Der Fliegenfischer - Gert Nygårdshaug - E-Book

Der Fliegenfischer E-Book

Gert Nygårdshaug

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein neuer Fall für den weinliebenden Restaurantbesitzer und Amateurdetektiv Fredric Drum: Kaum hat Drum eine Fährkollision, bei der er selbst über Bord ging, sowie einen möglichen Mordanschlag überlebt, als er zu einem archäologischen Sensationsfund zweier alter Moorleichen ins abgelegene Gebirgstal in Nord-Østerdal als Dechiffrierungsexperte gerufen wird. Doch auch hier scheint es jemand auf ihn abgesehen zu haben, wie er beim Fliegenfischen feststellen muss...-

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Seitenzahl: 327

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Gert Nygårdshaug

Der Fliegenfischer

Aus dem Norwegischen von Fliegenfischer

Saga

Der Fliegenfischer

 

Übersezt von

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1987, 2021 Gert Nygårdshaug und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726791877

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1

Fredric Drum begegnet dem Frühling, völlig durchnässt, aber erfüllt von Optimismus und Vorfreude

Die Frühlingssonne war kräftig und warm. Fredric Drum spürte, wie sie seine Nase reizte. Er blinzelte zu ihr hoch und nieste dreimal heftig.

Sein Niesanfall erregte keine besondere Aufmerksamkeit. Er war einer der wenigen, die am Ufer saßen und auf die Fähre zur Hovedøya, der weitgehend naturbelassenen Fjordinsel in der Nähe des Zentrums von Oslo, warteten, und da es schon auf den späten Nachmittag zuging, bewegte sich der größte Teil des Passagierstroms in die entgegengesetzte Richtung.

Es war zehn vor fünf, und außer ihm wollten noch drei weitere Personen mit dem Schiff fahren.

Eine Möwe klatschte ihre Visitenkarte auf die groben Planken des Landungsstegs, einige Zentimeter von seinem rechten Hosenbein entfernt. Ein paar Spritzer zeichneten sich auf dem hellen Stoff ab, aber er machte sich nicht die Mühe, sie wegzureiben. Es war Frühling, und die Natur war großzügig und vielfältig. Die Luft war klar, der Himmel blau und mild, und es würde noch viele Stunden dauern, bis die Sonne hinter den Hügeln von Bygdøy versank.

Die Helligkeit der Sonnenstrahlen wurde von den kleinen Kräuselungen des grauen Fjordwassers zurückgeworfen.

Wenn er die Augen zusammenkniff, wurden sie zu weißen Vögeln, die von der Meeresoberfläche aufstiegen und lautlos an ihm vorbeiflatterten.

Die Sonnenstrahlen konnten so vieles bedeuten.

Er zog einen Gegenstand aus der Hosentasche. Es war ein Kristall, der wie ein perfekter fünfzackiger Stern geformt war, so groß wie ein Fünfkronenstück, aber viel dicker, etwa einen Zentimeter. Diesen Kristall trug Fredric Drum stets bei sich. Der Stern lag immer tief in seiner Hosentasche und wärmte ihn. Jetzt hielt er ihn vor die Sonne, und schöne Farben funkelten auf seiner Netzhaut. Er nieste wieder und steckte den Kristallstern schnell an seinen Platz in der Tasche zurück.

Die Fähre war auf dem Weg zum Landungssteg, voll beladen mit Osloern, die an diesem Tag auf der Hovedøya den Frühling genossen hatten.

Er war gut gelaunt. Soweit er sich erinnern konnte, war er schon lange nicht mehr in so einer Hochstimmung gewesen. Das lag nicht nur an dem wunderbaren Frühlingstag. In der Tasche hatte er eine Einladung von einem französischen Weinimporteur, der gemeinsam mit einem bekannten Restaurant aus Oslo eine dégustation, eine Weinprobe mit diversen Weinen aus dem Anbaugebiet St. Julien, veranstalten wollte. Sie würde heute, am Mittwoch, dem fünften Mai, stattfinden. Es sollte um halb sechs losgehen, und zwar auf der Hovedøya, genauer gesagt: im Café der Insel, das für diese besondere Gelegenheit reserviert worden war. Die Einladung war auf schönem Papier gedruckt, mit dem farbigen Emblem der Firma in der oberen linken Ecke.

Ein bekanntes Restaurant aus Oslo? Es stand kein Name dabei, aber Fredric hatte den starken Verdacht, dass es sich um das »D’Artagnan« handeln musste. Er war mit dem netten dänischen Gourmet und Weinliebhaber, der es führte, persönlich befreundet. Ja, es musste das »D’Artagnan« sein, dachte Fredric. Es gab nicht viele Restaurants in Oslo, die die nötige Phantasie für so etwas gehabt hätten.

Die Fähre hatte angelegt, und die Passagiere strömten an Land. Bald konnten er und die anderen drei an Bord gehen.

Merkwürdig. Auf dieser Fähre schienen sich keine weiteren Weinverkoster zu befinden. Die beiden Frauen mit Thermotasche und zusammenfaltbarer Unterlage wollten bestimmt die Natur und den hellen Frühlingsabend am Strand genießen. Sie nahmen hinten Platz. Der andere männliche Fahrgast blieb wie er auf dem Vorderdeck stehen. Er wirkte wie ein Tourist, so neugierig, wie er sich umschaute. Fredric beruhigte sich mit dem Gedanken, dass die anderen Gäste sicherlich die nächste Fähre nehmen würden, die näher am Termin fuhr. Er selbst war früh dran und hatte vor, erst ein bisschen auf der Insel herumzuspazieren. Er wollte dem Gesang der Vögel lauschen, sich am Strand Muscheln ansehen, den Duft der Vegetation einsaugen und seinen Kopf von den letzten Resten der Winterschlacke befreien.

Die Fähre setzte zurück und wendete den Bug in Richtung Hovedøya.

