Das terrestrische Manifest - Bruno Latour - E-Book

Das terrestrische Manifest E-Book

Bruno Latour

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Beschreibung

Eine Serie politischer Unwetter hat die Welt durcheinandergebracht. Die Instrumente, mit denen wir uns früher orientierten, funktionieren nicht mehr. Verstanden wir Politik lange als einen Zeitstrahl, der von einer lokalen Vergangenheit in eine globale Zukunft führen würde, realisieren wir nun, dass der Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein ist. Der Weg in eine behütetere Vergangenheit erweist sich ebenfalls als Fiktion. Wir hängen in der Luft, der jähe Absturz droht.

In dieser brisanten Situation gilt es zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren. Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär plädiert er für eine radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz.

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Seitenzahl: 159

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Bruno Latour

Inhalt

1. Eine politisch-fiktionale Hypothese: Die Explosion der Ungleichheiten und das Verleugnen der Klimasituation sind ein und dasselbe Phänomen.

2. Dank Amerikas Aufkündigung des Klimaabkommens wissen wir endlich in aller Klarheit, welcher Krieg erklärt wurde.

3. Die Frage der Migrationen betrifft jetzt alle Welt, da sich eine neue und höchst perverse Universalität darbietet: sich als enterdet zu erleben.

4. Die Plus-Globalisierung darf nicht mit der Minus-Globalisierung verwechselt werden.

5. Wie die globalisierten führenden Klassen beschlossen, sich nach und nach aller Bürden der Solidarität zu entledigen.

6. Der Verzicht auf eine gemeinsame Welt erschüttert das Vertrauen in die Fakten.

7. Das Auftauchen eines dritten Pols erschüttert die klassische Ausrichtung der zwischen den Polen des Lokalen und des Globalen gefangenen Modernität.

8. Die Erfindung des »Trumpismus« ermöglicht das Orten eines vierten Attraktors, des Aussererdigen.

9. Mit der Ortung des Attraktors des Terrestrischen ist eine neue geopolitische Ausrichtung definiert.

10. Warum die Erfolge der politischen Ökonomie nicht immer auf der Höhe der Herausforderungen waren.

11. Warum sie so große Mühe hatte, sich des Gegensatzes von Rechte und Linke zu entziehen.

12. Wie die Vermittlung zwischen den sozialen und den ökologischen Kämpfen zu gewährleisten ist.

13. Der Kampf der sozialen Klassen wird zum Kampf der geo-sozialen Plätze.

14. Der Umweg über die Wissenschaftsgeschichte macht begreifbar, wie eine bestimmte Vorstellung von »Natur« die politischen Positionen hat erstarren lassen.

15. Es muss gelingen, die in der modernen Sicht des Gegensatzes von Linke und Rechte gefangene »Natur« zu entzaubern.

16. Eine Welt aus Objekten weist nicht dieselbe Art von Widerstand auf wie eine Welt aus Akteuren.

17. Die Wissenschaften von der Kritischen Zone haben nicht dieselben politischen Funktionen wie die anderen Naturwissenschaften.

18. Der Widerspruch zwischen Produktionssystem und Erzeugungssystem verstärkt sich.

19. Wiederaufnahme der Beschreibung der Lebensterrains – die Beschwerdehefte als mögliches Vorbild.

1.

Dieser Essay verfolgt kein anderes Ziel, als ausgehend von der Wahl Donald Trumps am 8. November 2016 drei Phänomene miteinander zu verknüpfen, die von den Kommentatoren zwar schon ausgemacht, aber deren Zusammenhang nicht immer gesehen wurde – und folglich auch nicht die immense politische Energie, die aus ihrer Verbindung zu ziehen wäre.

Zu Beginn der neunziger Jahre, just nach dem »Sieg über den Kommunismus«, der im Fall der Berliner Mauer seinen symbolischen Ausdruck gewann – zu einem Zeitpunkt also, als so mancher wähnte, die Geschichte sei an ihr Ende gekommen2 –, beginnt still und leise eine andere Geschichte.

