Das soziale Europa - Hartmut Kaelble - E-Book

Das soziale Europa E-Book

Hartmut Kaelble

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Beschreibung

Heute bestimmen auch die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof über die Sozialpolitik und damit über unsere sozialen Lebenslagen mit. Hartmut Kaelble stellt in diesem Buch deshalb das Entstehen einer eigenständigen Sozialpolitik der Europäischen Union mit ihren vor 1914 zurückgehenden Vorläufern in den Zusammenhang mit der Geschichte der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa. Er verfolgt deren Glanzzeiten und Krisen, den grundlegenden Wandel des transnationalen Austausches und die Umbrüche in den Typen des Wohlfahrtsstaats, auch im Vergleich mit anderen Kontinenten. Dabei spannt er den Bogen von den Weichenstellungen in den 1880er Jahren über den ersten Aufschwung in den 1920er Jahren und die Krise der Demokratien während der 1930er Jahre bis hin zum außergewöhnlichen Aufbau des modernen nationalen Wohlfahrtsstaats in den 1950er bis 1970er Jahren und den Entscheidungen zwischen Abbau, Aufbau oder Umbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten seit den 1980er Jahren.

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Cover for EPUB

Hartmut Kaelble

Das soziale Europa

Europäische Sozialpolitik und nationale Wohlfahrtsstaaten, 1883–2020

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die nationalen Wohlfahrtsstaaten entscheiden in Europa nicht mehr allein. Heute bestimmen auch die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof über die Sozialpolitik und damit über unsere sozialen Lebenslagen mit. Wie kam es zu dieser mühsam justierten, oft umstrittenen Arbeitsteilung zwischen nationalen Wohlfahrtsstaaten und europäischer Sozialpolitik? Wie hängen beide historisch zusammen und worin unterscheiden sie sich? Wann entstand der europäische Raum des transnationalen Austauschs über den Wohlfahrtstaat und welche Akteure prägten ihn?Hartmut Kaelble stellt in diesem Buch ausführlich die gemeinsamen Entwicklungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa und der europäischen Sozialpolitik dar. Er verfolgt ihre Glanzzeiten, Krisen und Epochen des Umbaus sowie die Veränderungen der Typen des Wohlfahrtsstaats, auch im Vergleich mit anderen Kontinenten. Dabei spannt er den Bogen von den Weichenstellungen in den 1880er Jahren über den ersten Aufschwung in den 1920er Jahren und die Krise der Demokratien während der 1930er Jahre bis hin zum außergewöhnlichen Aufbau des modernen nationalen Wohlfahrtsstaats in den 1950er bis 1970er Jahren und zum Entstehen einer eigenständigen europäischen Sozialpolitik seit den 1980er Jahren mit ihren lange zurückgehenden Vorläufern.

Vita

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Thema

Forschungsstand

Ziele

Epochen

Definitionen

Unterschiede

1.

Die Anfänge des Wohlfahrtsstaats und der internationalen Sozialpolitik, 1880er Jahre bis 1914

1.1

Die gemeinsame Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats

1.1.1

Staatliche Sozialversicherungen und Sozialhilfe

1.1.2

Arbeitsschutz und Tarifpolitik

1.1.3

Bildungs- und Gesundheitspolitik

1.1.4

Wirkungen des Wohlfahrtsstaats

1.1.5

Nichtstaatliche soziale Absicherung

1.1.6

Gründe für die Anfänge des Wohlfahrtsstaats

1.2

Innereuropäische Unterschiede: die alten Typen des Wohlfahrtsstaats

1.3

Der transnationale Austausch: Zeit der Notabeln und Experten

1.4

Anfänge der internationalen Sozialpolitik

1.5

Zusammenfassung

2.

Die Bewährungsprobe des Wohlfahrtsstaats und erste internationale Akteure, 1914 bis 1945

2.1

Die gemeinsamen Bewährungsproben und Krisen

2.1.1.

Der Erste Weltkrieg

2.1.2

Ausbau und Reform des Wohlfahrtsstaats in den 1920er Jahren

2.1.3

Eine neue Herausforderung: die Weltwirtschaftskrise

2.1.4

Vormarsch der Diktaturen und demokratische Reformen in den 1930er Jahren

2.1.5

Der Zweite Weltkrieg

2.2

Die innereuropäischen Unterschiede: mehr Typen des Wohlfahrtsstaats

2.3

Der transnationale Austausch: Steuerung durch den Völkerbund

2.4

Internationale Sozialpolitik: Aufschwung und Krise

2.5

Zusammenfassung

3.

Der Aufbau des modernen westlichen Wohlfahrtsstaats und die Spaltung des Kalten Kriegs, 1945 bis 1970er Jahre

3.1

Gemeinsame Trends: Reformen und Ausbau des Wohlfahrtsstaats

3.1.1

Gemeinsame Reformtendenzen

3.1.2

Wohlfahrtsstaatsausgaben

3.1.3

Der neue Kontext

3.2

Konvergenzen und innereuropäische Unterschiede: Umbrüche in den Typen des Wohlfahrtsstaats

3.3

Die neuen europäischen Besonderheiten

3.4

Der transnationale Austausch: Konkurrenz zwischen internationalen Organisationen

3.5

Die internationale Sozialpolitik: kleine Schritte

3.6

Zusammenfassung

4.

Umbau des Wohlfahrtsstaats und verstärkte internationale Politik seit den 1980er Jahren

4.1

Die gemeinsamen Trends: Rückbau, Ausbau und Umbau des nationalen Wohlfahrtsstaats

4.1.1

Rückbau

4.1.2

Ausbau

4.1.3

Umbau

4.1.4

Neue Herausforderungen

4.2

Die inneren Unterschiede: Konvergenzen

4.3

Die veränderten europäischen Besonderheiten

4.4

Der transnationale Austausch: Steuerung durch die Europäische Union

4.5

Die internationale europäische Sozialpolitik: der neue Einfluss

4.6

Zusammenfassung

5.

Schluss: die langen historischen Entwicklungen des sozialen Europas

5.1

Gemeinsame Trends

5.2

Unterschiede und Konvergenzen zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten

5.3

Transnationaler Austausch

5.4

Internationale europäische Sozialpolitik und nationale Wohlfahrtsstaaten

Tabellen

Glossar

Dank

Literatur

Namens- und Organisationsregister

Einleitung

Thema

Für den Wohlfahrtsstaat geben die Regierungen in Europa am meisten aus und auch die Europäische Union immer mehr. Über den Wohlfahrtsstaat wird in das Leben so gut wie aller Bürger eingegriffen. Mit wohlfahrtsstaatlichen Themen werden Wahlen gewonnen oder verloren. Auch bei internationalen Rangordnungen zwischen Ländern spielt der Wohlfahrtsstaat mit. Der Wohlfahrtsstaat ist daher Gegenstand fortwährender politischer Auseinandersetzungen, auch wenn er für politische Debatten oft eher zu kompliziert und für den Nichtexperten schwer durchschaubar ist.

Warum den Wohlfahrtsstaat historisch betrachten?

Den Wohlfahrtsstaat historisch zu betrachten besitzt für diese politischen Debatten vor allem zwei Bedeutungen. Auf der einen Seite erweitert die geschichtliche Perspektive die Optionen des Wohlfahrtsstaates. Der historische Blick eröffnet uns eine Vielzahl von Sozialpolitiken, die in der Gegenwart nicht mehr zu finden oder nur noch am Rande praktiziert werden. Für fast alle zentralen Fragen des Wohlfahrtsstaats gibt die Geschichte mehr Antworten. Vor allem drei Fragen kann eine historische Betrachtung oft besser beantworten als eine reine Gegenwartsanalyse. Über die Geschichte kann besser untersucht werden, was den Wohlfahrtsstaat vorantreibt oder abbremst und wie es dazu kam, dass sich die Europäer die staatliche soziale Sicherung so viel kosten lassen. Antreibende Faktoren wie Industrialisierung oder Arbeiterbewegung oder Systemkonkurrenz wie im Kalten Krieg, geschwächte nichtstaatliche soziale Sicherung oder Staatsvertrauen lassen sich in der Geschichte oft besser untersuchen, auch abbremsende Faktoren wie etwa Wirtschaftskrisen oder Kriege oder Globalisierung oder Deregulierung oder Staatsskepsis. Darüber hinaus lässt sich aus der Distanz der Geschichte häufig besser abschätzen, wie der Wohlfahrtsstaat wirkt, ob er seine Ziele von höherer Lebenserwartung, besserem Lebensstandard und weniger sozialer Ungleichheit erreichen konnte oder ob er umgekehrt an diesen Vorhaben scheiterte. Der Blick in die Geschichte klärt daher oft auch besser, wem der Wohlfahrtsstaat genutzt hat, ob er im Wesentlichen Politikern diente, die sich mit wohlfahrtsstaatlichen Versprechen und Gesetzen an der Macht halten wollten, oder ob der Wohlfahrtsstaat den Bürgern etwas gebracht hat, mehr Sicherheit in sozialen Notlagen, besseres Wohnen, eine bessere Gesundheitsversorgung und bessere Bildungschancen. Über die Geschichte lässt sich auch besser abschätzen, wie tief die Unterschiede zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa gehen, ob sie in der Gegenwart besonders gravierend sind oder sich eher abgemildert haben. Schließlich lässt sich aus der Geschichte auch besser beantworten, wie lange der nationale Wohlfahrtsstaat eine Domäne souveräner nationaler Entscheidungen blieb und ab wann der nationale Wohlfahrtsstaat zwar seine Kompetenzen beibehielt, sich aber doch stärker an der Sozialpolitik der Europäischen Union und an den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ausrichtete.

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates hat aber darüber hinaus noch eine wichtige andere Bedeutung. In den aktuellen Auseinandersetzungen über den Wohlfahrtsstaat werden sehr oft historische Narrative eingesetzt, um den gegenwärtigen Wohlfahrtsstaat entweder zu legitimieren oder zu kritisieren. Ein internationales Narrativ unter anderen als Beispiel: In der Geschichte des europäischen Sozialstaats werden die Bismarck’schen Sozialversicherungen der 1880er Jahre als die prägende kontinentale Pionierentscheidung angesehen, der die anderen Regierungen in Europa entweder folgten oder nur in Auseinandersetzung mit diesem Modell einen eigenen Weg finden konnten. Allerdings baut dieses Narrativ auf einem verengten Blick auf die staatliche soziale Sicherung auf. Es beschränkt sich auf die Gesetzgebung zur staatlichen Sozialversicherung und berücksichtigt weder die finanziellen Leistungen der sozialen Sicherung der anderen europäischen Staaten noch die anderen Bereiche der sozialen Absicherung, vor allem staatlichen Arbeitsschutz, Bildung und Gesundheitspolitik, in denen andere europäische Länder mehr erreicht hatten. Dieses europäische Narrativ gehört daher wie andere Narrative auf den Prüfstand der Historiker. In diesem Buch wird das versucht.

