Mindreader - Patrick Lee - E-Book + Hörbuch

Mindreader Hörbuch

Patrick Lee

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Beschreibung

Rachel, zwölf Jahre, Staatsfeind Nr. 1 Dem Veteranen Sam Dryden läuft beim Joggen ein Mädchen über den Weg. Rachel ist auf der Flucht. Doch warum jagen bewaffnete Soldaten eine Zwölfjährige? Schnell wird Sam klar: Rachel ist kein normales Kind: Sie kann Gedanken lesen. Seit ihrer Geburt wurde sie gefangen gehalten; das weiß sie noch, alle anderen Erinnerungen sind ausgelöscht. Sam beschließt, ihr zu helfen. Die Zahl der Verfolger steigt. Allmählich kehrt Rachels Gedächtnis zurück. Und Sam muss sich irgendwann eingestehen, dass das scheinbar so hilflose Mädchen über viel gefährlichere Gaben verfügt als die des Gedankenlesens … «Sein bestes Buch – atemlos, packend, clever und total überzeugend.» (Lee Child)

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Zeit:6 Std. 55 min

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Patrick Lee

Mindreader

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Rachel, zwölf Jahre, Staatsfeind Nr. 1

Dem Veteranen Sam Dryden läuft beim Joggen ein Mädchen über den Weg. Rachel ist auf der Flucht. Doch warum jagen bewaffnete Soldaten eine Zwölfjährige? Schnell wird Sam klar: Rachel ist kein normales Kind: Sie kann Gedanken lesen. Seit ihrer Geburt wurde sie gefangen gehalten; das weiß sie noch, alle anderen Erinnerungen sind ausgelöscht. Sam beschließt, ihr zu helfen. Die Zahl der Verfolger steigt. Allmählich kehrt Rachels Gedächtnis zurück. Und Sam muss sich irgendwann eingestehen, dass das scheinbar so hilflose Mädchen über viel gefährlichere Gaben verfügt als die des Gedankenlesens …

 

«Sein bestes Buch – atemlos, packend, clever und total überzeugend.» (Lee Child)

Über Patrick Lee

Patrick Lee wurde 1976 in West Michigan geboren. Er begann als Drehbuchautor für Hollywood, später verlegte er sich auf das Schreiben von Romanen. Schon mit seinem ersten Buch, «Die Pforte», schaffte er auf Anhieb den Sprung in die amerikanische Bestsellerliste. Lee Child nannte das Buch «mutig und furchterregend – und unheimlich glaubwürdig».

 

Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen mit «Dystopia» und «Das Labyrinth der Zeit» auch die Bände zwei und drei der Trilogie um den Expolizisten Travis Chase und die Zukunftsforscherin Paige Campbell.

Inhaltsübersicht

WidmungERSTER TEIL RACHEL1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelZWEITER TEIL BETA12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelDRITTER TEIL LUCERO30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. KapitelDanksagungLeseprobe: Das SignalDas Signal

Zur Erinnerung an William Sharp

und Marge Toporek

ERSTER TEIL RACHEL

Falls mein kleines Leben einen Zeugen hat,

Der kennt meine kleinen Schmerzen und Kämpfe,

So sieht er einen Narren wohl;

Und Narren zu drohen, das schickt sich nicht

für Götter.

Stephen Crane

1

Kurz nach drei Uhr morgens gab sich Sam Dryden geschlagen und ging eine Runde laufen. Kühle Feuchtigkeit umfing ihn auf dem Bohlenweg, der am Strand entlangführte, und filterte die Lichter zu seiner Linken. El Sedero glitt an ihm vorüber wie ein Tanker im Nebel. Rechts von ihm befand sich der Pazifik, der heute Nacht so schwarz und stumm war wie das Ende der Welt. Im Dunkel war nur der Widerhall seiner Schritte auf den alten Holzbohlen zu hören, ansonsten war es still.

Es war nicht weiter schlimm, jetzt wach zu sein. Der Schlaf brachte bloß Träume von schöneren Zeiten, die ihn auf ihre Art mehr quälten als Albträume.

Der Schein von Quecksilberdampflampen drang durch den Nebel. Sie schlängelten sich an der Promenade entlang bis zu dem fernen Punkt im Süden, wo der Bohlenweg am Kanal endete. Die letzte Lampe war in der Finsternis kaum noch auszumachen. Hie und da kam Dryden an Lagerfeuern unten am Strand vorbei und schnappte Gesprächsfetzen auf, die im Nebel ganz nah klangen. Leise Stimmen, Gelächter, zusammengekauerte Gestalten im Feuerschein. Kurze Schnappschüsse des Lebens, wie es auch sein konnte. Dryden kam sich wie ein Eindringling vor. Wie ein Geist, der in der Finsternis an den Menschen vorüberhuschte.

Er lebte schon seit Jahren in El Sedero, aber diese nächtlichen Laufrunden waren neu. Angefangen hatte es einige Wochen zuvor, als er mitten in der Nacht aufwachte und auf einmal große Lust verspürte, laufen zu gehen. Es war wie ein Bedürfnis, ein innerer Drang, gegen den er machtlos war. Bisher hatte er keinen Grund gesehen, sich dagegen zu wehren. Er empfand die körperliche Anstrengung in der kalten, frischen Luft als wohltuend, sie machte ihm Spaß. Nötig hatte er sie nicht direkt, mit seinen sechsunddreißig Jahren, einen Meter dreiundachtzig groß und von schlanker, sportlicher Statur, war er nach wie vor gut in Form. Vielleicht war das Joggen ja bloß der Versuch seines Unterbewusstseins, ihn aus seiner Lethargie aufzuscheuchen.

Lethargie. So hatte es ein Freund genannt, vor Monaten. Einer der wenigen, die noch vorbeikamen. Vor fünf Jahren, in der Zeit, nachdem alles geschehen war, hatte es noch viele Freunde gegeben. Sie hatten ihn unterstützt, als es nötig war, und auch später nicht lockergelassen und geduldig auf ihn eingewirkt, weil sie es gut mit ihm meinten. Sie wollten ihn dazu bewegen, sein Leben nun normal fortzusetzen. Er wisse es zu schätzen, hatte er gesagt, sie hätten ja recht – natürlich müsse man nach einer gewissen Zeit den Blick nach vorn richten. Er hatte ihnen beigepflichtet und dabei den enttäuschten Ausdruck in ihren Augen registriert, wenn ihnen klarwurde, dass er das nur sagte, um sie zu beschwichtigen. Damit sie ihn in Ruhe ließen. Er hatte gar nicht erst versucht, ihnen seine Sicht der Dinge nahezubringen. Hatte ihnen nicht erklärt, dass die Sehnsucht nach jemandem, der nicht mehr da war, sich anfühlen konnte wie eine Wache, zu der man eingeteilt worden war. Wie eine Pflicht, die man zu erfüllen hatte.

Er kam an der letzten Feuerstelle vorbei. Ab hier wurde der Strand unter dem Bohlenweg steinig und feucht, der Schein der Laternen schimmerte in der Nässe. Einige hundert Meter voraus war der Küstenabschnitt menschenleer. In diesem toten Abschnitt gelangte Dryden eine Minute später an einen Punkt, wo ein zweiter Weg abzweigte, landeinwärts.

Er verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen. Fast immer machte er das hier. Was ihn genau hierherzog, wusste er nicht recht – vielleicht einfach bloß die Leere. Die Abzweigung lag im Dunkeln zwischen zwei Laternen, hier war nie eine Menschenseele. In Nächten wie dieser, wenn kein Mond schien und auch die Brandung schwieg, war man an diesem Ort von jedem Sinnesreiz abgeschnitten, kaum anders als in einer schalldichten Isolationszelle.

Er stützte sich mit den Ellbogen auf das Holzgeländer und blickte in Richtung Meer. Während seine Atmung sich nach und nach beruhigte, nahm er endlich wieder leise Geräusche wahr. Das Zischen von Autoreifen auf der Schnellstraße, etwa eine Meile jenseits der Dünen. Das Rascheln winziger Tiere in dem Strandgras hinter dem Bohlenweg. Nachdem er über eine Minute so dagestanden hatte, hörte Dryden noch etwas anderes: als ob jemand auf den Bohlen der Promenade rannte.

Im ersten Moment tippte er auf einen anderen Jogger. Und korrigierte sich gleich – dafür war die Schrittfrequenz zu schnell. Das war jemand in vollem Spurt. Woher das Geräusch kam, war in der neblig feuchten Luft schwer zu sagen. Er spähte erst nach links und dann nach rechts die Strandpromenade hinunter, konnte aber im spärlichen Licht niemanden sehen. Als er einen Schritt vom Geländer zurücktrat und sich zu dem Weg umwandte, der landeinwärts führte, prallte die Gestalt, die aus genau dieser Richtung herangespurtet kam, mit voller Wucht gegen ihn.

Er hörte ein Keuchen – die Stimme eines jungen Mädchens. Das Mädchen stieß sich panisch von ihm ab und machte blitzschnell kehrt, um auf dem Bohlenweg davonzulaufen.

«Hey», sagte Dryden. «Alles klar bei dir?»