Geprägt ist sie zunächst durch die sogenannte »Deregulierung«, mit der das Wort »Globalisierung« eine fortschreitend negative Bedeutung gewinnt; zugleich ist sie aber in allen Ländern auch der Beginn einer immer schwindelerregenderen Explosion der Ungleichheiten; schließlich, und das wird seltener hervorgehoben, setzt in jener Epoche die systematische Leugnung der Klimaveränderung ein (»Klima« hier verstanden im weiteren Sinn der Beziehungen der Menschen zu ihren materiellen Lebensbedingungen).

Dieser Essay schlägt vor, diese drei Phänomene als Symptome ein und derselben historischen Konstellation zu begreifen: Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als »Eliten« bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei.

Folgerichtig entschied man, dass es nutzlos sei, vorzugeben, die Geschichte strebe weiter auf einen gemeinsamen Horizont zu, auf eine Situation, in der »alle Menschen« in gleichem Maße zu Wohlstand kommen würden. Seit den achtziger Jahren geht es den führenden Klassen nicht länger darum, die Welt zu führen, vielmehr suchen sie außerhalb dieser Welt Schutz. Die Folgen dieser Flucht, die in Donald Trump nur eines unter vielen Symbolen hat, haben wir zu tragen – wir, die wir angesichts einer fehlenden miteinander zu teilenden gemeinsamen Welt nahezu den Verstand verlieren.

Die hier vorgebrachte Hypothese lautet: Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind,3 kann man weder die Explosion der Ungleichheiten, das Ausmaß der Deregulierungen, die Kritik an der Globalisierung noch, vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats – was, sehr zu Unrecht, als »Aufstieg des Populismus« bezeichnet wird – verstehen.

Um sich dem Verlust an gemeinsamer Orientierung zu widersetzen, gilt es, irgendwo zu landen. Was die nicht minder bedeutsame Frage nach sich zieht: Wie sich orientieren? Und woraus folgt, dass wir so etwas wie eine Karte der Positionen entwerfen müssen, die uns durch diese neue Landschaft aufgezwungen werden, in der nicht nur die Affekte, sondern auch das neu bestimmt wird, worumes im öffentlichen Leben geht.

Die nachfolgenden, in einem bewusst sprunghaften Stil gehaltenen Reflexionen suchen zu eruieren, inwieweit bestimmte politische Emotionen auf neue Objekte hin kanalisiert werden können.

2.

Den Unterstützern Donald Trumps ist zu danken, dass sie diese Fragen einer Klärung zuführten, indem sie ihn drängten, sich am 1. Juni 2017 vom Pariser Klimaabkommen zu verabschieden.

Was der Aktivismus von Millionen von Umweltschützern, die Alarmrufe Tausender Wissenschaftler, das Wirken Hunderter von Industrieller nicht geschafft haben, worauf die Aufmerksamkeit zu richten nicht einmal Papst Franziskus gelungen ist4 – Trump ist es geglückt: Alle Welt weiß nun, dass die Klimafrage im Zentrum aller geopolitischen Streitpunkte liegt und dass sie in direktem Zusammenhang steht mit den Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten.5

Mit seinem Rückzieher vom Abkommen hat er schließlich explizit wenn nicht einen Weltkrieg, so doch einen Krieg um die Festlegung des Schauplatzes der Operationen ausgelöst: »Wir Amerikaner gehören nicht zu derselben Erde wie ihr. Eure mag bedroht sein, unsre nicht!«

Damit sind die politischen und bald militärischen, jedenfalls aber existenziellen Konsequenzen dessen gezogen, was Bush Senior 1992 in Rio vorhergesagt hatte: »Our way of life is not negotiable!« Voilà, dann liegen die Dinge wenigstens klar: Das Ideal einer gemeinsamen, auch vom bisher so bezeichneten »Westen« geteilten Welt gibt es nicht mehr.

