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Im Jahr 1536 wurden die führenden Täufer Münsters öffentlich hingerichtet und danach in Eisenkörben am Turm der Lambertikirche aufgehängt. Die drei "Käfige" wurden im Laufe der Zeit so sehr Teil des gewohnten Stadtbildes, dass sie Jahrhunderte später nicht nur die Errichtung eines neuen Kirchturmes überdauerten, sondern bis heute ungebrochen zu den bekanntesten "Sehenswürdigkeiten" der Stadt gehören. Die weit weniger bekannte, aber hochdramatische Geschichte des Täuferreichs in der Stadt Münster, die in den Hinrichtungen ihren letzten Akt erlebte, bietet nun dieses Buch in knapper und allgemeinverständlicher Form. Kenntnisreich schildert Hubertus Lutterbach die Hintergründe und das besondere Profil des Täufertums in der Reformationszeit. Er macht den Leser mit einer christlichen Bewegung vertraut, die - von endzeitlichen Erwartungen erfasst - um den rechten Weg zum Heil rang. Diese Dynamik veränderte nicht nur radikal gewohnte Lebensweisen, etwa durch die Einführung der Mehrehe, sie erfasste bald auch die Ebene von Herrschaft und Politik und kam schließlich nicht mehr ohne Gewalt aus, gleich ob auf Seiten der Täufer oder ihrer Belagerer.
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Seitenzahl: 251
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Hubertus Lutterbach
DAS TÄUFERREICH VON MÜNSTER
Ursprünge und Merkmale eines religiösen Aufbruchs
Jahrgang 1961, Studium der Katholischen Theologie, Geschichte und Kunstgeschichte in Münster und Bonn, 1987 Dipl. theol., 1991 Dr. theol., 1994 mehrmonatiges Rom-Forschungsstipendium der Görres-Gesellschaft, 1995–1996 Research Assistant an der Historical School des Institute for Advanced Study (Princeton, USA), 1997 Habil. theol., 1997–1998 Research Fellow an der Yale Divinity School (New Haven, USA), seit 2000 Professor für Christentums- und Kulturgeschichte (Historische Theologie) an der Universität Essen, 2001 Fritz-Winter-Preis auf Vorschlag der NRW-Akademie der Wissenschaften, 2007 Dr. phil. (Mittelalterliche Geschichte, TU Dresden).
Vollständige Ebook-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Originalausgabe
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2008/2014 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-402-19723-3
ISBN der Druckausgabe: 978-3-402-12743-8
Sie finden uns im Internet unter www.aschendorff-buchverlag.de
Das Königswappen des Jan van Leiden
Ein Reichsapfel, der von einem Kreuz gekrönt ist, wird von zwei Schwertern durchstochen, dem Schwert des Geistes und dem Schwert der Rache. Die lateinische Überschrift lautet übersetzt: „Wappen des Königs der münsterischen Wiedertäufer und Herrn Westfalens.“ Die Unterschrift lautet: „Johann von Leiden, Holländer, von Gott erwählt, im ersten Jahr seines Königtums, im Alter von 26 Jahren.“