Sie zögerte und drehte sich zu ihm um. Selbst in dem schwachen Licht konnte Dryden sehen, was für eine riesengroße Angst sie hatte. Sie sah ihn misstrauisch an und verharrte in einer Haltung, in der sie jederzeit wieder losrennen konnte, obwohl sie zu sehr außer Atem schien, um noch weit zu kommen. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, aber weder Schuhe noch Socken. Ihr Haar, braun und mehr als schulterlang, war strähnig und ungekämmt. Sie konnte kaum älter sein als zwölf. Ganz kurz schärfte sich der Blick ihrer Augen; Dryden konnte sehen, wie es in ihr arbeitete.

Von einem Moment auf den nächsten gab sie ihre Abwehrhaltung auf. Sie hatte zwar noch Angst, aber nicht vor ihm. Stattdessen richtete sie ihren Blick zurück, von wo sie gekommen war, und hielt suchend Ausschau. Dryden folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Abzweigung der Strandpromenade führte zur Küstenstraße, hinter der sich der Dünenkamm erhob, der tief in nächtliches Dunkel gehüllt war. Alles schien still und friedlich.

«Wohnen Sie hier in der Nähe?», fragte das Mädchen.

«Vor wem läufst du davon?»

Sie wandte sich wieder um und kam auf ihn zu.

«Ich muss mich irgendwo verstecken», sagte sie. «Ich erkläre Ihnen alles, aber bitte, bringen Sie mich erst hier fort.»

«Ich kann dich zur Polizei bringen, Kleines, mehr kann ich nicht –»

«Nicht zur Polizei», stieß sie hervor, so heftig, dass Dryden den spontanen Impuls verspürte, sie einfach stehen zu lassen und weiterzulaufen. Weswegen auch immer die Kleine in der Klemme stecken mochte – sich ihretwegen irgendwelche Scherereien einzubrocken, daran hatte er nun wirklich kein Interesse.

Als sie seine veränderte Miene sah, ergriff sie hastig seine Hand. Sie sah ihn flehend an. «Ich laufe nicht vor der Polizei davon. Das ist es nicht.»

Ihr Blick huschte wieder zur Seite, und auch Dryden nahm in diesem Moment aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er blickte in dieselbe Richtung wie sie und begriff zunächst nicht ganz, was er dort sah. Irgendwie konnte er jetzt die Umrisse der Dünen erkennen, die gerade noch unsichtbar im Dunkel gelegen hatten. Sie wurden von einem schwachen Lichtschein erhellt, der in Bewegung schien. Die Atmung des Mädchens zitterte.

«Ja oder nein», sagte sie. «Ich kann nicht länger hier warten.»

Dryden wusste, wie sich jemand anhörte, der wirklich Todesangst litt. Dieses Mädchen hatte keinen Bammel davor, wegen irgendeines kleinen Vergehens geschnappt zu werden; sie fürchtete um ihr Leben.

Der Lichtschein hinter den Dünen wurde stärker, und da begriff Dryden: Leute mit Taschenlampen waren kurz davor, den Kamm der Erhebung zu erklimmen. Der Drang, das Weite zu suchen und die Kleine sich selbst zu überlassen, wich augenblicklich einem Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Und dass sie ihn nicht anlog.

«Komm mit», sagte Dryden.

Ohne ihre Hand loszulassen, rannte er mit ihr nach Norden los, zurück auf sein Haus zu. Sie konnte gut mithalten, er brauchte sein Tempo nur ein bisschen zu drosseln. Während sie dahinliefen, behielt Dryden die Dünen im Auge. Er und das Mädchen hatten kaum fünfzig Meter zurückgelegt, als der erste grelle Lichtschein einer Taschenlampe über dem Dünenkamm auftauchte. In Sekundenschnelle gefolgt von drei weiteren. Er erschrak darüber, wie nahe sie waren; die Nacht hatte seinem Sinn für Entfernungen einen Streich gespielt.

Sie liefen direkt auf eine der Gaslaternen zu, die vor ihnen in die Höhe ragte. Dryden stoppte, so unvermittelt, dass das Mädchen ihm fast den Arm auskugelte, als es ebenfalls stehen blieb.

«Wieso bleiben Sie stehen?», fragte sie, während sie die Verfolger genauso angespannt im Auge behielt wie Dryden.

Er deutete mit dem Kopf zu dem Lichtkegel vor ihnen auf dem Weg. «Die sehen uns, wenn wir durch das Licht laufen.»

«Hier können wir nicht bleiben», sagte das Mädchen.

Die Männer mit den Taschenlampen – inzwischen sechs an der Zahl – kamen im Laufschritt den Dünenhang herunter.

Dryden warf einen Blick über das Geländer zur Seeseite hin. Der Strand lag nur knapp einen Meter tiefer. Er deutete mit der Hand nach unten, und das Mädchen begriff sofort. Sie glitt unter dem hüfthohen Geländer hindurch, er folgte ihr. Er landete auf losen Steinen, die unter dem Bohlenweg aufgeschüttet waren. Von hier aus erstreckte sich der Strand gut dreißig Meter bis zum Wasser, steinig zwar, aber doch vorwiegend aus Sand. Dryden kniete sich hin und berührte die Oberfläche; sie war eben und vollgesogen mit der Luftfeuchtigkeit. Soweit er erkennen konnte, wies sie keinen einzigen Fußabdruck auf. Würden er und das Mädchen versuchen, über den Strand zu entkommen, würden die Männer mit den Taschenlampen sofort ihre Fußspuren entdecken.

Der Raum unter den Bohlen sah alles andere als vielversprechend aus. Die Steine hatten etwa die Größe von Volleybällen; darüber hinwegzusteigen, wäre ein mühsames Unterfangen, zumal in der pechschwarzen Finsternis dort. Schlimmer noch, Stützbalken versperrten alle paar Meter den Weg. Sie würden kaum nennenswert vorankommen, ehe die Männer hier waren, und mindestens einer der sechs würde mit Sicherheit auf die Idee kommen, mit seiner Taschenlampe unter den Weg zu leuchten. Als Versteck bot sich der Raum ja geradezu an.

Dryden sah, dass die Männer eben am Fuß der Düne ankamen. Es ging alles viel zu schnell. In der nächtlichen Stille hörte er das Geräusch ihrer dahinjagenden Schritte, erst auf der asphaltierten Küstenstraße und dann auf den Holzbohlen des Fußwegs, der zu ihnen führte. In weniger als dreißig Sekunden würden sie an dem Geländer direkt über ihnen stehen.

Dryden betrachtete kurz die Querverstrebungen vor sich und fand dann die einzig mögliche Lösung. Er schob das Mädchen in den Zwischenraum. Sie zitterte zwar, schien aber erleichtert, endlich in einem Unterschlupf zu sein, den Blicken ihrer Verfolger entzogen. Unter den Bohlen verliefen längsseits zu beiden Seiten des Stegs massive Balken. Diese wiederum wurden durch noch dickere Balken abgestützt, quer gelegt wie die Bohlen oben. Über diesen Querbalken befanden sich Lücken, leider viel zu schmal, als dass sich ein Mensch hätte verkriechen können, aber groß genug für ein Paar Füße oder Hände.

«Halt dich an mir fest», sagte Dryden und zog das Mädchen an sich. Sie gehorchte, ohne zu zögern; über ihnen fing der Steg bereits an, unter den Schritten der näher kommenden Männer zu erzittern.

Während sich das Mädchen an ihm festklammerte, griff Dryden nach oben und hakte sich mit den Fingern an einer der niedrigeren Querstreben fest – der Balken war viel zu dick, um ihn mit den Händen zu umfassen. Dann machte er einen Klimmzug, bei dem er seine Füße in die Höhe schwang und in der Lücke über dem nächsten Balken verhakte, anderthalb Meter weiter weg. So bildete er eine Art menschliche Hängematte für das Mädchen, das an seine Brust geschmiegt dalag, und zog sich so hoch wie möglich an die Stegunterseite. Wie ein Liegestütz in umgekehrter Richtung.

Diese Stellung, das merkte er sofort, würde er nicht lange durchhalten können. Alles daran war falsch. Seine Fingerspitzen fanden an dem massiven Balken keinen richtigen Halt, sodass er Druck ausüben musste, um sich an Ort und Stelle halten zu können. Schon nach wenigen Sekunden spürte er ein Brennen in seinen Unterarmmuskeln. Gleichzeitig musste er seinen Körper gestreckt halten und seine Muskeln in einer Weise anspannen, die absolut nicht ihrem normalen Gebrauch entsprach.

Das Mädchen schien die Lage sofort zu peilen, vielleicht weil sie das Zittern seiner Muskeln spürte. Während die Schritte auf sie zu polterten, neigte sie sich ganz dicht an sein Ohr und flüsterte: «Die sind bewaffnet. Sie werden uns töten.»

Gleich darauf flutete das grelle Licht von Taschenlampen durch die Lücken über ihnen. Die Männer waren ganz in ihrer Nähe angelangt und schwärmten bereits in beide Richtungen aus.

Einer von ihnen ergriff das Wort, mit kräftiger, klarer Stimme. Die Stimme klang, als sei sie es gewohnt, Befehle zu erteilen.

«Kämmt den Strand nach ihr ab. Und auch unter dem Steg hier, alles absuchen.»

Stiefel scharrten über das Holz und landeten dann mit hartem Aufprall auf den Steinen. Das Licht der Taschenlampen reichte bis in Drydens peripheres Gesichtsfeld, obwohl sie vorerst weiter in Richtung Meer gehalten wurden. Das Mädchen klammerte sich noch enger an ihm fest; ihm war, als könnte er spüren, wie sie die Augen schloss, als sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub. Der Schmerz in seinen Muskeln ging über ein bloßes Brennen längst hinaus, doch er war nicht das Problem. Körperliche Qualen konnte man mental ausblenden, ignorieren – die entsprechenden Methoden hatte Dryden vor langer Zeit erlernt –, irgendwann jedoch würden seine Muskeln schlicht schlappmachen. Gegen die Gesetze der Physik konnte auch die stärkste Willenskraft auf Dauer nichts ausrichten.

