Das Spiel mit der Identität - Doris Tropper - E-Book

Das Spiel mit der Identität E-Book

Doris Tropper

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Beschreibung

Im Laufe eines Tages spielen wir viele verschiedene Rollen: harter Geschäftsmann, taffe Karrierefrau, liebender Vater. Das Spiel mit der Identität gehört zum Alltagsrepertoire. Doch wie viel davon sind wir wirklich selbst? Wo fängt die Rolle an, wo hört sie auf? Biografiearbeit kann helfen, zu unserem "wahren Ich" vorzudringen. Das Buch vereint deshalb die unterschiedlichsten Lebensläufe faszinierender Persönlichkeiten auf der Suche nach ihrem wahren Selbst. Ihnen allen gemeinsam ist das bewusste und unbewusste Spiel mit der eigenen Identität. Anhand ihrer Biografien wird die Sicht auf die eigene biografische Landkarte deutlicher.

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Seitenzahl: 158

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Doris Tropper

Das Spiel mit der Identität

Doris Tropper

Das Spiel mit der Identität

Biografiearbeit am Beispiel faszinierender Persönlichkeiten

Originalausgabe

1. Auflage 2016

© Verlag Komplett-Media GmbH

2016, München/Grünwald

www.komplett-media.com

ISBN Ebook: 978-3-8312-5770-6

Umschlaggestaltung: X-Design, München

Lektorat: Silwen Randebrock

Satz und Layout: Daniel Förster, Belgern

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

Inhalt

Lebensgeschichten, voller Überraschungen

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Das Grundprinzip von Biografiearbeit

Das Spiel mit verschiedenen Identitäten

Der Blick auf spannende Lebensgeschichten

Kindheitstraumata

Die Lebenslügen

Anders sein

Biografiearbeit ist der Schlüssel

Husarenstreiche, mit erfundenen, Identitäten

Karl May und seine vielen Pseudonyme

Der Hauptmann von Köpenick

Der Robin Hood von Wien

Der Makel, eine Frau, zu sein

Die vergessene Maria Lazar

Marie Bashkirtseff: »Ich will alles sein!«

Das Alter Ego der Superstars

Fiktive Identitäten als Ausdruck künstlerischer Kreativität

Marlene Dietrich und Greta Garbo: Die Rolle der Kühlen und Unnahbaren

David Bowie: genialer Verkleidungskünstler

Bob Dylan: Idol vieler Generationen

Wenn die Rollen »Frau« oder »Mann« nicht stimmen

Dragqueen und Dragking

Conchita Wurst: ein Statement für Toleranz und Akzeptanz

Unfreiwillig in ein anderes Leben gedrängt

Gertrud Desch: die Mathematikerin, die früher Georg hieß

Vom Mann zur Frau und umgekehrt

Tausendsassa und Auflagenmillionäre

Eduard Rhein: Erfinder und Geschichtenerzähler

Roland Gööck: der ungekrönte Sachbuch-König

Auf Spurensuche im künstlerischen Milieu

Die vielen Gesichter des Klaus Kinski

Freddy Quinn: eine Biografie passend zu seinen Liedern

Drafi Deutscher: Marmor, Stein und Eisen bricht

Identitätsschwindel und die dunkle Seite der Macht

Lebensborn-Kinder: Tarnen, täuschen und die echte Identität verdecken

Ein Mann mit vielen Namen

Rosa von Praunheim: Wer bin ich wirklich und wo sind meine Wurzeln?

Ein Kriegsverbrecher auf der Flucht

Das unfreiwillige andere Leben der Besatzungskinder

Vorprogrammiertes Leiden und eine Mauer des Schweigens

Helmut Köglberger: erfolgreiches Besatzungskind

Die Magie der Maske

Komödie oder Tragödie

Eine Maske für das Gesicht

Unter dem Schutz der Maske

Johann Kastenberger: Die Maske schützt den Gewaltverbrecher

Die vielen Gesichter des Günter Wallraff

Wer ist wer auf der Bühne?

Die Opernwelt kommt nicht ohne Verwandlung aus

Packendes Geschehen auf der Bühne

Die vielen Identitäten eines Puppenspielers

Hape Kerkeling: Die Kunst der Verkleidung

Mister Spock: Die Macht der Rolle

Schutz der Privatsphäre

Johannes Silberschneider: Wie aber wird man seine Rolle wieder los?

Von der Bühne ins echte Leben: Abgrenzung und Rollentausch

Gustav Toger: Tauer ist mehr als nur eine Farbe des Lebens

Ein Künstler auf der Suche nach neuen Identitäten

Die Faszination des Verbrechens

Wenn die Vergangenheit anklopft

Der Gerechtigkeitsfanatiker auf der Suche nach der Wahrheit

»Das Leben besteht aus dem Verbrennen von Fragen«

Bografiearbeit lebi vom Erzählen und Zuhören

Begegnung auf Augenhöhe

Ein Blick auf das eigene Leben

Ein geliehenes Leben

Welche Person wäre ich gerne?

Ein Fragebogen liefert Antworten

Die Magie der Dinge

Zeitleiste und andere »Türöffner«

Erinnerungsanker

Rollentausch

Auch einmal an sich selbst denken

Ein herzliches Dankeschön

Film- & Literaturnachweis

Filme, die den Texten zugrunde liegen oder themabezogene Inhalte aufweisen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Lebensgeschichten voller Überraschungen

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Es kam einer Sensation gleich, als die Briten den Moslem Sadiq Aman Khan zum Londoner Bürgermeister wählten. Khan ging seiner persönlichen Identitätsfrage selbst in einem Interview auf den Grund: »Wir alle haben vielschichtige Identitäten. Ich bin Londoner. Ich bin Brite. Ich bin Engländer. Ich bin von asiatischer, von pakistanischer Herkunft. Ich bin Vater. Ich bin Ehemann. Ich bin ein leidenschaftlicher Liverpool-Fan. Ich bin Labour-Politiker und ich bin ein Moslem.« Sadiq Aman Khan ist kein exotischer Einzelfall. Wir alle sind schillernde Persönlichkeiten mit einer bunten interkulturellen Vergangenheit, denn hinter jedem von uns stehen – bildlich gesehen – mehrere Generationen. Die Art wie sie gelebt, was sie gedacht oder getan haben, übt auch auf unsere persönliche Biografie Einfluss aus. All das, was unsere Ahnen verschwiegen, verdrängt und verleugnet haben, ihre Erfolge genauso wie erlittene Niederlagen, hinterließen Spuren, die bis in die vierte oder fünfte Generation nachwirken.

Aber auch viele Talente und Begabungen leben in uns weiter. Nicht selten wirkt eine geheimnisvolle Kraft nach, die uns Dinge realisieren lässt, die unseren Vorfahren damals aus welchen Gründen immer, nicht möglich waren. Manchmal muss auch eine aus alten Zeiten noch offene Angelegenheit endlich zu Ende gebracht werden.

In meiner eigenen Herkunftsfamilie gibt es ein gutes Beispiel dazu: Herta, das einzige Kind meines Großonkels, erschoss sich mit der Pistole ihres Vaters, weil er ihr nicht erlaubte, Schauspielerin zu werden, obwohl sie talentiert war, schon erfolgreich vorgesprochen hatte und unbedingt Schauspielunterricht nehmen wollte. Ihren mit Bleistift gekritzelten berührenden Abschiedsbrief bewahren wir sorgfältig auf, ist er doch die einzige Spur zu ihrer Existenz, denn es gibt kein Foto von ihr. 70 Jahre später arbeitet unsere ältere Tochter Elisabeth als erfolgreiche Dramaturgin am Theater. Womöglich ist so Hertas Sehnsucht nach dem Theater und damit auch ihr innigster Lebenswunsch in Erfüllung gegangen?

Ähnliches trifft auch auf die Nachbarin zu, die wunderbare Kuchen backen kann, wie das bereits ihre Mutter und davor ihre Großmutter getan haben. Oder die kreative Künstlerin, die mit Stolz sagen darf, dass sie schon in der 3. Generation Malerin ist. Der junge Mann, der seinen Bürojob an den Nagel gehängt hat und von der Stadt auf das Land gezogen ist, um den Hof der Großeltern zu übernehmen und der mit Hingabe die Felder bestellt und die Tiere hegt und pflegt, auch er knüpft an die lange, gute, alte Tradition in seiner Familie an. Es mag viele Gründe und Ursachen geben, warum wir gerade an diesem Ort leben und in diesem Beruf tätig sind. Die Gene und die Erbanlagen spielen dabei sicherlich auch eine Rolle.

In der Biografiearbeit genügt es nicht, nur an die direkten Vorfahren wie die Mutter oder den Vater zu denken. Der Fokus liegt weit zurück in der Vergangenheit. Wir wünschen uns Helden und Vorbilder unter den Vorfahren, aber in Wahrheit finden wir uns als lebende Nachkommen von Verfolgten wie Tätern und Tatbeteiligten, von Soldaten und Kriegstreibern, Flüchtlingen, Vertriebenen und Verschleppten, von verängstigten und traumatisierten Menschen wieder. Wir alle sind Nachfolger von Menschen, die oftmals unter schwierigsten Bedingungen gelebt haben und viele Widerwärtigkeiten am eigenen Leib erfahren mussten. Ihre Ängste und Ohnmachtsgefühle haben nicht nur bei ihnen tiefe Erinnerungsspuren hinterlassen, sie wirken oftmals auch auf das Leben der Nachkommen.

Was wissen wir heute noch zuverlässig darüber, wie unsere Großeltern und Urgroßeltern gelebt haben? Meist beschränken sich die biografischen Details auf Geburtsdaten, Orte und die ausgeübten Berufe. Welches Leid sie erfahren und welche unbearbeitete Trauer sie bis zu ihrem Tod begleitete, was sie wirklich gedacht und wie sie all die schwierigen Kriegs- und Krisenzeiten überleben konnten, das wissen wir in den seltensten Fällen.

Das Grundprinzip von Biografiearbeit

Wenn wir uns auf die Biografiearbeit einlassen, eröffnet das drei wichtige Möglichkeiten: Erinnern, Erleben und Entwickeln. Die Biografie ist dabei die Klammer, die das ganze Leben umfasst und gleichzeitig auf drei Ebenen zu wirken vermag: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Rückblickend können Lebenserfahrungen geordnet und mit einer neuen Bedeutung versehen werden. Jene Strategien, die uns geholfen haben, schwierige und krisenhafte Situationen zu bewältigen, werden so aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt, um zukünftige Probleme besser lösen zu können. Dadurch gelingt es, fremde wie selbstgesetzte Strukturen deutlich zu machen, die sonst selten wahrgenommen werden. Das schließt aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorfahren und deren Handlungsweisen mit ein. Der Blick in die eigene Vergangenheit stellt ein gutes Instrument dar, Belastendes, Kränkendes, Trauriges oder Unaufgearbeitetes zu verabschieden. Sich mit dem Leben zu versöhnen bedeutet oft auch, jemandem zu verzeihen oder sich für etwas zu entschuldigen.

Der Blick in die Gegenwart, in das Hier und Jetzt, dient der aktuellen Lebensbewältigung mit all den großen und kleinen

Problemen und Schwierigkeiten und kann auch in der (Selbst-) Therapie und in der Begleitung von Bedeutung sein.

Mit dem Blick in die Zukunft gelingt es dann oftmals, auf ein völlig neues Fundament aufzubauen, indem man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen bauen uns die Brücke in die Zukunft, damit wir die uns verbleibende Lebenszeit besser nützen können und erkennen, in welche Richtung wir uns entwickeln möchten.

Das Spiel mit verschiedenen Identitäten

Auch wenn die vorangegangenen Generationen und ihr Leben, Lieben und Leiden bis heute in unser Dasein hineinwirken, tragen wir immer für uns selbst die Verantwortung, denn wir sind es, die Entscheidungen treffen, Probleme lösen oder das Schicksal herausfordern. Die Schuld für ein mögliches Scheitern und für Misserfolge dürfen wir daher nicht alleine denen vor uns in die Schuhe schieben, wir müssen sie bei uns selbst suchen.

Wir selbst legen uns jeden Tag neue Rollen zurecht, verkleiden uns, wechseln oftmals unsere »Ichs« und werden unbewusst zu vielen verschiedenen Persönlichkeiten, ohne dass es sich dabei um das Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeitsstörung handelt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn man sich manchmal nicht mehr sicher ist, wer man wirklich ist oder sein möchte: »Was tun, wenn man in den Spiegel schaut und feststellt: Interessant, das ist das Gesicht, das ich mir in ein paar Jahrzehnten selbst gezeichnet habe. Komisch: Warum sehe ich mir gar nicht ähnlich?«1 Dieser Frage stellte sich der Wiener Journalist Guido Tartarotti in seiner Zeitungskolumne.

Mich fasziniert es seit je her, welche Schichten sich unter dem sichtbaren »Ich« verbergen. Gerade die unterschiedlichsten Motive für die Maskerade, den Wechsel oder das Verstecken der eigenen Identität üben eine besondere Anziehung auf mich aus.

Mit Hilfe der Biografiearbeit werde ich auf den folgenden Seiten Menschen und ihre Lebensentwürfe auf der Suche nach Identität porträtieren. Denn nicht nur die eigene Biografie, sondern auch die Lebensgeschichten fremder Menschen bilden ein wichtiges Instrument der Erinnerung. Seien es Schauspieler, Sänger und bildende Künstler, oder auch nichtprominente Persönlichkeiten mit ihrer besonderen Geschichte – sie alle haben andersartige Motive für ihr Spiel mit der Identität und lassen teilweise Rückschlüsse auf die eigene Biografie ziehen.

Das Spiel mit verschiedenen Identitäten gehört somit für jeden von uns zum Alltagsrepertoire. Künstlerinnen und Künstler setzen Verkleidung und Maskerade seit jeher bewusst als Stilmittel ein. So kommen sie leichter durch Zeiten der Schaffenskrisen, sie bleiben in der Öffentlichkeit unerkannt und haben die Chance, daraus wiederum eine neue Figur, ein anderes »Ich« zu entwickeln. Zudem ist es in dieser Branche üblich, sich ein Pseudonym zuzulegen und seine wahre Identität und Herkunft hinter einem Alias-Namen oder einem Alter Ego zu verstecken. Diese Kunst beherrschte der legendäre David Bowie geradezu perfekt. Er konnte sich so oft und so rasch verwandeln, dass ihm liebevoll der Spitzname Chamäleon verliehen wurde. Die Faszination, die das Spiel mit vielen Identitäten auslösen kann, zeigen uns aber auch Madonna, Lady Gaga und Bob Dylan.

Die Bühne bietet unendlich viele Möglichkeiten der Selbst- und Fremddarstellung und nirgendwo gibt es einen Ort, an dem das »andere Ich« oder die »vielen Anderen in einer Person« derart lebensnah und öffentlichkeitswirksam präsentiert werden können. So kommt es, dass in der heutigen Popwelt so faszinierende Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe, Greta Garbo oder Marlene Dietrich plötzlich wiederentdeckt und damit endgültig unsterblich gemacht werden.

In diesem Buch kommen aber auch Frauen und Männer zu Wort, die nicht prominent sind, deren unglaubliche Lebensgeschichten jedoch spannend und interessant sind. Sie alle waren auf der Suche nach der eigenen Identität. Aus ihren Erfahrungen und Erlebnissen können wir in jedem Fall etwas für das eigene Leben lernen, auch wenn es nicht immer leicht ist, zwischen dem Original und der Kopie zu unterscheiden. Und der Schauspieler Johannes Silberschneider verrät uns, wie man eine Rolle auch wieder loswerden kann.

Der Blick auf spannende Lebensgeschichten

Hinter einer fremden Identität und einem anderen Namen kann man sich gut verstecken. Karl May, der Lieblingsautor mehrerer Generationen, benutzte viele Pseudonyme, um unerkannt zu bleiben. In die Annalen der Geschichte ging auch ein gewisser Friedrich Wilhelm Voigt ein.

Allerdings nicht unter seinem richtigen Namen, sondern als der grandiose Hauptmann von Köpenick, der mit seinem Geniestreich nicht nur Soldaten und Politiker an der Nase herumführte, sondern auch der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt, indem er deren unbedingte und in diesem Fall auch gedankenlose Obrigkeitshörigkeit für seinen Überfall auf die Stadtkasse bewusst ausnutzte.

Manchmal waren es einfach nur wirtschaftliche Gründe, die dazu führten, dass sich Menschen viele Alias-Namen zulegten. Ein gutes Beispiel dafür sind die beiden Tausendsassa und Auflagenmillionäre Eduard Rhein und Roland Gööck. Sie waren mehr als nur begabte Medienmacher, sie haben den Zeitgeist getroffen und unter unzähligen Pseudonymen Hunderte von Büchern und Druckschriften verfasst. Ihre Namen sind heute unbekannt, aber viele »ältere Semester« erinnern sich ganz sicher noch an ihre Produkte, die Hörzu und die Bertelsmann-Bände, die in einer harten, bitteren Zeit des Wiederaufbaus und des finanziellen Engpasses wie Balsam auf die Seele wirkten und unendlich viel Freude bereiteten, aber auch Mut machten und der damals allerorts herrschenden Sehnsucht nach einer heilen, glücklichen Welt Nahrung gaben.

Kindheitstraumata

Von Kerker und Kälte, von Gefängnis und Albtraum spricht der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard in seinen autobiografischen Erzählungen, wenn es um die Kindheit geht. Traumatische Erinnerungen und Erlebnisse aus Kindertagen prägen sich fürs Leben im Gedächtnis ein und lassen sich nicht herauslöschen. Die Narben, die sie auf der jungen Seele hinterlassen haben, erschweren die Suche nach der eigenen Identität und können sich hemmend auf die weitere Entwicklung auswirken. Alle Versuche, die unliebsamen Ereignisse, die Kinderängste, das Leid und den Schmerz der frühen Jahre zu verdrängen, sind auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Seltsame Verhaltensweisen und undurchschaubare Handlungsmuster im Erwachsenenalter gehen häufig auf traumatische Erfahrungen in der Kindheit zurück. Die beiden Sänger Freddy Quinn und Drafi Deutscher, aber auch der Filmbösewicht und großartige Schauspieler Klaus Kinski hatten alles andere als eine leichte Kindheit. Sie versuchten, diese belastenden Erfahrungen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vergessen, indem sie ihre Lebensgeschichten ein wenig veränderten und sich danach hinter einer fiktiven Biografie versteckten. Kinski schlug im späteren Leben um sich, genau so wie er als Kind behandelt worden war; seine Wut konnte grenzenlos sein und seine Aggressionsausbrüche waren gefürchtet.

Der deutsche Schriftsteller Jean Paul (1763–1825) macht uns in seinem Roman »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel«2 eindrücklich auf die Wichtigkeit aller Erinnerungen aufmerksam, ganz besonders auf jene aus der Kindheit und er entwirft dazu ein wunderschönes Bild:

»Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! – Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog?«

Die Lebenslügen

Den Fragen »Wer bin ich wirklich und wo sind meine Wurzeln« musste sich auch der bekannte Filmemacher Rosa von Praunheim stellen, nachdem ihm seine betagte Mutter vor ihrem Tod gestanden hatte, dass er nicht ihr leiblicher Sohn sei. Wie in einem Kriminalfilm entwickelt sich die schwierige Spurensuche nach der leiblichen Mutter und bringt letztlich ein tragisches Schicksal ans Tageslicht, wobei vieles im Dunkeln bleibt. Der Nationalsozialismus mit seinem menschenverachtenden, zerstörenden System übernimmt plötzlich die Hauptrolle in einer wahren Geschichte, die auch in die Nähe eines Kriegsverbrechers führt. Rosa von Praunheim hat sehr persönliche Fotos für dieses Buch zur Verfügung gestellt. In diesen Kontext gehört auch das Porträt eines österreichischen Kriegsverbrechers, der sich im entscheidenden Augenblick seine Lebensgeschichte immer wieder neu zurechtgelegt hat – bis zum unausweichlichen Tod.

Die Zeitgeschichte auf der einen und die individuelle Lebensgeschichte konkreter Menschen auf der anderen Seite werden in diesem Buch zu einem großen Puzzle zusammengetragen, doch oftmals sind viele Steine bereits verloren gegangen, verschwunden, sodass alles nie mehr ein ganzes Bild ergeben kann. Wir alle wollen wissen, wer wir sind und woher wir kommen, doch viele von uns haben große weiße Flecken auf ihren persönlichen biografischen Landkarten, weil eine Mauer des Schweigens aufgebaut wurde.

Dies gilt auch für ein dunkles Kapitel unserer jüngsten Geschichte, das zu einem großen Unrecht führte: Der Umgang mit Besatzungskindern. Viele von ihnen, vor allem Mischlingskinder, sogenannte Brown Babies, wurden nach Amerika verschickt, um bei Adoptiveltern ein neues Zuhause zu finden. Entwurzelt und mit dem Stigma ihrer Hautfarbe belastet, suchen sie auch heute noch nach ihrer wahren Identität und ihren Herkunftsfamilien in Deutschland oder Österreich. Trotz großer Ungerechtigkeit und unvorstellbarem Leid gibt es immer wieder auch positive Beispiele von Menschen, die sich ihrem Schicksal gestellt haben und die gerade wegen der Hautfarbe oder anderen Problemen auf ihre ganz persönliche Art und Weise Anerkennung und Wertschätzung im Leben fanden und auch Erfolg hatten.

Anders sein

Wenn Männer in Frauenkleidung mit hohen Schuhen und Langhaarperücken auf dem Kopf in Erscheinung treten, dann zeigen sie bewusst und gesellschaftskritisch auf, dass die Stereotypen Mann/Frau in dieser Absolutheit schon lange nicht mehr stimmen. Dragqueens und Dragkings stellen keine extravagante Besonderheit dar, man sieht sie auch abseits von Partys und Bällen. Zwischen beiden ist Conchita Wurst anzusiedeln, die 2014 den Eurovision Song Contest in Kopenhagen gewann und die mit jedem Auftritt ein Statement für mehr Toleranz, Verständnis, Offenheit und Akzeptanz, vor allem aber gegen Diskriminierung abgibt.

Dieses Buch richtet sich an alle, die bereit sind, einen Blick auf die unterschiedlichsten Lebensmuster und Lebenswelten anderer Menschen zu werfen, um Vorurteile gegenüber dem Anderssein und dem Fremden abzubauen. Dabei spielt auch die Biografie immer wieder eine große Rolle. Wohnt nicht in uns selbst oftmals der starke Wunsch, genau das Gegenteil von dem zu sein, was wir gerade sind oder tun?

Es gibt aber auch Menschen, die unfreiwillig in ein anderes Leben gedrängt wurden. Transgender-Menschen fühlen sich im falschen Körper geboren und können sich mit der ihnen zugewiesenen Geschlechterrolle nicht identifizieren. Das führt oft zu einem langen, schwierigen und sehr schmerzvollen Weg, ehe es gelingt, dass aus einem Mann eine Frau und umgekehrt aus einer Frau ein Mann wird. Auch diesem »anderen Leben« wird anhand von Lebensgeschichten im Buch nachgespürt und dadurch vielleicht wiederum Menschen Mut gemacht, zu sich selbst und ihrem Anderssein zu stehen.

In jedem Fall ist das Buch ein Plädoyer für Toleranz und Verständnis und soll zum Nachdenken anregen. Allen jenen, die die eigene Identität, ihr ganz persönliches »Ich« noch nicht gefunden haben, soll es Mut machen, zu sich selbst und ihrer Person zu stehen. Experimente müssen gewagt und Vorurteile überwunden werden, damit sich das Leben mit seinen millionenfachen Spielarten von seiner schönsten, vor allem aber buntesten Seite zeigen kann.

Biografiearbeit ist der Schlüssel

Was ist nun das Interessante an den facettenreichen Lebensgeschichten und biografischen Details, an der Maskerade, dem Wechsel von Identitäten, dem Verstecken hinter Pseudonymen, der Inszenierung und Verkleidung, der Identifikation, Interpretation und Kopie oder der Suche nach den eigenen Wurzeln?

Aus den einzelnen Erzählungen und persönlichen Interpretationen lässt sich immer auch Konkretes und Wesentliches für das eigene Leben ableiten, weil hinter mancher noch so seltsam anmutenden Charade doch ein tieferer Sinn steckt.