Warum eine Geschichte der Sozialpolitik europäisch?

Dieses Buch behandelt die internationale und nationale Geschichte des Wohlfahrtsstaats in Europa. Es will und kann die Geschichte nationaler Wohlfahrtsstaaten in Europa nicht ersetzen. Es verfolgt vielmehr vier grundlegende Themen, die eine nationale Geschichte des Wohlfahrtsstaats nicht umfassend behandeln kann.

Es geht erstens ausführlich auf die gemeinsamen Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten in Europa ein, die eine nationale Geschichte des Wohlfahrtsstaats im besten Fall kennen sollte, aber nicht wirklich erfassen kann. Das Buch versucht, die gemeinsamen europäischen Trends zu verfolgen, die selten herausgearbeitet werden, und bemüht sich dabei, auch den Vergleich mit anderen Kontinenten zu ziehen und zu überprüfen, ob und ab wann man von einem europäischen Modell, einer globalhistorischen Besonderheit von besonders weit entwickelten europäischen Wohlfahrtsstaaten sprechen kann. Europa gilt nicht nur als Pionier der staatlichen Sozialpolitik, sondern bis heute auch als ihr Eldorado. Eine Geschichte der europäischen Sozialpolitik modifiziert dieses Narrativ. Sie lässt nicht nur erkennen, wie weit sich der Wohlfahrtsstaat in Europa von anderen Regionen der Welt unterschied, und zwar nicht nur von den doch recht ähnlichen USA oder Japan, sondern auch von den weitaus verschiedeneren Regionen Südostasien, Südasien, Afrika und Lateinamerika. Sie lässt auch besser sehen, ab wann der Wohlfahrtsstaat für die Stellung Europas in der Welt wirklich eine Rolle spielte, wann er ein unbestrittenes globales Modell für ostasiatische, afrikanische und lateinamerikanische Länder war und ab wann dieses Modell zwar nicht ersetzt wurde, aber doch seinen Glanz verlor.

Das Buch verfolgt zweitens, wie sich die Unterschiede zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten seit den 1880er Jahren in Europa veränderten. Auch das kann eine Untersuchung über einen einzelnen nationalen Wohlfahrtsstaat nicht leisten. Dabei werden nicht nur die viel zu wenig untersuchten, grundlegenden Veränderungen der Typen von Wohlfahrtsstaaten in ganz Europa, nicht nur in Westeuropa, verfolgt und die bisher zu einseitig auf dauerhafte Pfade festgelegten Typologien von einem liberalen angelsächsischen, einem modernen skandinavischen und einem traditionellen kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat überprüft. Es wird vor allem auch verfolgt, ob sich die Vielfalt der europäischen Typen des Wohlfahrtsstaats seit den 1880er Jahren eher verstärkte oder nicht doch spätestens seit den 1980er Jahren zurückging und damit auch mehr Raum für eine internationale europäische Sozialpolitik schuf.

Die Dichte und die vielfältigen Veränderungen des transnationalen Austausches über Sozialpolitik sind ein drittes Thema dieses Buches. Der transnationale Austausch war die wichtigste Verbindung zwischen nationalen Wohlfahrtsstaaten und europäischer Sozialpolitik. Es geht um Akteure in diesem Austausch, aber auch um transnationale Sprache und Begriffe, um transnationale Expertise zum Wohlfahrtsstaat. Auch transnationale finanzielle Sozialtransfers werden im Auge behalten. Dabei ist allerdings nicht klar, ob immer ein Austausch bestand. Liest man die Protokolle der Reichstagsdebatten in den 1880er Jahren über die Bismarck’schen Sozialgesetze, so findet man fast keinen solchen transnationalen Austausch durch Vergleiche mit anderen Ländern. Bei den Veränderungen des transnationalen Austausches geht es nicht nur darum, ob der transnationale Austausch intensiver wurde und damit die nationale Sozialpolitik sich weniger abschottete und auch mehr Raum für internationale europäische Sozialpolitik ließ. Es soll vor allem auch verfolgt werden, welche Akteure im transnationalen Austausch bestimmend waren, ob eher Notabeln und Experten oder eher nationale Regierungen oder eher internationale Organisationen. Auch in dieser Hinsicht wandelte sich der transnationale Austausch grundlegend.

Das Buch behandelt viertens die Entstehung einer einflussreichen, internationalen, europäischen Sozialpolitik und die wechselseitigen Beeinflussungen, aber auch Spannungen und Widersprüche mit den nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa. Auch das kann von einer nationalen Geschichte des Wohlfahrtsstaats nur in Grenzen erwartet werden. Üblicherweise wird von der Vorstellung ausgegangen, dass die politischen Entscheidungen über den Wohlfahrtsstaat in den nationalen Hauptstädten fielen und die internationale Sozialpolitik nur ein Sahnehäubchen war, das für die bedeutsamen sozialpolitischen Entscheidungen keine Rolle spielte. Dieses Buch möchte nachzeichnen, ab wann diese Vorstellung nicht mehr zutraf – schon vor dem Ersten Weltkrieg mit ersten internationalen sozialpolitischen Konventionen oder erst in den 1920er Jahren mit dem starken Einfluss der International Labour Organisation (ILO) oder seit den 1960er Jahren mit der europäischen Sozialcharta des Europarats oder erst seit den 1980er Jahren mit den grundlegenden Wandlungen der europäischen Politik und Rechtsprechung. Das Buch möchte dabei auch verfolgen, ob die Entstehung einer einflussreichen europäischen Sozialpolitik auch mit dem dichten, transnationalen Austausch über Sozialpolitik und mit der Abmilderung der Unterschiede zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa zusammenhing.

Das Buch möchte außerdem herausfinden, was die internationale europäische Sozialpolitik an der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates änderte, ob sie in einer Arbeitsteilung mit den nationalen Regierungen die soziale Sicherung tatsächlich weiter vorantrieb, Arbeit tatsächlich sicherer machte, den Klienten der nationalen Wohlfahrtsstaaten sicherere soziale Rechte verschaffte und den Gewerkschaften neben den Arbeitgebern eine starke Stimme verlieh. Oder war sie umgekehrt eine Art trojanisches Pferd, ein Einfallstor für internationale, oft amerikanische, neoliberale Konzepte zur Einschränkung europäischer wohlfahrtsstaatlicher Traditionen, die am Ende allein der Nationalstaat mit seinen längeren demokratischen und gewerkschaftlichen Institutionen sicherte? Zur Diskussion über diese Hauptstreitpunkte in der Einschätzung der europäischen Sozialpolitik möchte dieses Buch beitragen.

Insgesamt geht es bei europäischer und bei nationaler Geschichte des Wohlfahrtsstaats nicht um zwei rivalisierende, sich gegenseitig ausschließende Blicke, sondern um Ergänzungen, die sich in der Regel um dieselben Themen drehen. Die nationale Geschichte des Wohlfahrtsstaates kann genauer die sozialpolitischen Entscheidungen und Konflikte erfassen und, falls sie das will, besser die Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates auf einzelne Regionen und auf Minderheiten verfolgen und näher an die Klienten heranrücken. Die europäische Geschichte des Wohlfahrtsstaates hingegen erfasst besser, was die gemeinsamen europäischen Trends in den Entscheidungen und ihren Auswirkungen waren, wie stark sich nationale Wohlfahrtsstaaten voneinander unterschieden oder annäherten, wie sich der transnationale Austausch veränderte und welche Bedeutung die oft unterschätzte Sozialpolitik internationaler Organisationen besaß. Beide Zugriffe werden gebraucht.

Forschungsstand

Lohnt sich ein weiteres Buch über die Geschichte der sozialen Sicherung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert? Wir besitzen schon eine ganze Reihe von Überblicksdarstellungen, freilich erstaunlicherweise strikt getrennt nach drei Feldern.

Sie wurden erstens und am häufigsten zu den nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa, also den wichtigsten Akteuren, geschrieben. Sie stammen von Historikern, von Gerhard A. Ritter, dem Pionier der vergleichenden Geschichte des nationalen Wohlfahrtsstaates in Europa, aber auch von Peter Baldwin, Michel Dreyfus, Ernest P. Hennock, Karl H. Metz und besonders von Béla Tomka mit unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Reichweite (Baldwin 1990; Dreyfus 2009; Hennock 2001; Kaelble 2012; Kaelble 2004; Metz, 2008; Ritter, 1989; Tomka, 2004; Tomka, 2003; daneben die Kapitel in Überblickswerken zu Europa: Goschler/Graf 2010, Kapitel 9; Kaelble 2007, Kapitel 11; Mai 2001, Kapitel 3; Tomka 2013, Kapitel 5). Soziologen und Politikwissenschaftler begannen in diesem Themenfeld noch früher, seit den 1970er Jahren, internationale historische Überblicke und Vergleiche als Bücher oder Buchkapitel zu publizieren. Genannt seien Gaston Rimlinger, Jens Alber, Peter Flora, Arnold Heidenheimer, Gøsta Esping-Andersen, Richard Hauser, Franz-Xaver Kaufmann, Stephan Leibfried, Herbert Obinger und Manfred G. Schmidt (Rimlinger 1971; Alber 1982; Flora/Heidenheimer 1981; Flora 1986 ff.; Esping-Andersen 1990; Hauser, 1997; Kaufmann 2003; Obinger/Petersen 2019; Rieger/Leibfried 2003; Schmidt 2005).

In der Regel getrennt davon wurden zweitens von Historikerinnen und Historikern Überblicksartikel und -bücher zur Sozialpolitik der internationalen Organisationen, vor allem der ILO, herausgebracht. Madeleine Herren und Sandrine Kott waren hierbei die wichtigsten Impulsgeberinnen (Herren 2009; Kott 2010; Kott 2011; Maul 2019; Wassenberg 2012; Threlfall 2010, S. 99 ff.).