Er stand mit dem Rücken an das Steuerhaus gelehnt und dachte nach. Man sagte, dass sein etwas mageres, jungenhaftes Gesicht beinahe zu jugendlich wirke, um zu einem Mann von bald vierunddreißig Jahren zu passen. Wenn man ihn genauer betrachtete, konnten seine Augen, die zunächst treuherzig blau dreinzublicken schienen, einen harten, fast huskyartigen Zug annehmen, der Erfahrung und Tatkraft verriet. Aber hinter jedem Gesichtsausdruck konnte man bei ihm auch Witz und Humor erahnen. Sein Lachen war nämlich Fredric Drums wichtigste Waffe. Damit hatte er sich schon aus so mancher Klemme befreit. Und an bedrohlichen Situationen hatte in seinen fast vierunddreißig Lebensjahren kein Mangel geherrscht. Seine grenzenlose Neugierde hatte ihn in so manche erstaunliche und unwillkommene Situation geführt. Höhepunkt seiner bizarren Erlebnisse war die tragische Geschichte in Frankreich vor nun fast zwei Jahren gewesen. Objektiv völlig unschuldig, war er doch indirekt daran beteiligt gewesen, dass sieben Menschen einen schaurigen Tod erlitten hatten. Dieses Ereignis hatte den sonst eher fröhlichen und optimistischen Fredric Drum in monatelange Depressionen verfallen lassen. Jetzt war er endlich wieder auf dem Weg nach oben. Nach oben und zurück ins Licht. Es war Frühling, und er konnte sich auf Wein freuen. Auf guten Wein.

Die Fähre kam ordentlich voran und würde in wenigen Minuten an der Hovedøya, der geschützten Oase des Oslofjords, anlegen.

Petite dégustation. Die Worte hämmerten in seinem Kopf, aber er schob die unangenehmen Assoziationen über Bord. Mit Frankreich war er jetzt fertig. Die schemenhafte Gestalt einer schönen Frau, Geneviève, war fast ganz ausgelöscht. Fast.

Der andere Mann stand ganz vorn im Bug, zwischen seinen Beinen eine offene Tasche, und Fredric konnte sehen, dass darin zuoberst eine Fotoausrüstung lag. Der Mann schien die Aussicht und die nicht allzu kühle Seeluft zu genießen. Er spähte konzentriert nach vorn, aber hin und wieder blickte er auch verstohlen nach hinten zu Fredric.

Den »Pilger« hatte man Fredric genannt. Inzwischen war es allerdings lange her, dass ihn jemand so bezeichnet hatte. Aber jedes Mal, wenn er in irgendetwas verwickelt wurde, worüber die Zeitungen berichteten, tauchte dieser Spitzname wieder auf. Er hasste ihn. Der Name war vor mehreren Jahren bei einem unbedeutenden Gespräch mit einer prominenten Dame aufgekommen, mit der er später eine unglückliche Beziehung hatte. Sie hatte zu einem Raubtier von Journalisten, der für eine Wochenzeitschrift schrieb, gesagt: »Ich habe meinen Pilger gefunden!« Dieser »Fund« erwies sich schon bald als völlig uninteressant für sie. Ihn hatte die Angelegenheit allerdings verletzt. Später war ihm eine noch schlimmere Wunde zugefügt worden, die nach wie vor schmerzte. Er hasste den »Pilger«. Manchmal hasste er auch Fredric Drum, aber dabei handelte es sich womöglich nur um eine oberflächliche Abneigung.

Plötzlich fiel ihm auf, dass ihm der andere Mann vom Bug des Schiffes aus zuwinkte. Er wollte, dass er zu ihm nach vorn kam. Fredric ging zögernd auf den Mann zu. Sie hatten inzwischen die Hälfte der kurzen Strecke zurückgelegt, und die Festung Akershus lag bereits hinter ihnen.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte Sie etwas fragen«, sagte der Mann, der so um die fünfzig zu sein schien und einem früheren norwegischen Kultusminister nicht unähnlich sah. Seine Augenlider waren nämlich schwer, sehr schwer. »Entschuldigen Sie, aber haben Sie eine Ahnung, ob die Kanonen da oben auf der Festung Akershus jemals gegen eine feindliche Macht eingesetzt worden sind? Ich interessiere mich nämlich für Geschichte, wissen Sie, aber die Stadtgeschichte von Oslo kenne ich kaum.«

Der Mann redete schnell und eifrig und hatte keinen ausgeprägten Dialekt.

»Die Kanonen, ja«, antwortete Fredric und dachte nach. »Die Kanonen sind wohl nicht …« Er hielt jäh inne und blickte nach links.

Ein großes Motorboot kam mit ungeheurer Geschwindigkeit direkt auf die Fähre zu, die nur noch hundert Meter vom Kai der Hovedøya entfernt war. Es war auf Kollisionskurs und schien nicht ausweichen zu wollen.

»Verdammt!«, brüllte Fredric und trat einen Schritt zurück, wurde aber von dem anderen festgehalten, der Fredrics Arm offenbar voller Panik ergriffen hatte.

Das Horn der Fähre tutete verzweifelt, erstarb aber bald wieder. Was dann geschah, spielte sich innerhalb von Sekunden ab. Trotzdem erschien es Fredric wie ein Film in Zeitlupe, unwirklich, nah und gewaltsam.

Direkt vor dem Zusammenstoß warf sich ein Mensch von dem Motorboot ins Meer hinaus, dann gab es einen gewaltigen Krach, und etwas zersplitterte. Die Vollbremsung führte dazu, dass Fredric rückwärts über die Reling stürzte, als sich der panische Griff des Fremden um seinen Arm löste. Während er fiel, registrierte er drei Dinge: Ein großer Splitter von irgendeinem Kunststoff ragte direkt unter dem Kinn aus dem Hals des Mannes, der ihn gerade nach den Kanonen von Akershus gefragt hatte. Die rechte Hand des Mannes öffnete sich, und eine Injektionsspritze mit bereits eingeschobener Metallkanüle fiel auf die graue Meeresoberfläche zu. Danach versank auch die Tasche mit der Fotoausrüstung und ihrem sonstigen Inhalt.

Diese drei Dinge konnte er noch wahrnehmen, bevor sich das kalte Fjordwasser über ihm schloss.

Er arbeitete sich an die Oberfläche hoch, hustete, räusperte sich und spuckte. Kalt, es war kalt! Seine Augen brannten, und er blinzelte, um wieder deutlich sehen zu können.

Die Fähre und das Motorboot lagen jetzt ganz still und schaukelten vor ihm. Keines der Schiffe schien einen so großen Schaden erlitten zu haben, dass es zu sinken drohte. Er legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Auf die Leinwand des Himmels projizierte er die dramatischen Sinneseindrücke der letzten Sekunden. Dann drehte er sich um und stieß mit dem Kopf gegen einen kleinen Gegenstand, der im Wasser trieb und wie eine Puppe aussah. Ohne lange darüber nachzudenken, ergriff er ihn, stopfte ihn unter sein Hemd und kraulte mit kräftigen Zügen die letzten Meter bis zur Hovedøya.

Dort empfing ihn eine große Menschenmenge. Leute, die auf dem Landungssteg auf die Fähre gewartet hatten. Sie wollten nach einem sonnenreichen Tag nach Hause.

»Das ist ja noch mal gut gegangen«, tröstete ihn einer. »Verdammter Raser, der gehört sofort in den Knast«, meinte ein anderer.

»Der Raser ist an Bord der Fähre gezogen worden«, erklärte jemand.

»Gebt dem armen Kerl hier doch ein Handtuch«, rief eine Frau.

Bevor er auch nur fünf Schritte auf dem Strand gegangen war, hielt Fredric acht Handtücher in den Armen. Er grinste dämlich und dankte nach rechts und links. Dann zog er sich in den Wald zurück, wobei er mit Zeichen zu verstehen gab, dass er die triefenden und stinkenden Kleider ausziehen wolle. Bald war er ganz allein inmitten der frühlingsgrünen, üppigen Natur.

Er streifte schnell seine Sachen ab. Ein sonderbarer, zerlumpter Gegenstand fiel aus seinem Hemd und blieb halb vom Gras bedeckt liegen. Das musste so eine Art Puppe sein.

Fredric trocknete seinen nackten Körper gründlich mit allen acht Handtüchern ab. Dann nahm er sich viel Zeit, um seine Sachen gut auszuwringen. Anschließend vollführte er zunächst einen Tanz, der einem Faun alle Ehre gemacht hätte, aber dann bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass er gar nicht fror. Die Luft war mild, daher konnte er ruhig stehen bleiben. Er schnüffelte argwöhnisch an seinen Kleidern.

Das Bouquet war nicht wirklich gut. Er würde die ganze Weinprobe verderben, wenn er damit ankäme. Deshalb würde er wohl auf die dégustation verzichten müssen. Keinen guten Wein für Fredric Drum an diesem Abend. Kopfschüttelnd begann er, seine halb trockenen Sachen wieder anzuziehen.

Er blieb noch eine Weile zwischen den Blättern und Büschen. Es war so grün. So unfassbar grün. Es war grün in allen Abstufungen, von den dunkelgrünen Lanzettblättern der Waldrose bis hin zu den gelbgrünen Birkenkätzchen. Und es roch stark nach Frühlingserde. Ein früher Zitronenfalter kam angeflattert und setzte sich auf einen Zweig direkt vor seiner Nasenspitze. Dort saß er und schaukelte und sah genauso aus wie die Blätter auf dem Zweig. Die Tarnung war vollkommen. Über ihm, oben in den Baumkronen, veranstalteten die Drosseln ein kakofonisches Nachmittagstreffen.

Er setzte sich auf einen morschen Baumstumpf und ließ seine Kleidung ausdampfen. Er fühlte sich berauscht von einem optimistischen Staunen, das in seiner Brust kribbelte. Wie die Natur brodelte! Welch ein Überfluss an Leben! In was für einer Ganzheit er aufging.

Ganzheit.

Fredric richtete sich ruckartig auf. Der Mann musste durch den Kunststoffsplitter, der ihn in den Hals getroffen hatte, augenblicklich gestorben sein. Er selbst hingegen war nur über Bord gegangen. Da hatte er noch Glück gehabt. So war ihm der Anblick der Blutlache erspart geblieben.

Unten vom Landungssteg hörte er Rufe und ein lautes Spektakel. Er vernahm das Motorengeräusch mehrerer Boote, die sich näherten. Eine kräftige Stimme brüllte: »Wo ist der Passagier, der ins Wasser gefallen ist?«

»Der ist im Wald und wringt seine Kleider aus«, gab jemand zur Antwort.

Woher wollen die denn wissen, was ich hier auswringe, dachte Fredric und sah die Sonne durch das Laub funkeln. Sogar die Schatten waren grün. Er sammelte sieben der Handtücher ein. Das achte legte er über den puppenartigen Gegenstand und packte ihn darin ein. Dann nahm er den Pfad hinunter zum Landungssteg.

Neben der Fähre und dem Motorboot, die jetzt dort festgemacht hatten, sah er ein Polizei- und ein Ambulanzboot. Als er sich näherte, wurde eine Bahre mit einem weißen, alles bedeckenden Laken von der Fähre auf das Ambulanzboot hinübergehoben. Dieses fuhr dann in Richtung Rathaussteg los.

»Da ist er!«, rief eine Frau und zeigte auf Fredric.

Sofort richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn, und er wurde mit tausend Fragen überschüttet. Anstatt zu antworten, begann er, Handtücher auszuteilen. Das, in das die Puppe gewickelt war, behielt er. Dann schüttelte er den Kopf und bahnte sich einen Weg zum Polizeiboot hinunter. Ein uniformierter Beamter winkte ihn an Bord.

»Sind Sie der Passagier?«, fragte er, nicht direkt unfreundlich.

Fredric nickte.

»Wir fahren bald zurück zum Rathaussteg, aber erst brauchen wir einige Informationen von Ihnen.« Der Polizist wies ihm den Weg in die Kabine unten im Boot.

Insgesamt waren vier Polizisten anwesend. Zwei davon waren offensichtlich gerade dabei, den Steuermann und den Decksjungen von der Fähre zu verhören, ein anderer stand dicht bei einem bleichen, pickeligen jungen Burschen, der in eine Wolldecke gewickelt in einer Ecke saß. Der Fahrer des Motorboots, dachte Fredric. Der vierte Polizist, der Fredric an Bord gewunken hatte, holte Block und Bleistift hervor.

»Name und Geburtsdatum«, verlangte er.

»Henning Haugerudsbråten, siebenundzwanzig null fünf zweiundfünfzig«, brach es aus Fredric hervor, als habe er es lange geübt.

Der Polizist notierte die Angaben und bat Fredric, zu berichten, was passiert war.