Erstes historisches Ereignis: der Brexit. Das Land, das den unendlichen Raum des Marktes, zu Lande wie zu Wasser, erfunden und das die Europäische Union unaufhörlich dazu gedrängt hatte, sich in nichts anderes als ein riesiges Warenhaus zu verwandeln: Dieses Land beschließt angesichts der Ankunft einiger Zehntausender Flüchtlinge Hals über Kopf, aus dem Globalisierungsspiel auszusteigen. Einem seit Langem verschwundenen Empire nachjagend, sucht es sich von Europa zu lösen (um den Preis immer unlösbarerer Schwierigkeiten).

Zweites historisches Ereignis: der Wahlsieg Trumps. Das Land, das der Welt seine spezielle Variante der Globalisierung aufgezwungen hatte (und mit welcher Gewalt!); das Land, das sich – unter Auslöschung seiner Ureinwohner – als Einwandererland definiert hatte: Dieses Land legt sein Schicksal in die Hände eines Mannes, der verspricht, es in eine verbarrikadierte Festung zu verwandeln, der keine Flüchtlinge mehr hereinlassen, sich für keine Sache mehr einsetzen will, die sich nicht auf seinem eigenen Grund und Boden abspielt, und der doch weiterhin überall auf der Welt mit derselben hemmungslosen Rüpelhaftigkeit interveniert.

Dass jene, die noch vor Kurzem den systematischen Abbau der Grenzen gepredigt hatten, diese nun wieder attraktiv finden, ist bereits ein Anzeichen für das Ende einer bestimmten Auffassung von Globalisierung. Zwei der größten Länder der ehemaligen »freien Welt« verkünden den anderen: »Unsre Geschichte wird mit eurer nichts mehr zu tun haben; geht zum Teufel!«

Drittes historisches Ereignis: die Wiederaufnahme, Erweiterung, Ausweitung der Migrationen. In einem Augenblick, da jedes Land die vielfältigen Gefahren der Globalisierung zu spüren bekommt, müssen viele sich organisieren, um auf ihrem Boden Millionen von Menschen – einige sprechen von Dutzenden von Millionen!6 – aufzunehmen, die durch die kumulativen Folgen von Kriegen, Fehlschlägen in der wirtschaftlichen Entwicklung und Klimaveränderung zur Suche nach einem für sie selbst und für ihre Kinder bewohnbaren Territorium getrieben werden.

Das Problem soll schon alt sein? Keineswegs, denn diese drei Phänomene stellen nur unterschiedliche Aspekte ein und derselben Metamorphose dar: Die Vorstellung des Bodens selbst verändert sich grundlegend. Der erträumte Boden der Globalisierung beginnt, sich zu entziehen. Darin liegt die ganze Neuheit dessen, was schamhaft »Migrationskrise« genannt wird.

Die Angst sitzt deshalb so tief, weil jeder von uns zu spüren beginnt, wie der Boden unter den Füßen wegsackt. Mehr oder minder verschwommen entdecken wir, dass wir alle auf der Wanderung sind hin zu Territorien, die es neu zu entdecken und zu besetzen gilt.

Dies aufgrund eines vierten historischen Ereignisses, dem wichtigsten und am wenigsten diskutierten: dem 12. Dezember 2015 in Paris, als am Schluss der Pariser Klimakonferenz COP21 ein Übereinkommen verabschiedet wurde.

Um dessen wirkliche Bedeutung zu ermessen, kommt es nicht darauf an, was die Delegierten beschlossen haben, nicht einmal darauf, dass dieses Abkommen tatsächlich umgesetzt wird (die Klimawandelleugner werden es mit aller Kraft sabotieren); entscheidend ist vielmehr, dass an diesem Tag allen Staaten, die unterzeichnet hatten, während sie noch dem erfolgreichen Abschluss des Vertrags applaudierten, mit Schaudern eines klar wurde: dass es, würden sie alle entsprechend den Prognosen ihrer jeweiligen Modernisierungspläne voranschreiten, keinen Planeten geben würde, der mit ihren Entwicklungserwartungen übereinstimmte.7 Dafür benötigten sie mehrere Planeten; doch sie haben nur einen.