Es gelang ihm, seinen Kopf ein paar Grad in Richtung Strand zu drehen. Die Lichtkegel der Taschenlampen beendeten gerade ihre Inspektion der Sandfläche und schwenkten nun einer nach dem anderen herum, um den Raum unterhalb des Bohlenwegs abzusuchen. Um sich nicht durch den Glanz seiner Augen zu verraten, richtete Dryden den Blick rasch wieder nach oben. Während er die Bohlen über sich anstarrte, sah er auf dem Holz den diffusen Widerschein von Lichtstrahlen, die direkt unter ihm umherhuschten. Falls auch nur einer auf die Idee kam, seine Taschenlampe einen halben Meter höher zu richten, wäre alles verloren. Dryden machte sich auf den gleißenden Lichtschein gefasst, der eben dieses Ende ankündigen würde.

Doch er blieb aus.

Das indirekte Leuchten erlosch wieder. Finsternis. Dryden zählte bis zehn und wagte dann einen weiteren Blick zum Strand. Die Verfolger hatten sich nach Norden verzogen und kontrollierten dort den Bohlenweg. Es war Zeit, sich herunterzuschwingen und eine lautlose Flucht zu versuchen, wie riskant das auch sein mochte. Jeder Augenblick, den er weiter zögerte, erhöhte die Gefahr, dass er schlicht in die Tiefe plumpsen würde, was alles andere als lautlos ablaufen würde. Er fing eben an, seine Füße aus der Lücke zu ziehen, als er ein Geräusch hörte und sofort innehielt.

Schritte. Schwere, bedächtige Schritte. Sie näherten sich von Süden her, aus der Richtung, aus der die Verfolger gekommen waren. Dryden verharrte wie erstarrt. Der Mann blieb direkt über ihm stehen. Ein wenig Sand rieselte auf Drydens Gesicht herab.

«Clay», rief der Mann. Es war der Anführer, der mit der prägnanten Stimme. Er war auf dem Bohlenweg zurückgeblieben, während die anderen ausgeschwärmt waren.

Einer der Männer am Strand, Clay anscheinend, machte kehrt und kam zurück, wobei der Schein seiner Taschenlampe wie zufällig über den Boden huschte. Vor dem Steg blieb er stehen und blickte zu dem Anführer, der über ihm stand. Hätte er den Blick gesenkt und einfach nur nach unten geschaut, hätte er Dryden direkt in die Augen gesehen, kaum fünfundvierzig Zentimeter von ihm entfernt. Dryden wagte es nicht einmal, den Kopf wieder nach oben zu drehen; schon die kleinste Bewegung konnte ihn verraten. Er hoffte, dass sich das Zittern seiner Muskeln nach außen hin nicht so deutlich zeigte, wie es sich anfühlte.

Von Clays Oberkörper und Gesicht sah Dryden so gut wie nichts. Der Mann war kaum mehr als ein Umriss, der sich dunkel vor dem schwarzen Ozean und Himmel abzeichnete. Nur im schwachen Schein, der von der Taschenlampe nach hinten abstrahlte, waren Einzelheiten zu erkennen: halblanges Haar, dunkle Kleidung, eine Waffe, die er an einem Riemen an der Schulter hängen hatte. Eine Maschinenpistole, ähnlich der Heckler & Koch MP5, mit einem klobigen Schalldämpfer versehen.

Der Anführer richtete das Wort an Clay. «Die Sache ist längst aus dem Ruder gelaufen. Kehren Sie zum Van zurück, hören Sie den Polizeifunk ab, zwanzig Meilen im Umkreis. Kontaktieren Sie Chernin, er soll sich an die Arbeit machen und die privaten Handys von Polizisten und egal welchen Bundesbeamten anzapfen, die hier in der Gegend aktiv sind. Durchsieben Sie Funk und Telefonate nach Schlüsselbegriffen wie Mädchen und aufgegriffen. Versuchen Sie’s auch mit psychiatrische Abteilung, wenn Sie schon dabei sind.»

«Sie meinen, dass derjenige, wenn sie mit irgendwem spricht, sie für eine Gestörte hält, die aus einer Klapsmühle entflohen ist?»

Da spürte Dryden auf einmal, wie seine Fingerspitzen auf dem feuchten Holz abzurutschen begannen. Dagegen war nichts zu machen, da konnte er sich anstrengen, wie er wollte; er würde in wenigen Sekunden den Halt verlieren.

«Ja, würde ich nicht ausschließen», sagte der Anführer.

Drydens Fingerspitzen hafteten noch zu etwa einem halben Zentimeter am Holz. Und er merkte, wie sich dieser Kontakt im Laufe eines Atemzugs weiter reduzierte.

«Und falls wir ihre Spur trotzdem verlieren?», fragte Clay.

Der Anführer antwortete erst nach kurzem Schweigen. «Entweder wird sie in der Kiesgrube entsorgt, oder wir landen dort.»

Während Dryden sich für den Sturz schon anspannte, überlegte er fieberhaft, wie er sich danach am besten schnell wieder aufrappeln und mit dem Mädchen entkommen könnte.

Da spürte er, wie sie sich bewegte. Lautlos löste sie ihre Arme von seiner Brust, griff an seinem Kopf vorbei zu dem Balken hoch und klemmte ihre Hände, so fest es nur ging, über seine Fingerspitzen. Der überschaubare Druck, den sie auszuüben vermochte, reichte aus, um das Blatt zu wenden: Er konnte sich weiter an dem Balken festhalten.

In dem Gewirr von Gedanken, die Drydens Aufmerksamkeit forderten, gewann einer kurz die Oberhand: Wie zum Teufel hat sie das erraten?

In der nächsten Sekunde steckte Clay seine Taschenlampe ein, kletterte auf den Steg hoch und hastete los in die Richtung, aus der die Gruppe gekommen war. Dryden hoffte dringend, dass der Anführer nun ebenfalls Leine ziehen würde, doch dieser blieb noch einen Augenblick lang stehen, seine Atemzüge waren deutlich zu hören. Dann wandte er sich um und stapfte davon in Richtung Norden, dem Suchtrupp hinterher. Als seine Schritte sich in der Ferne verloren, zog Dryden aufatmend seine Füße von dem Balken und schwang sich nach unten. Blut strömte in seine Muskeln zurück wie ein Schwall Eiswasser. Sobald das Mädchen auf den Steinen festen Halt gefunden hatte, beugte es sich an ihm vorbei, um den Strand hinaufzuspähen. Dryden folgte ihrem Beispiel und sah, dass der Suchtrupp mittlerweile hundert Meter weit entfernt war.

Das Mädchen schniefte. Dryden bemerkte, dass sie weinte.

«Danke», flüsterte sie mit beinahe versagender Stimme. «Tut mir leid, dass Sie das für mich tun mussten.»

Dryden hatte tausend Fragen. Die aber alle noch etwas warten konnten.

Er wandte sich um und spähte landeinwärts, auf der Suche nach der günstigsten Route, die sie von hier wegführte. Das Gelände zwischen dem Bohlenweg und der Küstenstraße war in tiefe Finsternis gehüllt, das war schon einmal günstig. Einen Block weiter nördlich zweigten die Seitenstraßen von El Sedero ab und führten unter dem schützenden Schirm der Nacht landeinwärts. Er und das Mädchen könnten den Weg einmal ganz herum nehmen und so in einem weiten Bogen zu seinem Haus zurückkehren, eine halbe Meile weiter nördlich am Strand.

Nach einem letzten Blick, sich vergewissernd, dass sich der Suchtrupp nach wie vor von ihnen wegbewegte, geleitete er das Mädchen am Arm über die Steine unter dem Bohlenweg und hinüber in das hohe Gras, das dahinter wuchs.

2

Keiner von ihnen sagte ein Wort, bis sie den Strand drei Blocks hinter sich gelassen hatten und in den dunklen Straßen des älteren Teils der Stadt unterwegs waren. Gleichwohl hielt Dryden auch dort wachsam Ausschau, da die Gefahr bestand, dass Clay diesen Weg eingeschlagen hatte, um zu dem Van zurückzukehren – der Küstennebel war nicht dicht genug, um ihnen Deckung zu bieten. Vorläufig jedoch schienen sie El Sedero ganz für sich zu haben.

«Wer sind die Typen?», fragte Dryden leise. «Was geht hier vor – hast du irgendwas mit angesehen, das du nicht hättest sehen dürfen?»

Eine andere Erklärung wollte ihm nicht einfallen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht so richtig.»

«Du weißt nicht, ob du Zeugin irgendeiner Sauerei geworden bist?»

«Es steckt viel mehr dahinter», sagte sie.

Sie weinte zwar nicht mehr, doch ihr Atem ging noch immer stockend.

«Es ist noch nicht zu spät für Sie, sich aus der Sache rauszuhalten», fuhr sie fort. «Was Sie für mich getan haben, ist schon mehr als –»

«Ich lasse dich hier doch nicht allein zurück. Erst mal musst du in Sicherheit sein. Wir können immer noch zur Polizei gehen, auch wenn diese Typen den Funk abhören können.»

Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf, mit mehr Nachdruck als zuvor. «Nein, das geht nicht.»

«Es gibt Polizeiwachen, die mit hundert Beamten besetzt sind», beharrte Dryden, «selbst um diese Uhrzeit. Da hättest du ausreichend Schutz vor denen, die hinter dir her sind. Auch wenn sie wissen, dass du dort bist.»

«Sie verstehen das nicht.»

«Dann erklär’s mir.»

Das Mädchen sagte nichts. Es senkte nur den Blick auf seine nackten Füße, die lautlos über den Asphalt tapsten.

«Ich heiße Sam», sagte Dryden, um das Eis zu brechen. «Sam Dryden.»

Das Mädchen sah zu ihm hoch. «Ich bin Rachel.»

«Rachel, ich werde dich nicht für verrückt erklären. Ich habe ja die Typen gesehen. Ich habe gehört, was sie geredet haben. Erzähl mir ruhig alles, egal, worum es geht.»

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie die Straße entlanggingen. Nie zuvor hatte Dryden ein Kind gesehen, das einen so verlorenen Eindruck machte.

«Wo wärst du denn in Sicherheit?», fragte er. «Du hast doch bestimmt Familie. Irgendjemanden musst du doch haben.»

«Das weiß ich eben nicht», erwiderte sie. «Ich kann mich nicht erinnern. Genau das –»

Weiter kam sie nicht, da zerriss ein krachendes Geräusch die nächtliche Stille, scheinbar direkt vor ihnen im Nebel. Rachel zuckte heftig zusammen und klammerte sich instinktiv an Drydens Arm, doch da sahen sie auch schon, was es mit der Ruhestörung auf sich hatte. Es war bloß der Metalldeckel einer Mülltonne, der scheppernd auf dem Gehweg gelandet war, hinuntergestoßen von einer Katze, die den Abfall durchstöbern wollte. Rachel beruhigte sich wieder etwas, ließ aber Drydens Arm nicht los, während sie ihren Weg fortsetzten.

«Ich kann mich nur an die letzten beiden Monate erinnern», nahm sie den Faden wieder auf. «Und in dieser Zeit hatte ich niemanden, nein.»

Ihre Stimme klang tonlos, ausgelaugt. Hätte eher zu einem Soldaten nach monate- oder jahrelangem Kampfeinsatz gepasst als zu einem Kind. Das stimmliche Gegenstück zu dem leeren, verstörten Blick eines Kämpfers, der an der Front zu viel Grauenvolles mit angesehen hat.

«Wo bist du heute Abend hergekommen?», fragte Dryden. «Von wo aus haben sie dich verfolgt?»

«Von da aus, wo sie mich festgehalten haben. Die ganze letzte Zeit über, an die ich mich erinnern kann. Heute Abend wollten sie mich umbringen. Aber ich bin ihnen entkommen.»

Sie kamen an der Mülltonne vorbei. Die Katze hielt kurz in ihrem Tun inne, um sie misstrauisch zu fixieren, ehe sie sich wieder dem Abfall zuwandte. Dryden machte einen großen Schritt über den Deckel, der vor ihm auf dem Weg lag, als ihn ein Gedanke überfiel. Der ihn überrieselte wie die Berührung von Fingerspitzen, die an seinem Rücken hinabfuhren. Noch ehe die Eingebung in ihm ganz Gestalt angenommen hatte, erstarrte Rachel und sah ihn erschrocken an, als würde sie auf irgendein Signal seiner Körpersprache reagieren.

Dryden stutzte kurz, verblüfft über ihre feine Wahrnehmungsgabe, ehe er sein Augenmerk wieder dem Mülltonnendeckel zuwandte.

«Wir müssen weg hier, weg von dem Gehweg», sagte er.

Noch im Reden setzte er sich bereits in Bewegung und lotste Rachel seitlich an dem nächstgelegenen Haus vorbei auf die Rückseite. Hier bildeten die aneinandergrenzenden Gärten zweier Häuserreihen eine Art Kanal, parallel zur Straße. Dryden legte einen Zahn zu und hastete mit ihr durch diesen Kanal weiter nach Norden, um den Schauplatz des Lärms so schnell wie möglich hinter ihnen zu lassen.

«Sie werden diesem Geräusch folgen, nicht wahr?», sagte Rachel.

«Ja.»

Und da war auch schon das unverkennbare Geräusch von Stiefeln zu hören, die über Asphalt rannten, irgendwo ganz in der Nähe. Er schob Rachel hinter einen Strauch und ging neben ihr in Deckung; hier waren sie zwischen dünnen Zweigen und der Grundmauer eines Hauses eingezwängt. Dryden spähte durch die Lücke zwischen Strauch und Beton, wo sich ihm ein begrenzter Blick nach Süden bot, von wo sie gekommen waren. Er sah eine Gestalt vorüberhuschen, zwei Häuser weiter weg. Sekunden später machten die Stiefel des Verfolgers Halt, genau an der Stelle des Gehwegs, die Dryden und Rachel gerade verlassen hatten. Stille. Dann war das Piepsen und Rauschen eines Funkgeräts zu hören. Klar und deutlich drang die Stimme des Mannes in der stillen, kompakten Nachtluft zu Dryden herüber.

«Drei-sechs, nördlich von Position Drei-vier. Kein Kontakt.»

Eine Stimme antwortete, zwar durch das Funkgerät verzerrt, aber eindeutig als Clay zu erkennen. «Verstanden, hier Drei-vier, bin auf dem Rückweg vom Van.»

Nun meldete sich eine dritte Stimme, die Dryden sofort als die des Anführers identifizierte. «Drei-sechs, suchen Sie weiter die Straße ab. Wir denken, die Kleine ist wieder umgekehrt. Eine weitere Suche am Strand hat eine Spur zutage gefördert.»

«Verstanden. Was haben Sie gefunden?», fragte der Mann, der ganz in der Nähe stand.

«Die Brieftasche eines Mannes», sagte der Anführer. «Unter dem Bohlenweg, genau da, wo wir die Spur verloren hatten.»

Dryden schloss die Augen und stieß langsam die Luft aus. Eine Überprüfung erübrigte sich eigentlich; sein an die Grundmauer gedrückter Hintern verriet ihm auch so, was in seiner Gesäßtasche fehlte. Er tastete trotzdem mit der Hand danach. Seine Brieftasche war fort.

Über Funk war wieder die Stimme des Anführers zu hören. «Zwei Fußspuren im Sand, landeinwärts von der Brieftasche in Richtung Ihrer Position. Das Team kommt jetzt zu Ihnen. Stimmen Sie sich untereinander ab und durchkämmen Sie die Siedlung. Drei-vier, treffen Sie sich mit mir am Van; der Besitzer der Brieftasche wohnt hier, nur ein Stück weiter nördlich.»

3

Martin Gaul stand auf dem privaten Balkon vor seinem Büro. Er hielt sein Telefon in der Hand. Hielt es so krampfhaft umklammert, dass er hören konnte, wie das Glasdisplay leise knirschte.

Der Balkon, der sich im obersten Stock des Gebäudes befand und nach Süden hinausging, bot eine atemberaubende Aussicht auf Los Angeles, vom Sunset Boulevard aus gesehen. Gaul starrte hinab auf die nächtliche Metropole, die vor ihm ausgebreitet lag – ein beleuchtetes Gitternetz, ausgespannt auf einer Fläche von eintausend Quadratmeilen, im Zickzack durchschnitten von Schnellstraßen, die anmuteten wie die Glasfaseradern einer gigantischen elektronischen Lebensform.

Er schloss die Augen und bemühte sich, möglichst ruhig und regelmäßig zu atmen. Um sein Herzrasen zu dämpfen und die Angst zurückzudrängen, die ihn seit einem Anruf drei Minuten zuvor im Würgegriff hielt.

Currens Team hatte das Mädchen verloren.

Gaul wandte sich von der Brüstung ab. Er ging zu einem Tisch gleich neben der Schiebetür, legte sein Telefon ab und wünschte sich intensiv, das verflixte Ding würde noch einmal klingeln, diesmal mit der Meldung, dass alles wieder unter Kontrolle war. Nachdem er das hartnäckig schweigende Gerät noch einen Augenblick lang angestarrt hatte, kehrte er nach draußen zurück.

Er hatte einen üblen Geschmack im Mund – eine Mischung aus leise schwelender Angst und Anspannung. Er kannte diesen Geschmack, hatte ihn dreißig Jahre zuvor erstmals kennengelernt, in dem Sommer nach seinem Collegeabschluss, ehe er seinen Militärdienst antrat. Damals lebte er in Boston. Er war mit Freunden bei einem Spiel der Red Sox gewesen, danach waren sie einen trinken gegangen, in einer Bar ganz in der Nähe des Fenway-Park-Stadions. Etliche Tequilas später war er allein ins Freie gewankt, in dem undeutlichen Bewusstsein, dass seine Freunde bereits ohne ihn gegangen waren. Er war mit einem Mädel ins Gespräch gekommen, bei dem er sich ganz gute Chancen ausrechnete, aber dann war sie einfach abgehauen, ohne sich zu verabschieden, und das hatte ihm gehörig die Laune verdorben. Er entsann sich, dass er von der Bar aus losgezogen war, in Richtung Bushaltestelle oder was er dafür hielt, und dann viel später unten am Fluss gelandet war. In der Nähe der Harvard Bridge. Als er sich dort gerade nach einer geeigneten Stelle zum Pinkeln umsah, nahm das Unheil seinen Lauf.