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
Erster TeilAUF DEM WEG ZU DEN TÄUFERN VON MÜNSTER
I. Kapitel ZUGÄNGE UND PANORAMEN
1. Die Täufer von Münster – Vorkämpfer für ein Entscheidungschristentum
2. Die Täufer von Münster – Ihr Weg durch die Forschungsgeschichte
3. Die Täufer von Münster – Epigonen eines aufblühenden Spätmittelalters
4. Ausblick: Katholisch, lutherisch, täuferisch – Frömmigkeitskonzepte im Vergleich
II. Kapitel DAS KATHOLISCHE MÜNSTER UM 1500
1. Die ‚Sakro-Topographie‘ der Stadt
2. Kirchliche Schlüsselpersonen
3. Geistliche Kommunitäten
4. Bruderschaften
5. Elemente der verfassten Bürgerschaft
6. Ausblick: Die Bedrohung der mittelalterlichen Christlichkeit
III. Kapitel EVANGELISCHES LEBEN IN MÜNSTER
1. Bernhard Rothmann – Initiator der Reformation in Münster
2. Die Theologie Luthers als Zündstoff innerstädtischer Zwietracht
3. Auflistung altgläubiger Missbräuche gegenüber dem Rat
4. Militärische Initiativen auf dem Weg in die evangelische Stadt
5. Theologische Initiativen auf dem Weg in die evangelische Stadt
Der Streit um die Kindertaufe
7. Ausblick: Vom Luthertum zum Täufertum
IV. Kapitel DAS TÄUFERISCHE MÜNSTER
1. Die Bedeutung Melchior Hoffmans für das täuferische Münster
2. Christi unmittelbar bevorstehende Wiederkunft in Münster?
3. Das neue Jerusalem in Münster? – Zwischen Militarisierung, politischer Diplomatie und Bildersturm
4. Münster 1534 – Täuferstadt ohne konkurrierende Bekenntnisse
a. Abschaffung des Privateigentums
b. ›Nulltoleranz‹ gegenüber Andersgläubigen
c. Jan van Leiden. Vom Propheten zum König
d. Täuferisches Königtum mit universaler Reichweite
5. Die bischöfliche Stadteroberung
6. Ausblick: Die Rekatholisierung Münsters
Zweiter Teil DAS LEBEN DER TÄUFER IN MÜNSTER – EINE ABKEHR VON KATHOLIKEN UND LUTHERANERN
V. Kapitel DAS TÄUFERISCHE ENTSCHEIDUNGSCHRISTENTUM UND SEINE FOLGEN
1. Die Taufe – Heiliger und heiligender Ritus
a. Das theologische Ringen um die exklusive Heiligkeit der Bekenntnistaufe
b. Der Ritus der Bekenntnistaufe in Münster
2. Das Verstehen der heiligen Schrift
a. Schriftauslegung unter den münsterischen Täufern
b. Täuferische Hochschätzung von Psalter und Prophetenliteratur
3. Die autorisierten ›Ausleger‹ der Heiligen Schrift
a. Katholiken und Lutheraner
b. Münsters Täufertum als Abkehr von einem › doppelten Klerikalismus‹
4. Die Gemeinde der Täufer – Eine Schar heiliger Asketen?
a. Der heilige und der teuflische Weg. Die Zwei-Wege-Lehre
b. Heilige Gütergemeinschaft und soziale Verdrängung der Toten
c. Heilige Gemeinschaft im Abendmahl
d. Heilige Polygamie statt profane Monogamie?
5. Das Heilige in den Elementen oder in der Erinnerung?
6. Bildersturm der Entheiligung
7. Von Jerusalem nach Jerusalem
8. Von der Täuferherrschaft zum Täuferreich – Eine theatralisch bewirkte Veränderung?
9. Ausblick: Vom Fortschritt der Gilde-Verfassung zum Rückschritt des Königtums?
VI. Kapitel DAS TÄUFERREICH – RÜCKSCHRITT ODER WEGBEREITER DER MODERNE?
1. Der Weg in das Täuferreich – Ein Rückschritt im Namen des Heiligen?
2. Ausblick: Ende des Täufertums – Beginn der Rekatholisierung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
VORWORT
Wirkliche Geschichtsschreibung ist immer erzählend, alles andere ist nur Material- und Schlepperdienst. Wenn es um Verbreitung von Erkenntnissen, um Einsicht und Bewusstmachungsprozesse geht, dann kommt es entscheidend darauf an, alle hinreichend erforschten Elemente in ein Gesamtbild zu integrieren, das die handelnden Figuren so gut wie die Zahlen zum Leben erweckt und aus toten Diagrammen Funken der Einsicht schlägt.“
Wenn das durch den kürzlich verstorbenen Historiker und FAZ-Herausgeber Joachim Fest ehedem formulierte Plädoyer zugunsten wissenschaftlicher Lebendigkeit im vorliegenden Taschenbuch über das Täufertum von Münster wenigstens ansatzweise eingelöst würde, dann verdankt sich dieses Ergebnis nicht zuletzt denjenigen, die über den Autor hinaus Anregungen zu diesem Werk beigesteuert haben. Namentlich hervorgehoben seien über den Stadthistoriker Dr. Ralf Klötzer hinaus die Kollegen Prof. Dr. Gert Melville und Prof. Dr. Gerd Schwerhoff sowie die weiteren Kollegen an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden, die im Sommer 2007 eine Langfassung dieses ‚Täuferbuches‘ als Dissertation im Fach Mittelalterliche Geschichte angenommen haben.
Würdigende Hervorhebung verdient schließlich die reibungslose Zusammenarbeit mit Herrn Sebastian Eck sowie das unterstützende Aschendorff-Lektorat durch Herrn Bernward Kröger.
Münster, im Januar 2008
Hubertus Lutterbach
Jan van Leiden (1509–1536)
Der führende Täufer Münsters wurde von Heinrich Aldegrever während seiner Gefangenschaft 1536 porträtiert, angetan mit allen Insignien seiner Herrschaft über das Täuferreich in der Stadt.
ErsterTeil
AUF DEM WEG ZU DEN TÄUFERN VON MÜNSTER
I. Kapitel
ZUGÄNGE UND PANORAMEN
Wenn der radikal-christliche Umsturzversuch der Täufer von Münster gegenüber dem Bischof im Jahr 1534/1535 zum Erfolg geführt hätte, gäbe es die Stadt Münster heute wohl nicht als säkulare Universitätsstadt mit einem römisch-katholischen Bischofssitz, sondern als einen von Gott durch seine endgültige Wiederkunft geheiligten Ort. Wenn der Versuch der christlich-radikal gesonnenen Täufer, in Münster ein kompromissloses Entscheidungschristentum einzuführen, nicht in einem gewaltsamen Komplott untergegangen wäre, befänden sich heute die „drei Körbe von Eisen“ (Heinrich Heine), in denen die besiegten Anführer der städtischen Erhebung den Vögeln zum Fraße hingehängt wurden, gewiss nicht als Erinnerungszeichen am Turm der Lambertikirche; stattdessen hätte man womöglich eine überdimensionale Mitra und einen Bischofsstab als Insignien eines ehedem von der Heiligen Schrift abgeirrten und überlebten römischen Christentums ausgestellt.
1. Die Täufer von Münster – Vorkämpfer für ein Entscheidungschristentum
Gewiss waren es ursprünglich nicht die Täufer, sondern die Lutheraner, die das seit dem 9. Jahrhundert in Münster etablierte römisch geprägte Christentum ablösen sollten. Erst als deren christliche Initiative nach nur wenigen Monaten im Herbst 1533 ihren Durchbruch verfehlt hatte, begann man unter den ehedem reformatorischen Anführern der Täufer von Münster darauf zu vertrauen, dass Gott die heutige Westfalenmetropole als Ort des neuen Jerusalem erwählt hätte; von hier aus sollte die Erneuerung der Welt – die „Restitution“ – ihren Anfang nehmen und Christi Weltherrschaft beginnen.
Ein Entscheidungschristentum gemäß urgemeindlichen Maßstäben sollte eingeführt werden; als verbindliches Kriterium der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde wurde die Erwachsenentaufe festgesetzt. Christi Wiederkunft – so glaubte man schließlich – könne nur jenen Christen zum Segen gereichen, die die Entscheidungstaufe empfangen hätten; zum Fluch hingegen würde sie sich für jene auswirken, die sich – wie die Katholiken oder Lutheraner – mit der Kindertaufe begnügten.
Innerhalb der damaligen Stadtgrenze, die bis heute als so genannte „Promenade“ den Innenstadtbereich umschließt, sollten der Himmel und die Erde aufgrund der hier für sicher geglaubten Wiederkunft Christi zusammenstoßen. So waren die Täufer beseelt von der Hoffnung, dass Gott die Stadt Münster und das umgebende Münsterland als Ausgangspunkt eines Heiligen Landes ausersehen hätte – endgültiger als das Heilige Land im heutigen Nahen Osten als Ort von Christi erstem Kommen!
Tatsächlich war dem täuferischen Leben in Münster nicht einmal eine zweijährige Dauer beschieden, bevor das Täuferreich militärisch niedergeschlagen wurde und sich das religiöse Leben in der Stadt wieder den Leitlinien des römisch-katholischen Bischofs unterzuordnen hatte.
2. Die Täufer von Münster – Ihr Weg durch die Forschungsgeschichte
Während das Täuferreich selbst an dem um 800 n. Chr. als Bischofssitz erhobenen Ort an der Aa nur von kurzer Dauer blieb, zeigt sich die Bewertung des Täuferreiches über die Jahrhunderte hinweg ambivalent1. Entweder rückte man die Täufer von Münster als mahnend-abschreckendes Beispiel in den Mittelpunkt oder vergegenwärtigte sie als Ausdruck vorwärtsweisender gesellschaftlicher Bewegung2: Allzu oft wurden „die münsterischen Täufer mit dem jeweiligen politischen Gegner identifiziert, also im 16./17. Jahrhundert mit Ketzern und Aufrührern, nach 1848 mit demokratischen, 1871 bis 1918 mit kommunistischen, 1933 mit bolschewistischen und 1938 mit faschistischen Bewegungen“3. Überblickt man die Geschichte dieser Bewertungen, so dominierte bis in die 1970er Jahre hinein – vorangetrieben vor allem durch die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung – die Identifikation der Täufer von Münster mit revolutionären Habenichtsen, die sich schon früh als Vorreiter der kommunistischen Bewegung profiliert hätten4; ein leerer Magen, so die knappe Gleichung, führe eben unausweichlich zu politischen und religiösen Aufständen.
Eine Öffnung der beschriebenen Verengungen im Verständnis des Täuferreiches von Münster bewirkten maßgeblich die Entdeckungen des Sozialhistorikers Karl-Heinz Kirchhoff. Anhand von Rechnungsbelegen der 1520er und 1530er Jahre – auf diese Ergebnisse wird noch zurückzukommen sein – konnte er nachweisen, dass die Träger der täuferischen Bewegung eben nicht vornehmlich materiell arme Menschen waren, sondern Angehörige aller münsterischen Bevölkerungsgruppen. Anders als bis dahin angenommen, habe der Anteil von Armen und Wohlhabenden an der Täufergemeinde deren jeweiligem Anteil an der Gesamtbevölkerung beinahe entsprochen5. Also: Nicht die materiell Bedürftigen bewirkten den religiösen Umsturz, sondern hauptsächlich die Begüterten.
3. Die Täufer von Münster – Epigonen eines aufblühenden Spätmittelalters
Um die durch Karl-Heinz Kirchhoff eröffneten Einsichten in das Täuferreich von Münster weiter zu vertiefen6, lohnt es sich, auf die in der Geschichtswissenschaft aktuell erarbeitete Neubewertung des Spätmittelalters zurückzugreifen.
Bis vor drei Jahrzehnten noch galt das zwischen dem 14. und dem beginnenden 16. Jahrhundert ausgestreckte Spätmittelalter als ‚Zeitalter der welkenden Blätter‘, welches auf die hohe Zeit der Gotik gefolgt wäre7. An diesem „Herbst des Mittelalters“ sah man die Religiosität bis hin zur Reformation maßgeblich teilhaben. In Abkehr von diesem forschungsgeschichtlich lange unbestrittenen Paradigma eines gesamtgesellschaftlichen Niedergangs im Spätmittelalter lernte die Mediävistik der letzten dreißig Jahre, das Spätmittelalter auf neue Weise zu sehen8.
