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Pina Bausch hat mit ihrem Tanztheater Wuppertal den Bühnentanz revolutioniert. Einst als Provokateurin heftig kritisiert, wird die Schöpferin des Genres Tanztheater auch über ihren Tod hinaus weltweit gefeiert. Wo liegen die Gründe für diesen beispiellosen Erfolg? Was macht die Bausch-Stücke so einzigartig, obwohl sie viele Fragen aufwerfen? Wie es Pina Bausch gelang, ein spannendes und mitreißendes Tanztheater zu machen, entschlüsselt Rika Schulze-Reuber in ihrem fundierten Buch. Sie zeichnet die Entwicklung des Bühnentanzes bis zu den heutigen Akteuren nach und setzt den Schwerpunkt auf das einzigartige Werk von Pina Bausch. Anhand zahlreicher ausgewählter Stücke weist sie dem Leser Wege zur Annäherung an das schwierige und eigenwillige Schaffen einer ungewöhnlichen Frau, die über alle kulturellen Grenzen hinweg die Menschen in ihren Bann zieht.
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Seitenzahl: 485
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Rika Schulze-ReuberDas Tanztheater Pina Bausch:Spiegel der Gesellschaft
… wie das Moos auf dem Stein …, 2009, Clémentine Deluy
Rika Schulze-Reuber
mit Fotografien von Jochen Viehoff
3., überarbeitete Auflage 2015
R.G.Fischer Verlag
Diese Publikation wurde gefördert durch Dr. Jörg Mittelsten Scheid, die Stadtsparkasse Wuppertal, die Provinzial Rheinland Versicherung AG und die Barmenia Versicherungen.
Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
3., überarbeitete Auflage 2015© 2005 by R.G.Fischer VerlagOrber Str. 30, D-60386 Frankfurt/MainAlle Rechte vorbehaltenUmschlag: Gestaltung und Fotos von Jochen Viehoff, PaderbornTitelbild: »Für die Kinder …«, Aufführung 2014, Azusa SeyamaRückseite: Vollmond, 2006Schriftart: Bergamo 10°Herstellung: SatzAtelier Cavlar / LoPrinted in GermanyISBN 978-3-8301-1689-9 EPUB
Der plötzliche Tod von Pina Bausch im Juni 2009 war Anlass zur Aktualisierung und Ergänzung dieses Buches um die letzte Schaffensphase der Choreographin. Der überarbeitete Text erscheint in dieser neuen Auflage erstmals und zunächst ausschließlich als E-Book.
Vom klassischen Ballett kommend, hat Pina Bausch die Tanzwelt revolutioniert und das neue Genre Tanztheater maßgeblich künstlerisch mit geschaffen. Dieses Buch zeigt deshalb zunächst die allgemeine Entwicklung vom klassischen Bühnentanz bis hin zum Start des von Pina Bausch gegründeten Tanztheaters Wuppertal auf.
Pina Bausch hat das Tanztheater Wuppertal zu außergewöhnlichen Höhen geführt. Wer den Weg der weltweit anerkannten Choreographin von den Anfängen vor mehr als vier Jahrzehnten bis zu ihrem Tod aus nächster Nähe beobachtet hat, musste sich gleich vielen Besuchern des Tanztheaters schon immer fragen: Worin sind die eigentlichen Gründe für einen derartigen Aufstieg vom »Provinztheater« an die führenden Häuser der Welt zu suchen, wo doch so manches nicht verstanden wird, was auf der Bühne passiert? Die Endphase eines Studiums mit dem Schwerpunkt Sozialwissenschaften bot den willkommenen Anlass, der Fragestellung unter einem anderen Aspekt nachzugehen, als es bisher in der vorliegenden Literatur gebräuchlich war: Es galt zu untersuchen, inwieweit die Bausch-Inszenierungen sich an den gesellschaftlichen Strömungen orientieren. Äußere Rahmenbedingungen haben die Recherchen erleichtert: Seit dem Start von Pina Bausch in Wuppertal im Jahre 1973 habe ich nahezu alle Stücke sowie viele Wiederaufnahmen zum Teil mehrfach erlebt. Die Auswertung von insgesamt zwei Dutzend ausgewählten Stücken aus dreieinhalb Jahrzehnten ermöglichte eine erschöpfende Analyse der Wesenselemente im Schaffen von Pina Bausch. Die intensive Erarbeitung des Genres Tanztheater und des Wirkens der berühmten Choreographin wurde zu einer spannenden Herausforderung. Je tiefer ich in die Problemantik einstieg, desto stärker tat sich ein Faszinosum auf:
Pina Bausch hat die Abgründe menschlicher Existenz, die Beweggründe und Verstrickungen der Menschen in ihrer Alltagswelt hartnäckig und konsequent verfolgt, zu allen Kulturen hin und über alle Grenzen hinweg. Sie demonstriert, dass der moderne Tanz über eine äußerst eindringliche Sprache verfügt, die auch den Menschen von heute allzu Menschliches, Befremdendes und Fragwürdiges zu vermitteln vermag. Darin lag die unbestreitbare Stärke von Pina Bausch. Ihre (Tanz-)Sprache ist die des Herzens und wird daher in aller Welt verstanden, und ihre Themen bewegen die Menschen. Ihre Darstellungsform ist von beispielloser künstlerischer Originalität und Explosivität: Pina Bausch benutzt scheinbare Banalitäten und Nichtigkeiten sowie komplexe und verwirrende Situationen, um elementare menschliche Ängste aufzuspüren. Sie zeigt das Individuum in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, in seiner Verletzbarkeit und Verlassenheit, in seinen Misserfolgen und auf der ewigen Suche nach dem Glück und der unbeirrbaren Sehnsucht nach Liebe. Markante Merkmale der Bausch-Choreographien sind die in dieser Form bisher unübliche Radikalität und Direktheit der eingesetzten künstlerischen Mittel sowie ihre revolutionäre tänzerische und theatralische Präsentation.
Durch eine Reihe aufschlussreicher Gespräche mit Experten der Kultur- und Tanzszene wurden mir wertvolle Informationen, Denkanstöße und Anregungen vermittelt. Ausdrücklich danken möchte ich dem Tanztheater Wuppertal für die freundliche Unterstützung, informative Gespräche und die Bereitstellung einschlägigen Materials. Persönliche Begegnungen mit Pina Bausch waren bewegend und jene mit Ensemblemitgliedern und dem Bühnenbildner Peter Pabst vermittelten wertvolle Einblicke in deren spezielle Tanz- und Theaterwelt mit »ihrer« unermüdlich schaffenden »Pina«.
Die weltweite Wertschätzung und Anerkennung, deren sich Pina Bausch und ihr Tanztheater Wuppertal erfreuen, sind ungebrochen. Das gilt auch über den Tod der angesehenen Choreografin hinaus. Der großen Zahl von Einladungen zu Gastspielen in aller Welt kann das Tanztheater, das weiterhin ihren Namen trägt, kaum nachkommen. Die Aufführungen in der Stadt ihres Wirkens ziehen nach wie vor Freunde und Bewunderer aus ganz Deutschland in die Stadt an der Wupper. Dieser erfreuliche Trend dürfte sich in Zukunft fortsetzen: Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat Ende 2014 beschlossen, Finanzierungshilfen für ein global ausgerichtetes Tanzzentrum zu gewähren; seitens des Landes Nordrhein-Westfalen wie auch der Stadt Wuppertal gibt es entsprechende Absichtserklärungen für ein »Internationales Tanzzentrum Pina Bausch« in Wuppertal. Die von Salomon Bausch, dem Sohn der Choreografin, gegründete und von ihm geleitete »Pina Bausch Foundation« hat sich neben der Unterstützung dieses Projektes zum Ziel gesetzt, das reiche kulturelle Erbe der Künstlerin von Weltrang lebendig zu halten und in die Zukunft zu tragen. Einer der Schritte auf diesem Wege liegt in der erstmaligen »Freigabe« eines Bausch-Werkes für ein anderes Ensemble. Im Frühjahr 2016 soll das Stück »Für die Kinder von gestern, heute und morgen« vom Bayerischen Staatsballett aufgeführt werden. Die Einstudierung der Rollen, die Auswahl der Tänzer und Tänzerinnen sowie die Gesamtleitung bleiben in der Hand des Tanztheaters Wuppertal, sodass die ursprüngliche Aussagekraft des Stückes gewahrt bleibt.
Diese überraschend positive Entwicklung hat zur 3. Auflage der vorliegenden Publikation mit beigetragen. Die nach Herausgabe der 2. Auflage entstandenen Stücke tragen unverändert die Handschrift der Choreographin, wie ich sie seinerzeit eingehend beschrieben habe. Dies gilt sowohl für die beiden letzten Stücke »Sweet Mambo« von 2008 als auch »…como el musguito en la piedra, ay si, si, si …« (»…wie das Moos auf dem Stein…«) von 2009. Beide Produktionen werden in speziellen Kapiteln behandelt. Daneben wurden die Kapitel ab 4.3 überarbeitet und eine Reihe weiterer Aktualisierungen vorgenommen, auch bei den Fotos.