Wie es genau angefangen hatte, konnte er nach der langen Zeit nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls war dort ein Typ gewesen. Ein Obdachloser vielleicht, ein Penner, hatte er damals vermutet. Vielleicht auch bloß ein Typ, der wie er aus einer Bar kam und nicht mehr ganz nüchtern war. Sie waren in Streit geraten. Gut möglich, dass Gaul angefangen hatte – zu diesem Eingeständnis war er mittlerweile bereit. Schließlich war er ziemlich schlecht drauf gewesen. Und er hatte schon oft Streit mit Leuten vom Zaun gebrochen, die ihm nichts getan hatten, wenn er schlecht drauf war. Einfach nur um Dampf abzulassen.

Diesmal war es über einen Streit weit hinausgegangen. Aus ersten Rempeleien wurde im Nu eine richtige Schlägerei, bis Gaul mit der Faust einen solchen Volltreffer landete, dass der Typ glatt zu Boden ging, direkt am Flussufer. Gaul hatte ihn einfach liegen gelassen und schleunigst das Weite gesucht. Erst zehn Minuten später und zehn Blocks weiter kam ihm der Gedanke, ob der Typ etwa mit dem Kopf im Wasser gelandet war. Etwas hatte geplatscht, aber darauf hatte er im Eifer des Gefechts nicht weiter geachtet. Er fuhr mit dem Bus nach Hause, wo er lange nicht einschlafen konnte. Sich unruhig im Bett hin und her wälzte, bis er nach langem Grübeln zu dem Schluss kam, dass er sich das Platschen nur eingebildet hatte – die menschliche Psyche neigte dazu, alle möglichen Gespenster zu sehen, wenn ihr irgendwelche dumpfen, unklaren Ängste zu schaffen machten.

Am Tag darauf war es mittags die Hauptmeldung in den Lokalnachrichten: Student tot im Charles aufgefunden, Verdacht auf Fremdeinwirkung, die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise. Gaul bekam es mit der Angst zu tun, in seinem Kopf überschlug sich alles. An wie vielen Überwachungskameras war er auf der Straße vorbeigewankt, unterwegs zum Fluss und später bei seinem überstürzten Rückzug? Wie viele Taxifahrer, Türsteher und Nachtbusfahrer hatten ihn da draußen gesehen und erinnerten sich gut genug an ihn, um ihn bei der Polizei beschreiben zu können?

Den ganzen Sommer über dieser Geschmack in seinem Mund, genau wie jetzt. Als könnte die eigene Kehle eine besondere Chemikalie erzeugen, und zwar nur wenn man in wirklich schlimmen Schwierigkeiten steckte – Schwierigkeiten, bei denen man nichts tun konnte, als hilflos abzuwarten.

Das Telefon klingelte. Wie ein Raubvogel, der auf ein Beutetier niederstößt, riss er es vom Tisch.

«Sagen Sie mir, dass Sie sie haben», sagte er.

«Die Mehrzahl der Männer sucht sie noch», antwortete Curren. «Sie melden sich, wenn sie was haben. Clay und ich sind gerade in Sam Drydens Haus. Er ist nicht da.»

«Sie achten aber hoffentlich darauf, dass von außen nichts auf Ihre Anwesenheit hindeutet, oder? Wenn er und das Mädchen noch auf dem Weg dorthin sind –»

«Die könnten uns nicht sehen. Alle Vorhänge sind zugezogen. Es brennt kein Licht, das nicht schon an war, als wir hergekommen sind. Aber ich denke nicht, dass sie hier auftauchen. Sonst müssten sie schon längst da sein. Vielleicht hat Dryden gemerkt, dass er seine Brieftasche verloren hat, und will lieber kein Risiko eingehen.»

«Falls er ihr hilft, was heißt das für uns?»

«Dass es Ärger geben könnte, würde ich sagen.»

Gaul spürte, wie eine Ader hinter seinem Ohr zu pochen begann, direkt an seinem Brillenbügel. «Schießen Sie los», sagte er.

Curren lieferte einen stichpunktartigen Abriss von Drydens Lebenslauf, den er wahrscheinlich gerade von einem Handgerät ablas. «Sam Dryden. Hat sich gleich nach der High School bei der Army verpflichtet, Sparte Spezialtruppen. War erst bei den Rangers, dann drei Jahre lang Delta Force. Hat in der Zeit eine Rundumausbildung durchlaufen, mit allem Drum und Dran: Er ist ausgebildeter Hubschrauberpilot, ein erfahrener Fallschirmspringer, auch aus extrem großen Höhen, all so was. Dann verlässt er die Delta Force, und für die nächsten sechs Jahre existieren keine Angaben. Die Akte ist komplett schwarz.»

«Schwarz, das gibt’s doch gar nicht», sagte Gaul.

«Das ist über meiner Gehaltsklasse. Offiziell wird er mit vierundzwanzig vom Erdboden verschluckt, um erst mit dreißig wieder aufzutauchen. Zu dem Zeitpunkt hat er seinen Abschied vom Militär genommen und wohnt hier in El Sedero. Heiratet mit einunddreißig, wird Vater, fängt ein Studium an, um Lehrer zu werden. Ein Jahr später kommen seine Frau und das Kind bei einem Autounfall ums Leben, und er hängt das Studium an den Nagel. Das ist jetzt fünf Jahre her. Seither keine nennenswerten Einträge mehr in der Akte. Er verdient etwas Geld als privater Sicherheitsdienstleister, berät kleine Unternehmen. Nichts Berauschendes.»

Gaul antwortete nicht sofort. Er hielt sich inzwischen mit der freien Hand am Balkongeländer fest. Unter ihm dehnte sich die Stadt wie eine weite Tundra, scharf und klar umrissen im Natriumlicht. Während Currens Vortrag hatte er kein einziges Mal geblinzelt.

«Sir?», sagte Curren.

Das Mädchen war entwischt, vermutlich unter Mithilfe eines ehemaligen Elitesoldaten, der noch besser qualifiziert war als Curren. Gaul könnte zwei Anrufe tätigen und binnen einer halben Stunde Zugriff auf die geschwärzten Passagen in Sam Drydens Akte erlangen – das würde er gleich nach diesem Gespräch erledigen –, aber die Einzelheiten waren eigentlich kaum von Belang. Allein die Tatsache, dass Dryden Aufgaben erfüllt hatte, die so strenger Geheimhaltung unterlagen, dass die Angaben dazu geschwärzt wurden, belegte hinlänglich, über was für Fähigkeiten er verfügte, auch wenn das inzwischen ein paar Jahre her war.

«Durchsuchen Sie das Haus, stellen Sie alles auf den Kopf», sagte Gaul endlich. «Jeder Name, jede E-Mail-Adresse, lassen Sie alles durchs System laufen.»

«Clay ist schon dabei.»

«Helfen Sie ihm.» Nach dieser knappen Anweisung legte Gaul auf.

Er erledigte die Anrufe, um seine Leute hinsichtlich Drydens Akte in Bewegung zu setzen, bevor er noch eine Nummer wählte. Eine noch etwas belegte, kratzige Stimme meldete sich. Ihr Besitzer war vermutlich bereits wach gewesen – in Washington D.C. war es jetzt kurz nach sechs Uhr morgens –, aber wohl kaum länger als ein paar Minuten.

«Entschuldigen Sie die Störung, ich weiß, es ist noch sehr früh», sagte Gaul.

«Was brauchen Sie?»

Es war diese schnörkellose, zupackende Art, die Gaul an dem Mann wirklich bewunderte. Die Komiker in den Late-Night-Shows zeichneten ein völlig falsches Bild von ihm, wenn sie ihn immer als linkischen, leutselig grinsenden Trottel karikierten. Der Mann war bei öffentlichen Auftritten einfach nur nervös. Lampenfieber, das war alles.

Gaul benötigte neunzig Sekunden, um ihm die Lage zu schildern, wobei er nichts beschönigte. Als er fertig war, blieb es in der Leitung lange still. Dann gluckerte es, als würde etwas in ein Glas eingeschenkt. Und zwar kein Wasser, wie Gaul wusste – nicht mal um diese Uhrzeit.

«Ich brauche Satellitenunterstützung», erklärte Gaul ohne Umschweife. «Ich brauche die Mirandas, die gesamte Konstellation. Ich brauche die volle Kontrolle darüber, ohne dass mir die Typen vom Heimatschutz oder vom Verteidigungsministerium dazwischenfunken können, und zwar genau so lange, bis ich das Einsatzende melde.»

Sein Gesprächspartner seufzte. Dann war ein gedämpftes Knarren zu hören, als hätte er sich auf einer Couch oder so etwas niedergelassen.

«Das muss ich an höherer Stelle abklären», sagte der Mann.

Gaul verkniff sich die Nachfrage, wie lange das dauern würde. Sehr viele höhere Stellen als diesen Typen gab es ja eigentlich nicht.

«Sie hören wieder von mir», sagte der Mann. «In einer Viertelstunde.»

4

Dryden spähte durch die Zweige eines Zypressenstrauchs am Rande einer kleinen Grünanlage. Von dem ersten Garten aus, in dem sie sich verborgen hatten, waren er und Rachel erst drei Blocks weitergekommen. Noch immer befanden sie sich im Herzen der ruhigen Wohngegend von El Sedero, die inzwischen von Rachels Verfolgern durchkämmt wurde.