Während Fredric alles genau wiedergab, starrte ihn der junge aknebehaftete Bursche mit großen Augen an. Es war kein freundlicher Blick, und Fredric fragte sich, ob der Bootsführer eine Gefängnisstrafe bekommen würde. Fahrlässige Tötung. Warum hatte er das Motorboot direkt auf die Fähre zugesteuert? Aus Unaufmerksamkeit? Aus Panik? Oder war es technisches Versagen gewesen? Er ertappte sich dabei, dass er Letzteres hoffte. Fredric wünschte niemandem eine Freiheitsstrafe.

»Dann fahren wir jetzt«, befahl der Anführer des Quartetts.

Fredric hatte einen falschen Namen angegeben. Die Angst davor, dass die »Pilger«-Geschichte in den Zeitungen wiederauferstehen könnte, hatte ihn dazu getrieben. Die Skandalblätter hatten die schlechte Angewohnheit, mit Vorliebe Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, die nicht zusammengehörten. Sicherheitshalber gab er das Restaurant »Kasserolle« als Adresse an, sodass die Polizei ihn finden konnte, wenn sie weitere Informationen benötigen sollte.

Das Polizeiboot brauchte nur zwei, drei Minuten bis zum Honnørsteg. Während der Überfahrt fand ständig Funkverkehr statt, und mehrere Polizeiwagen sowie einige neugierige Schaulustige erwarteten sie schon. Fredric lehnte das Angebot, in einem Polizeiauto nach Hause gefahren zu werden, dankend ab.

Gerade als sie an Land gingen, riss sich der junge Bursche von dem Polizisten los, der ihn am Arm gehalten hatte.

»Das war ein Unfall, hört ihr! Ich hab das nicht gewollt!«, rief er.

Fredric drehte sich um und fing den verzweifelten Blick des Jungen auf. Warum diese Panik, dachte er. Wenn es ein Unglück war, hast du doch nichts zu befürchten. Dann ging er schnell den Landungssteg hoch und strebte eine Bank unterhalb der Südmauer des Rathauses an. Hier war es windgeschützt, und die Sonne wärmte immer noch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis seine Kleidung trocken und der Gestank größtenteils verschwunden sein würde.

Ein Unfall, nichts als ein Unfall.

Ihm war ein gemütlicher Abend mit gutem Wein und netten Leuten durch die Lappen gegangen. Das war nichts, dem er lange nachtrauern musste. Neue Gelegenheiten würden sich bieten, und der Sommer stand vor der Tür. Der Weinkenner Fredric Drum musste sich nicht beklagen.

Er hatte sich, obwohl er noch ziemlich jung war, einen Namen als einer der besten Weinkenner der Stadt erarbeitet. Grund dafür waren die »Kasserolle« und der Ruf, den das Restaurant sich im Laufe der Zeit erworben hatte. Vor einigen Jahren hatten er und sein Freund Tob, Torbjørn Tinderdal, das kleinste und exklusivste Restaurant von Oslo eröffnet und es »Kasserolle« genannt. Es lag im Frognerveien und hatte nur sechs Tische. Wunderbare Gerichte wurden dort serviert. Das Beste aus der norwegischen Küchentradition wurde mit der Raffinesse der französischen Küche und eigenen Experimenten kombiniert. Auch die Weine waren erlesen. Sie wurden nach sorgsamer Verkostung durch Tob und ihn selbst direkt von den Châteaus importiert. Zu jedem Gericht gab es einen speziellen Wein, der die Mahlzeit zur Vollendung brachte. Bisher hatte noch kein Gast die »Kasserolle« unzufrieden verlassen. Wenn man das gastronomische Erlebnis wünschte, musste man den Tisch wochenlang vorher bestellen. Hier konnte man nicht einfach vorbeischauen und darauf vertrauen, dass man schon einen Platz bekommen würde. Die »Kasserolle« war das einzige Restaurant in Oslo, das zwei Sterne im Guide Michelin vorweisen konnte. Die Inneneinrichtung in dem kleinen, intimen Lokal war außerdem so gemütlich und behaglich, dass es auch in solchen Kreisen Aufmerksamkeit erregt hatte, die sich nicht nur für gutes Essen interessierten. Das Restaurant hatte im besten Sinne des Wortes »Persönlichkeit«. Dass das gelungen war, war nicht zuletzt Tobs Verdienst, der einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik und Lebensqualität hatte.

Tob hatte außerdem auch etwas von einem Philosophen. Seine Augen hinter der runden Apothekerbrille konnten vor Enthusiasmus leuchten, wenn sie beide sich in ruhigeren Arbeitsphasen an ihrem kleinen privaten Tisch in der Ecke niederließen und Themen anschnitten, die über das rein Alltägliche hinausgingen. Außerdem gelang es Tob immer wieder, eine zur jeweiligen Situation passende Weisheit zu formulieren, die nicht unbedingt in ihrer ganzen Tiefe ergründet werden konnte. Torbjørn Tinderdal war einfach großartig und der beste Kumpel und Kompagnon, den man sich wünschen konnte.

Als Hilfe und Entlastung im Restaurant hatten sie Lehrlinge aus der Kochschule eingestellt. Um die Lehrlingsstellen in der »Kasserolle« rissen sich alle, nicht nur wegen ihres Rufes, über die beste Küche der Stadt zu verfügen, sondern auch, weil es Tobs und Fredrics Prinzip war, den Gewinn des Restaurants, der nach Abzug der Ausgaben übrig blieb, zu gleichen Teilen unter denen aufzuteilen, die dort arbeiteten, ob sie Besitzer oder Lehrling waren. Und diese Gewinne waren in den letzten Jahren sehr ansehnlich gewesen.

Fredric Drum hatte keinen Grund zur Klage.

Bald würde die Sonne hinter den neuen, yuppiemäßigen Fassaden von Aker Brygge versinken. Es funkelte im Plastiktunnel, der die Menschen über das Verkehrschaos darunter hinweghob. Die »Tyrihans«, eines der Schiffe nach Nesodden, war gerade dabei, vom Kai abzulegen. Fredric saß da und betastete seinen Kristallstern, den er aus der Tasche gezogen hatte.

Wie ein Bombensplitter. Der Zusammenstoß musste eine große Spannung im Kunststoffrumpf freigesetzt haben, die ein Stück davon mit gewaltiger Geschwindigkeit auf den Mann neben ihm geschossen hatte. Den Mann, der sich verzweifelt an seinem Arm festgehalten und auf die Antwort auf die Frage gewartet hatte, ob die Kanonen auf Akershus jemals gegen eine feindliche Macht eingesetzt worden waren. Gerade so, als ob diese Frage auf keinen Fall hätte gestellt werden dürfen: Sekunden später war die Kehle des Mannes durchbohrt. Er würde niemals mehr in der Lage sein, Fragen zu stellen.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne wurden durch die exakten Prismen gebrochen, die die Zacken des Sterns bildeten, sodass ungewöhnliche Farbkombinationen entstanden. Fredric war immer wieder erstaunt. Mehrmals hatte er das unerklärliche Phänomen beobachtet, dass es eine Art Kommunikation zwischen dem Kristall und ihm gab, ebenso zwischen dem Kristall und der Umgebung. Dass der Kristall Dinge spürte, die er selbst nicht erfasste. Fredric war davon überzeugt, dass der Kristallstern ihm vor fast zwei Jahren da unten in Südfrankreichs bestem Weinanbaugebiet mindestens einmal das Leben gerettet hatte. Oder, wie Tob gesagt hatte: »Im Kristall wohnt die Antwort auf das Urrätsel des Menschen: der Ursprung. Schade, dass niemand in der Lage ist, die Sprache des Kristalls zu lesen.«

Die Farben waren heute ungewöhnlich, aber das hatte sicherlich seine Richtigkeit. Schließlich war er Zeuge eines schlimmen Unfalls gewesen, und das spiegelte sich möglicherweise in dem empfindlichen Kraftfeld zwischen ihm und dem Kristall wider. In diesem Feld gab es kein Subjekt oder Objekt, nur ein »Etwas«. Die Farben gehörten zu diesem »Etwas« und konnten niemals lügen.

Er war jetzt fast ganz trocken. Neben ihm auf der Bank lag als kleines Bündel das grün gesprenkelte Handtuch, in das er den zerzausten, puppenähnlichen Gegenstand gepackt hatte. Vorübergehend dachte er daran, das Ganze in einen Papierkorb zu werfen, aber er überlegte es sich anders. Warum sollte er das Ding nicht mit nach Hause nehmen und seinen »Fund« dort etwas genauer untersuchen? Er hatte ihn schließlich schon eine Weile mit sich herumgeschleppt, weshalb auch immer.

Er winkte ein Taxi heran.

Die Pension, in der er wohnte, hieß »Morgan« und lag im Parkveien. Still und ruhig, mit einem gewissen Standard.

Jetzt lebte er schon seit fast einem Jahr dort, und das war so etwas wie sein persönlicher Rekord. Fredric Drum zog nämlich von einer Pension in die nächste. Er hatte noch nie eine eigene Wohnung gemietet oder besessen. Tob und seine anderen Freunde machten sich über diese merkwürdige Vorliebe ziemlich lustig. Sie meinten, dass er es auf diese Weise nie zu irgendeinem Privatleben bringen würde, zu einem »Zuhause«, in dem er Wurzeln schlagen und sich wohlfühlen könnte.

Wurzeln? Zuhause? Fredric hatte die Ansichten der anderen nie verstanden. Was sollte er mit einem »Zuhause«? Hatte er etwa keine Wurzeln? Er hatte sie genauso gut wie jeder andere. Unkompliziert und zufriedenstellend. Keine materiellen Verpflichtungen. Keine Haufen irdischer Güter. Da war höchstens sein allmählich ziemlich umfangreiches und gut sortiertes privates Weinlager, mit dem ihm die Umzüge immer schwerer fielen.

Vielleicht war das der Grund, warum er schon recht lange in der Pension »Morgan« wohnte. Sonst war er im Durchschnitt immer nach einem halben Jahr wieder umgezogen. Das Leben eines Pensionsbewohners schien nämlich einem unvermeidlichen Gesetz zu folgen: Nach einem relativ anonymen Aufenthalt von etwa einem halben Jahr begann eine Phase, in der Inhaber und Mitbewohner aufdringlich familiär zu werden drohten. Seine eigenen Gewohnheiten und Lebensrhythmen wurden von einer Routine eingeengt, die der Atmosphäre der Pension entsprach. Er spürte, wie er ein organischer Teil einer trostlosen Maschinerie wurde. Immer, wenn er an diesem Punkt angekommen war, beschloss Fredric Drum, umzuziehen.

Wurzeln? Zuhause? Vielleicht irgendwann einmal. Aber das konnte noch lange dauern. Er hatte einen unklaren Traum, ein flüchtiges Gefühl davon.

Er schloss die Tür zur Pension auf und ging den geräuschlosen Korridor bis zu seinem Zimmer entlang. Oder besser gesagt: seinen Zimmern. Er hatte ein kleines Wohn- und ein Schlafzimmer gemietet. Das Wohnzimmer enthielt gerade das Nötigste: einen großen hellen Schreibtisch mit Büchern und Papieren in säuberlichen Stapeln, ein Bücherregal, zwei bequeme Sessel und einen zeitlosen Salontisch ohne Tischdecke. An den Wänden entlang standen mehrere Weinregale voller Flaschen, genau dreihundertvierzig Flaschen, wie er seit der letzten Zählung wusste.

Er legte das Handtuchbündel mitten auf den Salontisch.

Vor sich hin pfeifend duschte er und zog sich danach saubere Sachen an. Er spürte ein angenehmes Kribbeln in der Brust und zog vor dem Spiegel für sich selbst lustige Grimassen. Lag das nur am Frühling? Nicht nur, denn bald, in einigen Wochen, wollte er zusammen mit einem guten Freund aus England auf eine spannende Expedition gehen. Er war voll Optimismus und Vorfreude.

Wein? Konnte er sich nicht einfach einen guten Wein aus seinem eigenen Lager gönnen? Er saß ja nun wirklich nicht auf dem Trockenen, nur weil er die Weinprobe auf der Hovedøya verpasst hatte. Jetzt waren sie wohl dort draußen versammelt und schnupperten, schlürften und spuckten. Obwohl bestimmt nur die wenigsten die guten Weine wieder ausspuckten. Höchstens vielleicht die Jungs vom staatlichen Weinmonopol, falls die eingeladen waren.

Er ging vor den Weinregalen auf und ab. Zog hier und dort eine Flasche heraus. Schließlich fiel seine Wahl auf einen Château du Tertre 1975, einen cinquièmes-crus-Wein aus dem Margaux-Anbaugebiet. Fredric war der Ansicht, dass dieses Château in der konservativen Médoc-Klassifizierung von 1855 zu niedrig eingestuft war. Das Château du Tertre sollte deuxièmes crus sein.

Er goss ein Kristallglas halb voll und setzte sich in einem der Sessel bequem zurecht.

Die Farbe war ein tiefes Braunrot. Der Duft erinnerte an überreife Kirschen und Mandeln sowie vielleicht an einen Hauch von Vanille? Er war rund, füllig und mild, aber er hatte immer noch seine Kraft. Dieser Wein würde sich noch viele Jahre lang halten. Er trank das Glas in kleinen Schlucken aus und schenkte sich ein neues ein.

Dann fiel sein Blick auf das nasse Handtuchbündel, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er zog es zu sich heran und packte es vorsichtig aus. Der Rücken der Puppe kam zum Vorschein, denn sie lag auf dem Bauch. Sie wirkte alt und mitgenommen, und ihre Kleider schienen aus einem Zwischending zwischen Fell und Birkenrinde zu bestehen. Der Aufenthalt im Wasser schien sie nicht sehr durchweicht zu haben. Er drehte sie um und spürte, wie er erbleichte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten und ihm die Stille, die um ihn herum herrschte, plötzlich die Luft abdrückte.

Diese Puppe hatte er vorher schon einmal gesehen! Nicht als Puppe, sondern als kleine Kindermumie, die in einigen archäologischen Zeitschriften abgebildet gewesen war. Ein kleines Eskimobaby aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das vor fünfzehn Jahren von ein paar Jägern auf Grönland gefunden worden war.

Fredric rutschte in seinem Sessel ganz nach hinten und starrte das, was vor ihm auf dem Tisch lag, mit ungläubigen Augen an. Eine unheimliche Puppe. Eine groteske Kopie. Dass es tatsächlich eine Puppe war, begriff er allmählich, als seine Gedanken zu arbeiten begannen.

Sie war kaum dreißig Zentimeter lang und trug eine zerknautschte Strampelhose aus Fell. Darüber eine langhaarige Pelzjacke mit Kapuze. An die Stelle der leeren Augenhöhlen der grönländischen Babymumie hatte man gelbe, beängstigend lebendig wirkende, katzenartige Augen eingesetzt. Die Hände waren wie kleine Klauen, schwarz und eingeschrumpft. Wer auch immer diese Kopie hergestellt hatte, hatte seine Sache erschreckend gut gemacht. Die Gesichtshaut sah aus wie trockene, aufgesprungene Menschenhaut, und die Pelzkleidung hätte ohne weiteres Hunderte von Jahren alt sein können.

Ein lang gezogener Zischlaut drang über Fredrics Lippen.

Eine halbe, vielleicht auch eine ganze Stunde blieb er apathisch sitzen. Diese besondere Puppe, Kopie eines fünfhundert Jahre alten Eskimobabys, musste auf jeden, der sie sah, einen tiefen Eindruck machen. Er erinnerte sich an seine eigene Reaktion, als er zum ersten Mal ein Foto der Babymumie gesehen hatte. Das war nichts, was man einfach beiseiteschob und wieder vergaß. Das Bild war lange in seinem Bewusstsein geblieben und hatte dort immer noch seinen Platz. Allerdings war es jetzt durch den physischen Kontakt und die dreidimensionale Anwesenheit noch verstärkt worden. Auf dem Tisch vor ihm, mit Augen, die ihm Strahlen aus Eis entgegenwarfen. Wer konnte bloß so etwas herstellen?

Schließlich legte er die Puppe oben auf ein Bücherregal, immer noch mit dem grün gesprenkelten Handtuch darunter. Dann trank er den Rest des Weins und öffnete eine weitere Flasche. Diesmal einen ziemlich unbekannten, aber guten St. Emilion: Château la Grâce Dieu. Der sollte Erinnerungen wecken können, die die Gedanken an die gespenstische Puppe verdrängen würden. So war es auch.

Sein Körper war schwer, und sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Wolle ausgestopft, als Fredric beschloss, schlafen zu gehen. Der morgige Tag und die folgenden Tage würden Arbeitstage sein. Angenehme Arbeitstage in der »Kasserolle«.

Abwechselnd Küche und Servieren. Sie teilten sich alle Arbeiten. Auf diese Weise gab es wenig Routine und viel Spontaneität. Und die Atmosphäre, die die Gäste so schätzten.

Bevor er ins Schlafzimmer ging, warf er noch einen Blick zum Bücherregal, auf dem die Puppe lag. Jetzt lag sie nicht mehr: Sie saß aufrecht da, gegen die Wand gelehnt.

2

Ein kleiner Eskimo verbeugt sich und verschwindet, und Fredric Drum sucht sich Jungle Cock, Black Gnat und Verre enn minken aus

Torbjørn Tinderdal putzte gründlich seine Brille, und sein freundliches Mondgesicht lauschte interessiert. Sie hatten noch eine Stunde bis zur Öffnung der »Kasserolle«, und die beiden Freunde saßen an ihrem privaten kleinen Tisch hinter den Weinregalen. In der Küche war der Kochlehrling WackradaisanWickramashingshe,ein Einwandereraus Nordindien in der zweiten Generation, mit dem letzten Abschmecken einer ganz besonderen Estragonsauce beschäftigt.

»Sie trieb also im Wasser«, fuhr Fredric fort, »und ich kann dir sagen, Tob, sie ist eine exakte Kopie von der Eskimomumie, die du hier siehst. Ein Baby.«

Fredric Drum zeigte Tob ein Bild in einer archäologischen Zeitschrift.

»Hmmm«, sagte Tob und setzte seine Brille auf. »Ein kleiner Jäger, der nie zu einem Jäger wurde. Haben die Inuit ihre Toten im Eis bestattet?«

»Nein«, antwortete Fredric, »die Inuit, die Eskimos, haben Steingräber angelegt. Sie haben in der Regel über dem Toten Steine aufgehäuft und ihn mit verschiedenen praktischen Gegenständen ausgerüstet, die er im jenseitigen Leben gebrauchen könnte. Diese Babymumie wurde 1973 von einem Schneehuhnjäger gefunden, der zufällig unter einer Klippe ein paar merkwürdige Steinformationen bemerkte. Nachdem er einige flache Steinplatten entfernt hatte, blickte er direkt auf die außergewöhnlich gut erhaltene Mumie einer Frau hinunter. Im Laufe der weiteren Untersuchungen stellte man fest, dass das Grab noch mehr Leichen enthielt, darunter dieses kleine Baby. Die C14-Datierung hat ergeben, dass die Leichen um das Jahr 1470 bestattet worden sein müssen.«

Tob blieb mit dem Bild der Mumie in der Hand sitzen und betrachtete es genau.

»Schön«, sagte er, »in den Zügen dieses jungen Gesichts hat sich eine elegante Selbstsicherheit erhalten. Selbstsicherheit und Trotz. Als ob der Tod keine Rolle gespielt habe, als ob die blinden Augenhöhlen die innerste Wahrheit und tiefste Bedeutung des Universums enthielten. Das vollkommene Verständnis eines Jägers von der Natur, in der er jagen will.

Niemand kann diese Mumie anschauen, ohne in tiefes Nachdenken über ein ungelöstes Rätsel zu verfallen.«

»Ein ungelöstes Rätsel«, wiederholte Fredric. »Auf jeden Fall ist es ein ungelöstes Rätsel, warum eine solche Puppe im Inneren Oslofjord treibt. Und die Augen, Tob, du hättest die Augen sehen müssen: In die leeren Augenhöhlen sind gelbe Katzenaugen eingesetzt, die intensiv glühen.«

»Der Jäger verschmolz mit seiner Beute«, sagte Tob kryptisch.

Fredric war mit seinen Gedanken an einem ganz anderen Ort. Die schockierende Begegnung mit der Puppe hatte drei Phasen gehabt: das tragische Unglück, das dazu geführt hatte, dass er sie gefunden hatte, der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, als er sie aus dem Handtuch gewickelt und begriffen hatte, um was es sich handelte, und last but not least, die Entdeckung, dass sich die Puppe oben auf dem Bücherregal in eine sitzende Position erhoben hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis er in seinem leichten Rotweinrausch begriffen hatte, dass es dafür eine völlig natürliche Erklärung gab: Die Wärme, die von der Heizung hinter dem Regal aufgestiegen war, hatte die nassen Ledersachen, in die die Puppe gekleidet war, sehr rasch getrocknet. Diese hatten sich ein bisschen zusammengezogen, genug, um die Stellung der Puppe so zu verändern, dass es wirkte, als ob sie sich gegen die Wand aufgesetzt hätte. Aber ihre Augen hatten noch lebendiger gewirkt, als sie so dasaß. Sie hatten ihn bis weit in den Schlaf verfolgt.

Tob erhob sich, als Wack aus der Küche rief.

Fredric begann, in einem Stapel Papiere zu kramen, der auf einem Regal hinter dem Tisch lag. Ihm war plötzlich etwas eingefallen, etwas, woran er vor mehr als drei Jahren gearbeitet und wofür er einige Anerkennung bekommen hatte. Dabei handelte es sich um die Deutung einer alten Runeninschrift, die damals gerade auf Grönland gefunden worden war.

Ursprünglich war Fredric ein vom Militär ausgebildeter Entschlüsselungsexperte. Schon seit der Grundschule hatte er sich leidenschaftlich für Geheimschriften und das Entziffern von Codes interessiert. Bei der Armee hatte er eine gründliche Ausbildung erhalten, es aber allmählich immer langweiliger gefunden, militärische Codes zu knacken. Es erschien ihm ziemlich sinnlos. Er sehnte sich nach anderen Aufgaben, die ihm größere Herausforderungen bieten würden. Nach mehrjährigen Sprachstudien an der Universität glaubte er, für eine besondere Arbeit gerüstet zu sein: Er nahm sich vor, bisher nicht entschlüsselte Ursprachen zu deuten.

Angefangen hatte er mit der subtilen Bilderschrift der Maya, aber bei diesem Projekt musste er sich geschlagen geben. Vorläufig. Es gab zwar seriöse Gerüchte, dass es den Forschern nun endlich gelungen sei, die Maya-Schrift zu entschlüsseln, aber Fredric war skeptisch. Die Auszüge, die ihm zugeschickt worden waren, wirkten nicht überzeugend. Als Nächstes hatte er mit einer neuen Deutung der Linear B, der merkwürdigen Schrift der kretischen Minos-Kultur, begonnen. Hier hatte er einen wichtigen Durchbruch erreicht, was dazu geführt hatte, dass er jetzt in kryptologischen und piktologischen Kreisen als eine gewisse Autorität betrachtet wurde, wennauchseineabschließendeArbeitüberdieLinear Bimmer noch nicht offiziell abgesegnet war. Das zog sich hin. Es dauerteJahre,dasträgeundkonservativeMilieuzudurchdringen, das die klassische Archäologie prägte. Aber Fredric hatte Zeit, jede Menge Zeit, und es machte ihm Spaß. Er betrachtete seine Beschäftigung mit diesen Dingen als ein anregendes Hobby, das sein Gehirn auf Trab hielt und ihm größtmögliche Entspannung ermöglichte. Neben der Arbeit in der »Kasserolle« und seiner Leidenschaft für gute Weine war dieses Hobby gerade richtig. Es rundete die Ganzheit seiner Existenz ab.

Fredric stieß auf die Runeninschriften, an denen er vor einigen Jahren gearbeitet hatte. Auf dem höchsten Gipfel der Insel Kingittorsuaq auf Grönland hatte man einen kleinen Stein gefunden. Der hatte zwischen drei Steinpyramiden gelegen. Den Forschern war es gelungen, das Folgende zu entschlüsseln: »Erling Sigvatson und Bjarne Thordson und Enride Odson errichteten am Samstag vor dem Prozessionstag diese Steinpyramiden und …« Den letzten Teil der Inschrift konnten die Forscher nicht deuten. Fredrics Interesse war erwacht. Was verbarg sich hinter dem letzten »und«? Das Entscheidende an der Runenbotschaft schien in dem zu liegen, was noch nicht entschlüsselt war.

Nach dreimonatigen intensiven Studien mit einer Neuanordnung des Runenalphabets hatte er ein eindeutiges Resultat vor sich liegen. Der Text lautete als Ganzes: »Erling Sigvatson und Bjarne Thordson und Enride Odson errichteten am Samstag vor dem Prozessionstag diese Steinpyramiden und erbaten Schutz vor dem in Leder gekleideten Jägergott der Skrælinge, der das Wild dorthin führte, wo die Skrælinge es wollten.« Der Runenstein war mit einiger Unsicherheit auf das dreizehnte Jahrhundert datiert worden.

Man hatte Fredrics Deutung akzeptiert. Skræling war der Name, den die Skandinavier den Eskimos gegeben hatten.

In der späteren Literatur konnte man sehen, dass dieser Jägergott der Eskimos, dessen Unterstützung sie bei der Jagd in Anspruch nahmen, von den Skandinaviern mit Furcht und Respekt beschrieben wurde. Als Papst Innozenz im Jahr 1492 den Benediktiner Martin Knudsen zum Bischof von Grönland ernannte, schickte dieser einige merkwürdige Berichte, die mit zierlicher Handschrift auf polierte lange Tafeln aus Walrossknochen geschrieben waren. Die Berichte enthielten ausführliche Beschreibungen dieses Jägergottes, der eine vollkommen unerklärliche heidnische Kraft und Magie zu besitzen schien und gegen den die Skandinavier nicht ankommen konnten. Wie der Bischof mitteilte, trug jeder Skræling, wenn er auf die Jagd ging, einen heimlichen Talisman bei sich, der im Kontakt mit diesem gefürchteten Jägergott stand.

Der Portugiese João Vaz Corte-Real, der zusammen mit Didrik Pinning und Hans Pothorst auf Wunsch von König Christian I. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine Expedition nach Grönland unternahm, beschrieb den Jägergott noch konkreter, als er nach Hause berichtete: »Es gibt da eine starke Kraft, die die Beute zum Jäger treibt und sie von uns Weißen fortlockt. Diese Kraft trägt jeder Skræling an einer Schnur aus gewundenen Vogelfedern unter seinem Anorak. Es ist eine kleine Puppe in Lederkleidung mit gelben, leuchtenden Katzenaugen.« (Codex Reale, Lissabon 1507)

Eine kleine Puppe in Lederkleidung mit gelben, leuchtenden Katzenaugen. Fredric las seine alten Notizen durch und wurde immer neugieriger. Das war merkwürdig, wirklich sehr merkwürdig.

Wack und Tob kamen mit der Speisekarte zu ihm. Die »Kasserolle« sollte gleich öffnen, und alles war bereit.

»Weit entfernt, weit im Norden im Land der Jäger.« Tob stupste seinen Freund gutmütig in die Seite.

»Hör dir Wacks Poesie an, Fredric, ein neues großes Gedicht ist geschaffen worden!«

Sie lachten und hörten Wackradaisan beim Vorlesen zu: »Pâté aus Waldtaubenleber, gespickt mit in Likör eingelegten Rosinen, serviert in einer milden Moltebouillonsauce. Lamm àlaDrum,mit Rosmarinund Mandeln gebraten,serviertmit frischen, mit Preiselbeeren verrührten Bohnensprossen und Pommes Lacoste. Eingesalzene Renkenfilets mit Estragonsauce spezial, Brennnesselkroketten und Mandelkartoffelbrei. Sorbets und Obstkuchen des Hauses. Mini-Crêpes norvégiennes, in Likör eingelegt und flambiert. Pariser Käsewagen. Empfohlene Weine: Château d’Yquem 1981, Château Montrose 1970, Château Haut Marbuzet 1975 und Erbacher Marcobrunn Riesling 1976.«

Fredric applaudierte, und die anderen beiden setzten sich zu ihm an den Tisch.

Der Erfolg der »Kasserolle« war zweifellos auf ihre wunderbar komponierten und originellen Gerichte zurückzuführen. Hinzu kam, dass man von den Portionen satt werden konnte. Sie hatten sich von der Marotte der Nouvelle Cuisine distanziert, verschwindend kleine Speisenanordnungen auf riesigen Tellern zu servieren, wo es passieren konnte, dass ein winziger Krebsschwanz in einer undefinierbaren Sauce mit Blumen an den Rändern schwamm. Ein siebengängiges Menü der Nouvelle Cuisine konnte man zu sich nehmen, ohne dass es den Gast davon abhielt, nach dem Restaurantbesuch zur nächsten Würstchenbude zu gehen, um seinen Hunger zu stillen. So war das in der »Kasserolle« nicht. Sie war etwas Neues. Etwas Besseres. Etwas Echtes und Originelles.

An diesem Abend prägte der Frühling das Restaurant. Tobs Freundin hatte den ganzen Tag an der Dekoration mit Wiesenblumen gearbeitet, raffinierte Arrangements, diskret, aber effektvoll. Und aus der Lautsprecheranlage erklangen die sanften Töne von Thijs van Leers Zauberflöten.

»Morgen«, sagte Tob, als die ersten Gäste kamen, »bringst du diese mystische Puppe mal mit hierher, sodass wir sie auch sehen können. Außerdem haben wir noch einen freien Platz da oben im Regal. Versprochen?«

»Versprochen«, lächelte Fredric.

 

Der letzte Gast des Abends verließ die »Kasserolle« um kurz vor elf. Tob hatte eine halbe Flasche Château Grand-Puy Ducasse 1978 geöffnet und schnüffelte zufrieden daran. Dann nahm er eine Zeitung, die einer der Gäste liegen gelassen hatte, und setzte sich an den kleinen, privaten Tisch. Sein Blick blieb an einem Artikel hängen, der die ganze Titelseite einnahm.

»Fredric«, rief er. »Hast du das gesehen?«

Fredric kam und setzte sich zu ihm.

»Fähre in Todeskollision«, las Tob und fuhr fort: »Ein schlimmer Unfall passierte gestern Nachmittag, als die Fähre zur Hovedøya mit einem Motorboot zusammenprallte. Ein Passagier wurde auf der Stelle von einem Plastiksplitter getötet, der bei der Kollision vom Rumpf des Motorboots abgerissen wurde. Der Splitter drang in den Hals des Mannes ein und durchschnitt die Hauptschlagader, die Speise- und die Luftröhre. Ein anderer Passagier fiel über Bord, schwamm aber unverletzt bis zur Hovedøya.«

Wack kam auch dazu und setzte sich. Er schüttelte den Kopf und lächelte Fredric an.

»Was für ein Glück, dass ich das nicht war«, sagte er, »ich kann nämlich nicht schwimmen. Ich wäre ertrunken.«