Nicht länger gilt das Spätmittelalter als Periode der „Zersetzung“, sondern als Epoche einer vorwärtsgewandten, ja sogar reformfreudigen Ausrichtung für Kirche und Gesellschaft9. So sieht die aktuelle mediävistische und kirchengeschichtliche Forschung zu Beginn des 16. Jahrhunderts vielfältige „Erneuerungskräfte“ am Werk10 und die zeitgenössischen Orden sogar auf Reformkurs11. Vielstimmig lehnen Mediävisten und Frühneuzeit-Historiker die Abwertung des Spätmittelalters ab12. Hartmut Boockmann, ausgewiesener Kenner des Spätmittelalters, bewertet die Reformation nicht länger als Denkzettel für kirchliche und gesellschaftliche Missstände, sondern als einen Vorgang, „den man (…) nicht als notwendig oder unvermeidlich darstellen sollte“13. Mit dem Sozialhistoriker Heinz Schilling lässt sich insgesamt von einer „außerordentlichen Aufwertung des Spätmittelalters“ sprechen14: „Spätmittelalterlicher Frömmigkeitsaufbruch, Reformation und Konfessionalisierung erhalten in dieser Perspektive wieder das Maß an Zusammengehörigkeit, das durch die – bereits zeitgenössische – Stilisierung der deutschen Reformation verloren ging.“15. Und der Reformationshistoriker Berndt Hamm sieht im Spätmittelalter anstelle ‚frommen Sinkflugs‘ ein sogar zuvor unbekanntes Ineinander von akademischer Theologie und religiöser Praxis am Werk: „Es gibt wohl keine Epoche der Kirchengeschichte, in der das Gesamtbild der Theologie, und zwar gerade der ‚gelehrten‘ Theologie, so eindeutig durch einen (…) Frömmigkeitscharakter bestimmt wird, in der die Dogmatik so stark von der Ethik durchdrungen ist wie die Zeit vom ausgehenden 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.“16
Zur entwicklungsgeschichtlichen Verortung der auf Aufbruch bedachten Geisteshaltung im abendländischen Spätmittelalter gehört schließlich die Beobachtung, dass die europäischen Gesellschaften ab 1400 zunehmend das gesamtgesellschaftlich wirksame, auch die Frömmigkeit mitverändernde und für die Moderne grundlegende Niveau an Verinnerlichung wiedererlangten, das beinahe 1000 Jahre zuvor mit dem Ausdünnen der römischen Zivilisation in den Hintergrund geraten war17. Ja, im Anschluss an den Niedergang des römischen Imperiums im Westen seit dem 5. und 6. Jahrhundert, mit dem im Okzident auch eine Verlagerung von einem für Hochkulturen und Hochreligionen charakteristischen individuellen Identitätsbewusstsein („Ich-Denken“) hin zum Paradigma einer kollektiven Identität („Clan-Denken“) verbunden war, erfolgte der neuerliche Durchbruch hin zur individuellen Identität während der „1000 Jahre Mittelalter“ in drei Renaissancen; jeder dieser Entwicklungsschübe, von denen der erste im 8./9. Jahrhundert, der zweite im 12. Jahrhundert und der dritte im 15./16. Jahrhundert anzusiedeln ist, war mit einer je tiefergehenden Orientierung an der antiken Buchkultur verbunden18. Die Konsequenzen für die Hoch- und Buchreligion Christentum sollten sich als weitreichend herausstellen und sind auch an den reformatorisch-täuferischen Vorgängen in Münster ablesbar.
Mit Blick auf das Täuferreich von Münster hat Karl-Heinz Kirchhof bereits 1989 eine die damalige Forschung weiter überbietende, ja eine sogar möglichst umfassende Berücksichtigung der theologisch-täuferischen Grundvorstellungen angeregt. Weder sollten die Interessen politischer Selbstlegitimation noch überholte Bewertungen von Spätmittelalter und Reformation die Feder führen, wenn es darum ginge, das theologisch Besondere der Täufer von Münster näherhin zu charakterisieren19. Obgleich dieses Votum eine tiefergehende Analyse des Täuferreiches von Münster unter Einschluss des Faktors ‚Religion‘ auf den Weg hätte bringen können, ist entsprechendes bislang keineswegs erschöpfend geschehen. So ist die Frömmigkeit der Menschen von Münster während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch kaum unter religionsgeschichtlichen Perspektiven ausgeleuchtet und in einem dazugehörigen Koordinatennetz verortet worden, obwohl derlei tatsächlich weiterführende Einblicke in das damalige Geschehen verspricht. Entsprechend harren vor allem die mittelalterlichen Bezüge von Weltanschauung und Theologie der Täufer in Münster der umfassenden Rekonstruktion.
4. Ausblick: Katholisch, lutherisch, täuferisch – Frömmigkeitskonzepte im Vergleich
Die Rede vom Täuferreich in Münster darf nicht eine in sich gleichbleibende Epoche suggerieren. Vielmehr zeigt dieses Täuferreich am Übergang vom ausgehenden Mittelalter zur beginnenden Frühneuzeit einen vielfältigen Prozesscharakter, wie sich mit Blick vor allem auf die politische Entwicklung in der Stadt bereits zeigen ließ. Gleichermaßen brachte es auch in religiöser Hinsicht Neues hervor und weist darin eine Richtung auf, die es noch näher zu bestimmen gilt. So sollen die im ersten Teil des vorliegenden Buches zu rekonstruierenden katholischen, reformatorischen und täuferischen Entwicklungen Münsters – und tatsächlich kommt es auf alle drei Stationen dieses Weges gleichermaßen an – im Verlauf vom zweiten Teil des Buches daraufhin zum Sprechen gebracht werden, inwieweit das Täuferreich eher dem mittelalterlichen Denken verhaftet blieb oder in seiner Hauptlinie für einen religions- und sozialgeschichtlichen Aufbruch in die Moderne steht.
Bußruf der Täufer mit gezogenen Schwertern
Das Bild bezieht sich auf Vorgänge in Amsterdam, aber auch in Münster liefen die Täufer Bernd Knipperdolling, Jan Matthijsz, Jan van Leiden und andere durch die Straßen und forderten unter Drohungen die „Ungläubigen“ zum Verlassen der Stadt auf. Über 2000 Personen verließen daraufhin binnen weniger Tage Münster.