Wenn es also den Planeten, die Erde, den Boden, das Territorium, die den Globus der von allen Ländern angestrebten Globalisierung beheimaten sollten, nicht gibt, dann verfügt niemand mehr über ein sicheres »Zuhause«.

Damit steht jeder Einzelne von uns vor der Frage: Sollen wir weiter eskapistischen Träumen nachhängen oder uns nicht doch aufmachen und ein für uns und für unsere Kinder bewohnbares Territorium suchen?

Nun, entweder leugnen wir das Problem oder wir versuchen, uns zu erden. An dieser Frage spalten sich heute die Geister – viel mehr als an der von links oder rechts.

Und das betrifft die alteingesessenen Bewohner der reichen Länder ebenso wie deren künftige Bewohner. Erstere, weil sie begreifen, dass es keinen globalisierungsgeeigneten Planeten gibt und dass sie ihre gesamten Lebensweisen verändern müssen; letztere, weil sie ihren verwüsteten angestammten Boden verlassen und ebenfalls lernen müssen, alle ihre Lebensweisen zu verändern.

Mit anderen Worten: Die Migrationskrise ist zu einer allgemeinen geworden.

Zu den Migranten von außerhalb, die um den Preis ungeheurer Tragödien Grenzen überschreiten müssen, um ihr Land zu verlassen, kommen jetzt jene inneren Migranten, die an Ort und Stelle verbleiben und dramatisch erleben müssen, wie ihr Land sie verlässt. Erschwert wird das Verständnis der Migrationskrise dadurch, dass sie das mehr oder minder erschütternde Symptom einer uns allen gemeinsamen Herausforderung ist, nämlich, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Diese Herausforderung erklärt auch die relative Gleichgültigkeit gegenüber der Dringlichkeit der Situation und warum wir alle Klima-Quietisten sind, wenn wir, ohne einen Finger zu rühren, hoffen: »Das wird sich schon von selbst einrenken …« Wir können nicht umhin, uns zu fragen, wie die täglich auf uns einprasselnden Nachrichten über den Zustand des Planeten sich auf unseren Geisteszustand auswirken. Wie sollte uns aufgrund der Angst, darauf nicht antworten zu können, nicht das Gefühl übermannen, innerlich erledigt zu sein?

Es ist diese gleichermaßen persönliche wie kollektive Beunruhigung, aus der sich die Bedeutsamkeit des Wahlsiegs von Trump erklärt, der ansonsten nur das Skript einer erbärmlichen TV-Serie abgäbe.

3.

Diese Frage hatte sich bislang für die Völker nicht gestellt, die beschlossen hatten, den Planeten zu »modernisieren«. Umso schmerzhafter stellte sie sich zwangsläufig für diejenigen, die seit vier Jahrhunderten die Folgen der »großen Entdeckungen«, der Imperien, der Modernisierung, der wirtschaftlichen Entwicklung und schließlich der Globalisierung zu erleiden hatten. Sie wissen nur zu gut, was es heißt, wenn einem der Grund und Boden geraubt und man davongejagt wird. Notgedrungen sind sie Experten dafür geworden, wie man Eroberung, Ausrottung, die Inbesitznahme seines Bodens überlebt.

Die große Neuheit für die einstigen Modernisierungsvölker ist, dass dieses Problem nun auch sie selbst betrifft. Selbst wenn dies weniger mörderische, weniger brutale Folgen haben und unauffälliger sein mag, handelt es sich doch um einen höchst gewaltsamen Angriff, um denjenigen das Territorium zu entreißen, die bislang Boden besaßen – zumeist deshalb, weil sie ihn bei Eroberungskriegen den anderen geraubt hatten.