Insgesamt entstand ein intensiver Blick auf das gesamte Schaffen von Pina Bausch, deren Lebenswerk ein nachhaltiges Vermächtnis an die internationale Tanzwelt bedeutet. Mögen die angesprochenen Akteure in aller Welt diesem Ruf folgen; die Inhaberin des hoch dotierten Kyoto-Preises (2007), der neben dem Nobelpreis die höchste internationale Auszeichnung im Bereich von Wissenschaft und Kultur darstellt, hat das verdient. Pina Bausch hat bis zu ihrem letzten Atemzug mit äußerster Leidenschaft Tanzgeschichte geschrieben, von der dieses Buch versucht, ein umfassendes Bild zu zeichnen.
Wuppertal, im März 2015Rika Schulze-Reuber
»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«Victor Hugo
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es in der Welt des Bühnentanzes zu einer radikalen Erneuerung und zum Durchbruch einer völlig anders gearteten Tanzform. Ihre Begründer bezeichneten sie als »Tanztheater«. Eine der bedeutendsten Protagonistinnen dieses Genres ist Pina Bausch. Seit über drei Jahrzehnten schaut die internationale Tanzwelt auf die Wuppertaler Choreographin, deren Werke bis heute Aufsehen erregen. Was ist das Außergewöhnliche am Schaffen von Pina Bausch, und worin liegt die Ursache für ihren ungewöhnlichen Erfolg?
Pina Bausch ist das Wagnis eingegangen, mit einer neuen Interpretation des Tanzes und einem ästhetischen, künstlerischen und kulturellen Perspektivenwechsel den ›Tanzmarkt‹ zu revolutionieren. Nicht den Tanz charakterisierende Bewegungen stehen im Mittelpunkt ihres Tanztheaters, sondern der Mensch und seine Stellung innerhalb der Gesellschaft. Sie will nicht zeigen, wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt. Dieses Anliegen verfolgt Pina Bausch konsequent. Sie erzeugt in bewegten Bildern, Formen und Farben jene Stimmungen, die von elementaren Ängsten und Bedrohungen, Sehnsüchten und Hoffnungen, Liebe und Leidenschaft, Zärtlichkeit und Gewalt des Individuums sprechen. Sie zeigt, wie Irrtümer und tragikomische Verwicklungen die zwischenmenschlichen Beziehungen behindern, ohne aber die Hoffnung auf Erfüllung zunichte zu machen. Pina Bausch nimmt sich in ihren Werken der gesellschaftlichen Wirklichkeit an und präsentiert sie aus einem kritischen Blickwinkel der anfangs fassungslosen Öffentlichkeit. In bedingungsloser Offenheit zeigt sie Zustände, in denen Lieblosigkeit, Isolation, Verzweiflung, Geschlechterkampf, Kommunikations- und Beziehungslosigkeit vorherrschen. Von jeher suchte die Choreographin die Nähe zum Menschen, was erklärt, dass menschliche Schicksale zum ›Dreh- und Angelpunkt‹ ihrer Stücke wurden. Da Pina Bausch in allen ihren Stücken die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschseins darstellt und ihre Inszenierungen von hoher Aktualität sind, liegt es nahe, ihr Tanztheater eingehend auf seine gesellschaftliche Relevanz zu untersuchen. Aus der Fülle vorhandener Literatur über Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal wird ersichtlich, dass Autoren und Autorinnen in erster Linie die tänzerische und theatralische Leistung der Choreographin und ihres Ensembles in den Fokus ihrer Betrachtungen stellen. Ziel dieser Arbeit ist es hingegen, das künstlerische Schaffen von Pina Bausch im Hinblick auf ihre Beobachtung der Gesellschaft einem soziologischen Aspekt zu unterwerfen. In dem Bestreben, möglichst authentisch zu sein, sollen viele persönliche Aussagen von Pina Bausch in die Arbeit einfließen.
Pina Bausch hat für ihre Zielsetzung den Bühnentanz revolutioniert und in der neuen Form des Tanztheaters zu einem unbestrittenen Höhepunkt geführt. Um das Schaffen der anerkannten Choreographin beurteilen zu können, ist es unverzichtbar, sich zunächst mit dieser Tanzform zu befassen. Da das Genre Tanztheater eine Reihe von Elementen früherer Tanzformen in sich aufgenommen hat, ist es erforderlich, die Geschichte des Bühnentanzes nachzuzeichnen (vgl. Kapitel 2).
