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Erinnerungen sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität, der jedoch einem permanenten Wandel unterworfen ist. So manches gewinnt mit der Zeit an Farbe und Kontur, während anderes verblasst oder ganz verschwindet. Dinge, die wir negativ abgespeichert haben, verlieren manchmal mit der Zeit ihren schlechten Beigeschmack, andere Erlebnisse hingegen werden in der Retrospektive verklärt. Teilweise können wir uns auch ganz genau an Erlebnisse, Fakten, Personen oder Geschichten erinnern, anderes aber haben wir komplett vergessen. Doris Tropper erklärt in ihrem Buch, wie Erinnerungen abgespeichert werden, was es wert ist, erinnert zu werden, und in welchem Zusammenhang Erinnern und Vergessen stehen. Sie erklärt außerdem, wie wir unsere ganz persönlichen Mindmaps entwerfen, um so bewusst zu steuern, was wir erinnern. Außerdem gibt sie eine konkrete Anleitung zur persönlichen Biografiearbeit, also wie wir unser Erinnerungsarchiv optimieren. Eine Vielzahl von Beispielen, Checklisten und Übungsaufgaben machen dieses Buch darüber hinaus zu einem wertvollen Ratgeber, wie man Erinnerungen sinnvoll bewahrt.
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Seitenzahl: 147
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Erinnern und Vergessen sind die vitalen Kraftquellen und elementaren Bestandteile unseres Lebens. Ohne Vergessen kann es kein Erinnern geben. Wenn die Erinnerungen zu unwichtig oder zu schmerzhaft sind, dann verkapseln sie sich tief in unserem Inneren und verschließen sich vor jeglichem Zugriff. Unser Gehirn ist der Speicherplatz für Erlebtes und Erlittenes. Manche Erinnerungen lassen sich rasch und ohne großes Zutun jederzeit abrufen. Andere scheinen im tiefen Netz verloren gegangen zu sein, wurden von zig neuen Eindrücken überschrieben und benötigen Stimulation und Anstoß, um hervorgeholt und neu belebt zu werden. Sehr viel sogar bleibt für immer vergessen. Dazu kommt, dass wir nicht nur unsere Identität aus dem gelebten Leben mit all seinen Erfahrungen und bestimmenden Ereignissen schöpfen, sondern die Erinnerungen jederzeit umschreiben, neu definieren, ja sogar umdeuten können; trotzdem bleiben sie unaustauschbar und auf einen einzigen, ganz bestimmten Menschen bezogen und können nicht x-beliebig übertragen werden. Jede noch so bruchstückhaft vorhandene Erinnerung ist Teil eines großen Ganzen. Durch sie sind wir mit anderen Menschen und deren Schicksalen verbunden.
Dieses Buch hilft durch viele praktische Übungen und Impulse, den großen Schatz an persönlichen Erinnerungen zu heben und Verlorengeglaubtes wieder zugänglich zu machen.
Wer sein Leben als Gesamtes und in den Zusammenhängen begreifen möchte, kann sein persönliches Lebenspanorama in all der Vielschichtigkeit und Farbenpracht, von sehr hellen bis zu dunklen Momenten, vor sich ausbreiten. Dabei geht es um die zentralen Fragen jedes Daseins: Wir möchten verstehen, wer wir sind, indem wir sehen, wer wir waren und warum wir so geworden sind. Durch die Rückbesinnung auf das, was gestern war, kann es gelingen, ein tragfähiges Fundament für die Gegenwart und auch für die Zukunft zu bauen, egal wie lange diese Zeitspanne noch sein wird.
Diese und noch viele andere Fragen werden in fünf Kapiteln beantwortet und bearbeitet:
Ein wichtiger Hinweis
Dieses Buch möchte Sie durch viele Impulse und Methoden zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit spannenden und interessanten Lebensthemen motivieren. Wenn Sie sich darauf einlassen und Ihre Gedanken ausführlicher zu Papier bringen wollen, dann benötigen Sie unbedingt zusätzlich einen Notizblock oder ein kleines Heft. Diese Anschaffung lohnt sich auf jeden Fall!