Binnen sechzig Sekunden nach dem letzten Funkkontakt waren die übrigen Männer wie Schatten in die Siedlung eingesickert. Es waren Profis, die vollkommen lautlos operierten und kaum zu orten waren, zumal sie inzwischen auch ihre Taschenlampen ausgeschaltet hatten. Jedes Mal, ehe Dryden mit Rachel zum nächsten Versteck huschte, hatte er das freie Gelände etwa eine Minute lang genau geprüft. Und doch konnten sie von Glück sagen, überhaupt so weit gekommen zu sein; diese Leute hatten unverkennbar eine Eliteausbildung durchlaufen. Das konnte Dryden an den Schritten ablesen, die sie unternahmen – oder auch unterließen. Keine einzige überflüssige Bewegung. Alles auf das Ziel hin konzentriert. Dieselben Prinzipien hatte man ihm vor Jahren ebenfalls eingedrillt.

Er musterte die Grünanlage. Eine Seite grenzte an eine Reihe von Gärten, die andere lag offen zur Straße hin. Und da sah er auch schon eine Gestalt, die sich zwischen dem Klettergerüst und der Schaukel hindurchbewegte, nur vierzig Meter entfernt.

Dryden wandte sein Augenmerk den nahegelegenen Häusern zu, die sich östlich von der Stelle befanden, an der er sich gerade mit Rachel verbarg. Sein Plan, soweit er einen hatte, bestand darin, in diese Richtung, landeinwärts also, zu entweichen, um in das langgezogene Geschäftsviertel jenseits des Highways zu gelangen. Dieser Stadtteil war weniger kleinteilig dimensioniert, mit Geschäftsfronten und Lagerhallen und gewerblichen Grundstücken. Dort konnte man sich leichter verstecken. Von dort aus konnte er den Plan dann weiterentwickeln.

Der Mann verließ jetzt die Grünanlage, überquerte die Straße und verschwand in der Finsternis zwischen den Häusern auf der anderen Seite. Dryden wandte den Kopf und musterte das Gelände zwischen dem Zypressenstrauch und der Häuserreihe im Osten. Die Entfernung, die er und Rachel würden zurücklegen müssen, betrug etwa zwanzig Meter, grob geschätzt. Das Gelände war zwar in Dunkelheit getaucht, doch es bot keinerlei Deckung. Falls es jemand im Auge behielt, könnte er sie sofort sehen, sobald sie losliefen.

Er sicherte noch einmal in alle Richtungen. Warf einen letzten prüfenden Blick auf die Straße und die Gärten dahinter. Dort regte sich nichts. Dort war niemand, soweit er es erkennen konnte. Er hielt bereits Rachels Hand, wandte sich ihr zu und deutete in die Richtung, in die sie laufen würden. Sie nickte zurück, mit ängstlichem Blick, aber entschlossen. Dryden spannte sich an, um loszulaufen, als sie plötzlich fest seine Hand drückte, fast krampfhaft. Unzweifelhaft eine Warnung. Er sah sie nicht einmal an. Vermied jede Bewegung. Hielt vollkommen still und atmete lautlos durch den Mund.

Im nächsten Augenblick kam auch schon ein Mann an dem Zypressenstrauch vorbei, weniger als drei Meter vor der Stelle, an der sie hockten. Er hatte sich seitlich von hinten aus genähert, verdeckt durch den Strauch. Seine Schritte auf dem feuchten Gras waren absolut lautlos gewesen. Nicht einmal jetzt, während er ihn beobachtete, konnte Dryden etwas hören. Wie Rachel auf ihn aufmerksam geworden war, war ihm unerklärlich. Sie befand sich vielleicht einen Meter näher an der Stelle, von wo aus der Typ aufgetaucht war, und Kinder hatten oft ein feineres Gehör als Erwachsene, dennoch. Sie musste über unwahrscheinlich geschärfte Sinne verfügen.

Dryden wartete. Der Mann drang tiefer in die Grünanlage vor. Dann blieb er stehen und drehte sich einmal langsam im Kreis, wobei sein spähender Blick kurz auch die Stelle streifte, an der Dryden und Rachel sich versteckt hielten. Dass die Verfolger auf eine systematische Kontrolle der Sträucher und Büsche verzichteten, schoss es Dryden durch den Kopf, war allein dem Umstand geschuldet, dass es davon so viele gab – Hunderte in der Grünanlage und der gesamten Siedlung. Stattdessen hielten die Männer nach Bewegung auf offenen Flächen Ausschau.

Nachdem er sich einmal komplett umgesehen hatte, setzte der Mann seinen Weg fort, in dieselbe Richtung wie sein Kollege vor ihm. Als er fort war, fasste Dryden ein weiteres Mal die Straße ins Auge. Sie wirkte menschenleer – zumindest so menschenleer wie gerade schon. Er sah Rachel an. Sie nickte, genauso bereit wie zuvor. Sie rannten los.

 

Erst zehn Minuten später machten sie halt. Als Rachel nach fünf Minuten die Puste auszugehen drohte, hatte Dryden sie huckepack genommen und war weitergelaufen, fast genauso schnell wie zuvor. Stehen blieb er erst, als sie oben auf dem Kamm einer Böschung angekommen waren, hoch über der Schnellstraße.

Ganz außer Atem spürte er einen vagen Druck an den Schläfen. Nicht direkt Schmerz, eher eine Art Kälte. Was auch immer es sein mochte, es zeigte an, dass er seit seiner besten Zeit etwas nachgelassen hatte. Damals, als er noch in der Einheit diente, hatte er regelmäßig Zehn-Meilen-Läufe absolviert, bepackt mit Ausrüstung, die nicht weniger wog als Rachel. Und zwar völlig problemlos.

Er verschnaufte, bis sein Atem wieder ruhiger ging, und lauschte in die Nacht hinaus. Er hörte das Flüstern des Verkehrs, der um diese Uhrzeit nur spärlich floss, und horchte auf ein Geräusch, das er lieber nicht zu hören hoffte: einen Hubschrauber. Jemandem, der ein Team von Männern mit schalldämpferbewehrten Maschinenpistolen zusammenstellen konnte und nicht davor zurückschreckte, sie auf zivile Wohngegenden loszulassen, könnten durchaus noch andere Ressourcen zur Verfügung stehen. Ein mit einer Wärmebildkamera ausgestatteter Hubschrauber würde ihn und das Mädchen so mühelos aufspüren, als würden sie leuchten.

Dryden wartete noch zwanzig Sekunden lang, hörte aber nichts. Was jedoch nicht hieß, dass sie sich schon sicher fühlen konnten.

Er starrte über den Highway zu dem Teil der Stadt hinüber, wo sich das Einkaufsviertel und das Gewerbegebiet befanden. Hubschrauber hin oder her, sie mussten sich irgendwo verstecken. Er wollte sich eben in Bewegung setzen, die Böschung hinunter, als ihn etwas innehalten ließ – ein Impuls tief in seinem Innern, so ähnlich als würden sich ihm die Nackenhaare sträuben.

Eine Reaktion auf eine drohende Gefahr. Aber was für eine Gefahr?

Er rührte sich nicht und horchte noch einmal. Bis auf das Rauschen des Verkehrs war kein Geräusch zu hören. Er spähte suchend in die Dunkelheit und sah nichts.

Die jähe Furcht war nicht durch etwas ausgelöst worden, das er gehört oder gesehen hätte – es war eher eine Art Eingebung gewesen, knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Wie die Ahnung einer zusätzlichen Facette der Gefahr, der sie ausgesetzt waren. Was mochte es sein?

Er wartete, doch die Eingebung konkretisierte sich nicht. Dafür kam er plötzlich zu einer anderen Überzeugung: sich in El Sedero zu verstecken war grundverkehrt.

Rachel blickte ihn unverwandt an. Aus ihren Augen sprach tiefe Beunruhigung, aber sie sagte nichts.

Dryden deutete mit dem Kopf über die Schnellstraße. Hinter den Bäumen auf der anderen Seite, etwa vierhundert Meter entfernt, erfüllte der Lichtschein eines großen, rund um die Uhr geöffneten Supermarkts die dunstige Nachtluft.

«Zeit, dass wir hier verschwinden», sagte er.

 

Der Computerraum, eine Etage unter Gauls Büro, wurde nur durch den fahlen Schein der Plasmabildschirme erhellt, insgesamt neun. Gaul lief ungeduldig auf und ab, während Lowry, sein technischer Leiter, sie für die Bildübertragung bereit machte. Noch wurden von den Miranda-Satelliten keine Bilddaten übertragen, die Monitore der konfigurierten Rechner leuchteten neutral weiß. Gaul hatte noch keinen Zugriff auf die Vögel, und mit jeder Minute, die nutzlos verstrich, pochte ihm der Puls lauter in den Ohren.

«Signaturen gesperrt», verkündete Lowry. «Alles bereit für die Datenströme.»

Die Mirandas waren die wohl eindrucksvollsten Maschinen, die der Mensch je ins Weltall geschossen hatte. Ihre technischen Möglichkeiten der Wärmebildaufklärung waren selbst dem, was sehr optimistische Wissenschaftsjournalisten spekulativ vermuteten, zehn Jahre voraus. Ein Miranda konnte einen dicken von einem dünnen Menschen unterscheiden, an jedem Ort der Welt, bei Tag und bei Nacht, doch das war es noch nicht, was sie so besonders machte. So etwas konnten mittlerweile viele Spionagesatelliten. Der Unterschied bestand darin, dass ein Miranda dazu aus einer fünfzehnmal höheren Umlaufbahn in der Lage war: aus zweitausend Meilen Höhe statt aus lumpigen hundertdreißig Meilen, der Standardhöhe, in der die meisten Satelliten die Erde umkreisten. So deckte jeder von ihnen einen sehr weiten Umkreis ab, in dem er auf Jagd gehen konnte.

Die Gesamtkonstellation von Mirandas erfasste in überlappenden Bereichen den gesamten Planeten, und zwar jederzeit, genau wie das GPS-Sendenetz. Das System konnte zu jedem beliebigen Zeitpunkt jeden Fleck auf der Erde überwachen, von mindestens drei Satelliten aus und mitunter sogar von vier oder fünf. Es konnte ein bewegliches Ziel ins Visier nehmen, sei es ein Jogger oder ein Marschflugkörper, und diesem Ziel mühelos folgen. Vor diesem System gab es kein Entrinnen, und sich davor verstecken konnte man schon gar nicht.

Wobei man sein Ziel selbstverständlich erst einmal finden musste, ehe man ihm folgen konnte. Rachel und ihren neuen Freund würde Gaul nur dann aufspüren können, wenn sie zu dem Zeitpunkt, ab dem ihm die Mirandas endlich zur Verfügung standen, noch immer zu Fuß in der Gegend um El Sedero unterwegs waren, und mit jeder Sekunde, die nutzlos verstrich, reduzierte sich dieser Zeitraum immer mehr. Unerbittlich.

Da tauchten auf einmal Dialogfenster auf allen neun Monitoren auf; Lowry ging sofort in Bereitschaft. Eine Sekunde später klingelte Gauls Telefon.

«Die Vögel gehören ganz Ihnen», sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

 

Dryden und Rachel kamen im Laufschritt am Parkplatz vor dem Supermarkt an und blieben am Rand kurz stehen, um die überschaubare Anzahl von Fahrzeugen zu mustern, die dort um diese Uhrzeit abgestellt waren. Die meisten standen in einer Reihe direkt vor dem Gebäude, vermutlich die Autos der Mitarbeiter, die gerade die Nachtschicht absolvierten; eine Handvoll aber war eher verstreut an den Parkplatzrändern abgestellt. Möglicherweise gehörten sie Angestellten, die eine Doppelschicht absolvierten und schon am Vorabend hergekommen waren, als der Parkplatz noch voll belegt war.

Dryden steuerte auf den nächsten der abseitsparkenden Wagen zu, einen dunkelgrünen Ford Taurus. Je verbreiteter das Modell war, desto besser; egal, für welches Fahrzeug sie sich entschieden, der Diebstahl würde innerhalb weniger Stunden gemeldet werden, und Rachels Verfolger konnten den Polizeifunk abhören. Umso wichtiger war es, einen unauffälligen Wagentyp zu wählen. Dryden zog den Taurus jedoch nur kurz in Erwägung, weil er neu genug war, um mit einem elektronischen Schlüssel bedient zu werden; seine Zündung konnte also nicht einfach so kurzgeschlossen werden.

Sie gingen weiter. Am Rand des Parkplatzes bewegten sie sich auf die nächste Gruppe Fahrzeuge zu, die etwa vierzig Meter weiter weg stand.

 

Lowry murmelte halblaut vor sich hin, während er Befehle eingab, um die Satelliten auszurichten. «Nummer zwölf, einen Rahmen von drei mal drei Kilometern abdecken. Nummer fünfzehn, Untergebener von zwölf, erfasse Lebewesen, außen, menschlich. Nummer vier, Untergebener von zwölf, Befehl identisch.»

Die bemerkenswerte Hardware der Mirandas wurde durch ein Softwarepaket abgerundet, das geradewegs den schlimmsten Visionen eines Verschwörungstheoretikers entsprungen zu sein schien. Ein Miranda konnte angewiesen werden, ein Gebiet von der Größe einer Stadt ins Visier zu nehmen und dort alle menschlichen Gestalten zu isolieren, die sich nicht in von Menschen gemachten Bauwerken aufhielten. Während ein Satellit die Anzahl der Ziele in einem weiten Rahmen ermittelte, konnten zwei oder drei andere sich an die Feinarbeit machen und sich für Nahaufnahmen an jedes der Ziele heranzoomen. Während dieses Vorgangs konnten die Vögel miteinander kommunizieren, um das Arbeitspensum effizient aufzuteilen. Die gesamte Operation würde nicht einmal dreißig Sekunden in Anspruch nehmen.

Und sie lief bereits.

Auf dem ersten Bildschirm war die Gesamtaufnahme der Stadt zu sehen, wobei das unbebaute Umland und der Ozean in kühlem Schwarz erschienen. Grelle, bläulich weiße Lichtpünktchen markierten Häuser und andere Wärmequellen.

Auf den nächsten drei Monitoren poppten jetzt nach und nach Standbilder auf: die Nahaufnahmen menschlicher Ziele, die von den anderen Satelliten eingespeist wurden. Das erste Bild zeigte ein Grüppchen von Leuten, die um eine gleißend helle Wärmequelle versammelt waren.

«Ein Strandlagerfeuer», sagte Lowry. «Soll ich den Befehl geben, ‹ignorieren›?»

Gaul nickte. Lowry instruierte das System, dieses spezielle Ziel zu übersehen.

Auf weiteren Schnappschüssen waren Currens Leute zu sehen, die gerade mit ihm an dem Van zusammentrafen. Gaul hatte sie erst vor kurzem zurückbeordert, um sie gezielt auf Rachel und Dryden ansetzen zu können, sobald ihr derzeitiger Aufenthaltsort ermittelt war.

Während weitere Standbilder eintrafen – eine Frau, die einen Hund Gassi führte, ein großgewachsener Mann, der seinen Müll nach draußen trug –, wurde ersichtlich, dass die Mirandas ihre Ziele planmäßig von Westen nach Osten anpeilten. Was in diesem Fall hieß, dass sie an der Küste angefangen hatten und sich nun landeinwärts vorarbeiteten. Wahrscheinlich eine Standardeinstellung der Software. Gaul starrte auf die Gesamtaufnahme der Stadt auf dem ersten Monitor. Sie erstreckte sich von der Küste aus etwa anderthalb Meilen bis zu einer Art Einkaufszentrum außen rechts. Inzwischen hatten die Mirandas alle im Freien befindlichen Ziele auf der linken Hälfte erfasst und würden mit der rechten Seite in zehn bis fünfzehn Sekunden fertig sein.

 

Im hinteren Teil des Parkplatzes gab es nur ein Fahrzeug, das in Betracht kam; Dryden entschied sich bereits von weitem dafür, ehe er auch nur hatte feststellen können, ob es abgeschlossen war. Es war ein älterer Pick-up, ein Ford F-150 aus den frühen Neunzigern, wenn nicht sogar noch aus den Achtzigern; in seiner Zündung würden sich normale Kupferdrahtkabel befinden, kein elektronischer Schnickschnack. Er fand die Fahrertür verriegelt vor, nicht weiter verwunderlich, stellte aber bei einem Blick quer durchs Wageninnere fest, dass die Beifahrertür offen war, der Knopf stand nach oben. Rachel, die ihm im Abstand von etwa drei Metern folgte, schaltete sofort; sie flitzte direkt auf die Beifahrerseite, stieg ein und reckte sich hinüber, um Dryden die Tür zu öffnen. Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten.

 

In einer Höhe von zweitausendeinunddreißig Meilen über den Rocky Mountains, mit einer Geschwindigkeit von nicht ganz sechs Kilometern in der Sekunde nach Südosten flottierend, in Richtung Golf von Mexiko, hielt Miranda Fünfzehn sein Linsenmodul weiter auf El Sedero gerichtet und nahm in blitzschneller Folge Schnappschüsse von den menschlichen Zielen auf seiner Liste auf. Ziel sieben, erfasst und abgeschickt. Ziel acht, erfasst und abgeschickt. Ziel neun – der bordeigene Computer zögerte. Am angegebenen Standort befand sich kein Ziel neun. Miranda Fünfzehn meldete diesen Fehler automatisch an Miranda Zwölf, den Satelliten, der den Masterframe steuerte und Ziele festsetzte. Miranda Zwölf antwortete, dass Ziel neun 2,315 Sekunden zuvor verschwunden war; an diesem Standort war nicht länger die Signatur zweier menschlicher Wesen im Freien zu orten, sondern stattdessen jetzt die Signatur zweier menschlicher Wesen in einem Fahrzeug, mit 99,103-prozentiger Sicherheit ein Ford, Modell F-105, Baujahr 1988. Die letzte Anweisungsfolge der Bedienungsperson hatte ausschließlich menschliche Ziele im Freien spezifiziert; Ziel neun war somit nicht länger gültig.

Miranda Fünfzehn prüfte dieses Dilemma genau 485 Nanosekunden lang, der Zeitraum, der erforderlich war, um alle drei seiner Was-wäre-wenn-Algorithmen ablaufen zu lassen, und entschied dann, dass dieses Problem keiner gesonderten Meldung an die Bedienungsperson bedurfte. Er ignorierte Ziel neun und setzte seinen Auftrag fort.

 

Im Handschuhfach des Pick-ups fand sich ein Schraubenzieher, mit dem Dryden das Gehäuse der Zündung aufbrach; innerhalb weniger Sekunden hatte er die Kabel kurzgeschlossen und den Motor gestartet.

«Wir stehlen ihn ja nicht», betonte Dryden. «Wir leihen ihn uns bloß.»

«Ist ja ziemlich alt, die Karre», sagte Rachel. «Ob die Besitzer da wirklich so traurig sind?»

Dryden steuerte den Wagen vom Parkplatz und bog links ab. Nur ein Stück die Straße hoch tauchte auch schon die Auffahrt auf den Highway 101 in Richtung Süden auf. Rachel drehte sich um, warf einen Blick auf die nebelverschwommenen Lichter der Stadt und stieß erleichtert die Luft aus.

«Dann erzähl mir mal den Rest deiner Geschichte», sagte Dryden.

 

Gaul starrte die komplette Sammlung der Satellitenaufnahmen an, ähnlich fassungslos wie jemand, der einen Spielautomaten anstarrt, in den er soeben seinen letzten Dollar versenkt hat. In der Zielregion hielten sich vierzehn Personen im Freien auf. Ein Kind befand sich nicht darunter.

Sie war verschwunden.

Lowry war bereits dabei, einen größeren Rahmen für die Suche abzustecken, doch davon versprach Gaul sich nichts. Der erste Ausschnitt hatte ein Gebiet umfasst, das jemand zu Fuß in der gegebenen Zeit kaum vollständig hätte durchmessen können. Ihre Abwesenheit konnte nur eins bedeuten: Sie hatten ein Transportmittel gefunden.

Gaul ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte die Stirn in die Hände.

Rachel, außerhalb seiner Reichweite.

Irgendwo da draußen in der Welt.

An irgendwelche Dinge von Belang konnte sie sich nicht erinnern, aber dieser Zustand würde nicht von Dauer sein. Da ihr das Präparat nicht mehr zugeführt wurde, würde sie ihr Gedächtnis nach einer Woche langsam zurückerlangen. Schon bald danach könnte sie sich wieder an alles erinnern.

Der Geschmack in seinem Mund verstärkte sich. Ein paar Sekunden lang war er wieder in Boston, in der schäbigen kleinen Bude an der West Ninth Street, und wartete hilflos auf den Tag, an dem die Polizei an seine Tür klopfen würde.

«Sir?», sagte Lowry.

«Ja, was ist?»

«Eine letzte Möglichkeit haben wir noch, die uns vielleicht weiterhelfen könnte.»

Gaul hob den Kopf. Auf dem ersten Computer hatte Lowry eine Option laufen lassen – tatsächlich hatte er einfach nur einer Option zugestimmt, die das Programm empfohlen hatte. Das Softwarepaket war zu demselben Schluss gekommen wie Gaul: Konnte eine Zielperson nicht zu Fuß geortet werden, war besagte Person vermutlich in ein Fahrzeug gewechselt.

«War bei den letzten Software-Updates mit dabei», fuhr Lowry fort. «Auf dem Straßenasphalt bleiben manchmal noch Wärmespuren zurück, wenn ein Fahrzeug das Suchgebiet gerade verlassen hat. Die Spur wäre ziemlich schwach, aber die Mirandas können ihre Sensoren entsprechend kalibrieren und die Wärme noch bis zu sechzig Sekunden lang wahrnehmen, je nachdem, mit welcher Geschwindigkeit das Fahrzeug unterwegs war. Wir könnten also Glück haben, falls jemand das Gebiet erst kürzlich per Auto verlassen haben sollte.»

Die Gesamtaufnahme von El Sedero verharrte reglos, während die Satelliten den neuen Auftrag ausführten. Da richtete sich das Bild unvermittelt neu aus und zoomte blitzschnell auf die rechte Hälfte zu, bis eine Nahaufnahme des Einkaufszentrums zu sehen war. Ganz schwach, und schon wieder erlöschend, während Gaul hinstarrte, schlängelten sich zwei parallel verlaufende dunkelblaue Linien über den Parkplatz zur Straße und dann weiter zu der Auffahrt, die auf den Highway führte.

«Zeigen Sie mir diesen Parkplatz vor sechzig Sekunden», sagte Gaul.

5

Dryden wechselte die Spur, um einen Sattelschlepper zu überholen. Er gab konstant Gas, achtete aber darauf, die Höchstgeschwindigkeit nur geringfügig zu überschreiten, um keine unliebsame Aufmerksamkeit zu erregen. Die Sicht auf dem 101 war besser als in der Stadt. Da die Fernstraße dem Küstenverlauf folgte, gelangten sie bald in höhere Regionen und ließen den Nebel unter sich.

Fürs Erste hatte er nur das Ziel, El Sedero so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Wohin sie fahren sollten, würde er sich überlegen, sobald er Rachels gesamte Geschichte kannte. Die letzte Minute über hatte sie still neben ihm gesessen, als würde sie überlegen, wo sie anfangen sollte. Schließlich wandte sie sich ihm zu.

«Ehe ich etwas sage, muss ich etwas tun, damit Sie mir auch glauben», erklärte sie.

«Es sind Männer mit Maschinenpistolen hinter dir her. Egal, was los ist, du musst mich nicht lange überzeugen, dass die Sache ernst ist.»

«Das könnten Sie anders sehen, sobald Sie davon mehr gehört haben.»

Sie sah auf ihre Hände. Ihre Finger trommelten in einem immer wiederkehrenden Rhythmus auf ihren Knien herum. Was auch immer sie jetzt vorhatte, es machte sie nervös.

«Sie werden das total krass finden», sagte sie. «Nur damit Sie schon mal gewarnt sind.»

«Noch krasser als das, was heute Nacht schon alles passiert ist?»

«Viel krasser.»

Sie stieß die Luft aus, und dann sagte sie: «Denken Sie an eine vierstellige Zahl. Eine ganz beliebige Zahl, die nicht Teil Ihrer Telefonnummer ist oder sonst eine Zahl, die irgendwer kennen könnte. Sprechen Sie diese Zahl nicht aus, sondern denken Sie sie einfach nur. Pressen Sie außerdem Ihre Lippen zusammen, damit Sie sie nicht versehentlich lautlos vor sich hinmurmeln.»

Dryden warf ihr einen Blick zu, während er sich fragte, ob das ein Witz sein sollte. Offenbar nicht. Sie blickte ihn unverwandt an, voll gespannter Unruhe, als würde sie unter Strom stehen.

Dryden wandte sich wieder der Straße zu und tat wie geheißen. Er presste die Lippen aufeinander. Er ignorierte alle Zahlen, die für ihn irgendeine Bedeutung hatten. Er ließ sein Gehirn eine vollkommen wahllose Zahl bestimmen: 6724. Er hatte die Ziffer kaum zu Ende gedacht, als Rachel auch schon zu sprechen begann.

«Sechstausendsiebenhundertvierundzwanzig.»

Dryden wandte ihr ruckartig das Gesicht zu und starrte sie an. Sie starrte zurück. Der Pick-up geriet auf den holprigen Seitenstreifen, und er riss das Steuer eilig nach links und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Einige Sekunden lang war er sprachlos. Noch nie war ihm etwas untergekommen, das so unglaublich war. Und doch war es geschehen.

Er sah sie noch einmal an. Sie behielt ihn noch immer im Auge, um seine Reaktion zu verfolgen.

Er richtete den Blick wieder nach vorne und dachte: Sag Antilope, wenn du das hören kannst.

«Antilope», sagte Rachel.

 

Curren gab Gas und beschleunigte auf über hundertvierzig Sachen, während er in rasanten Schwüngen die Spuren des nur spärlich befahrenen Highways wechselte.

«Sie sind viereinhalb Meilen vor Ihnen», ließ Gaul sich über die Freisprechanlage vernehmen. «Sie halten sich ziemlich genau ans Tempolimit, Sie dürften sie also in wenigen Minuten eingeholt haben. Die nächste Ausfahrt kommt erst in über zwanzig Meilen.»

«Verstanden», sagte Curren, obwohl er wusste, dass Gaul längst aufgelegt hatte.

Für Gaul zu arbeiten fühlte sich manchmal an, als würde man für den lieben Gott arbeiten. Der Kerl verfügte über technische Mittel, die ihn nahezu allmächtig erscheinen ließen, zumal diese Mittel völlig im Dunkeln blieben. Außerdem tat man gut daran, ihn nicht zu verärgern. Hätte er erfahren, dass Gaul obendrein die Fähigkeit besaß, Leute zu Salzsäulen erstarren zu lassen – es hätte Curren nicht im mindesten gewundert.

 

«Du kannst mich einfach so … lesen?», fragte Dryden.

Er merkte, wie sein Verstand fieberhaft nach einer Erklärung suchte für das, was da gerade geschehen war, und dabei nicht allzu weit kam.

«Lesen trifft es nicht so ganz», erwiderte Rachel. «Weil das so klingt, als würde ich es absichtlich machen. Nein, es ist eher wie Hören. Es passiert einfach. Ich kann es nicht abschalten, geht nicht.»

«Und du hörst alles. Jeden Gedanken. Jede Idee.»

Rachel nickte. «Soweit ich weiß, ja. Manchmal ist es richtig verwirrend, wenn ich meine eigenen Gedanken nicht von denen eines anderen unterscheiden kann. Wenn ich zum Beispiel denke: Wäre scheiße, jetzt erschossen zu werden