Um dem Leser ein besseres Verständnis für die persönliche Leistung der Künstlerin zu vermitteln, sind ihr Werdegang und ihre spezielle Arbeitsweise von maßgeblicher Bedeutung und thematischer Schwerpunkt in Kapitel 3. Zur weiteren Objektivierung werden die künstlerischen Ausdrucksmittel analysiert, die den Gesamteindruck der einzelnen Stücke prägen und deren Kenntnis dem tieferen Verständnis dient.
Schließlich soll in Form eines Streifzugs durch ausgewählte Stücke detailliert herausgearbeitet werden, welche aktuellen Probleme der Gesellschaft im Mittelpunkt der jeweiligen Produktionen stehen. Eine unter diesem Aspekt angestellte Analyse von Stücken, die mehr als drei Jahrzehnte des Tanztheaters widerspiegeln, wird in Kapitel 4 unternommen.
Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist nicht unproblematisch, da ein Schwerpunkt der Untersuchung in der Deutung von Bühnenstücken liegt. Die Interpretation der Stücke im Hinblick auf die Darstellung aktueller gesellschaftlicher Verhaltensweisen stützt sich zum einen auf eigene Kenntnisse der Stücke, zum anderen auf Aussagen einer größeren Zahl von Vertretern des Publikums und Beteiligten an den Produktionen bis hin zu Funktionsträgern im Wuppertaler Rathaus, die über Jahrzehnte hinweg für das Kulturleben und dessen Finanzierung verantwortlich waren. Persönliche Begegnungen mit weiteren kompetenten ›Beobachtern der Szene‹ – wie der Wuppertaler Autorin Christiane Gibiec1, der Malerin Ingeborg Hagedorn2 und dem ehemaligen Ensemblemitglied Urs Kaufmann – vermitteln aus deren jeweils ganz speziellen Kontakten und individuellen Beziehungen zu Pina Bausch wertvolle und aufschlussreiche Hinweise. Ein ausführliches Gespräch mit Dominique Mercy, herausragender Akteur der Bausch-Kompanie seit 1973, bot in der Endphase des Buches im Dezember 2004 eine willkommene Abrundung der angestellten Recherchen sowie einen eindrucksvollen Blick hinter die Kulissen des Tanztheaters Pina Bausch. Durch diese Dialoge konnte die sonst unvermeidliche Subjektivität aufgebrochen werden. Quintessenz aller Gespräche ist in Übereinstimmung mit dem durchgängigen Tenor namhafter Kritiker die Feststellung, dass das Gesamtwerk der Pina Bausch als Spiegel der Gesellschaft angesehen werden kann.
Im Rahmen dieser Arbeit soll auch die Wechselwirkung zwischen Ensemble und Publikum besondere Berücksichtigung finden, denn Pina Bauschs Werk enthält signifikante Beispiele dieser Form von Interaktion.
Die beschriebene Vorgehensweise ist mit der prinzipiellen Schwierigkeit verbunden, den Tanz als ›flüchtige Kunstform‹ zu beschreiben, das Gesehene und Wahrgenommene, die Bewegungen und körperlichen Artikulationen in Worte zu fassen. Die Flüchtigkeit des Tanzes ist die »Sprache des Körpers und des Augenblicks« (vgl. Klein, 14), für die es kaum Begrifflichkeiten gibt. Da der Tanz nur während der Dauer seines Geschehens lebendig ist, werden dem Betrachter hohe Aufmerksamkeit und Reflexion der Bühnengeschehnisse abverlangt, die er nur bedingt leisten kann. Das dem Tanz eigene Verhältnis zum Flüchtigen, zum Verschwinden von Anschauung und Bedeutung bedingt sein unmittelbares Verhältnis zum Jetzt. Im Bewusstsein dieser Problematik soll versucht werden, sich dem Medium Tanz weniger deskriptiv als interpretatorisch zu nähern und explizit das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch unter dem Gesichtspunkt einer sich im Fluss befindlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen.
1 Die Journalistin, Autorin und Filmemacherin Christiane Gibiec hat das Bausch-Ensemble auf Reisen ins Ausland zur Vorbereitung von Produktionen begleitet, Interviews mit Pina Bausch geführt und einen Fernsehfilm über die Arbeit des Wuppertaler Tanztheaters gedreht.
2 Die Wuppertaler Künstlerin Ingeborg Hagedorn hat sich künstlerisch und thematisch mit der Arbeit von Pina Bausch beschäftigt und zu diesem Zweck über Jahre hinweg an Proben der Bausch-Kompanie teilgenommen.
»Der Drang nach Bewegung ist das Rohmaterial, aus dem Kulturen jene ausdrucksstarken Abfolgen einer körperlichen Aktivität geformt haben, die wir Tanz nennen.«Gerald Jonas (Fleischle-Braun, 20)
Der Tanz ist eine jahrtausendealte Ausdrucksform der Menschen unterschiedlichster Kulturen.3 Er kann als eine der verbreitetsten Kulthandlungen bezeichnet werden, dem magische Wirkungen zugesprochen wurden. Der Tanz war ein Versuch der frühen Menschen, mit einer dem Menschen von jeher innewohnenden Urangst umzugehen; Angst vor den nicht fassbaren »Erscheinungen zwischen Himmel und Erde« wie Tod, Krankheit und unergründliche Naturgewalten, die man Geistern und Dämonen zuordnete, welche man durch magisch-tänzerische Beschwörungen versuchte, günstig zu beeinflussen (vgl. Bab, 18 ff.). Man tanzte ebenso aus Freude und Dankbarkeit und gab wesentlichen Ereignissen im Leben der Menschen durch den Tanz eine religiöse Weihe. Wesemann4 verweist auf den Ursprung des Tanzes, der über die Jahrhunderte nach seiner christlichen Verdammung aufgrund seiner Verführkraft und mit seiner Verdammung durch die Aufklärung – aus gleichem Grunde – als eine Kunst allenfalls kultisch-religiöser Bedeutung anerkannt worden sei, als die der Tanz heute etwa von John Neumeier […] rehabilitiert werden solle (Wesemann, 14).
Bei den Tänzen der Naturvölker kristallisierte sich ein geschlechtsspezifischer Aspekt heraus, denn es waren in der Regel Männer, die in diesen Kulturen bei gesellschaftlichen Anlässen tanzten. Den Frauen war es allenfalls vorbehalten, die Tänze musikalisch zu begleiten. Klein folgert daraus, man könne mit Gewissheit sagen, »daß der Tanz in primitiven Gesellschaften stets eine Domäne des Mannes gewesen ist, vor allem der Häuptlinge und der Priester. Ihnen obliegt die Führung des Stammes im Krieg, die Vorbereitung der Jagd, das Bannen böser Geister. Wir stellen zudem fest, daß den Männern die wichtigeren Tänze vorbehalten bleiben, was sich nur zum Teil aus der großen physischen Beanspruchung erklärt, die Kraft und Ausdauer bis zum Äußersten verlangt«. (Klein, 20) Klein verweist aber auch darauf, dass sich im Gegensatz zu diesen patriarchalen Gesellschaften in den matriarchalen Kulturen die ökonomische, soziale und religiöse Höherbewertung der Frauen in der größeren gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Tänze manifestiert habe (Klein, 20 f.).
Verfolgt man die Entwicklung des Tanzes im Laufe seiner Geschichte, wird deutlich, dass sich eine Trennung des Tanzes in den der Herrschenden und den des Volkes vollzog. So war die tänzerische Darstellung bei den Herrschenden naturgemäß von grundlegend andersartigen Tänzen geprägt als die der Unterdrückten. Während Kaiser, Könige und Fürsten zu ihrem persönlichen Vergnügen Sklaven und Sklavinnen tanzen und musizieren ließen, fanden die unterdrückten Klassen ihre eigenen tänzerischen Formen, die sich später zu Volkstänzen entwickelten. Von diesen urwüchsigen Tänzen unterschieden sich die großen Tanzfeste, Maskeraden und höfischen Gesellschaftstänze ganz entschieden.
Mit dem Durchbruch der bürgerlichen Kultur spaltete sich die Bühnentanzkunst von dem ›Tanz der Gesellschaft‹ ab: Von diesem Zeitpunkt an sollten der Kunsttanz, der Gesellschaftstanz und der Volkstanz ein relatives Eigenleben führen. Die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft hatte zur Folge, dass der Körper immer mehr in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses rückte, vor allem auch der frauliche Körper mit seinen Anreizen und Verlockungen. Das führte naturgemäß zu einer gesellschaftlichen Aufwertung des Frauenkörpers. »Der Körper hört auf, eine Einheit zu sein, und wird zu einem Kompositum. Dadurch ist die frühere Harmonie, die das menschliche Schönheitsideal der Renaissance charakterisierte, völlig aufgehoben. Man sieht […] nicht sie, die Frau, als ein Ganzes, sondern man sieht an ihr in erster Linie die einzelnen Reize und Vorzüge: den kleinen Fuß, die schmale Hand, die delikaten Brüste, die schlanken Glieder […].« (Klein, 89 f.)
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