Davon wiederum abgesondert entstand ein drittes Feld von historischen Überblicken über die Sozialpolitik der Europäischen Union und ihrer Vorläufer, meist von Sozialwissenschaftlern, selten von Historikern geschrieben. Die wichtigsten Überblicksbücher und -aufsätze stammen von Karen M. Anderson, Jean-Claude Barbier, Peter Becker, Arnaud Chevalier, Amandine Crespy, Eberhard Eichenhofer, Monika Eigmueller, Robert R. Geyer, Linda Hantrais, Bernd Schulte, Monica Threlfall und Antonio Varsori (vgl. Anderson 2015; Barbier 2015; Brandt 2009; Chevalier/Wielgohs 2015; Crespy 2019; Eichenhofer 2007; Eigmüller 2021; Geyer 2000; Hantrais 2007; Kaelble 2020; Schulte 1993; Schulte 2012; Threlfall 2007; Threlfall 2010; Varsori 2009).

Ziele

Trotz dieser Vielzahl von Überblicken ist es sinnvoll, die Geschichte des Wohlfahrtsstaats in Europa mit einem neuen Ansatz darzustellen. Ein erster, noch etwas oberflächlicher Grund: Tatsächlich sind die europäischen Überblicke fast alle schon zehn bis dreißig Jahre alt und konnten daher die wichtigen jüngeren Entwicklungen entweder noch gar nicht berücksichtigen oder besaßen noch nicht die zeitliche Distanz, um ihre Bedeutung einschätzen zu können.

Ein wichtigerer Grund: Vor allem müssten diese drei getrennten Forschungsfelder besser in einer Synthese zusammen behandelt werden. Für eine solche Synthese bleiben allerdings vier empfindliche, inhaltliche Lücken: Die internationalen Überblicke über nationale Wohlfahrtsstaaten behandelten erstens kaum einmal die gemeinsamen europäischen Entwicklungen, sondern blieben in der Regel an innereuropäischen Unterschieden hängen. Wann der Aufbau von Wohlfahrtsstaaten in Europa als Ganzem zügig vorankam, wann er in tiefe, europäische Krisen geriet, welchen gemeinsamen Veränderungen er unterworfen war, blieb meist im Schatten. Es wurde auch kaum einmal genauer nachgeprüft, wann und worin sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten von der sozialen Sicherung auf anderen Kontinenten unterschieden, obwohl der besondere europäische Wohlfahrtsstaat längst kein akademisches Thema mehr blieb, sondern ein wesentlicher, wenn auch unterschiedlich bewerteter Bestandteil des europäischen Selbstverständnisses geworden ist. Die internationalen Überblicke arbeiteten dagegen entweder die Unterschiede zwischen wenigen Ländern heraus oder stellten internationale Typologien zu Unterschieden des Wohlfahrtsstaats in Europa auf. Besonders beliebt war die in den 1980er Jahren entwickelte, schon erwähnte Typologie des Soziologen Gøsta Esping-Andersen mit ihrer erstaunlich zähen, bald vierzigjährigen Lebensdauer als Referenz für Unterschiede, aber auch die Unterscheidung zwischen Bismarck-System und Beveridge-System, also zwischen Beitragsfinanzierung oder Steuerfinanzierung der staatlichen sozialen Sicherung. Diese Typologien gingen zwar über den einzelnen Nationalstaat hinaus und fassten Gruppen von Nationalstaaten zusammen, aber sie blieben auf Unterschiede innerhalb Europas, in der Regel innerhalb Westeuropas, fixiert. Welche gemeinsamen Tendenzen, welche Aufschwünge und Krisen die Sozialpolitik in Europa als Ganzem besaß, blieb demgegenüber zu sehr im Hintergrund.

Darüber hinaus wurden zweitens zu wenig verfolgt, was sich an diesen Unterschieden zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten seit den 1880er Jahren änderte. Sie wurden oft zu sehr als Pfadabhängigkeiten, als langfristige Strukturen oder eigene Welten angesehen, dabei wurde aber zu wenig den Fragen nachgespürt, wie sich diese Unterschiede in Europa als Ganzem seit den 1880er Jahren verschoben haben, wann sie sich verschärften, wann sie sich abmilderten und welche Bedeutung sie dadurch für die internationale Sozialpolitik bekamen. Die Fixierung auf Pfadabhängigkeiten war nicht von Vornherein verkehrt, denn Wohlfahrtsstaaten sind schwere Tanker, die sich nur langsam umsteuern lassen. Aber von den tiefen politischen Umbrüchen seit den 1880er Jahren blieben auch die Wohlfahrtsstaaten nicht verschont.

Drittens erhielt die lange Geschichte des transnationalen Austauschs zum Thema des Wohlfahrtsstaats über Grenzen hinweg bisher zu wenig Aufmerksamkeit. Das hat auch damit zu tun, dass an der Logik der nationalen Erklärungen für nationale Sozialpolitik zu selten gerüttelt und Außeneinflüsse über transnationalen Austausch zu wenig ins Auge gefasst wurden. »Wenn es noch eine Bastion des Nationalstaats gibt, dann scheint es der Sozialstaat zu sein«, schrieb Christoph Conrad 2006 in dem Themenheft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft zur transnationalen Sozialpolitik (Conrad 2006, S. 437; vgl. Fertikh/Wieters 2018, S. 56 ff.). Daran hat sich auch in der Zwischenzeit nur wenig geändert. Der transnationale Austausch und seine Akteure wurden zu selten in den langfristigen Veränderungen thematisiert.

Schließlich überbrückten die bisherigen Darstellungen viertens auch selten die Trennung von nationaler Sozialpolitik und internationaler, europäischer Sozialpolitik. Damit wurde auch die Chance nicht genutzt, das Interesse nationaler Regierungen an internationaler Sozialpolitik und umgekehrt den Einfluss internationaler Organisationen auf nationale Wohlfahrtsstaaten, dabei auch das wachsende Gewicht der Sozialpolitik der Europäischen Kommission und der sozialen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zu verfolgen. Gerhard A. Ritter hat das im Vorwort zu seinem 2010 neuaufgelegten Buch von 1989 deutlich angesprochen. Nur ganz wenige Historikerinnen wie Sandrine Kott und Heike Wieters, auch Juristen wie Eberhard Eichenhofer überbrückten diese Trennung, indem sie die internationale europäische und nationale Politik zusammensahen (Kott 2010; Kott 2011; Wieters 2022; Eichenhofer 2007; Conrad 2006).

Dieses Buch verfolgt daher vier Ziele für eine Synthese nationaler und internationaler Sozialpolitik in Europa: (1) Es untersucht die zu selten behandelten, gemeinsamen europäischen Trends im Vergleich zu anderen Kontinenten. (2) Es blendet die Unterschiede zwischen den nationalstaatlichen Sozialpolitiken in Europa keineswegs aus, behandelt sie aber stärker als bisher in ihrer historischen Veränderung und stellt sich auch die Frage, was diese Unterschiede für eine gemeinsame europäische Sozialpolitik bedeuteten. (3) Es verfolgt den Wandel des transnationalen europäischen Austauschs, ohne den man von einer europäischen Geschichte des Wohlfahrtsstaats nicht sprechen kann. (4) Es behandelt schließlich die internationale Sozialpolitik in Europa von den ersten internationalen Plattformen der Regierungen vor 1914 bis zur Europäischen Union in ihrer Wechselwirkung mit den nationalen Sozialpolitiken, ein wesentliches Element der europäischen Geschichte des Wohlfahrtsstaats, das auf anderen Kontinenten nicht entstand.

Epochen

Ich werde auf diese vier Ziele im Folgenden nicht nacheinander in getrennten Kapiteln eingehen. Vielmehr wird im Hauptteil des Buches chronologisch vorgegangen. Es werden vier große Epochen des europäischen Wohlfahrtsstaats behandelt (dazu auch Nullmeier/Kaufmann 2010): zuerst die Gründungsepoche der großen, staatlichen sozialen Sicherungen zwischen den 1880er Jahren und 1914; danach die Epoche von 1914 bis 1945, die Epoche des Ausbaus, aber auch der Bewährung, der Krisen und der Spaltung des Wohlfahrtsstaats im Ersten Weltkrieg, in den Demokratien der 1920er Jahre, der Weltwirtschaftskrise und der Dominanz der Diktaturen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs; dann die Epoche von 1945 bis zu den 1970er Jahren, der Aufbau des modernen Wohlfahrtsstaats im Wirtschaftsboom, aber auch die Spaltung im Kalten Krieg mit dem fundamentalen Gegensatz zwischen dem modernen Wohlfahrtsstaat im westlichen Europa und der ganz anderen, betriebsorientierten sozialen Sicherung im östlichen Europa; schließlich die Epoche seit den 1980er Jahren, der Umbau des Wohlfahrtsstaats angesichts der Globalisierung und der schweren jüngsten Krisen, der Finanzkrise 2008–2013 und der Corona-Pandemie seit 2020, aber auch die Rückkehr zu einer gemeinsamen Sozialpolitik in Europa nach dem Fall des sowjetischen Imperiums.

Die genannten vier Ziele des Buches werden für jede der vier Epochen behandelt: immer zuerst die gemeinsamen europäischen Trends, Expansionen wie Krisen im globalen Vergleich, dabei auch ihre Vorteile und Nachteile für die Bürger und ihre historischen Kontexte; dann die innereuropäischen Unterschiede und Konvergenzen zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten, für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg daran anschließend kurz die globalen Besonderheiten des europäischen Wohlfahrtsstaats; danach der transnationale Austausch zwischen Regierungen und durch die internationalen Organisationen; schließlich die internationale europäische Sozialpolitik von den Konventionen zwischen nationalen Regierungen vor 1914 bis zu der eigenen Sozialpolitik in der EU. Die langen Trends der anderthalb Jahrhunderte sind allerdings in dieser Epochendarstellung nicht leicht fassbar. Sie werden deshalb im Schlussteil (Kapitel 5) ausführlich dargestellt.

Definitionen

Was ist mit Wohlfahrtsstaat und mit europäischer Sozialpolitik gemeint? Auf eine Definition des »sozialen Europa« wird verzichtet, da es sich nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handelt und er im Titel dieses Buches auch nur verwandt wurde, um ein Thema grob abzustecken. Anders der Begriff des Wohlfahrtsstaats: Das Verständnis des Wohlfahrtsstaats hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Wissenschaft verändert. Einen vollständigen Konsens gibt es nicht. Diesem Buch liegt ein bestimmtes Verständnis von Wohlfahrtsstaat zu Grunde, eine Möglichkeit unter mehreren.

