Das Teufelspergament - Gert Nygårdshaug - E-Book

Das Teufelspergament E-Book

Gert Nygårdshaug

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der beliebte norwegische Hobbydetektiv, Weinkenner und Gourmet Fredric Drum löst dieses Mal in Italien einen mysteriösen Fall: Als Dechiffrierungsexperte soll er in Ofanes bei Neapel im Auftrag der Universität Rom eine geheimnisvolle alte griechische Schrift untersuchen. Doch schon bald befindet er sich inmitten eines Spiels auf Leben und Tod, bei dem ein Mörder sein Unwesen treibt und Drum scheinbar an seiner Arbeit hindern will. Ein Roman voller Spannung, teuflischer Kodexe und exotischer Mysterien!-

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Seitenzahl: 323

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Gert Nygårdshaug

Das Teufelspergament

 

Saga

Das Teufelspergament

 

Übersezt von

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1990, 2021 Gert Nygårdshaug und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726791884

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1.

Fredric Drum betrachtet freudlos das Ionische Meer, während er sich nach seiner Freundin und einer guten Flasche Barbaresco DOCG sehnt

Er setzte sich verstört auf. Blickte um sich. Zweihundert Meter unter ihm, fast senkrecht nach unten, war das Ionische Meer. Hinter ihm ragte eine steile Klippenwand auf, rotbraun mit grünen Flecken. Der Felsabsatz, auf dem er lag, war mit einer dicken Schicht von steifem, braunem Gras bedeckt. Deshalb hatte er sich bei seinem Sturz nicht verletzt. Er war weich und unbeschadet gelandet.

Fredric Drum nieste viermal heftig, stand auf und wischte sich Erde und Sand von den Kleidern. Was war denn bloß passiert?

Er rekapitulierte blitzschnell die unwirklichen Ereignisse der letzten fünf Minuten: Er hatte ganz vorn im Bus gesessen. Der Koffer stand zwischen seinen Beinen. Mit großem Eifer und Vorfreude hatte er die kalabrische Landschaft betrachtet, während der Bus sich seinem Ziel näherte: der kleinen, unweit von Crotone gelegenen Stadt Ofanes. Fredric hatte den Weg auf der Karte verfolgt und erwartet, dass Ofanes wohl nach der nächsten Kurve auftauchen würde, als der Bus von drei Polizisten angehalten wurde. Die anderen vier Fahrgäste, eine ältere Frau, zwei Teenager und ein Pater mit breitkrempigem Hut, zuckten mit den Schultern und murmelten etwas über eine Kontrolle. Zwei der Polizisten waren in den Bus gestiegen und hatten in rasend schnellem Italienisch mit dem Fahrer geredet, der nickte und auf Fredric Drum zeigte. Und bevor er seinen Mund zu einem Protest öffnen und das Wort abbaglio, Irrtum, aussprechen konnte, hatten sie ihn auch schon aus dem Bus gezerrt, ihn zum Straßenrand geschoben und über ein kleines Feldstück an den Rand eines steilen Abhangs gedrängt, der offensichtlich zum Meer hin abfiel. Ohne ein Wort, ohne eine Frage hatten sie ihn den Hang hinuntergestoßen, sodass er sich mehrmals hilflos überschlug, bis er über die Kante des Abgrunds verschwand. Aber er stürzte nicht tief und war weich und unversehrt auf diesem Vorsprung gelandet.

Er hatte nicht einmal genug Zeit gehabt, um Angstgefühle aufkommen zu lassen.

Hier saß er jetzt also, im tiefen Süden von Italien, in Kalabrien, auf einem Felsabsatz mit gutem Ausblick über das Ionische Meer, wie ein brütender Vogel. Und hier würde er lange nisten können. Runter kam er wohl kaum, hoch auch nicht. Die Terrasse, auf der er festsaß, war ungefähr so groß wie der Fußboden eines mittelgroßen Wohnzimmers.

Es war Viertel vor sechs am Nachmittag des letzten Tages im Juli, und die Sonne stand schon niedrig am Himmel. Geneviève stand bestimmt an der Bushaltestelle in Ofanes und hatte keine Ahnung, warum er nicht gekommen war. Geneviève, seine Freundin, die er seit drei Jahren nicht gesehen hatte.

Er kratzte einen geeigneten Stein von der Felswand los und schleuderte ihn hinunter. Er konnte nicht sehen, wie der Stein auf der Wasseroberfläche auftraf. Dann rief er laut und deutlich dem griechischen Festland zu, das irgendwo da draußen hinter dem Horizont liegen musste:

»Argabiel! Kuabris, Defrabax, Docrabax, Taculbain, Himesor, Jupiter, Tor und Tykje!«

Indem er all diese Götter der Ungerechtigkeit anrief, bekam er die schlimmste Frustration über den Stand der Dinge in den Griff. Danach setzte er sich mit dem Rücken gegen die Felswand und dachte nach.

Ein Mordversuch. Ganz eindeutig hatte man versucht, ihn zu ermorden. Drei italienische Polizisten hatten ihn wortlos gepackt und versucht, ihn ins Meer zu werfen. War das die Art, wie die kalabrischen Behörden ihre Touristen behandelten? Dass sie, wenn sie eine Gelegenheit sahen und Lust dazu verspürten, nichtsahnende Besucher ins Meer schleuderten? Handelte es sich dabei um eine makabre Tradition, die hier unten praktiziert und in keiner Tourismusbroschüre erwähnt wurde?

»Eine Kontrolle «, hatten seine vier Mitreisenden gemurmelt. Das war ja wahrhaftig eine großartige Kontrolle gewesen.

Camogli. Morgen, am ersten August, gab es, wie er wusste, hier in der Gegend einen offiziellen Festtag: Camogli. Da feierten sie die Madonna Stella Maris mit Lichtern und Wasser. Wie dieses Fest genau ablaufen würde, wusste er nicht, nur dass die Polizei die Feierlichkeiten offenbar damit einleitete, dass sie einen unschuldigen Fremden ins Meer stieß. Ein schöner und bewundernswerter Brauch.

»Quatsch!«, sagte er laut und stand wieder auf. Noch einmal rief er ein halbes Dutzend exotischer und treuloser Götter an, ohne irgendeine Antwort zu bekommen. Hier konnte er genauso gut in eine riesige Käseglocke hineinrufen. Sobald ihm der Laut über die Lippen kam, war er auch schon verschwunden.

Er fing an, den Felsabsatz systematisch zu erforschen. Um ihn herum gab es mehrere kleinere Vorsprünge, sodass er fast zwangsläufig auf einem von ihnen hatte landen müssen. Auch unter ihm gab es weitere Vorsprünge, und mit etwas Wagemut mochte es ihm gelingen, sich der Wasseroberfläche auf fünfzig, sechzig Meter zu nähern. Aber was sollte er dort? Nach oben musste er kommen. Aber das schien unmöglich zu sein. Die Felswand hinter ihm war zwar nur knapp drei Meter hoch, doch hatte sie weder Vorsprünge noch Spalten.

Wussten die Polizisten, dass es unterhalb des Abhangs viele Vorsprünge gab? Oder glaubten sie, dass ein Absturz direkt ins Meer führte? Was auch immer sie glaubten oder wussten, auf jeden Fall hatten sie eine Tat begangen, für die es keine ethische Rechtfertigung geben konnte.

Es war, wie es nun mal war. Wie viel er auch grübelte und sich umschaute, er würde sich nicht aus eigener Kraft nach oben arbeiten können. Nicht einmal der Felskletterer und Nationalheld Bernardo Rossi hätte das ohne Ausrüstung geschafft. Resigniert legte Fredric sich ins Gras und starrte in den hellblauen Himmel.

Bei der ganzen Angelegenheit musste es sich um einen grandiosen Irrtum handeln. Er wusste, dass in diesen Breiten viel Merkwürdiges vor sich ging. Schließlich war er hier nicht weit von Sizilien entfernt, wo die Mafia ihr Unwesen trieb und geheime Methoden anwendete, von denen gewöhnliche Menschen keine Ahnung hatten. Die sichtbaren Methoden der Mafia spielten sich in der Regel sehr direkt ab, ohne dass dabei unnötige Worte verloren wurden. Und man konnte ja tatsächlich feststellen, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Polizisten in den Sekunden, in denen sie Kontakt gehabt hatten, sehr zu wünschen übrig ließ.

Genau! Sie hatten ihn für irgendeinen grünschnäbeligen Richter gehalten, der ihre inneren Angelegenheiten ausspionieren wollte. Deshalb hatten sie kurzen Prozess gemacht. Die Polizisten waren sicher Mitglieder der Mafia auf Ausschau nach grünschnäbeligen Richtern. Fredric Drum hatte gehört, dass Richter ein bevorzugtes Ziel für die Kugeln und Messer der Mafia waren. Aber hätten sie nicht erkennen müssen, dass er, mit seinen relativ hellen Haaren, ein Ausländer war? Vielleicht dachten sie, er käme aus dem Piemont. Dort war eine helle Haar- und Hautfarbe keine Seltenheit. Wie erstaunt und bekümmert mussten sie gewesen sein, als sie seinen Koffer näher in Augenschein nahmen und auf seinem Namensschild lasen: »Fredric Drum, Norvegia«.

Sein Koffer. Ein Gefühl der Traurigkeit überkam ihn. Stand Geneviève jetzt am Busbahnhof und betrachtete seinen Koffer? Sah sie, dass er aus dem Bus geladen wurde, aber kein Fredric ausstieg? In diesem Koffer lagen die Geschenke für sie: ein schöner, handgeschmiedeter samischer Goldschmuck und eine Flasche sorgfältig ausgewählter Wein aus dem Piemont, ein » Castello di Neive, Barbaresco DOCG 1971«. Neive, neve, Schnee, Castello di Neive, Schneeschloss, ein schöner Name für einen Wein, besonders wenn er von einem Norweger verschenkt wurde.

Ruhelos stützte er sich auf seine Ellbogen. Das Ionische Meer erstreckte sich endlos weit vor ihm, still, grün, kein Boot weit und breit. So viel hatte Fredric Drum im Laufe der Jahre vom Leben und besonders von den merkwürdigen Vorkommnissen, in die er verwickelt gewesen war, gelernt: dass sich das meiste nicht auf Missverständnisse und Zufälle zurückführen ließ. Allzu oft steckte ein grausamer und berechnender Plan dahinter, ein Plan, dessen Fäden mit tödlicher Präzision gesponnen waren.

Fredric Drum hatte definitiv die letzten Reste von Gutgläubigkeit und Sanftmut gegenüber dem trügerischen Schein des sogenannten Zufalls abgeschüttelt. Deshalb handelte es sich bei dem, was er jetzt verspürte, um eine berechtigte Unruhe. Bis das Gegenteil bewiesen wäre, würde er sich an die Weisheiten des Talmud über die menschliche Existenz halten: Wenn das Auge die Dämonen sehen könnte, die das Universum bevölkern, wäre es unmöglich zu leben.

Er schloss die Augen und durchdachte gründlich seine Situation.

Fredric Drum. Fünfunddreißig. Junggeselle, einer Frau treu, die er vor über drei Jahren kennengelernt hatte und die schwer krank gewesen war. Dank eines Behandlungserfolgs, der an ein Wunder grenzte, befand sie sich jetzt auf dem Wege der Besserung. Er war einer der Besitzer des inzwischen berühmten kleinen Restaurants La Casserole, das er und sein Kompagnon Tob, Torbjørn Tinderdal, am Frognerveien in Oslo betrieben. La Casserole war das einzige norwegische Restaurant, das über zwei Sterne im Michelin-Restaurantführer verfügte. Fredric Drum interessierte sich leidenschaftlich für gute Weine und hatte sich im Laufe der Zeit den Status eines der führenden Weinkenner Norwegens erarbeitet. Dieses etwas dekadente und snobistische Interesse wurde voll und ganz aufgewogen durch seine besonders kritische und teilweise oppositionelle Sicht auf die Gesellschaft. Mindestens vier Mal hatte er zum Beispiel an spontanen Demonstrationen teilgenommen. Tob und er betrieben das La Casserole ohne das unedle Motiv des Profitstrebens und teilten ihren Gewinn zu gleichen Teilen mit Köchen, Lehrlingen und Aushilfen. So konnten sie es sich – zur großen Verzweiflung konkurrierender Gourmetrestaurants – leisten, einen » Chateau Palmer 1975« zu einem Preis von 750 Kronen anzubieten. Und da es in Norwegen allerbesten Zugang zu qualitativ hochwertigen Zutaten gab und die Phantasie von Tob und Fredric keine Grenzen kannte, war es nur natürlich, dass diese enthusiastisch geführte Küche schließlich mit Sternen im Michelin-Führer honoriert wurde.

Fredric Drums Interessen reichten allerdings weit über Wein und exklusive Gerichte hinaus: In den vergangenen Jahren hatte er mit seinen Forschungen über die Sprachen und Symbole der Urkulturen viel Aufsehen erregt und damit eine bedeutende Position in Wissenschaftskreisen errungen. Fredric Drum war Dechiffrierungsexperte. Nachdem er das Rätsel der merkwürdigen minoischen Schrift Linear B gelöst und deren ventrische Deutung widerlegt hatte, wurde er oft von Wissenschaftlern konsultiert, die sich in ein unlösbares Problem verstrickt hatten. Er hatte an der Universität eine Reihe von Sprachen studiert und beschäftigte sich zur Zeit mit einer Doktorarbeit über Piktogramme, prärunische Symbole und die komparative Behandlung der Urvölker in der Bilderschrift der Nordkalotte. Es handelte sich um ein kontroverses Promotionsthema.

Dafür, dass er sich gerade jetzt in Italien aufhielt, gab es drei Gründe: Erstens wollte er italienischen Wein testen, um dann eine Auswahl für sein Restaurant zu kaufen. Zweitens hatte er einen sehr interessanten Brief von einem gewissen Professor Donato d’Angelo erhalten, in dem es um einige unverständliche Abschnitte in einem ansonsten völlig klaren Text des sogenannten Kodex Ofanes ging. Dieser war auf Pergamentrollen gefunden worden, die in den vor Kurzem entdeckten Ruinen bei Ofanes ausgegraben worden waren. Und last but not least: Er würde endlich Geneviève wiedersehen, die sich in Dr. Vitollo Umbros berühmter Klinik aufhielt, die eigenartigerweise ebenfalls in Ofanes lag, nur einen Steinwurf von den Ruinen entfernt. Für solche überraschenden Parallelen hatte Fredric Drum immer etwas übriggehabt.

Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob solche Parallelen immer etwas Gutes zu bedeuten hatten. Er befand sich zwar ganz in der Nähe von Ofanes, aber seine Lage war alles andere als günstig. In ein paar Stunden würde es stockfinster sein.

Er rief. Scherte sich nicht mehr um den Käseglockeneffekt und rief. Er rief, bis seine Stimme so heiser war, dass man ihn ohne Weiteres für einen brünftigen kalabrischen Geißbock hätte halten können.

Er hatte Hunger. Sein Magen knurrte. Und er hatte Durst, schlimmen Durst. Als ob diese Qualen noch nicht ausgereicht hätten, musste er obendrein entdecken, dass die Felsterrasse, auf der er saß, nicht unbewohnt war. Millionen kleiner Ameisen krabbelten um ihn und auf ihm herum. Er sprang auf und schlug und streifte das meiste von sich ab, aber sie hatten schon den Weg unter sein Hemd und in seine Hosenbeine gefunden. Er hatte Ameisen im Haar, am Hals, überall. Das Schlimmste war, dass sie sich festbissen, wenn ihnen klar wurde, dass er sie nicht dabei willkommen hieß, seinen Körper ganz nach ihrem Willen zu erforschen.

Das würde eine wunderbare Nacht werden. Die erste Nacht in Italien hatte er sich eigentlich anders vorgestellt.

Die gute Laune, die Fredric Drum in den letzten Wochen genossen hatte, war definitiv verflogen.

*

Dabei hatte alles so gut angefangen. Er hatte drei äußerst aufmunternde Briefe in seinem Briefkasten vorgefunden.

Der erste war vor fast einem Monat eingetroffen. Er kam vom Institut für Experimentelle und Theoretische Physik an der Universität Cambridge und lautete wie folgt:

Sehr geehrter Herr Fredric Drum,

 

aufgrund Ihrer Anregung sowie der Empfehlung von

Dr. Stephen Pratt haben wir gründliche spektrographische Analysen Ihres Kristalls vorgenommen, der die Form eines gleichmäßigen fünfzackigen Sterns, einen Durchmesser von vier Zentimetern und eine Dicke von zwölf Millimetern hat.

Die vorläufigen Untersuchungen ergeben interessante Interferenzphänomene. Die Brechung der Lichtstrahlen folgt einem Muster, das in mancher Hinsicht nicht vorhersagbar ist. Außerdem scheint es in Teilen des Objektes unter bestimmten Lichtverhältnissen zu einer Akkumulation von Energie zu kommen: Die wiederholten Brechungen in verschiedenen Winkeln, ohne dass dabei Lichtstrahlen nach außen austreten, erinnern in erstaunlichem Maß an das, was in einem Rubinlaser passiert.

Wir möchten Sie daher bitten, das zugesandte Objekt für weitere Untersuchungen noch eine Weile behalten zu dürfen, um die Gesetze für die Photonenbewegung, die wir zu erkennen glauben, näher bestimmen zu können.

Mit freundlichen Grüßen Dr. James Wilson

Schon seit mehreren Jahren hatte sich Fredric Drum über einen Kristallstern gewundert, den er an einem Strand auf der Yucatán-Halbinsel in Mexiko in der Nähe eines Mayatempels gefunden hatte. Seitdem hatte er dieses Schmuckstück oder Amulett stets bei sich getragen und, ohne direkt abergläubisch zu sein, den Eindruck gewonnen, dass dieser Kristallstern die erstaunliche Fähigkeit besaß, entweder ihn oder seine Umgebung zu beeinflussen. Jetzt hatte er sich endlich dazu entschlossen, ihn wissenschaftlich untersuchen zu lassen.

Aber er fühlte sich nackt ohne den glatten, warmen Kristall in der Hosentasche.

Der zweite Brief war nur wenige Tage später eingetroffen. Er war in Italien abgestempelt und trug das gewichtige Siegel und die Inschrift der Universität Rom. Es handelte sich um ein Einschreiben, das außer einem Brief von Professor Donato d’Angelo die Kopie eines Fragments des Kodex Ofanes enthielt. Der Hauptinhalt des Briefes lautete:

Signore Professore (!) Drum.

 

Sie wurden mir empfohlen von … (hier stand eine Liste bekannter Namen und Institutionen der klassischen Archäologie, gefolgt von einer Reihe Höflichkeitsphrasen) … für eine Beurteilung einiger Abschnitte des KODEX OFANES, die vollkommen unverständlich wirken. Ohne die Norweger Laksdal und Johanessen von der Universität Bergen und ihre epochale Methode hinsichtlich der Öffnung alter Pergamentrollen wäre der KODEX OFANES wahrscheinlich vollkommen unzugänglich geblieben.

Wir bieten Ihnen daher einen Aufenthalt bei uns an, um In-situ-Untersuchungen vorzunehmen, die zu einer Entschlüsselung der betreffenden Abschnitte des Kodex führen könnten … (Danach wieder eine Reihe von Höflichkeitsphrasen sowie Anweisungen praktischer Art)

Hochachtungsvoll (!) Dr. Donato d’Angelo

Fredric Drum fühlte sich sehr geehrt. An den Tagen nach dem Eintreffen dieses Briefes beobachtete Tob, dass sein Kompagnon bei der Arbeit an den Kochtöpfen in der La Casserole ziemlich geistesabwesend wirkte und gelegentlich Unverständliches vor sich hin murmelte.

Fredric beschloss also, zwei Wochen Urlaub zu nehmen und nach Italien zu fahren. Diese Reise wurde umso dringlicher, als Brief Nummer drei ankam. Dieser stammte von Geneviève.

Er hatte Geneviève Brisson vor einigen Jahren im französischen St. Emilion unter ganz außergewöhnlichen Umständen kennengelernt. Fredric war damals in eine Tragödie wegen vergifteter Weine verwickelt gewesen, und Geneviève, die Tochter eines bekannten Chateaubesitzers, die Önologie in Bordeaux studierte, war in diesem Zusammenhang bei einem Racheakt vergiftet worden. Sie erlitt eine Art von Hirnlähmung und verlor die Fähigkeit, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie wurde in einer Reihe von Krankenhäusern behandelt, ohne dass es zu einer wesentlichen Besserung ihres Zustands gekommen wäre. Ein wirklicher Durchbruch blieb zunächst aus. Geneviève Brissons Fall wurde bereits als hoffnungslos betrachtet, als ihr Vater Doktor Umbro ausfindig machte, einen weltberühmten italienischen Spezialisten auf den Feldern Aphasie und Autismus. Er hatte Klang- und Musiktherapie eingesetzt – mit erstaunlichen Resultaten! Signor Vitollo Umbros Klinik in Ofanes stand im Ruf, wahre Wunder zu vollbringen.

Auch Geneviève erlebte ein solches Wunder: Nach einigen Wochen in der Klinik konnte sie wieder vernünftige Gespräche mit ihren Angehörigen führen. Doktor Umbro stellte ihr eine vollständige Genesung in Aussicht. Ihren Freund Fredric hatte sie nie ganz vergessen. Und die Briefe, die sie ihm schickte, wurden nach und nach immer persönlicher. Im letzten Brief hatte sie Fredric praktisch zu sich eingeladen, als sie schrieb:

… ich kann mich an dich erinnern, als wäre es gestern gewesen, und ich sehne mich danach, mit dir einige schöne Tage hier im sonnigen Süditalien zu verbringen. Dann könnten wir doch wieder mal zusammen einen guten Wein genießen. Wir haben uns seit drei Jahren nicht mehr gesehen, aber du bist die ganze Zeit bei mir in der Dunkelheit gewesen.

Fredric waren beim Lesen vor Freude beinahe die Tränen gekommen. Genevièves Schicksal hatte in den vergangenen Jahren wie ein Schatten über ihm gelegen. Jetzt sollte dieser Schatten endlich vertrieben werden.

Am Morgen des 31. Juli hatte er das Flugzeug von Oslo nach Rom genommen. Dann war er mit einem Inlandflug weiter nach Catanzaro gereist, wo er einige Stunden voller Vorfreude auf das lang ersehnte Wiedersehen verbracht hatte. Und schließlich war er in den Überlandbus nach Ofanes gestiegen – und auch fast dort angekommen.

 

Fredric Drum wand sich vor Verzweiflung. Er konnte auf diesem Bergabsatz verrotten. Schließlich würde er an Hunger und Durst sterben, und dann würden die Ameisen ihn verspeisen, bis seine Knochen vertrocknet und ausgebleicht in der Sonne liegen würden.

Die Dämmerung hatte eingesetzt.

Er untersuchte seine Hosentaschen. Ihr Inhalt war ziemlich mager: Seine Brieftasche mit Reiseschecks und einigen Lire. Der Kofferschlüssel. Eine Adressenliste mit diversen Weinhändlern dieser Gegend. Ein Wegwerffeuerzeug der Marke Bic. Zwei zuckerfreie Streifen Kaugummi. Ein Knopf unbekannter Herkunft. Das war auch schon alles. Er brüllte und krächzte über das Ionische Meer:

»Heilige Wächter dieser Felswand der Düsternis! Die Riesen und Götter des Nordens werden grausame Rache nehmen! Gequälte Seelen von Tarpeus und Aegeus, kommt und hebt mich zu euch empor! Dädalos und Ikaros, verleiht mir Flügel! Labrys und Ankh, gebt mir ein Zeichen, ein Zeichen, ein Zeichen!«

Seine Rufe stürzten wie zerfranste Lumpen auf die Meeresoberfläche. Er zerrte sich das Hemd vom Leib und schlug alle Ameisen heraus. Dann ging er mit seinen Fingernägeln zum Angriff auf den glatten Berg über, ohne dass er sich dabei auch nur einen Dezimeter nach oben bewegte.

Die Dunkelheit um ihn her verdichtete sich, und die Luft schwirrte vom monotonen Gesang von Milliarden unsichtbarer Zikaden, unterlegt vom gleichmäßigen Rauschen des Meeres.

Ruhig, Fredric, ganz ruhig. Denk vernünftig über alles nach. Du bist schon früher in ähnlichen Situationen gewesen, und es ist doch immer noch irgendwie gutgegangen. Denk an La Casserole, denk an all die leckeren Gerichte, die Tob jetzt gerade kocht. Nimmst du ihren Geruch wahr? Er versuchte, dem Rat seiner inneren Stimme zu folgen, aber auch diese war im Begriff, ihn im Stich zu lassen. Sie leitete ihn zu einer gedeckten Tafel, die außerhalb seiner Reichweite war.

Was würde Tob sagen, wenn er jetzt hier wäre? Tob, sein Freund, der Philosoph der Lebensweisheiten, der Tiefsinnige. Er würde die runden Gläser seiner Apothekerbrille putzen und sagen: » Nichts, was sinnlos ist, kann die Sinnlosigkeit zum Ursprung haben. Das hat die Geschichte unzählige Male gezeigt.« Worte des Trostes. Das hier war doch Sinnlosigkeit in höchster Potenz. Konnte sie womöglich auch sinnlos enden?

Er hielt Ausschau nach Lichtern draußen auf dem Meer. Keine Lichter.

Er konnte nicht viel tun. Es war dunkel, stockfinster, und so rückte er näher an die Felswand heran. Die Ameisen ließ er inzwischen tun, was sie tun wollten. Sie sollten von ihm aus herumkrabbeln und das neue Universum erforschen, das auf ihren Vorsprung heruntergeplumpst war.

Er musste eingedöst sein. Als er blinzelnd die Zeiger auf seiner Armbanduhr betrachtete, zeigten sie halb vier. Bald würde der Morgen dämmern. Steif und zitternd stand er auf und starrte aufs dunkle Meer hinaus. Eine kühle Brise wirkte lindernd, sodass sein Durst ihn nicht mehr ganz so sehr quälte wie am Vorabend.

Regungslos stand er da und starrte vor sich hin. Eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Da sah er Purpurstreifen, die sich im Osten über den Himmel ausbreiteten. Er bewegte sich nicht, bis die Sonne aus dem Meer auftauchte.

Ein verrückter Plan war in seinen Gedanken herangereift. Vielleicht konnte es ihm gelingen, bis zur Wasseroberfläche hinunterzuklettern und dann an der Küste entlangzuschwimmen, bis die Klippen aufhörten.

Als es ganz hell geworden war, kroch er an den äußersten Rand der Terrasse und sah nach unten. Mit einem gewissen Restrisiko, sich die Beine zu brechen, konnte er von Vorsprung zu Vorsprung springen und auf diese Weise den Abstand zum Meer um etwa die Hälfte reduzieren. Aber dann wäre Schluss. Nach allem, was er erkennen konnte, bestanden die letzten fünfzig, sechzig Meter aus einer senkrechten Felswand. Aus einer solchen Höhe ins Meer zu springen, würde den sicheren Tod bedeuten.

Und doch, mit dem Tageslicht kehrte sein Optimismus zurück. Die Ameisen hatten ihn während der Nacht nicht übermäßig geplagt, und wenn seine Haut auch hier und dort rote Flecken aufwies, so konnte er doch damit leben. Ein neuer Plan nahm allmählich Gestalt an. Fredric Drum würde nicht so leicht aufgeben.

Er begann, systematisch Gras auszureißen. Dicke Schichten und riesige Haufen stapelte er auf. Schließlich stieß er bis auf den Felsgrund vor. Und hier fand er, wonach er suchte: scharfkantige, spitze Steine von einer bestimmten Größe.

Dann machte er sich daran, die Felswand mit den Steinen zu bearbeiten. Zunächst schlug er eine Kerbe in etwa einem Meter Höhe, als Fußstütze. Er hämmerte und trommelte, klopfte und zertrümmerte den Fels. Manchmal flogen Funken und es roch verbrannt. Nach zwei Stunden war die Kerbe so groß geworden, dass soeben seine Zehen hineinpassten.

Erschöpft vor Hunger und Durst legte er sich hin, um sich auszuruhen. Er döste eine halbe Stunde, bevor er wieder loslegte. Diesmal versuchte er sich an einer Kerbe, die er mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte. Ganz allmählich entstand auch dort eine kleine Vertiefung, die groß genug war, um sich festzukrallen. Dann stieg er mit dem linken Fuß in die erste Kerbe und zog sich hoch. Jetzt hing er in der Felswand. Wenn er die rechte Hand so hoch wie möglich streckte, war er noch etwa einen Meter von der rettenden Kante entfernt.

Um halb drei Uhr nachmittags hatte Drum drei Kerben in die Felswand geschlagen. Eine für den rechten Fuß, eine für den linken Fuß und eine für die Hand. Er war vollkommen erschöpft und musste sich lange ausruhen.

Der schlimmste Teil der Arbeit stand ihm noch bevor. Jetzt musste er nämlich neue Kerben in den Fels schlagen, während er sich in der Wand festkrallte. Das erwies sich als so schwierig, dass er immer wieder hinunterfiel und keinen Schwung in seine Schläge bekam. Mehr als kleine Kratzer brachte er nicht zustande.

Um sechs Uhr gab er schließlich auf. Er hatte keine Kraft mehr, legte sich auf den Rücken und starrte apathisch vor sich hin. Mit sonnenverbranntem Gesicht und aufgesprungenen, trockenen Lippen flüsterte er benommen ein paar Dutzend Namen von bekannten und besonders geschätzten Weinen. Außerdem wiederholte er gleichgültig die Gerichte, die zum Zeitpunkt seiner Abreise auf der Tageskarte des La Casserole gestanden hatten.

*

Der Kodex Ofanes. Im Flugzeug hatte Fredric Zeit genug gehabt, um sich das wenige, das er über diese antiken Schriften wusste, noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Die Geschichte war relativ neu. Vor einigen Jahren waren zwei Norweger in Italien fast zu Nationalhelden geworden. Dabei handelte es sich um die beiden Wissenschaftler Laksdal und Johanessen aus Bergen. Sie hatten eine Methode entwickelt, die es ihnen ermöglichte, alte Papyrusrollen, die von Archäologen bis dahin als zerstört und für immer verloren betrachtet wurden, so zu öffnen, dass die Schrift wieder lesbar wurde. Als die Ruinen bei Ofanes ausgegraben wurden, fand man in einer Kammer große Mengen verkohlter Papyrusrollen. Die Norweger wurden hinzugezogen und es kam zu einer Sensation.

 

Mit großem Geschick öffneten sie die Rollen. Die Schrift, die zum Vorschein kam, war teils griechisch, teils lateinisch. Die Rollen stammten aus dem dritten Jahrhundert nach Christi Geburt. Als die Texte gedeutet wurden, erwiesen sie sich als philosophische Erörterungen, Abhandlungen über Philosophiegeschichte und eine Beschreibung verschiedener Schulen der antiken Gedankenwelt. Die neuen Erkenntnisse waren von so weitreichender Bedeutung, dass umfangreiche Teile der antiken Philosophiegeschichte daraufhin umgeschrieben werden mussten.

Laksdal und Johanessen wurden auf den Titelseiten der italienischen Zeitungen gefeiert. Die Resonanz in ihrem Heimatland fiel bescheidener aus. Dort stand nur ein kleiner Artikel in der Aftenposten. Außerdem gab es einen längeren Bericht in der Bergens Tidende.

Die Texte auf dem Ofanes-Papyrus waren laut Professor Donato d’Angelo zum größten Teil leicht zu entschlüsseln. Aber es gab da ein Fragment, das auf Griechisch geschrieben und von ganz besonderer Art war. Die einzelnen Wörter waren verständlich genug, aber der Inhalt, der Zusammenhang, blieb im Verborgenen. D’Angelo neigte zu der Auffassung, dass es sich hier um das dunkelste und unbekannteste Kapitel der griechischen Philosophietradition handelte: die HermetischePhilosophie.

Einige Kenner der antiken Philosophie vertraten schon seit längerer Zeit die Theorie, es habe womöglich einige Schulen gegeben, die von den Pythagoreern abstammten und eine magische, geheime und verschlossene Philosophie entwickelt hatten, deren Einfluss im Laufe der Zeit zugenommen habe. Dafür gab es eine Reihe von Indizien, aber keine klaren Beweise. All diese Theorien über die Hermetische Philosophie waren immer als reine Spekulation betrachtet worden. Bis jetzt. Der Kodex Ofanes enthielt lange Abschnitte, die äußerst merkwürdig waren.

Fredric Drum las diese Erläuterungen von Professor d’Angelo mit großem Interesse. Auf seine Reise hatte er eine ansehnliche Auswahl von Büchern über die verschiedenen Denkschulen der Antike mitgenommen, in die er sich nach und nach vertiefen wollte. Im Flugzeug war er hauptsächlich mit der Kopie des kleinen Fragments beschäftigt gewesen, die dem Brief beigefügt worden war. Den griechischen Text hatte er problemlos übersetzen können. Er war zwar schwer verständlich, aber über die Bedeutung der einzelnen Wörter konnte kein Zweifel herrschen. Das Merkwürdige war, dass mitten im Text, ohne irgendeine Erklärung, plötzlich Schriftzeichen auftauchten, die ihm vollkommen fremd waren. Fredric hatte noch nie etwas Derartiges gesehen.

Als er diese eigenartigen Zeichen erblickte, hatte er eine bebende Spannung verspürt. Welche Botschaft war in ihnen verborgen? Würden sie sich deuten lassen?

In ein Notizbuch, das er speziell für diesen Auftrag angeschafft hatte, schrieb er zunächst eine Übersetzung des Textes, wie er ihn bisher verstand. Kodex Ofanes, Fragment 233 XII, lautete wie folgt:

… Damippos stellte genauso viele Fackeln auf wie (es gab) in Odeion vor dem Apaturiefest; es sollte so sein, wie Simmias Jünger Croton Vise den Fratres befahl. Ermeticas Siegel mit den Inschriften von Hephaistos, Hekate und Persephone verbirgt die Botschaft des Heiligen, Allerheiligsten Cylotian, so wie es im Ritual des Todes vorgeführt wird und wie es ist: … (Hier folgen vier Zeilen mit merkwürdigen Zeichen, hermetische Schrift?) … Ermetica Chiron hat gesagt, so ist das Flüstern des Todes für unsere Ungläubigen in den ländlichen Dionysien. Synedrium ist Umbilicus Telluris (hier Latein?), so wie in Ewigkeit Odeion die Harmonien bewacht …

Fredric Drum freute sich. Er freute sich wirklich darauf, diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Und mit der wiedergenesenen Geneviève Brisson an seiner Seite würden sich keine Schwierigkeiten als unüberwindlich erweisen. So hatte er noch gedacht, bevor das Flugzeug in Catanzaro gelandet war.

*

Keine Schwierigkeiten.

Fredric lag im Halbschlaf und phantasierte vor sich hin. Ameisen krabbelten über sein Gesicht, in seine Nase, seine Ohren, auf seine Augenlider. Er bekam nichts mit. Bekam nicht mit, dass die Dämmerung hereingebrochen war und sich weit draußen auf dem Meer, wie Punkte, eine Menge kleiner Boote versammelt hatte. Das waren Fischer. Aber gerade heute würden sie keine Fische fangen. Heute war der erste August. Camogli. Das Fest zu Ehren der Madonna Stella Maris.

Fredric erwachte jäh, weil er heftig niesen musste. Immer mehr Ameisen flogen aus seiner Nase, während er sich aufsetzte. Jetzt war es fast dunkel, und er wäre vor lauter Hoffnungslosigkeit über eine weitere Nacht auf diesem Vorsprung fast wieder in sich zusammengesunken.

»Wasser«, blökte er heiser, um seine Stimme zu testen.

Er starrte auf das Meer hinaus. Rieb sich die Augen und glotzte. Tanzten dort leuchtende Punkte vor seinen Augen? Nein, sie tanzten nicht, sie standen still. Ein Dutzend leuchtender Punkte. Draußen auf dem Meer. Er stand ganz auf und taumelte auf den Rand der Terrasse zu. Dann blinzelte er in die Dunkelheit. Das waren Lichter. Da draußen mussten Boote sein.

Boote!

Jetzt sah er es ganz genau: Zahlreiche Lichter tanzten auf den Wellen. Das waren Feuer. Auf den Booten loderten offene Feuer.

Zunächst verstand er gar nichts. Boote mit Feuern? Waren das die Hellenen, die gekommen waren, um Kalabrien zu rückzuerobern? War er eingeschlafen, gestorben und in der Antike wieder erwacht? Fredric versuchte, in seinem erschöpften Gehirn Ordnung zu schaffen, und begriff allmählich, dass es sich um nichts anderes als eine Prozession von Booten handelte, die das Camogli-Fest entweder einleiten oder abschließen sollte. So lief das üblicherweise ab, das hatte er irgendwo gelesen.

Sie schickten an diesem Tag Boote aufs Meer hinaus, Boote mit Feuern an Bord. Sie kamen bestimmt aus den Fischerdörfern in der Nähe. Zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Lichter waren da draußen.

Jetzt kam Bewegung in Fredric Drum.

Erstaunlicherweise gelang es ihm sogar, mit seinen aufgesprungenen Lippen eine Melodie zu pfeifen – »Junge, komm bald wieder« –, während er vom Boden um sich herum große Büschel trockenes Gras abrupfte. Einiges hatte er ja schon vorher gesammelt, als er die Steine gesucht hatte. Jetzt schob er am äußersten Rand des Absatzes einen kleinen Grashügel zusammen und zündete ihn an. Zum Glück funktionierte das Feuerzeug. Bald quoll dicker, gelber Rauch empor, die Flammen stiegen mehrere Meter in die Höhe.

Fredric hustete und nieste und führte hinter dem Feuer einen wilden Tanz auf. Sein Schatten an der Felswand würde kilometerweit zu erkennen sein, und alle, die ihn sahen, mussten panische Angst bekommen. Geister, die in der Felswand tanzten!

Er beruhigte sich wieder und versuchte, sich ein objektives Bild von seiner Situation zu machen. Er stellte sich direkt hinter das Feuer, sodass aus dem Schatten auf der Klippe ein drei Meter hoher Fredric Drum wurde. Dann hielt er die eine Hand hoch und zeichnete Schattenbuchstaben in die Luft: Langsam und immer wieder beschrieb er sorgfältige Kreise und Bögen: SOS.

Hoffentlich waren sie nicht abergläubisch! Hoffentlich glaubten sie nicht an ein Wunder, das sie da oben an der Felswand hoch über dem Meer erblickten! Eine Vision, eine nächtliche Luftspiegelung als Ergebnis einer übermäßigen Camogli-Feier. Fischer, dachte Fredric Drum, Fischer sind vernünftige Menschen.

Er legte auf dem Feuer Gras nach und zeichnete weiter das SOS-Zeichen in die Luft. Plötzlich sah er seine wahre Natur: Er befand sich in der Antike, in Platons Höhle, er war ein Schatten, er war ein idolum, ein Abbild von etwas, das unabhängig von der wahren Welt der Ideen existierte. Genau gesagt, war er Idolum Drum. Aber vor dem Feuer stand Fredric Drum, der Wirkliche, der Echte, der Platon zufolge nicht wahrnehmbar war.

Er hoffte allerdings doch, dass er wahrnehmbar war. Dass die Fischer nicht zu viel Platon gelesen hätten und den Schatten an der Felswand für die eigentliche Wirklichkeit hielten.

SOS. SOS. Er fuhr so lange damit fort, SOS in die Luft zu schreiben, bis das Feuer vollkommen heruntergebrannt war und es kein Gras mehr auf seinem Vorsprung gab.

Gespannt starrte Fredric in die Dunkelheit, zu den Fischerbooten hinaus, die er nicht mehr hatte sehen können, solange das Feuer noch brannte. Sie waren verschwunden. Draußen auf dem Meer war es finster.

Er sah auf die Uhr. Es war ein paar Minuten nach neun. Wie lange hatte sein Schattenspiel gedauert? Zehn Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde?

Er war blind, geblendet, zeitlos und stumm.

Die Boote waren verschwunden.

Hatten sie etwas gesehen? Hatten sie begriffen, dass sich hier ein Mensch in größter Not befand? Wo waren sie geblieben? Waren es überhaupt Boote mit lebenden Menschen gewesen?

Hatte er überhaupt irgendeinen festen Anhaltspunkt, etwas Konkretes, das Anlass zur Hoffnung gab? Eine Versicherung, dass sein Leiden in dieser absurden Situation bald ein Ende finden und er stattdessen zwischen den Marmorsäulen im Tempel der Aphrodite wandeln würde? Wo Krüge voller Wein entlang den Wänden aufgestellt waren und der Duft von Myrrhe und Balsam für Wohlgefühl und Seelenfrieden sorgte. Wo der Böse Plan, die Kabbalisten, die Ritter der Dunkelheit, die Satanisten, die Väter der Langen Messer, der Ochsenmensch, die Titanen der Labyrinthe und die Exorzisten in die Abgründe der Keller vertrieben und durch die Tamburine der Tänzerinnen ersetzt worden waren. Die Süßen Früchte der Guten Mütter, die sanften Töne der Syrinx, der Küchenchef und Sommelier der Bacchanale mit der Wärme des Weißen Feuers und den Daunendecken des Großen Bettes.

Der Kristallstern. Wenn er doch bloß den Kristallstern in der Tasche gehabt hätte. Er war nackt.

Halb sitzend, halb liegend lehnte er an der Felswand. Er schlief nicht, war nicht wach, fror nicht, hatte es nicht warm. Er war nichts. Doch, er war in einer Schattenwelt. Dort würde er mit Geneviève tanzen, bis die Sonne aufging. Dann würden sie über das Meer hinausfliegen, über die Wellen schweben.

Drei Polizisten hatten ihn den Abhang hinuntergestoßen. Sie zogen ihn wieder hoch. Stießen ihn wieder nach unten. Er rollte und fiel. Wurde wieder hochgezerrt und erneut hinuntergestoßen. Rauf. Runter. Rauf. Runter. Drei Polizisten lächelten. Er war der Stein. Der Stein des Sisyphos. Rauf. Runter. Rauf. Runter. Die Titanen lächelten, der dreiköpfige Titan in Uniform. Sie lachten. Alle Köpfe lachten jedesmal, wenn er rollte und fiel.

Fredric richtete sich jäh auf. Er war schweißüberströmt, seine Zunge war im Mund auf die doppelte Größe angeschwollen. Er hörte ein Geräusch. Ein lautes Geräusch! Das war ein Brummen. Es war gewaltig und dröhnte in seinen Ohren.

Dann fegte plötzlich ein scharfer Lichtkegel über die Felswand. Das Licht kam von einem Hubschrauber, der zwanzig, dreißig Meter entfernt in der Luft hing. Fredric sah ihn deutlich. Er war weiß und trug am Heck ein großes rotes Kreuz.

Keine halluzinatorischen Engel. Ein echter Hubschrauber. Er stand ganz still und hob vorsichtig eine Hand. Sie sahen ihn nicht. Er stand im Dunkeln. Der Lichtkegel war über, unter, neben ihm. Dann wurde er plötzlich von dem starken Licht geblendet und fiel auf den Felsboden zurück.

Aus dem Helikopter wurde gerufen, gefuchtelt, gestikuliert. »La! Un signore! La corda, rapido! «

Er sah das Seil, das von dem Hubschrauber aus zu seinem Vorsprung herabgelassen wurde, und durchschaute das System. Ohne Probleme legte er sich die Tragegurte an und überprüfte die Verschlüsse zweimal, bevor er das Startzeichen gab. Dann wurde er hochgezogen.

Sie zerrten ihn durch die Luke und legten ihn auf eine Trage. Drum zeigte auf eine Flasche. Er trank. Spumante. Und übergab sich. Dann trank er noch mehr Spumante und lächelte. Sie fielen sich gegenseitig ins Wort und fragten nach allem gleichzeitig. Fredric schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Dann richtete er sich halb auf und sagte leise, aber deutlich:

»Signori. Mi scusi. Grazie. Könnten Sie so nett sein, mich nach Ofanes zu transportieren? Zur Polizeiwache. Per favore. «

Wenige Minuten später, um Viertel vor zwei in der Nacht, landete der Rettungshubschrauber auf dem menschenleeren Marktplatz der kleinen Ortschaft Ofanes, direkt neben der Polizeiwache.

Fredric Drum stieg selbstständig aus dem Helikopter, ging direkt auf die Tür der Polizeiwache zu und klopfte an. Von innen wurde geantwortet.

2.

Er bestreitet jegliche Kenntnis vom Kalabrischen Falken, genießt ein Glas »Taurasi Riserva 1982« und fällt in tiefe Gedanken

Fredric Drum öffnete die Tür und gelangte in einen kleinen Raum, in dem es einen großen Schreibtisch mit einem Telefon, einen Stuhl und eine Bank direkt neben der Tür gab. Sonst nichts. Das also war die Polizeiwache dieses Ortes.

Auf dem Stuhl saß ein dicker, kleiner Mann mit einer Glatze und müden, geröteten Augen. Er sah aus, als habe er sich in aller Eile angezogen. Das Hemd war nicht zugeknöpft, und an den Füßen, die unter dem Tisch hervorragten, trug er Pantoffeln. Das war nicht weiter erstaunlich, denn schließlich war es mitten in der Nacht.

Fredric ahnte schon, dass es mit der Laune des Polizeichefs nicht zum Besten stand, aber das galt auch für seine eigene. Er mochte nicht stehen. Deshalb setzte er sich ungefragt auf die Bank.

»Verdammter Eierdieb!« Die Einleitung des Gesprächs war in einem schroffen und zischenden Ton gehalten, und Fredric schüttelte den Kopf, um Klarheit in sein Hirn zu bekommen. Hatte er richtig gehört?

»Sì, Signor straniero, Eierdieb! Glauben Sie vielleicht, wir wüssten nicht, was Sie da unten auf den Klippen wollten? Ha! Wir haben dieses Jahr schon Deutsche, Niederländer, Schweden und Dänen dabei erwischt. Sie wollten Eier von unserer seltenen Falkenart, dem Falco calabrese, stehlen. Der ist vom Aussterben bedroht, verstehen Sie?« Der Polizeichef zündete sich eine Zigarette an und bekam einen heftigen Hustenanfall.

»Signor poliziotto …« Drum konnte nur noch flüstern. Er fühlte sich plötzlich vollkommen leer, hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären. Keine Diskussion. »Ich bin mit ganz anderen Absichten nach Ofanes gekommen, als Sie glauben. Ich will zwei Wochen lang hier bleiben. Im Albergo Anziano Ofani, dem einzigen Hotel hier am Ort, ist ein Zimmer für mich reserviert. Ich könnte morgen alles erklären, wenn ich nur meinen Koffer fin …«

»Erst mal unterschreiben Sie hier!« Der kleine, dicke Mann sprang von seinem Stuhl auf, vor ihm auf dem Schreibtisch lag plötzlich ein Blatt Papier.

Fredric dachte gar nicht daran, es durchzulesen. Er nahm einen Stift und unterschrieb mit einer unleserlichen Signatur.

»Passaporto! «, zischte der Polizeichef.

Fredric schüttelte bedauernd den Kopf. » Der ist im Koffer«, sagte er. »Ich komme morgen wieder.« Er ging zur Tür.

»Können Sie mir sagen, wo ich den Albergo Anziano Ofani finde?«

Der Polizeichef schob ihn auf die Straße hinaus und zeigte mit einem fleischigen Finger auf einen dunklen Schatten, der ein paar hundert Meter oberhalb der einzigen Straße des Ortes, einer Sackgasse, lag.

»Buona notte«, sagte Fredric zum Dank und taumelte in die Dunkelheit.

Dreimal musste er sich ausruhen auf dem kurzen Weg zu dem Gebäude, das angeblich sein Hotel sein sollte. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an. Er konnte an nichts anderes denken als an Essen und Trinken. Sein Durst war unerträglich. Endlich erreichte er die Tür. Das Gebäude war dunkel, nirgendwo ein Licht. Müde registrierte er, dass es sich um ein sehr altes Bauwerk handeln musste. Nach langer Suche fand er zu guter Letzt etwas, das an eine Türglocke erinnerte: Eine Schnur mit einem Schild darunter, das zum Ziehen aufforderte.

Irgendwo da drinnen hörte er eine Glocke läuten. Er wartete. Nichts passierte. Daraufhin zog er noch mehrmals kräftig an der Schnur. Endlich sah er Licht in einem Fenster und hörte tapsende Schritte. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.