Damit gewinnt der Terminus »postkolonial« eine ganz unerwartete Bedeutung, so als bestünde zwischen zwei Verlustgefühlen eine Art Familienähnlichkeit: »Ihr habt euer Territorium verloren? Wir haben es euch genommen? Ihr sollt wissen, dass wir dabei sind, es jetzt auch zu verlieren …« Und so taucht bizarrerweise mangels eines Gefühls von Brüderlichkeit, das hier fehl am Platze wäre, so etwas wie ein neues Band auf, das den klassischen Konflikt verschiebt: »Wie habt ihr es angestellt, Widerstand zu leisten und zu überleben? Das wäre doch gut, wenn auch wir das von euch erfahren könnten.«8 Fragen, denen dann zunächst leise die ironische Antwort folgt: »Welcome to the club!«

Mit anderen Worten, der Eindruck von Schwindel, fast Panik, der die ganze gegenwärtige Politik durchzieht, rührt daher, dass allen gleichzeitig der Boden unter den Füßen wankt, so als fühlte man sich in all seinen Gewohnheiten und in all seinem Hab und Gut angegriffen.

Haben Sie schon bemerkt, wie anders Ihre Gefühle sind, je nachdem, ob man Sie bittet, die Natur zu verteidigen – zum Gähnen langweilig –, oder Ihr Territorium zu verteidigen – und schon stehen Sie Gewehr bei Fuß?

Ist die Natur zum Territorium geworden, hat es kaum noch Sinn, von »ökologischer Krise«, »Umweltproblemen«, davon zu sprechen, dass die »Biosphäre« wiedergefunden, geschont, geschützt werden muss. Es ist vitaler, existenzieller – und auch verständlicher, weil weitaus direkter. Wenn man Ihnen den Teppich unter den Füßen wegzieht, begreifen Sie sofort, dass Sie sich um den Fußbodenbelag kümmern müssen …

Es ist eine Frage der Verbundenheit, der Lebensweise, die man uns gerade entreißt, des Bodens, des Eigentums, die unter unseren Füßen entgleiten, und diese Verunsicherung bohrt in uns allen, den einstigen Kolonisatoren wie den einstigen Kolonisierten. Nein! Die einstigen Kolonisatoren versetzt sie weit mehr in Panik als die einstigen Kolonisierten. Aber unbestritten ist, dass alle mit einem allgemeinen Mangel an teilbarem Platz und bewohnbarer Erde konfrontiert sind.

Doch woher rührt die Panik? Von jenem tief sitzenden Gefühl der Ungerechtigkeit, das jene befallen hat, die während der Eroberungen, dann der Kolonisierung, schließlich während der Ära der »Entwicklung« sich ihres Grund und Bodens beraubt sahen: Eine von anderswoher kommende Macht nimmt Ihnen Ihr Territorium, und Sie können nichts dagegen tun. Wenn das Globalisierung ist, dann wird nachträglich auch einsichtig, warum sich ihr zu widersetzen immer schon die einzige Lösung war; warum die Kolonisierten immer schon im Recht waren, wenn sie sich verteidigten.

Die universelle Conditio humana: auf diese neue Weise können wir sie spüren; eine Universalität allerdings, die völlig pervers (a wicked universality) und zugleich die einzige ist, über die wir noch verfügen, jetzt, da die frühere, die der Globalisierung, vom Horizont zu verschwinden scheint. Die neue Universalität ist das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt.

Ob sie ausreicht, sich zu verständigen und künftigen Kriegen um die Aneignung des Raums vorzubeugen? Vermutlich nicht, aber es ist unser einziger Ausweg: gemeinsam herauszufinden, welches Territorium bewohnbar ist und mit wem wir es teilen wollen.

Die andere Alternative ist, so zu tun, als sei nichts, und weiter, hinter einer Mauer verschanzt, in den Tag hinein vom American way of life zu träumen, obgleich man weiß, dass die bald neun oder zehn Milliarden Menschen nichts davon haben werden …

Migrationen, Explosion der Ungleichheiten und Neues Klimaregime: ein und dieselbe Bedrohung. Die meisten unserer Mitbürger unterschätzen oder leugnen, was der Erde widerfährt, sind sich aber der Tatsache, dass die Migration ihre Träume von gesicherter Identität gefährdet, vollkommen bewusst.