II. Kapitel
DAS KATHOLISCHE MÜNSTER UM 1500
Geostrategisch war Münster zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Stadt innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, des „größten und zugleich differenziertesten Staatsgefüges innerhalb der Christenheit“20. Seine Grenzen reichten von der Nordseeküste zwischen Seeland und Flandern und trennten den Hennegau, Luxemburg, Lothringen, die Franche-Comté und Savoyen von Frankreich ab. In Italien verlief die Grenzlinie nördlich des Kirchenstaates und umschloss die Lombardei – nicht jedoch Venedig – sowie weiter die Herzogtümer Kärnten und Krain im Südosten, bevor sie sich zwischen Österreich und Ungarn nach Norden wandte. In Richtung Nordosten teilte sie Böhmen, Mähren, die schlesischen Fürstentümer, Brandenburg und Pommern vom Königreich Polen ab. Die Ostsee westlich von Danzig umschloss den Kreis21. Über diesem Staatsgefüge stand ein König, der kraft der päpstlichen Krönung als (Heiliger) Römischer Kaiser und nominell als Herr über die Christenheit galt.
Von den Städten verfügten die Kleinstädte am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert über höchstens 2.000 Einwohner, die Mittelstädte hatten bis zu 10.000 Einwohner, wohingegen die Großstädte auf mehr als 10.000 Einwohner kamen22. Münster – dieser Vorausblick sei gestattet – mit seinen zu Beginn des 16. Jahrhunderts etwa 9.000 Einwohnern befand sich demnach unter den „größeren Mittelstädten“, nachdem die Stadt um 1400 – also vor der Pest – noch 10.000 Einwohner in ihren Mauern beherbergt hatte23. Allgemein lag die Einwohnerzahl der damals etwa 4.000 deutschen Städte weitaus niedriger als heutzutage: „Für eine Klassifizierung der mittelalterlich-spätmittelalterlichen Städte nach der Größe ihrer Bevölkerungsziffern müssen die modernen Größenordnungen auf mindestens zehnfach verkleinerte mittelalterliche Maßstäbe übertragen wer den.“24 So verfügten lediglich gut fünf Prozent der deutschen Städte am Beginn der Reformation über mehr als 2.000 Einwohner, gerade mal ein halbes Prozent zählte zu den Großstädten25.
Die blühende wirtschaftliche Lage einer Stadt zeigte sich nicht allein in ihrer Einwohnerzahl, sondern gleichermaßen in ihrem Eintreten zugunsten der Armen. Und in dieser Hinsicht hatte Münster Beachtliches zu bieten: Einem Zeitgenossen zufolge soll Münster, wo es um 1500 etwa 1.800 Häuser gab, damals mehr Armenhäuser und Stiftungen innerhalb der Stadtmauer beherbergt haben als jede andere deutsche Stadt26. Gewiss spiegelt dieser Vorzug das Engagement einer um ideale Christlichkeit bemühten Stadt wider – mit ihren Kirchen, Persönlichkeiten und Kommunitäten.
1. Die ‚Sakro-Topographie‘ der Stadt
„Was anderes ist die Stadt“, schrieb Erasmus von Rotterdam 1518, „als ein großes Kloster?“27 Als Münster mit dem Ende des 12. Jahrhunderts verfassungsrechtlich städtische Qualität erlangte28, war damit auch der Prozess der Stadt- und Gemeindebildung abgeschlossen. Freilich schauten der Bischof auf der einen und die Kaufleute auf der anderen Seite aus je unterschiedlichem Blickwinkel auf die Stadt. Aus der Perspektive des Bischofs lässt sich die Stadtwerdung Münsters rückblickend als eine aufgegipfelte Sakralisierung beschreiben, wie sie sich vor allem architekturgeschichtlich niederschlug; denn fast zeitgleich erfolgten um 1200 die Errichtung des Westwerks und der Türme am Dom, die Anlage von St. Martini im Norden und St. Ludgeri im Süden des Domes, St. Servatii im Osten sowie der Neubau von St. Marien Überwasser im Westen, so dass die ‚Sakro-Topographie‘ des Bischofssitzes hinsichtlich ihres Grundrisses von der Gestalt eines Kreuzes geprägt war. 1278 wurde zudem die Stadtmauer geschlossen, die die verfasste Bürgergemeinde mit ihren Wohn- und Arbeitsplätzen, überdies die Immunitäten schützte. Allein das Stift St. Mauritz hatte seinen Sitz vor der Stadt, wohingegen Überwasser links der Aa als städtische Teilsiedlung im Verlauf der Jahrhunderte voll in die Stadt integriert wurde.
Aus der Perspektive des Bürgertums lässt sich die abgeschlossene Stadtwerdung im ausgehenden 12. Jahrhundert als eine „‚Verbürgerlichung‘ der ‚geistlichen Stadt‘“ charakterisieren; denn neben dem bereits beschriebenen topographischen Kreuz, das den Dom im Mittelpunkt hatte, konnte man aus der Anlage der Stadt auch ein konkurrierendes Kreuz herauslesen. So rückte die Stadtkirche St. Lamberti mit Rathaus und Märkten in das Zentrum eines von St. Martini, St. Ludgeri und St. Aegidii gebildeten Kreuzes29.
Vergleicht man den Stadtgrundriss des ausgehenden 12. Jahrhunderts mit demjenigen von 1533 – also dem Anfang des Täufertums von Münster –, ergeben sich weitreichende Übereinstimmungen: in der räumlichen Ausdehnung der Stadt, durch die zehn Stadttore des 13. Jahrhunderts im mittelalterlichen Mauerring sowie durch die Hauptkirchen30. So standen der Einwohnerschaft Münsters immerhin acht große Kirchen zur Verfügung: Neben dem Dom waren dies – abgesehen von der kleinen Pfarrkirche St. Servatii – die Hauptpfarrkirche St. Lamberti, die Pfarr- und Stiftskirchen St. Marien Überwasser, St. Martini und St. Ludgeri, die Pfarr- und Klosterkirche St. Aegidii, die Klosterkirche der Franziskaner St. Catharinen (heute Apostelkirche) sowie die Dompfarrkirche St. Jacobi31. Von deutlicher Prägekraft für das Gesamtstadtbild waren zudem die Giebelreihe der Bogenhäuser im Stadtzentrum sowie der Prinzipalmarkt mit dem Rathaus. Doch aus welcher Perspektive man den Grundriss der Stadt Münster im ersten Quartal des 16. Jahrhunderts auch betrachtete – der Dom und die Lambertikirche waren die dominant-zentralen Sakralbauten der Stadt. Angesichts dieser hohen Bedeutung von Dom und St. Lamberti als jeweiliger Mittelpunkt eines ‚innerstädtischen Kirchenkreuzes‘ darf es rückblickend nicht verwundern, dass sich in Münster zahlreiche Aktivitäten sowohl der Reformatoren als auch der Täufer am Dom und an St. Lamberti – eben an den traditionsreichen Stationen des katholischen Lebens – abspielten.
2. Kirchliche Schlüsselpersonen
Da sich das ‚Sakrotop Münster‘ nicht allein durch die in zweifacher Weise kreuzförmig angeordneten Kirchengebäude konstituierte, sondern gleichfalls durch den Klerus und die geistlichen Kommunitäten getragen wurde, bedürfen auch diese das Heilige verkörpernden Persönlichkeiten und Gemeinschaften einer ausdrücklichen Würdigung. Vor allem vermag dieses Panorama zu veranschaulichen, dass hier im ersten Quartal des 16. Jahrhunderts zahlreiche kirchliche Gemeinschaften angesiedelt waren, denen es darum ging, Münster als Abbild des himmlischen Jerusalem auszugestalten. Somit kann auch die Stadt Münster an der Schwelle zum 16. Jahrhundert als Beleg für die aktuell in der Forschung vertretene These von der Vielfalt und Reformfreudigkeit innerhalb der christlichen Frömmigkeit am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit gelten.
Gewiss kam dem Bischof einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit als Landesherr auch die Funktion eines politischen Vaters zu32. Grundlegender aber war seine Bedeutung als geistlicher Vater gegenüber den ihm anvertrauten Christen. Als Nachfolger der Apostel und Stellvertreter Christi in seinem Bistum verkörperte er die Rückbindung seines Sprengels sowohl an Rom als Ort des Wirkens der Apostel als auch an Jerusalem als Ort des Grabes bzw. der erhofften Wiederkehr Christi. Angesichts dieser ‚heiligen Doppelbindung‘ galt der Bischof als der oberste Heilsvermittler und berufene Organisator innerhalb seiner Diözese: Er war erster Liturge und Seelsorger und beraumte Diözesansynoden an, um strittige Kirchendinge zu klären und möglichst keinen Christen auf dem Weg zum ewigen Jerusalem verloren gehen zu lassen. Er weihte den Klerus, damit dieser den Gläubigen die Sakramente spendete und die Getauften zu einer am Neuen Testament ausgerichteten Lebensweise anleitete. Eigenhändig oder durch einen Sonderbeauftragten, den Weihbischof, erteilte der Bischof den bereits getauften Christen die Firmung.
Trotz der für das Heil der Gläubigen zentralen Position des Bischofs wohnte der oberste Hirte seit dem 12. Jahrhundert nicht mehr in Münster, sondern auf den Landesburgen. Der ihm zugeordnete Domklerus sowie die Dombediensteten hatten ihre Häuser gleich nebenan, wohingegen die Kleriker der oben genannten Stadtkirchen in unmittelbarer Nähe ihrer jeweiligen Gotteshäuser wohnten.
Parallel zur irdischen Hierarchie der Kirche, die unter Teilnahme der Gläubigen bei der Feier des Gottesdienstes in die himmlische Liturgie einstimmte, hielten die mittelalterlichen Christen die Vorstellung einer himmlischen Hierarchie aller Heiligen lebendig. Die Heiligen, die einerseits ihre Gräber auf Erden gefunden hatten, glaubte man andererseits im Himmel als Sängerinnen und Sänger der himmlischen Liturgie gegenwärtig. Ja, aufgrund ihrer „irdisch-himmlischen Doppelexistenz“33 vertraute man auf jene den Heiligen offenstehende Möglichkeit der Fürbitte bei Gott, mehr noch: auf ihre Vermittlung von göttlicher Kraft für die Menschen. So ging man christlicherseits ursprünglich vom spätantiken Patronats- und Klientelwesen aus, um die Beziehung zu den Heiligen zu beschreiben, kehrte dann aber mit den an den Heiligen gewonnenen idealen Maßstäben zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zurück und gestaltete sie neu: das himmlische Patronat als Vorbild des irdischen34. Auf dieser Grundlage entwickelte sich das christliche Selbstverständnis im Mittelalter noch einen Schritt weiter: der himmlische Patron nicht nur als Vorbild, sondern als realer Patron auch auf Erden35.
Rückblickend lässt sich für die Stadt Münster noch bis in die 1520er Jahre die Gültigkeit der im Mittelalter selbstverständlichen Gleichung nachweisen, dass sich die Einwohner einer Stadt umso sicherer fühlten vor inneren und äußeren Bedrohungen, je mehr Patrone die Stadt in ihren Mauern beherbergte. So hing die Lebensqualität einer Stadt – anders als heutzutage – nicht an der Infrastruktur von Schulen und Geschäften, sondern vielmehr an der Quantität der Reliquien und der Wirkmächtigkeit der in ihren Knochen zugunsten der Stadtbewohner gegenwärtigen Heiligen.
3. Geistliche Kommunitäten
Maßgeblich wurde das christliche Leben zu Beginn des 16. Jahrhunderts von zahlreichen geistlichen Männer- und Frauenkommunitäten mitgetragen, die ihren Auftrag darin sahen, in geistlicher und karitativer Hinsicht zugunsten des Gemeinwohls einzutreten.
Neben dem Inhaber des Bischofsamtes wirkten zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Münster 41 Domherren, die als Domkapitulare zugleich das Domkapitel bildeten. Auch ihr geistlicher Einsatz diente dem Ziel, die Stadt von aller Profanität zu reinigen und es als Abbild des himmlischen Jerusalem zu gestalten: Als klösterlich lebende Klerikergemeinschaft bestand ihr Auftrag darin, die Liturgie an der Mutterkirche eines Bistums zu tragen, ja den Zusammenklang der himmlisch-irdischen Liturgie an der Hauptkirche in Gang zu halten. Überdies erfüllte die Hauptkirche einer Diözese – wie idealiter jede Kirche – die Funktion eines karitativen Zentrums36. So hatte auch Liudger († 809), der erste Bischof Münsters, an der Schwelle zum 9. Jahrhundert eine Klosterkommunität um sich geschart, die sich über die Feier der Liturgie hinaus der Sorge um die Bedürftigen annehmen sollte. Aus vielen dieser klösterlichen Niederlassungen an Bischofskathedralen – so auch in Münster – wuchs über Jahrhunderte hinweg das Institut der Domkapitulare hervor37, ja erstanden Kathedralkomplexe, an denen man die Liturgie feierte und den Bedürftigen aufhalf.
Beachtung als ‚geistliche Stützpunkte‘ der Stadt zu Beginn des 16. Jahrhunderts verdienen die Kollegiatstifte38; denn auch die Kleriker dieser Gemeinschaften hatten seit Jahrhunderten daran mitgewirkt, die Stadt mittels des himmlisch-irdischen Austausches in der Liturgie umso heiliger zu gestalten, ja sie als Abbild des himmlischen Jerusalem herzurichten: „Als Kollegiatstift bezeichnet man etwa seit dem 12. Jahrhundert (…) das Kollegium von Kanonikern an der Kollegiatkirche, und zwar als Niederstift im Gegensatz zu den als Hochstiften bezeichneten Domkapiteln, dessen geschichtliche und verfassungsmäßige Entwicklung es weitgehend teilte.“39 Im einen wie im anderen Fall versahen diese Kleriker den Gottesdienst an der jeweiligen Kirche, wobei die Lebensfähigkeit ihrer Gemeinschaft in materieller Hinsicht von einer Stiftung abhängig war, welche den Geistlichen den Unterhalt gewährleistete40.
Nach dem Domkapitel galt das Kollegiatstift von St. Mauritz als das bedeutendste Stift im Bistum Münster. In der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts auf einer bis dahin im Besitz des Bischofs oder des Domkapitels befindlichen Hofstätte gegründet, gehörte zum Stift vielleicht schon von Anfang an die Pfarrei St. Mauritz41. Während der Propst die Leitung des Kollegiatstiftes innehatte und er zugleich eines der seit 1487 insgesamt 12 Kapitelsmitglieder war, oblag dem Dechanten seit 1177 die Verantwortung für die Einhaltung der Gottesdienstordnung in Stift und Kirchspiel. Seit 1330 wurde er darin durch zwei Kapläne unterstützt. Auf einer dieser beiden Positionen wirkte seit 1529 Bernhard Rothmann, der bald schon reformatorisch predigte. – In der kirchlichen Topographie Münsters hatte das Kollegiatstift von St. Mauritz eine herausgehobene Position, verfügte es doch seit dem 13. Jahrhundert über eine Stiftsschule für die Ausbildung angehender Geistlicher42. So wirkten die Kleriker am Kollegiatstift St. Mauritz wie auch an den innerstädtischen Kollegiatstiften St. Martini und St. Ludgeri aufgrund der dort jeweils betriebenen schulischen Ausbildung in besonderer Weise als Multiplikatoren für das Ideal gelebter Christlichkeit in der Stadt.
Im Rückblick dürfen die Kollegiatstifte Münsters als theologisch vitale Zentren gelten, die über Jahrhunderte hinweg dem mittelalterlichen Ideal der christlichen Stadt gedient hatten. Nur nebenbei sei hier erwähnt, dass die Kleriker an einigen Münsteraner Kollegiatstiften diese Tradition seit Beginn der 1520er Jahre, also längst vor dem Ausbruch der Reformation in Münster, durch persönliche Kontakte zu führenden Humanisten und Reformatoren ‚ergänzten‘ oder bereits in Frage zu stellen begannen.