Unter Wohlfahrtsstaat wird ein moderner Politikbereich verstanden, der in Europa erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Industrialisierung entstand. Mit Wohlfahrtsstaat ist die Politik der Absicherung der Einwohner in persönlichen Lebenskrisen und der Resilienz gegen persönliche Lebenskrisen durch den Staat gemeint. Zu solchen Lebenskrisen gehören vor allem Krankheit, besonders massive Familienanforderungen, Tod eines der Familienernährer, Altersarmut, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle, unzumutbare Arbeitsbedingungen und Ohnmacht in Konflikten mit dem Arbeitgeber, Verlust der Wohnung, schlechte Bildungschancen, Bedrohung der Gesundheit. In solchen Krisen soll der Wohlfahrtsstaat den Einbruch der Lebensqualität auffangen und möglichst auch extreme Unterschiede von Lebenschancen reduzieren, die durch den Markt oder durch Traditionen entstehen und durch den Staat zwar nicht beseitigt, aber doch entschärft werden können. Dabei werden als Mittel des Wohlfahrtsstaates nicht nur finanzielle oder rechtliche Hilfen zur Abmilderung von individuellen Notsituationen, sondern auch die staatliche Unterstützung zur besseren Vorbereitung des Einzelnen auf solche Krisen durch bessere Ausbildung, durch gesundheitliche Vorsorge und durch eine stabile Wohnungssituation verstanden. Der Wohlfahrtsstaat schützt und sichert im besten Fall nicht nur ab, sondern verschafft auch bessere Chancen und mildert soziale Ungleichheit. An der effizienten Hilfe in persönlichen Notsituationen und an der wirkungsvollen Vorbereitung auf solche Notlagen muss sich auch der historische Wohlfahrtsstaat messen lassen. Dabei wird auch bedacht, welche Zwänge der Wohlfahrtsstaat auf die Klienten ausübt und inwieweit umgekehrt der Wohlfahrtsstaat auf eigenen Aktivitäten der Bürger beruht.

Dieses breite Verständnis von Wohlfahrtsstaat, das über Sozialversicherungen deutlich hinausgeht, ist kein Ex-Post-Konzept, das der Wirklichkeit der sozialen Sicherung des späten 19. und 20. Jahrhunderts aufgezwungen wird und sie verbiegt. Auch im späten 19. Jahrhundert findet man dieses breite Verständnis unter den Sozialreformern, etwa im französischen musée social und im deutschen »Verein für Socialpolitik«, auf die wir zurückkommen, auch wenn der Ausdruck des Wohlfahrtsstaats damals noch nicht verwendet wurde.

Der heutige Ausdruck Wohlfahrtsstaat kann falsche Vorstellungen wecken. Er wird nicht allein von dem Akteur Nationalstaat getragen und vorangetrieben. Auch die Kommunen, die Bundesstaaten oder Regionen in föderalen Staaten, daneben aber auch die Europäische Union und internationale Organisationen sind wichtige, andere, öffentliche Akteure.

Der Wohlfahrtsstaat kann zudem nicht voll verstanden werden, wenn er allein aus der Perspektive des Staates von oben betrachtet wird und die Gesellschaft dabei aus dem Blickfeld gerät. Sicher gibt es Wohlfahrtsstaaten, die auf diese Weise den Bürger von oben verwalteten. Der Wohlfahrtsstaat wird jedoch normalerweise unter starker Beteiligung von gesellschaftlichen Kräften, von Klienten, von Sozialexperten, von sozialen Bewegungen, von sozialen Organisationen, Kirchen und Interessengruppen getragen. Selbst in autoritären Ländern wie dem Deutschen Reich vor 1914 spielten sie eine wichtige Rolle (Kott 2014). Dieses breite Verständnis des Wohlfahrtsstaates, der nicht nur von seinen staatlichen, sondern auch von seinen sozialen, wissenschaftlichen und internationalen Akteuren getragen wird, gehört nicht unbedingt zum Standard der Bücher zu diesem Thema, wird aber nicht nur in diesem Buch verwendet.

Ein solches Verständnis von Wohlfahrtsstaat hat Konsequenzen für die historische Darstellung. Sie wird nicht auf staatliche Sozialversicherungen und Sozialhilfe beschränkt, sondern deckt auch die wohlfahrtsstaatliche Politik im Bereich der Bildung, der Gesundheit, des Wohnens, des Arbeits- und Tarifrechts ab und wird damit weiter gefasst als oft üblich. Darüber hinaus wird im Folgenden abzuschätzen versucht, ob und wann wohlfahrtsstaatliche Politik persönliche Krisensituationen tatsächlich abmilderte. Das ist sicher nicht einfach, weil in solchen persönlichen Krisensituationen auch andere Faktoren und Akteure wie Wohlstand und Wirtschaftswachstum, Kirchen und Berufsorganisationen, private Wohltätigkeit und Familiennetzwerke, Wissen um Lebensführung bedeutsam waren und oft schwer von den Wirkungen des Wohlfahrtsstaates zu trennen sind. Zudem wird sich die folgende Geschichte des Wohlfahrtsstaates nicht auf nationalstaatliche Politik beschränken. Sie wird auch verfolgen, ab wann sich der nationale Wohlfahrtsstaat nach außen öffnete, seine Leistungen nicht nur für Bürger, sondern für alle Bewohner eines Landes erbrachte, und ab wann internationale Organisationen, auch die Europäische Union, eine einflussreiche Sozialpolitik betrieben.

Sollte man eher von Wohlfahrtsstaat oder eher von Sozialstaat sprechen? Die beiden Begriffe haben sich im Deutschen angenähert. Der Begriff Wohlfahrtsstaat hat seine negative Bedeutung des klientilistischen Versorgungsstaates verloren, die er noch in den 1960er und 1970er Jahren besaß und in der er sich scharf von dem durchweg positiven Begriff des Sozialstaats abhob. Bis vor einigen Jahren wurden im Deutschen darüber hinaus zu Recht auch inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden Begriffen gemacht. Wohlfahrtsstaat wurde als der engere Begriff verstanden, der vor allem die staatlichen Sozialversicherungen und die staatliche Sozialhilfe umfasst, während der weitere Begriff des Sozialstaates auch das Arbeitsrecht und das Tarifrecht enthält. Dieser Unterschied hat sich ebenfalls abgeschliffen. In jüngerer Zeit wird auch der Begriff des Wohlfahrtsstaates häufiger im weiteren Sinn verwendet und meint neben staatlichen Sozialversicherungen und Sozialhilfe, neben Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und das Tarifrecht auch staatliche Wohnungspolitik und Wohnungsversorgung, staatliche Bildungspolitik und staatliche Gesundheitspolitik, manchmal auch Beschäftigungspolitik. Die beiden Begriffe sind mehr und mehr austauschbar geworden. In diesem Text wird meist der Begriff des Wohlfahrtsstaates benutzt, weil er ein internationaler Begriff ist und leicht in andere Sprachen übersetzt werden kann. Beim Begriff des Sozialstaats ist das nicht der Fall.

Mit europäischer Sozialpolitik ist nicht einfach eine Variante nationaler Sozialpolitik gemeint, mit der die negativen Auswirkungen von kapitalistischer Wirtschaft oder Belastungen durch Traditionen kompensiert und abgemildert werden. Europäische Sozialpolitik wird in diesem Buch verstanden als eine Ergänzung zu den nationalen Wohlfahrtsstaaten in dreierlei Hinsicht: Ergänzungen dort, wo nationale Wohlfahrtsstaaten internationale soziale Probleme des europäischen Wirtschaftsmarktes nicht lösen können; Ergänzungen dort, wo die nationalen Wohlfahrtsstaaten nicht handeln, aber handeln sollten; schließlich Ergänzungen, wo nationale Wohlfahrtsstaaten durch Katastrophen oder durch extreme regionale Disparitäten überfordert sind. Nationale Wohlfahrtsstaaten und europäische Sozialpolitik werden als ein gemeinsames politisches Handeln aufgefasst, in dem nationale Regierungen die europäische Sozialpolitik beeinflussen und umgekehrt der europäischen Sozialpolitik auf nationale Wohlfahrtsstaaten einwirkt. Diesen Gesamtblick versucht dieses Buch vorzustellen. Allerdings fehlt dafür bisher ein wissenschaftlicher Begriff. »Das soziale Europa« im Titel wurde nur als nichtwissenschaftlicher Notbehelf gewählt.

Mit diesen Definitionen wird deutlich, was in dieser Synthese nicht behandelt werden kann. Sie befasst sich nicht mit der privaten sozialen Sicherung und mit der privaten Vorsorge für Gesundheit, Bildung und Wohnen, auch nicht mit dem wichtigen Graubereich der staatlich vorgeschriebenen oder staatlich subventionierten oder durch staatliche Steuern initiierten privaten sozialen Sicherung (vgl. Adema/Whiteford 2021). Das wäre ein zu weites Feld für einen Text, der schon einen sehr breiten Begriff des Wohlfahrtsstaats verwendet. Auch die großen, nichtstaatlichen sozialen Träger der sozialen Absicherung – die Kirchen, die nichtkirchlichen Wohlfahrts- und Berufsorganisationen und die Unternehmen – können in diesem Buch nicht behandelt werden, da sie zwar eigentlich zu diesem Thema gehören, aber europaweit historisch zu wenig untersucht sind, um in diesen europäischen Überblick aufgenommen werden zu können (für Ansätze zu Kirchen in der europäischen Gegenwart: Kaufmann 2001; Gabriel 2024, S. 222 ff.). Auf die Familie als einem zentralen Akteur der sozialen Sicherung wird ebenfalls nicht im Einzelnen und in ihren Veränderungen eingegangen, da die vergleichende historische Familienforschung zur sozialen Sicherung für das späte 19. und 20. Jahrhundert noch nicht weit genug für einen europäischen Überblick über die innereuropäischen Unterschiede und über die europäischen Besonderheiten gegenüber anderen Kontinenten gediehen ist. Das Buch wird zudem, da es ganz Europa umfasst, zwar viele einzelne, nationale und europäische gesetzgeberische Entscheidungen erwähnen, aber sich nicht auf den Einfluss von Experten, Interessengruppen, Parteien und einzelnen Politikerpersönlichkeiten auf solche politischen Einzelentscheidungen einlassen können. Es wird schließlich auch nicht so dicht wie eine Mikrostudie an den einzelnen Klienten herangehen und nicht im Detail schildern können, wie weit Klienten vom Wohlfahrtsstaat geholfen wurde, wie sie ihn erlebten und einschätzten und wie sie, falls sie Migranten waren, den transnationalen Austausch über den Wohlfahrtsstaat beeinflussten.