Zurzeit sehen sie, von den sogenannten »populistischen« Parteien stramm bearbeitet und aufgewiegelt, nur die eine Dimension der ökologischen Mutation: dass sie Menschen über ihre Grenzen treibt, die sie nicht wollen. Also denken sie sich: »Machen wir die Grenzen dicht, damit entgehen wir der Invasion!«

Die andere Dimension dieser Veränderung haben sie noch nicht so deutlich zu spüren bekommen: Das Neue Klimaregime fegt seit Langem schon über alle Grenzen hinweg und setzt uns allen Stürmen aus. Und gegen diese Invasoren sind unsere Mauern machtlos.

Wenn wir unsere Zugehörigkeiten und Identitäten verteidigen wollen, müssen wir auch diese form- und staatenlosen Migranten identifizieren, die da heißen: Klima, Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung. Selbst wenn ihr die Grenzen vor den zweibeinigen Flüchtlingen dicht macht, die anderen werdet ihr nicht aufhalten können.

»Ist denn niemand mehr Herr im eignen Haus?«

Nein, in der Tat. Weder die Souveränität der Staaten noch die Undurchlässigkeit der Grenzen sind noch in der Lage, Politik zu ersetzen.

»Aber dann ist ja alles offen; dann müssen wir draußen leben, vollkommen schutzlos, von Sturmwinden gebeutelt, vermischt mit allen, gezwungen, um alles zu kämpfen, ohne irgendwelche Sicherheiten, müssen pausenlos den Ort wechseln, auf jede Identität, allen Komfort verzichten? Wer kann denn so leben?«

Niemand, ganz richtig. Kein Vogel, keine Zelle, kein Migrant und kein Kapitalist. Selbst Diogenes hat Anrecht auf eine Tonne, der Nomade auf sein Zelt, der Flüchtling auf sein Asyl.

Glaubt denen keine Sekunde, die von der großen weiten Welt faseln, davon, aufs »Risiko zu setzen«, alle Sicherheitsnetze sausen zu lassen, und die weiter mit großer Geste auf den endlosen Horizont der Modernisierung für alle zeigen; diese scheinheiligen Apostel nehmen selbst nur dann Gefahren auf sich, wenn Komfort garantiert ist. Statt zu lauschen, was sie nach außen hin von sich geben, schaut lieber, was da auf ihrem Rücken glänzt: der sorgfältig gefaltete goldene Fallschirm, der sie vor allem Unbill der Existenz schützt.

Zu den elementarsten Rechten gehört, sich sicher und geschützt zu fühlen, zumal in einem Augenblick, da die althergebrachten Absicherungen am Verschwinden sind.

Diesen Sinn der Geschichte gilt es zu entdecken: Wie angesichts des Endes der Globalisierung, des Umfangs der Migration und der Grenzen, die der Souveränität der nunmehr mit den Klimaveränderungen konfrontierten Staaten gesteckt sind, Außenränder, Hüllen, Schutzvorrichtungen entwickelt und ein neuer Halt, ein neues Fundament gefunden werden können.

Vor allem jedoch: Wie können wir jene beschwichtigen, die in dieser Situation kein anderes Heil sehen als die Berufung auf eine – immer wieder aufs Neue erfundene – nationale oder ethnische Identität? Und dazu noch: Wie lässt sich um diese grandiose Herausforderung, Millionen von Fremden in ihrer Suche nach einem beständigen Boden zu begleiten, ein kollektives Leben aufbauen?

Das politische Problem besteht darin, all diejenigen zu beruhigen und zu beherbergen, die sich notgedrungen auf den Marsch begeben müssen, und sie dabei zugleich vom trügerischen Glauben an schützende Identitäten und undurchlässige Grenzzäune abzubringen.

Doch wie soll diese Beruhigung gelingen? Wie kann allen Migranten das Gefühl vermittelt werden, geschützt zu sein, ohne dass nicht sofort wieder eine Identität ins Spiel kommt, die sich auf Abstammung, einheimische Rasse, abgeschottete Grenzen und All-inclusive-Versicherung beruft?

Um zu beruhigen, müsste man zu zwei komplementären, durch die Herausforderung der Modernisierung aber widersprüchlich gewordenen Regungen fähig sein: sich einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden.