in den Teppich gesickert war. Nach dem Befund der Ersthelfer deuteten die Austrittswunden auf Hohlspitzgeschosse hin, und die Patronenhülsen hatte der Schütze offenbar mitgenommen. So viel also zu ballistischem Beweismaterial – zerschmetterte Kugelfragmente würden ihnen keinerlei Aufschluss geben.

Hiller stand am Durchgang zu einem Flur, der in die hinteren Räumlichkeiten des Wohnwagens führte.

«Haben Sie einen stabilen Magen?», fragte er.

«Ich habe schon schlimmere Leichen gesehen», beruhigte ihn Marnie.

«Den Toten habe ich auch nicht gemeint.» Hiller deutete mit dem Kopf den Flur hinab. «Da hinten ist etwas, das Sie sich wohl ansehen sollten. Oder … zumindest zur Kenntnis nehmen.»

Sie rätselte kurz über seine etwas umständliche Wortwahl, folgte ihm aber dann aus dem Wohnzimmer.

Von dem kleinen Flur gingen nur zwei Räume ab: ein winziges Badezimmerchen und dann Shannons Schlafzimmer.

Das Bad starrte vor Schmutz, war aber ansonsten nicht weiter bemerkenswert. Marnie warf nur einen kurzen Blick hinein und ging dann weiter den Flur hinab. Hiller stand bereits in der Tür zum Schlafzimmer, mit demonstrativ abgewandtem Blick. Sein Bedarf war offensichtlich gedeckt. Warum, das verstand Marnie sofort, als sie an ihm vorbei in den Raum trat.

Die Einrichtung war denkbar karg: ein Bett und ein Nachttisch, beides ebenso versifft und widerlich wie alles andere in dem Wagen. Die Bettwäsche sah aus, als wäre sie seit Jahren nicht gewechselt worden. Auf dem Nachttisch standen Bierflaschen voller Zigarettenstummel, daneben türmten sich Pappteller und Schalen mit vergammelten Essensresten. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Es gab ein einziges Fenster, die dunkelgrünen Vorhänge davor waren zugezogen. All diese Details nahm Marnie wie nebenher wahr und vergaß sie im selben Moment wieder, während sie den Blick umherschweifen ließ. Der Grund, warum Hiller es vorzog, kein weiteres Mal hereinzuschauen, leuchtete ihr mit schockartiger Deutlichkeit ein.

Der Raum war ganz mit Fotos tapeziert. Digitalfotos, selbsthergestellte Abzüge auf Hochglanzpapier im Format 20 × 30 Zentimeter. Sämtliche Wände waren vom Boden bis zur Decke komplett mit Bildern bedeckt, lückenlos, Kante an Kante, in einem akkuraten Raster. Klebeband oder Heftzwecken aber waren nirgends zu entdecken. Vielleicht hatte Shannon die Bilder mit Sprühkleber oder dergleichen an der Wand befestigt. Eine wahrhaft obsessive Arbeit.

Marnie wurde bewusst, wie ihr Blick unaufhörlich in Bewegung blieb. Weil sie es intuitiv vermeiden wollte, zu lange bei den einzelnen Fotos zu verweilen. Gleichwohl sah sie die Bilder, nahm sie wahr. Sah, was sie darstellten. Nach einigen Sekunden blinzelte sie und richtete den Blick zur Tür. Hiller stand weiterhin dort, vernehmlich durch die Zähne ein- und wieder ausatmend. Marnie konnte das Zischen hören.

Sie selbst atmete weiter ruhig und lautlos, aber sie spürte, wie ihre Hände anfangen wollten zu zittern.

 

Als sie auf die Veranda trat, sah sie, dass inzwischen ein Übertragungswagen für ABC7 News eingetroffen war. Er parkte ein Stück entfernt. Die Spurentechniker ließen noch auf sich warten.