Joseph Roth, begnadeter Erzähler und Feuilletonist, der immer auf Durchreise war und sein ganzes Leben auf Bahnhöfen und in Hotels verbracht hat, resümierte in einem Brief im April 1938 aus Paris: »Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit.« Zur Einstimmung auf das Buch möchte ich Sie auf eine »Reise in Gedanken« mitnehmen, die bildhaft aufzeigen soll, wie vielfältig und zugleich unterschiedlich das Erinnern von Bekanntem und Vertrautem und das Vergessen von Unangenehmem und Schwierigem sein kann. Diese Fahrt durch verschiedene Landschaften kann als Metapher für die beiden vitalen Lebensressourcen gesehen werden:
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen alleine im Abteil eines Zuges und Sie freuen sich auf eine Reise in ein unbekanntes Land. Dabei spielt es keine Rolle, wohin die Bahn tatsächlich fährt. Sie lehnen sich bequem im weichen Polstersitz zurück und strecken Ihre Beine aus. Langsam rollt der Zug an; nach kurzer Zeit hat er Fahrt aufgenommen. Die am Fenster vorbeiziehenden Häuserzeilen und Straßen kommen Ihnen bekannt vor. Auch den Spielplatz kennen Sie, und für einen kurzen Augenblick sehen Sie das rote Ringelspiel, auf dem sich ein Kind mit ausgestreckten Armen rasch dreht. Sie können durch die geschlossenen Fenster nichts hören, aber Sie entwickeln eine Ahnung davon, wie laut und fröhlich das Kind da draußen lacht. Gerne hätten Sie das Bild länger vor Augen behalten, aber der Zug braust unbarmherzig und rasch dem scheinbar unbekannten Ziel entgegen.
Schon bald tauchen draußen grüne, saftige Wiesen auf, die sich sanft in die Landschaft schmiegen. Unterbrochen werden sie durch Sonnenblumenfelder, Getreide- und Maisäcker. Wie vergessenes Spielzeug, das eine unbekannte Hand einfach auf die Erde gestellt hat, machen sich die vereinzelt auftauchenden Bauernhöfe aus. Sie sehen Menschen bei der Arbeit und vermeinen das frisch gemähte Gras durch die Scheibe riechen zu können. Das alles erinnert Sie vielleicht an Ferienaufenthalte und Sommerfrischen auf dem Land. Die Sonne strahlt, der Himmel ist blau und die Welt farbenprächtig. Überall, wo Sie vorübergleiten, sehen Sie Schönes: Gepflegte Obsthaine, prachtvolle Nutzgärten, gereiftes Gemüse in liebevoll beackerten Gärten. Aus der Ferne grüßen Sie Kirchtürme, manchmal verirrt sich ein Reh oder eine Katze ganz nah an die Gleise. Alles, was Sie sehen, löst Freude, manchmal sogar Begeisterung in Ihnen aus. Es scheint, als wäre vieles vertraut und bekannt; die Gegend in ihrer Lieblichkeit strahlt Sanftheit aus und wirkt sich beruhigend auf Ihr Gemüt und Ihre Gedanken aus, ein unerklärliches, heimatliches Gefühl steigt in Ihnen auf. Es wird Ihnen warm ums Herz.
Die rollenden Räder erzeugen einen gleichmäßigen Rhythmus, der Sie schläfrig macht, und Ihnen fallen die Augen zu. Sie träumen von fremden Orten und Menschen, die in einer unbekannten Sprache zu Ihnen sprechen. Sie können sie nicht verstehen und verspüren ein Gefühl von Ablehnung, von Angst und Ungewissheit. Ein heftiges Rütteln hat Sie aus Ihrem Halbschlaf wieder in die Wirklichkeit geführt und Sie stellen mit Erleichterung fest, dass Sie das alles nur geträumt haben. Wohlbehütet, fast heimatlich geborgen finden Sie sich in »Ihrem« Abteil wieder.