Im Dienste der christlich-idealen Stadt standen am Vorabend der Reformation in Münster weiterhin einige klösterliche Männergemeinschaften, welche Münster durch ihre Feier der Tagzeiten und der Heiligen Messe näher an den Himmel heranzubringen suchten. Unter ihnen sind zunächst die Ritter des Deutschen Ordens zu nennen, von denen sich 1524 immerhin noch sieben Mitglieder in Münster befanden, bevor der Konvent schließlich durch die Täuferherrschaft ausgelöscht wurde43. Von gleichfalls begrenzter Reichweite war die seit dem 13. Jahrhundert bezeugte kleine Gemeinschaft der Johanniter an der Bergstraße44; ebenso die Kommunität der Minoriten, die sich im 14. Jahrhundert anlässlich einer Pestepidemie in Münster größte karitative und seelsorgliche Verdienste erworben hatte. Das Kloster an der Neubrückenstraße (heute: Apostelkirche) diente 1534/1535 der Beherbergung auswärtiger Täufer45, übrigens ebenso die Georgskommende der Deutschherren und die Johanniterkommende.
Als die womöglich bedeutendste männliche Gemeinschaft Münsters im Spätmittelalter sind die Fraterherren hervorzuheben. Diese auf Gert Groote († 1384) aus dem niederländischen Deventer zurückgehende, auch als „Devotio moderna“ bekannte Initiative zeichnete sich grundlegend durch die Geschwisterlichkeit unter den Mitgliedern aus. So hegte ihr Gründer das Ideal vom brüderlichen Zusammenleben jenseits aller Scheidungen in Kleriker, Mönche und Laien. Anhand dieser Prämisse suchte er das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass alle Stände dem Ideal der Verchristlichung von klösterlichem Lebensumfeld und pulsierender Stadt gleichermaßen verpflichtet waren.
In Münster hatten die hier seit 1400 ansässigen „Brüder vom gemeinsamen Leben“46 im 15. und frühen 16. Jahrhundert größere Bedeutung erlangt, wie sich vierfach belegen lässt. Erstens war das Münsteraner Haus bis in seinen Namen „Zum Springborn“ hinein dem Worte Gottes und dessen Verbreitung mittels Schriftlichkeit verpflichtet. Die Umgestaltung der Stadt zu einem Abbild des himmlischen Jerusalem hing für die Devoten mehr denn je von der Orientierung an Schlüsseltexten der Heiligen Schrift ab: „Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt“ (Joh 4,14) – so lautete das Motto der Münsteraner Niederlassung. Zweitens muss das am Krummen Timpen (früher Honekamp) gelegene Fraterherrenhaus – wie bereits angedeutet – als das erste Haus der „Devotio moderna“ in Deutschland gelten. Drittens gingen von diesem die Gründungen weiterer Ordenshäuser in Deutschland aus und viertens wurde von hier aus auch deren organisatorischer Zusammenschluss bewerkstelligt47. So nahm Münster besonderen Anteil an der vorwärtsweisenden christlichen Prägekraft der „Devotio moderna“ im hiesigen Raum: „Der nord- und westdeutsche Humanismus ist gar nicht zu denken ohne die Brüder vom gemeinsamen Leben in Deventer und seine Pflanzstätten.“48 Zwar gingen mit dem Aufkommen der gedruckten Bücher sowohl die noch blühende Schreibtätigkeit der Brüder, die sie als Teil ihres gottesdienstlichen Tuns übrigens nicht zuletzt für ‚externe‘ Auftraggeber verrichteten, als auch die Pergamentbereitung und die Buchbinderei der gedruckten Bücher zurück; doch in Münster war die aus zwölf Mitgliedern bestehende Niederlassung der Devoten zu Beginn der 1530er Jahre noch ebenso geistlich angesehen wie geschäftlich erfolgreich49.
Über die männlich dominierten Kapitel-, Kollegiat- und Ordensgemeinschaften hinaus blühten in Münster zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch zahlreiche weibliche Gemeinschaften, welche sich gleichermaßen selbstverständlich um christliches Leben in der Stadt bemühten. Freilich hatten sie im Vergleich zu den Männerkommunitäten einen gewissen ‚Standortnachteil‘; denn angesichts der ihnen dargebrachten Spenden an Geld und Naturalien konnten sie als Gegenleistung zwar für die Geber beten, allerdings zu deren Gunsten nicht das Messopfer – die größtmögliche geistliche Leistung – darbringen50.
Unter den weiblichen Kommunitäten nahm die Gemeinschaft an der Pfarrkirche von St. Marien Überwasser eine bedeutende Rolle ein51. Die im 15. Jahrhundert erfolgte Umwandlung des vormaligen Kanonissenstiftes in ein Benediktinerinnenkloster geschah übrigens „im Zusammenhang mit der spätmittelalterlichen Reformbewegung“52. Doch vermochte dieses Mühen um ein strenges religiöses Leben nicht zu verhindern, dass sowohl das Kloster als auch die dazugehörige Pfarrei während der 1530er Jahre in den Strudel der religiösen Turbulenzen hineingeriet: Gegen den Widerstand der Äbtissin wurden zwei lutherische Prädikanten eingesetzt. 1533 vollzogen mit Ausnahme der Äbtissin und zwei ihrer Schwestern alle übrigen Konventsmitglieder den Bruch mit dem alten Glauben; 1534 verließen sie das Kloster, um sich den Täufern anzuschließen53.