Sie ging zu ihrem Wagen und daran vorbei, marschierte in die dunkle Wüste, wo sie ungestört wäre. Hundert Meter westlich von dem Wohnwagen stieß sie auf einen Arroyo, ein ausgetrocknetes Flussbett – um ein Haar wäre sie in dem schwachen Licht hineingestolpert. Der tief ausgefurchte Kanal war mit Unrat und defekten Elektrogeräten zugemüllt. Sie setzte sich an den Rand, richtete den Blick zum Horizont und ließ dem Zittern ihrer Hände freien Lauf.

Sie saß noch immer dort, als über einer Erhebung im Westen Scheinwerfer auftauchten, ihr Team, das nun endlich vor Ort eintraf. Das Licht blendete sie, sie wandte sich blinzelnd ab – inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt –, und dabei landete ihr Blick auf dem Rand des Arroyo direkt neben ihr.

Wo ihr etwas ins Auge fiel, das sie noch wenige Minuten zuvor nicht hatte erkennen können: Abdrücke am Boden, wie von Händen und Schuhen. Als ob hier jemand auf allen vieren gelandet wäre, der über den Arroyo gesprungen war. Oder auch aus dem Arroyo, möglicherweise.

Marnie zog eine Minitaschenlampe hervor, schaltete sie ein und richtete sie auf die Abdrücke auf dem körnig festgebackenen Wüstenboden, um sie näher zu betrachten. Dann schwenkte sie die Taschenlampe quer über den Arroyo. Dort drüben konnte sie nichts Besonderes entdecken, im peripheren Schein des Lichtkegels aber fiel ihr etwas ins Auge.

Ein Stofffetzen, der an irgendetwas festhing.

Sie richtete die Taschenlampe darauf: Ein kleines Stück Jeansstoff hing an der speerartigen Spitze einer gebrochenen Radachse.

Im selben Moment wurde Marnie noch auf etwas anderes aufmerksam, dichter bei ihr. Im Schein der Taschenlampe blinzelte sie vor Verwunderung.

Knapp einen Meter unter ihr ragte eine ausgemusterte Waschmaschine halb aus dem Gerümpel in dem Arroyo. An der vorderen Kante der Maschine befanden sich zwei unverkennbare Spuren, vom Staub der Wüste markiert: Schuhabdrücke, jedoch nur die vordere Hälfte, die Zehen und der Ballen.

Und vielleicht noch etwas anderes.

Marnie beleuchtete den Kanal unter ihr, grub eine ihrer Schuhspitzen hinein und stieg vorsichtig zu der Waschmaschine hinunter. Sie ging vor dem Ding in die Hocke und beugte sich mit der Taschenlampe dicht über die Schuhabdrücke.

Sie wurden links und rechts von Handabdrücken flankiert, eben noch sichtbar im hellen Licht. Acht Finger, die sich an das Metall gedrückt hatten. Acht Fingerabdrücke.

5

Der Mann, der sich Mangouste nannte, verließ sein Haus durch die rückwärtige Tür und schloss sie hinter sich. Die Nacht war empfindlich kühl und feucht, ungewöhnlich für die Jahreszeit in diesem Teil Kaliforniens. Nachdem er den Garten durchquert hatte, trat er durch ein kleines Tor in den Wald dahinter. Hier war die Luft noch feuchter. Aus einer Art Bodennebel ragten Gestrüpp und Unterholz hervor.

Ein Weg führte durch das Dickicht, eigentlich mehr ein Trampelpfad. Mangouste folgte ihm etwa hundert Meter und gelangte auf eine kleine Lichtung, nicht größer als fünfzehn Meter im Durchmesser.

In der Mitte der Lichtung gab es eine Stelle, wo der Boden unmerklich summte, ausgelöst durch eine Vibration unter der Erde. Ganz schwach nur, eben noch wahrnehmbar; wer nichts davon wusste, würde einfach darüber hinweglaufen, ohne etwas zu bemerken.

Mangouste bewegte sich mit kleinen Schritten, bis er die Stelle ausfindig gemacht hatte, an der das Summen am stärksten war. Hier setzte er sich auf das feuchte Laub. Er murmelte etwas auf Französisch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dabei streiften seine Finger über die kaum noch bemerkbaren Spuren einer Narbe, die dort verborgen war. Er hatte sie seit über dreißig Jahren, eine Erinnerung an seine Kindheit – ein anderer Junge hatte ihm einen Schlag mit einem Backstein versetzt, wahrscheinlich wollte er ihn umbringen.

Damals lebte er noch in Frankreich, in Caen in der Normandie, ein Junge von elf Jahren, seit langer Zeit Waise. Gewiss, es gab Waisenhäuser in der Stadt, aber diese Heime waren die Hölle. So schrecklich, dass er es vorgezogen hatte, allein auf der Straße zu leben. Sich als Kind auf eigene Faust durchzuschlagen war natürlich nicht ungefährlich, aber an Gefahren konnte man sich mit der Zeit anpassen. Als die Sache mit dem Backstein passierte, war er schon seit beinahe zwei Jahren auf der Straße. Die Erinnerung daran war ihm bis heute präsent, ganz deutlich – wie sich der Angreifer lautlos von hinten angeschlichen hatte und was für ein unfassbares Glück es war, dass er rein zufällig im selben Moment den Kopf drehte, sodass ihn der Backstein nicht mit voller Wucht traf, sondern nur streifte. Auch an seine instinktive Reaktion erinnerte er sich. Wie es sich angefühlt hatte, dem anderen Jungen blitzschnell sein Messer in die Kehle zu stoßen. Wie eigentümlich intim der Moment danach gewesen war: als er den Jungen auf die Müllsäcke hinunterdrückte und seinem Wimmern lauschte, während ihm das Blut in heißen kleinen Schüben aus dem Hals quoll. Eine Stunde später, als die Polizei in dem Hinterhof auftauchte, saß er noch immer dort. Hatte die Hand des toten Jungen vor sich auf dem Schoß liegen und bog und knickte in einem fort an den Fingern herum, wie in den Bann geschlagen von ihrer Leblosigkeit.

Er hatte damit gerechnet, im Gefängnis zu landen, doch es kam anders. Zunächst sperrte man ihn ein, das schon. Nach zwei Tagen in einer Zelle aber weckte ihn mitten in der Nacht ein Polizist und verließ mit ihm die Haftanstalt durch einen Hinterausgang. Der Mann ließ ihn in einen Kleinbus einsteigen und fuhr mit ihm davon. Die Fahrt dauerte stundenlang, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wirklich Angst, während er auf dem Rücksitz lag – er hatte keine Ahnung, was ihn am Ende der Fahrt erwartete.

Nachdem er in dem Fahrzeug eingeschlafen war, war er am Morgen in einem wunderbar behaglichen Bett aufgewacht, in einem Zimmer mit Blick auf eine Art Urlaubsort – einen grünen Berghang voller riesiger Villen, an einem malerischen See gelegen. Der Comer See, wie sich herausstellte. Von dem Polizisten fehlte jede Spur, doch es gab jede Menge anderer Leute in dem weitläufigen Haus, Erwachsene und auch Kinder. Alle waren sehr freundlich zu ihm. Zeigten viel Verständnis und überließen es ganz ihm, seine Scheu und sein Misstrauen nach und nach zu überwinden, ohne ihn irgendwie zu bedrängen. Sie wussten über ihn Bescheid, wo er herkam und wie er gelebt hatte. Aber das war noch nicht alles.

Dein Vater war Soldat, sagten sie. Wusstest du das?

Er nickte. Ja, das wusste er. Es war so ungefähr alles, was er von seinen Eltern wusste – dieser eine Satz.

Dein Vater war ein vorbildlicher Soldat. Ein treuer Soldat, der uns sehr geholfen hat. Deswegen bist du hier. Weil wir es ihm schuldig sind, uns um dich zu kümmern. Das hier ist jetzt dein Zuhause.