Der Blick nach draußen ist jedoch nicht mehr ungetrübt, denn am Himmel ziehen Gewitterwolken auf. Die ganze Landschaft, vor allem der Fluss und die vielen kleinen Seen, ist in ein tiefes Dunkel getaucht. Schon von Weitem hören Sie Donnergrollen und Sie sehen zuckende Blitze. Sie wissen nicht, was Sie dort erwartet. Die Situation ängstigt Sie und Sie wünschen sich, möglichst rasch dieser geladenen Atmosphäre zu entkommen. Das Regenwasser schießt in Strömen vom Himmel und ergießt sich in hartnäckigen Sturzbächen über Ihre Fensterscheibe. Sie sehen nun gar nichts mehr und zu allem Überdruss ist das Glas auch noch angelaufen. Mit dem Finger zeichnen Sie ein lachendes Gesicht und ein Herz mit einem Pfeil durch die Mitte auf das beschlagene Glas.
Irgendwann sind Sie der Gewitterzone mit den dunklen Gefühlen entkommen und Sie genießen wieder erste, zaghafte Sonnenstrahlen, die das Grau durchbrechen. Erleichtert vergessen Sie die trüben Minuten; Sie bedauern noch einen kurzen Moment, dass sich durch diesen Vorfall ein großes Stück Landschaft Ihrem Blick entzogen hat. Nur winzige Tröpfchen auf der äußeren Fensterscheibe erinnern noch an Wolkenbruch, Hagel und tosenden Sturm. Der Zug fährt weiter durch Täler und über Berge, Sie überwinden Höhen, schauen in schwindelerregende Abgründe; dann wieder öffnen sich ruhige große Wälder und grüne Plateaus vor Ihrem Auge. Jeder Abschnitt trägt einen eigenen Geruch in sich und Sie versuchen sich an den Duft eines feuchten, ein wenig modernden Waldbodens zu erinnern, an Pilze und an das Rascheln des Laubs. Sie hören den Wind über die Ebenen sausen und beobachten die Schwalben, die sich bereits auf den Telegrafenleitungen in Reih und Glied entlang der Bahntrasse sammeln, um sich für ihre Reise bereit zu machen.
Nach langer Fahrt erreichen Sie spät am Abend Ihren Zielbahnhof und steigen aus. Dabei denken Sie bei sich, dass alle Bahnhöfe den gleichen Geruch und die gleiche Atmosphäre ausströmen. Jetzt sind Sie eine Fremde/ein Fremder unter Fremden, aber Sie besitzen etwas, das Sie einzigartig macht: Ihre ganz persönlichen Erinnerungen. Den ersten Teil der Reise haben Sie gut überstanden, seien Sie offen und neugierig auf das, was noch kommt.
Lassen Sie sich mitnehmen auf eine Reise von der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter bis in die Zukunft! Sie brauchen kein gültiges Ticket, bloß die Bereitschaft, Altbekanntes und Bewährtes mit neuen Augen zu sehen, und eine Portion Abenteuerlust, um Fremdes und noch Unbekanntes zu entdecken. Glückliche Reise und eine bewegende Zeit mit vielen interessanten Überraschungen!
In Regines Herzen ging die Vergangenheit auf wie ein Blumenstrauß, den man ins Wasser stellt.
Simone de Beauvoir
Dieses Bild von Simone de Beauvoir, in einem einzigen Satz formuliert, macht auf wunderbare Weise deutlich, was Erinnerungen bewirken können, wenn sie kultiviert werden: Sie beginnen zu duften und zu blühen, sie entwickeln eine bislang ungeahnte Farbenpracht, erfreuen die Augen und das Gemüt, nehmen uns in Beschlag und fordern Bewunderung und immer wieder aufs Neue ein Hinschauen und Berühren, aber auch ein Sich-berühren-Lassen. Mit der Zeit jedoch verblassen die Farben, fallen die prachtvollen Blüten ab, verwelkt der Strauß und ist schließlich dem Vergessen geweiht, wird weggeworfen und vielleicht durch einen neuen ersetzt, der aber anders in Farbe, Form und Duft ist. Manchmal wollen wir eine besonders schöne Erinnerung unbedingt aufbewahren und dann werden die roten Rosen vom Geburtstag oder die zarten Blüten des Hochzeitsstraußes verkehrt nach unten zum Trocknen aufgehängt in der Hoffnung, dass die Bilder des Festes oder Ehrentages auf diese Weise länger lebendig bleiben und nicht vollständig im Alltagstrott verloren gehen. Erinnerungen sind lebensnotwendig und sie sind ein elementarer Bestandteil unseres Lebens.
Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht, denn unser Gedächtnis, wo Erinnerungen gespeichert und Informationen abgerufen werden können und auch das Vergessen stattfindet, ist ein sehr komplexes, vielschichtiges, gleichzeitig auch faszinierendes System. Die oft verwendeten Formulierungen »Jemand besitzt ein gutes Gedächtnis« oder »Jemand hat sein Gedächtnis verloren« stimmen nur bedingt. In Ausnahmesituationen wie zum Beispiel Aufregung, Stress oder Trauer kann es sehr gut sein, dass wir eine wichtige Telefonnummer, von der wir erst behaupten konnten, sie sogar noch im Schlaf auswendig zu wissen, plötzlich nicht mehr richtig und ohne Ziffernsturz zu wählen vermögen. Oder wir stehen verzweifelt vor einem Geldautomaten und haben den PIN-Code zur Geldabhebung einfach vergessen.
Demnach sind alle Erinnerungen flüchtig und unzuverlässig. Das Gedächtnis wiederum ist der Zusammenhalt und Speicherort unserer Erfahrungen und Erlebnisse. Auf diese Infrastruktur können wir jederzeit und ohne großen Aufwand zurückgreifen, allerdings benötigen wir zur Reproduktion unserer Erinnerungen auch viele externe Speicher, die uns helfen, die gewünschten Bewusstseinsakte zu erzeugen, ihnen eine bestimmte Erinnerungsspur, eine Farbe oder einen Klang zu geben. Für den Austausch des Erinnerten benötigen wir wiederum ein Medium wie die Sprache oder das Bild, um uns anderen und der Welt mitteilen zu können.
Schon früh entwickelten Forscher und Denker Modelle und Vorstellungen, wie das Gedächtnis aussehen und funktionieren könnte. Der griechische Philosoph Platon vergleicht die Seele mit einer wächsernen Tafel, auf der sich bestimmte Vorstellungen, Erlebnisse und Ereignisse des Lebens gleichsam abdrücken. Was nicht zum Abdruck kommt oder gelöscht wurde, kann nicht mehr erinnert werden und bleibt vergessen. Dieses Bild hat sich auch in unserem Sprachgebrauch festgesetzt, wenn wir von besonders starken Eindrücken oder eindrucksvollen Ereignissen sprechen. Das Gedächtnis hingegen ist für Platon die Aufbewahrungsstätte der Wahrnehmungen: wie ein Vogelhaus, in dem Wissensfragmente herumflattern, die erst eingefangen werden müssen. Auf eine solide Basis hingegen greift der amerikanische Philosoph und Psychologe William James Ende des 19. Jahrhunderts zurück, wenn er davon ausgeht, dass das Gedächtnis wie ein Haus sei, das nach Erinnerungen durchsucht werden muss. Auch dieses Bild lässt sich gut umsetzen: Man stelle sich ein sehr altes Haus mit vielen kleinen Fenstern und Türen vor, mit einer gewundenen Wendeltreppe, gediegen eingerichteten Wohn- und Schlafzimmern, einer unaufgeräumten, aber großen und gemütlichen Küche, mit Erkerzimmern im Obergeschoß, einem Dachgeschoß voller unbekannter Überraschungen und einem tiefen, finsteren, dunklen Keller ...