Unterschiede

In diesem Buch wird viel über Unterschiede zwischen nationalen Wohlfahrtsstaaten zu sprechen sein, Wie verfolgt man den besten solche Unterschiede über anderthalb Jahrhunderte für Europa als Ganzes, ohne sich in der Vielzahl von Einzelunterschieden zu verlieren? Man kann drei Optionen unterscheiden, die jeweils ihre Vor- und Nachteile haben.

Eine Auswahl von gut recherchierten Kontrastfällen mit ihren Unterschieden ist eine erste Option, weil man nicht für jedes einzelne europäische Land die Geschichte des Wohlfahrtsstaats und die Unterschiede zu allen anderen Ländern seit den 1880er Jahren genau genug verfolgen und einigermaßen lesbar darstellen kann. Ausgewählte Fälle und deren Unterschiede zu behandeln, wird als Option oft gewählt, manchmal auch in diesem Buch. Aber die Auswahl der Fälle bestimmt die Unterschiede, die man findet. Man kann bei diesem Zugang auch nur schwer die gemeinsamen europäischen Tendenzen zur Zunahme oder Abnahme von Unterschieden erschließen.

Das Ausmaß der Unterschiede zwischen möglichst allen europäischen Ländern für bestimmte Aspekte des Wohlfahrtsstaats über Variationskoeffizienten auf der Grundlage von langen Tabellen zu berechnen, ist eine zweite Option. Man erfasst damit die Gesamtheit der Unterschiede in Europa und kann zudem verfolgen, ob die Unterschiede zunahmen oder abnahmen. Für einige Aspekte des Wohlfahrtsstaats sind in diesem Buch solche Tabelle angelegt (vgl. Tabelle 1-3, S. 314 ff.). Variationskoeffizienten werden mehrfach verwandt. Für ganz Europa lassen sich allerdings solche Tabelle meist erst ab den 1990er Jahren zusammenstellen, nur für wenige Aspekte wie etwa die Lebenserwartung, die Kindersterblichkeit oder manche Bildungschancen schon seit dem späten 19. Jahrhundert.

Die dritte Option ist die Konstruktion von Typen des Wohlfahrtsstaates, in denen jeweils mehrere Länder zusammengefasst werden. Dieser Zugang, in den viele eigene Entscheidungen des Forschers eingehen, wurde für die Geschichte des Wohlfahrtsstaats vor allem von Soziologen verwandt. Die bekannteste Typologie des Wohlfahrtsstaats von Gøsta Esping-Andersen aus dem Jahr 1990 hat allerdings erhebliche Nachteile, da sie die Aufmerksamkeit völlig auf Unterschiede lenkt, internationale Sozialpolitik ebenso wie transnationalen Austausch ausklammert, nicht ganz Europa behandelt, auch nicht alle Aspekte des Wohlfahrtsstaates im hier verstandenen, breiten Sinn erfasst und vor allem lange Pfade, drei »Welten des Wohlfahrtsstaates« zu konstruieren versucht: die Welt des modernen, universalen, kostenintensiven, skandinavischen Wohlfahrtsstaates, die Welt des universalen, schmalen, angelsächsischen Wohlfahrtsstaates und die Welt des korporatistischen, traditionellen kontinentalen Wohlfahrtsstaats (vgl. Manow 2019; für eine andere, an Kirchen orientierte Typologie des Wohlfahrtstaats vgl. Gabriel 2024, S. 222 ff.). Mit dieser Typologie wird allerdings nur eine Epoche, nämlich die Zeit von den 1950er bis zu den 1980er Jahren erfasst. Die Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bildet diese Typologie die Geschichte des Wohlfahrtsstaats ebenso wenig ab wie die Zeit seit den 1990er Jahren (vgl. Kapitel 1.2, 2.2, 4.2; Palier 2010, S. 333 ff.). Eine Konstruktion von Typen des Wohlfahrtsstaats wird auch in diesem Buch versucht. Allerdings geht es dabei nicht um die Konstruktion langer Pfade des Wohlfahrtsstaats, sondern um eine flexible Typologie, die den Wandel des Wohlfahrtsstaats seit den 1880er Jahren berücksichtigt. Wohlfahrtsstaaten sind zwar schwere Tanker, die sich nicht leicht umsteuern lassen. Aber die tiefen Umbrüche in Europa seit dem späten 19. Jahrhundert gingen an den Wohlfahrtsstaaten nicht spurlos vorbei. Eine flexible Typologie fasst diese historischen Veränderungen besser.

1.Die Anfänge des Wohlfahrtsstaats und der internationalen Sozialpolitik, 1880er Jahre bis 1914

Die Zeit zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg gilt als die Gründungsepoche des Wohlfahrtsstaates in Europa. Aber war sie das wirklich? Begann der Wohlfahrtsstaat wirklich in allen Länder Europas oder in vielen Ländern doch erst später? Waren die Unterschiede zwischen den nationalen Sozialpolitiken in dieser Epoche nicht viel zu groß, als dass man von einer gemeinsamen Gründungsepoche sprechen kann? War in dieser Epoche der transnationale Austausch zwischen den Regierungen und Experten tatsächlich schon so eng, dass sie einen europäischen Charakter besaß? Entstand in dieser Gründungsepoche tatsächlich schon eine internationale Sozialpolitik in Europa, die ebenfalls zu einer europäischen Geschichte des Wohlfahrtsstaats gehört? Nur wenn in diesen vier für das Buch zentralen Aspekten der Wohlfahrtsstaat in vielen europäischen Ländern einsetzte, könnte man von einer europäischen Gründungsepoche sprechen.

Alle vier Aspekte werden in diesem Teil durchgegangen. Wir beginnen mit den Anfängen des Wohlfahrtsstaates. Wir folgen dabei dem soeben erwähnten, breiten Verständnis von Wohlfahrtsstaat.

1.1Die gemeinsame Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats

Tatsächlich waren die Jahrzehnte vor 1914 eine wichtige Epoche der Reformen und des Wandels nicht nur der staatlichen Sozialversicherungen, sondern auch der Sozialhilfe, der Bildung und der Gesundheit. Wir gehen auf die staatlichen Sozialversicherungen, die in der Regel in das Zentrum gestellt werden, zuerst ausführlich ein, behandeln danach aber auch die anderen, damals umgeänderten Felder des Wohlfahrtsstaats, also Sozialhilfe, Arbeitsschutz und Tarifrecht, Bildung und Gesundheit.

1.1.1Staatliche Sozialversicherungen und Sozialhilfe

In fast allen europäischen Ländern wurden in den etwas über dreißig Jahren zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg staatliche Sozialversicherungen eingerichtet. Sie waren damals der dynamischste Bereich des Wohlfahrtsstaats und werden deshalb ausführlich behandelt. Die Einrichtung der drei klassischen staatlichen Sozialversicherungen, der Unfallversicherung, der Krankenversicherung und der Altersversicherung, unter der Kanzlerschaft Bismarcks im Deutschen Reich und wenige Jahre danach ähnliche Reformen in der Habsburger-Monarchie waren wichtige internationale Signale in diese Richtung.

Andere Länder folgten. Um 1914 hatten in Europa fast alle Länder eine staatliche Berufsunfallversicherung eingeführt. Obligatorische Versicherungen wie in Deutschland waren in der Überzahl. Wichtige Länder wie Frankreich, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden und die Schweiz besaßen allerdings freiwillige, staatlich nur subventionierte Versicherungen.

Auch die teureren, staatlichen Krankenversicherungen entstanden in den meisten europäischen Ländern. Sie waren freilich nur in einer Minderheit der Länder, nämlich in Deutschland, in Großbritannien, in der Habsburger-Monarchie, in Norwegen und Luxemburg, obligatorisch, in den anderen Ländern freiwillig, zudem staatlich nur subventioniert.

Die ebenfalls teuren, staatlichen Altersversicherungen wurden bis 1914 immerhin in der überwiegenden Zahl der europäischen Länder eingeführt. Obligatorisch waren sie allerdings ebenfalls selten, und zwar nur in Deutschland, Schweden, den Niederlanden und Luxemburg. Sie waren überwiegend freiwillig und staatlich nur unterstützt.

Zu staatlichen Arbeitslosenversicherungen entschlossen sich die Regierungen dagegen vor 1914 nur selten. Lediglich drei Länder, Dänemark, Norwegen und Frankreich, führten sie auf freiwilliger Basis ein, nur ein Land, das Vereinigte Königreich, in obligatorischer Form (vgl. Tabelle 1, S. 314 f). Insgesamt verstärkte sich der Einfluss des Staates nicht nur über die obligatorischen Versicherungen. Auch die freiwilligen, staatlich nur subventionierten Versicherungen mussten in dieser Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats mehr staatliche Regelungen akzeptieren.

Dabei standen die europäischen Regierungen vor drei Optionen: Eine erste Option war die obligatorische Sozialversicherung, über die vor allem einkommensschwache Arbeiter durch Zwangsbeiträge gezwungen wurden, sich abzusichern, während die gelernten Arbeiter mit stabileren Einkommen sich oft schon selbst versichert hatten. Mit diesen obligatorischen Sozialversicherungen wurde staatliche Kontrolle durchgesetzt, die allerdings durch formal unabhängige Sozialversicherungen und durch Vertretung und Mitverwaltung der Versicherten in der Sozialversicherungsbürokratie abgemildert werden konnte. Diese Versicherungen wurden in der Regel getrennt nach Sozialgruppen, nach Arbeitern, Landarbeitern und Angestellten eingerichtet, hatten also einen korporatistischen Charakter. Sie wurden meist überwiegend durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, staffelten die Beiträge der Arbeitnehmer nach dem Einkommen und richteten sich auch in ihren Leistungen, besonders bei der Höhe von Renten, nach den Beitragszahlungen. Diese Option erlaubte dem Staat trotzdem, das durch die Beitragszahlungen angesammelte Kapital für andere Zwecke einzusetzen. Diese Option wird heute gerne als Bismarck-Modell bezeichnet und in einen Gegensatz zu dem erst 1943 entwickelten Beveridge-Modell gestellt, auf das wir in Teil 2 und Teil 3 zurückkommen.

Eine zweite Option war die freiwillige, staatlich subventionierte Sozialversicherung, die in der Regel Angehörige des gleichen Berufes oder der gleichen sozialen Gruppe zusammenbrachte. Auch sie besaß damit in der Regel einen korporatistischen Charakter. Allerdings baute sie auf vorhandene, von den Versicherten selbst organisierte Sozialversicherungen auf, subventionierte sie, unterwarf sie staatlichen Regelungen, beließ aber doch mehr Autonomie als die obligatorische Versicherung. Diese Option stützte die einkommensstärkeren Arbeiter oder Angestellten, die sich oft schon selbst organisiert hatten, und erfasste daher in der Regel nur einen kleineren Teil der Bevölkerung als die obligatorische Versicherung. Das bekannteste Beispiel waren die mutuel in Frankreich. Diese Option war eher vereinbar mit den politischen Prinzipien von liberalen Regierungen.

Eine dritte Option schließlich baute auf dem Versorgungsprinzip und nicht wie die beiden anderen Optionen auf dem Versicherungsprinzip auf (Ritter 1989, S. 90 ff.). Sie suchte vor allem die Bedürftigen und Armen eines Landes abzusichern, schuf dafür primär vom Staat finanzierte Hilfsprogramme, die wie die Armenpflege mit einer Bedürftigkeitsprüfung verbunden waren, allerdings ohne Verlust der Bürgerrechte. Diese dritte Option wurde vor 1914 in Großbritannien und in Dänemark gewählt. Sie organisierte nicht Berufsgruppen oder Sozialgruppen wie etwa Arbeiter oder Angestellte, sondern richtete sich an alle Bedürftigen unabhängig vom Beruf. Sie sicherte zwar nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ab, ließ sich aber später im Lauf des 20. Jahrhunderts eher zu einer Versicherung für alle Bürger des Landes erweitern. Sie führte zu viel staatlicher Kontrolle.

Die Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats lässt sich allerdings nicht allein an der Gesetzgebung erkennen, deren praktische Auswirkungen sehr unterschiedlich waren. Die Sozialausgaben des Staates sagen sogar mehr aus über den Wert, den der Staat der sozialen Sicherung zumaß. In Relation setzen kann man die Wohlfahrtsstaatsausgaben entweder zu den gesamten staatlichen Ausgaben und sieht dann eher die Schwerpunkte der Regierungspolitik, oder zum Sozialprodukt, um dann eher die Leistung der Wirtschaft und der Einkommensempfänger zu erkennen. Beides soll im Folgenden verfolgt werden. Dabei soll zuerst auf die engeren staatlichen Ausgaben für die soziale Sicherung, also für die vier klassischen Sozialversicherungen und die Sozialhilfe, danach auf die gesamten wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben einschließlich der Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsausgaben geblickt werden.

Die staatlichen Ausgaben für soziale Sicherung, also für die vier klassischen Sozialversicherungen und die Sozialhilfe, stiegen vor 1914 in allen Ländern, für die wir Angaben besitzen, also für Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen, Deutschland, und vermischt mit Ausgaben für Gesundheit und Wohnen auch für Frankreich, Italien und Großbritannien. Nur in Schweden änderten sie sich nicht (Flora 1983 Bd. 1, S. 368, 375, 382, 391, 406, 424, 431, 447). Die Anteile dieser Ausgaben an den staatlichen Budgets nahmen spürbar zu, erreichten in den Spitzenländern Deutschland und Großbritannien 3 bis 6 Prozent des gesamten staatlichen Budgets (berechnet nach Flora, ebda.). Allerdings waren das im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung nur bescheidene Anfänge. In allen europäischen Ländern blieben diese Ausgaben unter einem Prozent des BSP (vgl. Tabelle 2, S. 316 f.). Das ist weit weniger als der heutige, europäische Durchschnitt von über 20 Prozent in der Europäischen Union (vgl. Tabelle 2, S. 316 f.), auch weniger als die 8–13 Prozent in heutigen Schwellenländern wie Mexiko, Kolumbien oder Costa Rica (vgl. OECD, Social expenditures 2018, in: https://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=6617). Aber die damaligen europäischen Länder standen noch nicht unter dem internationalen Druck von weit entwickelten Wohlfahrtsstaaten, dem die heutigen Schwellenländer ausgesetzt sind. Immerhin war das damals ein Anfang.

Auf jeden Fall wird deutlich, wie wichtig es ist, nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Sozialausgaben zu betrachten. Länder mit einer frühen Sozialgesetzgebung wie etwa die Habsburger-Monarchie ließen keineswegs immer auch die Sozialausgaben stark anwachsen. Umgekehrt gehörten am Vorabend des Ersten Weltkriegs Länder mit einer relativ späten staatlichen Sicherungsgesetzgebung wie Großbritannien oder Schweden zu den Schwergewichten bei den Sozialausgaben (vgl. Tabelle 2, S. 316 f).

Die Sozialausgaben vermitteln freilich immer noch keinen vollständigen Eindruck von dieser Gründungszeit. Die Zahlen der Versicherten der staatlichen Sozialversicherungen ergeben noch ein etwas anderes Bild. Sie lassen erkennen, wie viele Bürger über die staatlichen Sozialversicherungen abgesichert wurden. Auch die Zahlen der Versicherten in staatlichen Sozialversicherungen stiegen zwar vor 1914 erheblich an. Aber zwischen den verschiedenen staatlichen Sozialversicherungen gab es große Unterschiede. Am stärksten nahm die Zahl der Versicherten in den staatlichen Arbeitsunfallversicherungen zu, die den Staat noch am wenigsten kosteten. Im Durchschnitt der westeuropäischen Länder war um 1910 knapp ein Drittel der Erwerbstätigen gegen Unfälle an der Arbeit in obligatorischen oder freiwilligen staatlichen Versicherungen abgesichert. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern waren beträchtlich. In Großbritannien und Deutschland war schon die Mehrheit der Erwerbstätigen abgesichert, in Finnland, Schweden, Norwegen und Italien dagegen nur eine kleine Minderheit. In den kostenintensiveren staatlichen Krankenversicherungen waren um 1910 im westeuropäischen Durchschnitt nur knapp ein Viertel der Erwerbstätigen abgesichert, im besten Fall wie in Dänemark und Deutschland grob die Hälfte der Erwerbstätigen, in den anderen westeuropäischen Ländern dagegen, falls überhaupt, nur eine Minderheit. Noch geringer war die Absicherung in den besonders kostenintensiven staatlichen Rentenversicherungen. Nur in fünf westeuropäischen Ländern waren sie 1910 nicht nur Gesetz, sondern in der Praxis schon im Gang. Die Unterschiede waren enorm. In Deutschland waren die Hälfte der Erwerbstätigen abgesichert, in Österreich, dem anderen Pionierland, dagegen nur wenige Prozent. Noch weiter lagen um 1910 die Arbeitslosenversicherungen zurück. Es gab sie nur selten, und der Anteil der Abgesicherten war auch noch ganz bedeutungslos (für Kranken- und Altersversicherungen: Tomka 2013, S. 167 f.; für Arbeitsunfall- und Arbeitslosenversicherungen: Flora 1983, Bd. 1, S. 460 f.). Diese Zahlen sind sicher nicht repräsentativ für Europa, weil bisher leider nur westeuropäische Länder, selten dagegen die ostmitteleuropäischen, südeuropäischen, südosteuropäischen und osteuropäischen Länder untersucht wurden. In Europa als Ganzem dürfte jedenfalls nur ein erheblich kleinerer Teil der Erwerbstätigen über staatliche Sozialversicherungen abgesichert worden sein. Insgesamt war die Einführung von staatlichen Sozialversicherungen trotz der großen innereuropäischen Unterschiede weltweit eine besondere Entwicklung. Nur in europäischen Siedlerkolonien, in Neuseeland und Australien wurden ebenfalls staatliche Sozialversicherungen eingerichtet. Allerdings waren die Auswirkungen der staatlichen Sozialversicherungen damals noch zu schwach, um globale Aufmerksamkeit zu erregen. Zumindest für die asiatischen Beobachter Europas waren sie damals noch kein wichtiges Thema (Weiß 2016, S. 184 ff.).

Zu der Gründungszeit des Wohlfahrtsstaates gehört auch die Entwicklung eines älteren Bereichs der staatlichen sozialen Sicherung, der überwiegend kommunalen Armenpflege und Sozialhilfe. Über die Geschichte der Sozialhilfe existieren nur wenige europäische Vergleiche. Gerhard A. Ritter stellte heraus, dass in Schweden, Dänemark und Großbritannien vor 1914 die Altersversorgung aus der Sozialhilfe entwickelt wurde. Sie wurde, wie schon gesagt, nicht wie in Deutschland in staatlichen Versicherungen auf Sozialgruppen der Arbeiter oder Angestellten beschränkt, sondern für alle Bürger eingerichtet und war zum Teil leistungsfähiger als in Deutschland. Die Altersversorgung wurde in Dänemark schon ab 60 Jahren, also nicht erst ab 70 Jahren wie in Deutschland ausbezahlt, war nicht wie in Deutschland als schmaler Familienzuschuss gedacht, sondern sollte zum eigenständigen Leben reichen. Sie ging aus der Armenhilfe hervor, war aber zumindest in Dänemark nicht mehr wie in der Armenhilfe mit einem Verlust der Bürgerrechte verbunden. Diese Entstehung der Altersversorgung aus der Armenhilfe hatte weitreichende Folgen für die Herausbildung eines besonderen skandinavischen Typs des Wohlfahrtsstaats (vgl. Kapitel 3.1).

Allerdings expandierte die Armenhilfe auch in Deutschland neben den staatlichen Sozialversicherungen in zwei Richtungen. Die Ausgaben für Sozialhilfe gingen trotz des Aufbaus der Sozialversicherungen nicht zurück. Armenhilfe blieb ein wichtiger Teil des Sozialstaats. Darüber hinaus wurde die Armenhilfe langsam modernisiert. Deren Institutionen besaßen zwar den Vorteil, dass sie oft persönliche Beziehungen zu den Armen aufbauten. Hauptnachteil der kommunalen Armenfürsorge war jedoch die gesellschaftliche Exklusion, mit denen die Armen dieser Fürsorge konfrontiert wurden: das Leben in speziellen Armenhäusern oder Arbeitshäusern, die Kontrolle des Lebensstils durch die Armenverwaltung und der Ausschluss aus dem normalen zivilen Leben, zumindest der Entzug der Bürgerrechte. Diese soziale Exklusion, vor allem die oft belastende Bedürfnisprüfung, wurde teilweise abgemildert und die Armenhilfe auf neue Felder der Gesundheit, Erziehung und Arbeitslosigkeit ausgeweitet (vgl. Ritter 1989, S. 93 ff.; Ayass/Rudloff/Tennstedt 2021, S. 154 ff., 319 ff.). Wie sich die staatliche und kommunale Sozialhilfe und Armenverwaltung in anderen Teilen Europas entwickelte, müsste noch vergleichend untersucht werden. Auch diese staatliche und oft kommunale Armenpflege und Sozialhilfe war eine europäische Besonderheit, auf die später noch einzugehen sein wird (vgl. Kapitel 3.3).

1.1.2Arbeitsschutz und Tarifpolitik

Anders als in den staatlichen Sozialversicherungen befanden sich die Anfänge der regulativen sozialen Sicherung, vor allem des gesetzlichen staatlichen Arbeitsschutzes, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem engen Austausch zwischen den europäischen Ländern. Führendes Land in der Arbeitsschutzgesetzgebung war Großbritannien, das schon 1819 Kinderarbeit unter neun Jahren in Textilfabriken verbot, dort die Arbeitszeit für Jugendliche 1819, für Frauen 1844 einschränkte und 1867 auf alle Fabriken ausdehnte. Weil die männlichen Fabrikarbeiter häufig mit Frauen und Jugendlichen zusammenarbeiteten, wurde damit indirekt auch die männliche Arbeitszeit für Männer eingeschränkt. Ein zweites wichtiges Land für den Arbeitsschutz wurde bald danach Frankreich, das 1841 Kinderarbeit unter acht Jahren verbot, die Arbeitszeit von Jugendlichen regelte und 1874 auch die Frauenarbeit beschränkte. Die Schweiz, lange ohne Arbeitsschutz, wurde 1877 ebenfalls ein Vorreiterland, führte die generelle maximale Arbeitszeit auch für Männer ein, verbot Kinderarbeit unter 14 Jahren und schränkte die Arbeitszeit für Frauen ein. In Deutschland verbot Preußen zwar schon 1839 die Kinderarbeit unter neun Jahren in Fabriken und Bergwerken und setzte die tägliche Arbeitszeit von Jugendlichen unter 16 Jahren auf zehn Stunden fest. Aber die Frauenarbeit oder gar die Arbeit von erwachsenen Männern wurden nicht eingeschränkt. Anders als in der staatlichen sozialen Sicherung entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat im Arbeitsschutz in den westeuropäischen Ländern Großbritannien, Frankreich und der Schweiz zwar nicht früher, aber rascher weiter als in Deutschland oder Skandinavien (Bauer 1923, S. 401 ff.; Ritter 1989, S. 55 ff.; Ambrosius 2004, S. 5–29; Sassoon 2020, S. 17 ff.; Ayass/Rudloff/Tennstedt 2021, Bd. 1, S. 42 ff., 56 ff.). »So blieb«, schrieb der französische Deutschlandkenner Henri Lichtenberger 1908, »die deutsche Arbeiterversicherung trotz ihrer Unvollkommenheiten eines der großartigsten Werke und einer der dauerhaftes den Ruhmestitel des großen Kanzlers. […] Auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes hingegen war so gut wie nichts getan. Das Versammlungsrecht und das Recht der Arbeitsniederlegung waren kaum gesichert. Frauen und Kinder blieben mangels einer genügenden Arbeitsordnung der schlimmsten Ausbeutung preisgegeben. Die Schiedsgerichte waren schlecht eingerichtet. Die Kontrolle der Arbeit blieb infolge der geringen Zahl der Aufsichtsbeamten und der ungenügenden Aufsicht, die sie ausübten, fast eine Täuschung. Und nichts geschah, um diese Lage zu verbessern. Alle Reformpläne stießen sich an Bismarcks passivem Widerstand.« (Lichtenberger 1908, S. 106 f.)

Die Tarifverträge, also die Absprachen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über Arbeitsbedingungen, nahmen in den letzten Jahrzehnten vor 1914 deutlich zu. 1908 zählte die Sozialwissenschaftlerin Fanny Imle in Deutschland fast 6000 Tarifvereinbarungen, die allerdings nur im Buchdruck und im Baugewerbe mehr als ein Viertel der Beschäftigten, in fast allen anderen Branchen dagegen nur eine kleine Minderheit der Beschäftigten von weniger als 10 Prozent erfassten (Imle 1909 ff., S. 382). Im Gegensatz zu den Sozialversicherungen wurden allerdings die Tarifverträge nicht vom Staat angestoßen, sondern eher gegen den Willen des Staates von den Tarifpartnern initiiert, erhielten zumindest in Deutschland schon die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften. Die Aufmerksamkeit der Historiker und historischen Sozialwissenschaftler gewann die europäische Entwicklung der Tarifverträge vor 1914 freilich bisher selten. Neben dem umfangreichen, deutsch-französischen Vergleich von Sabine Rudischhauser wurden bisher keine vergleichenden Untersuchungen veröffentlicht. Über die Verbreitung von Tarifverträgen in Europa vor 1914 tappen wir daher außerhalb Frankreichs und Deutschlands noch ziemlich im Dunkeln (Rudischhauser 2017, S. 818 ff.).

1.1.3Bildungs- und Gesundheitspolitik

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates wird in den historischen Darstellungen oft auf die Geschichte der Sozialversicherungen, der Sozialhilfe, des Arbeitsschutzes und des Tarifrechts beschränkt. Damit folgt man jedoch weder dem modernen Verständnis des Wohlfahrtsstaates noch den politischen Prioritäten der europäischen Regierungen vor 1914. Schon vor 1914 intervenierten die Staaten nicht nur im Bereich der sozialen Sicherung, wenn sie aus ganz unterschiedlichen Motiven in sozialen Notlagen helfen wollten, sondern viel umfangreicher und auch schon länger in den Bereichen der Gesundheit und der Bildung. In den damaligen Staatshaushalten besaßen Bildung und Gesundheit sogar noch ein erheblich größeres Gewicht als die soziale Sicherung. Man hoffte, die Bürger durch bessere Gesundheit und bessere Ausbildung für wirtschaftliche Notlagen resilienter zu machen. Nur die Wohnungspolitik besaß noch wenig Bedeutung. Auch Gesundheit und Bildung gehörten zu den dynamischen Bereichen des Wohlfahrtsstaats. Sie waren in den wenigen Fällen, in denen wir über Zahlen verfügen, gewichtiger als die Ausgaben für soziale Sicherung und wuchsen teilweise sogar schneller. Die Ausgaben für den gesamten Wohlfahrtsstaat stiegen in den Spitzenländern wie Deutschland, Norwegen und Finnland auf 20 bis 30 Prozent des Staatshaushaltes (vgl. Flora 1983 ff., Bd. 1, S. 345 ff.). Allerdings wurde vor 1914 weiterhin nur ein kleiner Teil des Sozialprodukts für den Wohlfahrtsstaat verwendet. Selbst in europäischen Spitzenländern, über die wir Berechnungen anstellen können, also Großbritannien, Deutschland, Schweden und Norwegen, wurden nicht mehr als 4 bis 5 Prozent des Bruttosozialproduktes ausgegeben (vgl. Tabelle 3, S. 318 f.). Das ist im Vergleich zu dem europäischen Durchschnitt von rund 30 Prozent in der heutigen Europäischen Union ein bescheidener Betrag (vgl. Tabelle 3).

Nicht nur für die staatlichen Sozialversicherungen, sondern auch für die staatliche Bildungs- und Gesundheitspolitik waren die letzten drei Jahrzehnte vor 1914 oft eine dynamische Periode. Vor allem die Bildungsausgaben stiegen in den meisten dokumentierten Ländern spürbar an und waren zudem fast immer deutlich höher als die Ausgaben für soziale Sicherung. Die Bildung besaß für die damaligen Regierungen häufig noch eine größere Bedeutung als die soziale Sicherung. Die Bildungsausgaben gingen nicht nur in den international reputierlichen, aber damals noch schmalen Sekundarschul- und Hochschulsektor, sondern auch in die Elementarausbildung. Zumindest war das Personal an den Elementarschulen um ein Mehrfaches umfangreicher als das Personal an den Sekundarschulen. Nicht nur Sekundarschulen, sondern auch Elementarschulen mussten angesichts des hohen Bevölkerungswachstums und der rasch expandierenden Städte neu gegründet, mehr Lehrer ausgebildet und mehr Schüler unterrichtet werden (für Bildungsausgaben und Personal: Flora 1983, Bd. 1, S. 345 ff., 553 ff.).

Auch die staatlichen Gesundheitsausgaben, in denen allerdings die kommunalen Ausgaben meistens noch nicht enthalten sind, nahmen zumindest in den westeuropäischen Ländern in der Regel deutlich zu. Sie waren freilich nur in Schweden und Norwegen höher, ansonsten in den dokumentierten Fällen niedriger als die Ausgaben für soziale Sicherung. Der Staat und die Kommunen organisierten Impfaktionen, von denen die Pockenimpfung damals die wichtigste war, und bekämpften Volkskrankheiten wie die Tuberkulose, Typhus und Fleckfieber und Epidemien wie die Cholera. Der Staat und die Kommunen betrieben eine wachsende Zahl von Krankenhäusern, richteten Gesundheitsämter ein, trieben die öffentliche Hygiene durch Frischwasserversorgung, Abwassersysteme, Schlachthöfe, Straßenreinigung und Wohnungsbaugesetze, historisch oft als »Munizipalsozialismus« bezeichnet, voran und finanzierten die medizinische Forschung (Evans 2018, S. 542 ff.; Fangerau/Labisch 2020, Kapitel 4; für staatliche Gesundheitsausgaben in westeuropäischen Ländern: Flora 1983, Bd. 1, S. 361 ff.).

1.1.4Wirkungen des Wohlfahrtsstaats

Ließen sich durch diesen Ausbau des Wohlfahrtsstaats vor 1914 tatsächlich individuelle Notlagen besser durchstehen? Es ist nicht leicht, auf diese Frage eine kurze Antwort zu geben, denn die Verbesserung der individuellen Notlagen hing auch von anderen Faktoren neben dem Wohlfahrtsstaat ab. Diese zusätzlichen Faktoren sahen in jedem Feld des Wohlfahrtsstaats anders aus.

Die Wirkung der neuen staatlichen Sozialversicherungen sollte man nicht überschätzen, da sie oft noch im Aufbau waren. Am meisten Hilfe boten sie bei der Versorgung nach Arbeitsunfällen. Die Kosten für Krankheit und Invalidität mussten in einem bedeutsamen Teil Europas nicht mehr allein von den Verletzten und ihren Familien getragen werden. Bei Krankheit boten die staatlichen Krankenversicherungen in einer begrenzten Zahl von Ländern daher eine Erleichterung, auch wenn die Krankschreibungen weitaus restriktiver waren als heute, Angehörige meist nicht mitversorgt und psychische Krankheiten nicht abgedeckt waren. Die staatlichen Rentenversicherungen befanden sich vor 1914 oft noch im Aufbau und bezahlten nicht selten Renten erst, wenn der angesammelte Kapitalstock dies zuließ. Sie waren zudem von vornherein meist nur als Zuschuss für die Familie gedacht, in der die Alten lebten. In Deutschland, das eine damals moderne Altersversicherung aufbaute, umfassten die Standardrenten nur einen Bruchteil der Arbeitereinkommen. Einen eigenen Lebensunterhalt und einen eigenständigen Haushalt konnten die Alten mit den Renten in Deutschland in der Regel nicht finanzieren. Sie waren weiter auf die Familie oder auf Armenhilfe angewiesen, die vor 1914 auch nicht zurückging (vgl. Ritter 1989, S. 93 f.). Bei Arbeitslosigkeit fiel staatliche Hilfe fast ganz aus, da Arbeitslosenversicherungen, wie wir sahen, noch kaum irgendwo eingerichtet waren. Es müsste weiter untersucht werden, ob diese Anfänge der staatlichen Sozialversicherungen schon eine Wirkung auf die Einkommensverteilung besaßen und ob die abgebremste Verschärfung oder sogar Abmilderung der Einkommensunterschiede vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien, Dänemark, Schweden und Deutschland mit den erhöhten Sozialausgaben in diesen Ländern zu tun hatte (vgl. zur Einkommensverteilung: Kaelble 2017a, S. 26 f.).

Wirkungsvoller dagegen war die staatliche Gesundheitspolitik. In den letzten Jahrzehnten vor 1914 stieg jedenfalls die Lebenserwartung zwischen 1875 und 1910 im europäischen Durchschnitt für erwachsene Männer wie Frauen um rund fünf Jahre, für Neugeborene sogar um rund zehn Jahre an. Europa begann sich in den Augen von Jürgen Osterhammel seit den 1890er Jahren zusammen mit Nordamerika und Japan im Zuwachs an Lebenserwartung immer mehr von anderen Kontinenten zu unterscheiden, da die Lebenserwartung in Lateinamerika erst seit den 1930er Jahren, in der Sowjetunion und China erst seit den späten 1940er Jahren und in Afrika sogar erst nach der Dekolonisierung in den 1960er Jahren zunahm. Wir wissen nicht genau, wieviel dazu die staatliche und kommunale Gesundheitspolitik und die staatliche Krankenversicherung oder wieviel dazu die Verbesserung des Lebensstandards und die daraus folgende etwas gesündere Ernährung, etwas bessere Hygiene, gesünderes Wohnen und etwas bessere medizinische Versorgung beitrugen. Man sollte auch nicht vergessen, dass es sich für heutige Verhältnisse um bescheidene Anfänge handelte und die Lebenserwartung im damaligen Europa im Durchschnitt nicht nur weit hinter dem heutigen europäischen, sondern auch hinter dem heutigen lateinamerikanischen oder afrikanischen Durchschnitt zurücklag (für Gesundheitsausgaben und Lebenserwartung: Flora 1983 ff., Bd. 1, S. 345 ff, Bd. 2, S. 17 ff.; Fischer, Bd. 5: 1985, S. 26; für die globale Entwicklung: Osterhammel 2009, S. 258 ff.; Deaton 2013, S. 59 ff.; Riley 2001, S. 33 ff.).

Die staatliche Bildungspolitik zeigte ebenfalls ihre Wirkung auch für die Masse der Bevölkerung, nicht nur für die Eliten. Der Analphabetismus, der im Norden Europas schon weitgehend zurückgedrängt worden war, begann in den letzten Jahrzehnten vor 1914 auch im südlichen und östlichen Teil Europas zurückzugehen. Nicht nur der Zugang zu den Sekundarschulen und zu den Hochschulen erweiterte sich in dieser Zeit, begleitet von Zweifeln wegen eines angeblichen Überschusses an Abiturienten und Studenten. Auch die Qualität des Elementarunterrichts stieg, wenn man an günstigere Klassengrößen oder den längeren Besuch der Elementarschulen denkt. Europa wurde, so Willibald Steinmetz, beginnend schon mit den 1860er Jahren, verschult. In den Augen von Jürgen Osterhammel fand dieser Prozess der staatlichen Verschulung und der Alphabetisierung allerdings nicht nur in großen Teilen Europa, sondern auch in Nordamerika und auch in Japan statt, das sogar auf einer längeren Tradition des Buchdrucks aufbaute als Europa. Erklärungsbedürftig ist für Osterhammel nicht nur diese Verschulung und Alphabetisierung in Europa und Nordamerika, sondern auch der Rückfall Chinas, das noch im 18. Jahrhundert eine im Weltmaßstab vergleichsweise hohe Alphabetisierung aufwies und deshalb eigentlich eher als Europa und Nordamerika Kandidat für den führenden Kontinent der Alphabetisierung war. Auch bei der Alphabetisierung lässt sich nicht präzise angeben, wieviel dazu die Bildungspolitik der Regierungen oder wieviel dazu das wachsende Interesse der Eltern oder eine stärkere Nachfrage aus der Wirtschaft oder das Interesse bestimmter, an direkter Bibellektüre interessierter Kirchen oder die Anziehungskraft der gedruckten Medien beitrugen. Man kann wiederum freilich nicht darüber hinwegsehen, dass die damalige Alphabetisierung in Süd- und Osteuropa auf dem heutigen Niveau Zentralafrikas lag und der Zugang zu den Sekundarschulen und zu den Hochschulen in Europa nicht nur weit hinter dem heutigen europäischen Niveau, sondern auch weit hinter heutigen armen Ländern in Zentralafrika zurücklag, auch für Mädchen und Frauen (vgl. für Europa: Tomka 2013, S. 361 ff.; Steinmetz 2019, S. 451 ff.; für die globale Entwicklung: Osterhammel 2009, S. 1118 ff.; für Bildungsausgaben, für Alphabetisierung, Schul- und Hochschulbesuch: Flora 1983, Bd. 1, S. 345 ff., 553 ff.; Fischer, Bd. 5: 1985, S. 84 ff.; für die heutige Situation vgl. die Datenbanken der UNESCO).

Die staatliche Bildungspolitik und die staatliche Gesundheitspolitik erreichten damals einen erheblich breiteren Teil der Bevölkerung als die staatliche soziale Sicherung. Insgesamt unterschätzt man daher die Dynamik des Wohlfahrtsstaats vor 1914, wenn man ihn auf die staatlichen Sozialversicherungen einschränkt. Gesundheits- und Bildungspolitik waren ähnlich dynamisch und besaßen sogar sichtbarere, wenn auch nicht im Einzelnen genau nachweisbare Wirkungen. Nur mit diesem breiten Verständnis von Wohlfahrtsstaat lässt sich erkennen, wie sich Europa von anderen Kontinenten zu unterscheiden begann.

1.1.5Nichtstaatliche soziale Absicherung

Für die Einschätzung dieser ersten Anfänge des Wohlfahrtsstaates ist auch wichtig, dass sie nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Sie wurden neben ein nichtstaatliches soziales Sicherungssystem in ganz unterschiedlichen Formen gesetzt und mussten davor bestehen (Labbé 2028, S. 13 ff.). In diesen nichtstaatlichen sozialen Sicherungen unterschied sich Europa nicht grundsätzlich von anderen Kontinenten. Eine schon erwähnte Form waren zahlreiche Kassen einzelner Berufe, die vor allem in Handwerks- und Kaufmannsberufen, für Krankheit, Invalidität und Tod eingerichtet wurden. Sie hatten den Vorteil, autonom verwaltet zu werden, solange sie nicht staatlich subventioniert wurden. Ihr Nachteil war, dass sie nur in individuellen Notsituationen begrenzt Hilfe leisten konnten, bei Seuchen rasch zahlungsunfähig wurden und auf die besser situierten Schichten der Arbeiter beschränkt waren. Eine andere, ebenfalls verbreitete Form war die soziale Sicherung der Arbeitgeber durch Betriebskrankenkassen, Betriebspensionskassen und Betriebswohnungen, besonders in Großunternehmen.

Eine weitere wichtige Institution der nichtstaatlichen sozialen Absicherung waren die Kirchen, die katholische Kirche ebenso wie die protestantischen Kirchen, die jüdischen Gemeinden und auf dem Balkan die muslimischen Moscheen und Stiftungen. Sie besaßen ein ausgedehntes Netzwerk von Krankenhäusern, Schulen, Waisenhäusern, Armenhäusern und Altersheimen. Die gewinnorientierte Versicherungswirtschaft, eine vierte Form der privaten sozialen Sicherung, half mittels Kranken- und Lebensversicherungen in sozialen Notsituationen ebenfalls eher den besser gestellten Teilen der Gesellschaft (Wieters 2022, S. 385 ff.). Die private Wohltätigkeit, eine fünfte Form der sozialen Sicherung, war verbreitet vor allem in Stiftungen, aber auch in informeller Wohltätigkeit. Sie war zudem für Frauen des Bürgertums ein wichtiges Betätigungsfeld. Schließlich boten auch die Großfamilien und die nachbarschaftlichen Netze eine sechste, wichtige, für viele die einzige sichere Hilfe in individuellen Lebenskrisen.

Diese verschiedenen nichtstaatlichen sozialen Absicherungen waren nicht einfach eine Stabilisierung der Gesellschaft jenseits und unabhängig von der Politik. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war es ganz im Gegenteil ein Ziel der Politik besonders in südeuropäischen und südosteuropäischen Ländern, sich auch auf diese nichtstaatliche soziale Absicherung zu stützen. Wir kommen darauf zurück.

Insgesamt waren die letzten drei Jahrzehnte vor 1914 tatsächlich eine Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats. In den meisten europäischen Ländern wurden staatliche Sozialversicherungen eingerichtet. In einer Reihe von Ländern wurde darüber hinaus die Armenverwaltung modernisiert. Bildungschancen wurden erweitert. Der Elementarunterricht wurde verbessert und nicht nur der Zugang zu Sekundarschulen und Universitäten erweitert. Die Gesundheitspolitik wurde modernisiert, Volkskrankheiten und Seuchen bekämpft, zur Verbesserung der Ernährung beigetragen. Die Dynamik des beginnenden Wohlfahrtsstaates war nicht nur in den staatlichen Sozialversicherungen, sondern auch in der Sozialhilfe, im Gesundheitsbereich und im Bildungsbereich erkennbar. Mehr als eine Gründungszeit war es allerdings nicht. Wir kommen am Ende dieses ersten Teils darauf zurück.

1.1.6Gründe für die Anfänge des Wohlfahrtsstaats