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Lola Wicks, frühere Auslandskorrespondentin, langweilt sich in der Kleinstadt Magpie, Montana, wo sie als Reporterin für eine Lokalzeitung arbeitet. Doch dann wird die junge Blackfeet-Indianerin Judith Calf Looking tot aufgefunden, die seit mehreren Monaten vermisst wurde. Auf ihrem Arm befindet sich ein seltsames Mal, das sich als Brandzeichen entpuppt. Lola recherchiert undercover und findet heraus, dass im Jahr zuvor mehrere junge Mädchen verschwanden. Und alle trugen dasselbe Zeichen auf dem Arm. Dass Lola mit ihrer Entdeckung in ein Wespennest gestochen hat, merkt sie erst, als sie selbst in den Fokus des Täters gerät ...
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Seitenzahl: 425
Buch
Lola Wicks war eine gefeierte Auslandskorrespondentin. Sie berichtete aus den entlegensten Gegenden der Welt. Dann gab ihre Zeitung das Auslandsbüro auf – und Lola landete in der Kleinstadt Magpie in den Bergen von Montana. Hier arbeitet sie nun als Reporterin für eine kleine Lokalzeitung – und langweilt sich. Doch dann wird in einer Schneewehe auf der Straße nach North Dakota die junge Blackfeet-Indianerin Judith Calf Looking tot aufgefunden, die seit mehreren Monaten als vermisst galt. Der örtliche Sheriff Charlie Laurendeau geht davon aus, dass Judith beim Versuch, nach Hause zu trampen, in der eisigen Winternacht erfroren ist. Auf Judiths Arm befindet sich jedoch ein seltsames Mal. Entgegen Lolas erster Annahme, es sei ein Tattoo, handelt es sich um ein Brandzeichen. Wer hat Judith auf diese brutale und demütigende Art markiert? Lola glaubt nicht an Charlies Theorie, dass Judith erfroren ist, und beginnt mit Nachforschungen. Schon bald findet sie heraus, dass im Jahr zuvor mehrere junge Blackfeet-Indianerinnen verschwanden. Und alle trugen dasselbe Zeichen wie Judith auf dem Arm. Lola wird schlagartig bewusst, dass sie es mit einem Serientäter zu tun hat. Sie ermittelt im Umfeld der Mädchen und kommt dem Täter dabei gefährlich nah. So nah, dass ihr dasselbe Schicksal droht wie den vermissten jungen Mädchen …
Informationen zu Gwen Floriofinden Sie am Ende des Buches.
GWEN FLORIO
Das Todeszeichen
Thriller
Aus dem Amerikanischenvon Angela Schumitz
Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel »Dakota«bei The Permanent Press, Sag Harbor.
1. AuflageTaschenbuchausgabe Oktober 2015Copyright © der Originalausgabe 2014by Gwen FlorioPublished by Arrangement with Second Chance Press Inc.,Sag Harbor, NY, USA.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHDieses Werk wurde vermittelt durch die LiterarischeAgentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: FinePic®, MünchenRedaktion: Alexander GroßBH · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-16164-4www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Für meine Eltern,Anthony und Patricia Florio
Prolog
Der Lastwagenfahrer beugte sich fluchend über den Lenker, während er sich bemühte, durch den dichten, schräg heranwehenden Schnee etwas zu sehen. Das Lenkrad grub sich in seinen dicken Wanst. Das Mädchen neben ihm wandte den Blick ab. Sie war klein und wirkte sehr zerbrechlich, und der Sex war in der engen Fahrerkabine ziemlich problematisch gewesen.
»Verdammt noch mal, die Sicht ist hier gleich null«, schimpfte er. »Ich habe es noch nie so schneien sehen.«
»Es schneit nicht.« Die Stimme der jungen Frau klang rau, als hätte sie sie in letzter Zeit, abgesehen von ihren vorgetäuschten Lustschreien, nicht viel benutzt. »Das ist bloß ein Bodenblizzard.«
»Ein was?«
»Der Wind weht den Schnee auf und bläst ihn durch die Gegend.« Als ob ihr jemand recht geben wollte, teilte sich der weiße Vorhang vor der Windschutzscheibe einen kurzen Moment lang. Dahinter war alles schwarz.
»Davon hab ich noch nie was gehört. Ich habe in einer Raffinerie drunten in Louisiana gearbeitet, dort hatten wir haufenweise Schlangen. Aber das war immer noch besser als die ganze Kälte und der Schnee, die ihr hier oben habt. Eine Schlange kann man wenigstens töten. Aber dem hier entkommt man einfach nicht. Apropos …« Er richtete sich auf und warf einen Blick in den Rückspiegel. Dann drückte er einen Knopf, das Seitenfenster fuhr herunter, und Kälte wehte in die Fahrerkabine. Das Mädchen duckte sich weg. Der Fahrer kratzte an der Eisschicht, die den Seitenspiegel bedeckte. Rasch zog er den Arm wieder herein, schloss das Fenster und blies sich auf die Finger. »Puh.«
»Vielleicht achten Sie lieber auf die Straße. Sie haben mir doch gerade erst erklärt, dass Sie es nicht gewohnt sind, bei solchem Wetter zu fahren.«
»Ich wollte den Burschen hinter uns überprüfen.«
Das Mädchen drehte den Kopf so heftig, dass seine schwarzen Haare ans Armaturenbrett geschleudert wurden. Sie kauerte an der Beifahrertür, möglichst weit weg von dem Mann, doch jetzt richtete sie sich auf und rückte ihm ein Stück näher. »Was für ein Bursche?«
»Der Laster, der uns auf den Fersen ist, seit wir angehalten haben, damit du pissen konntest.«
Das Mädchen warf einen Blick in ihren Seitenspiegel. Der Wind hatte sich wieder gelegt, und der herumwehende Schnee senkte sich. Sie sah verschwommene Scheinwerfer. »Auf dieser Straße sind haufenweise Laster unterwegs«, erklärte sie. »Tag für Tag, nichts als Laster.« Sie griff in die Tasche ihres übergroßen Sweatshirts und fuhr mit den Fingerspitzen über die spitze Feder, die sie dort verborgen hatte. Sie stellte sich vor, dass sie die Stelle fühlen konnte, an der die Farbe von Weiß in Bronze überging. Dann zwang sie sich, nicht mehr nach hinten auf die Lichter zu blicken, sondern nach vorn, als könnte sie trotz der Dunkelheit die Berge sehen, die ihren Leuten seit Anbeginn der Zeit Zuflucht gewährt hatten. Sie waren nah, das wusste sie, und ihre Anwesenheit versprach Sicherheit.
Die Stimme des Fahrers klang missmutig. »Hast du heute Nacht auch nur einen einzigen Laster gesehen? Hier sind nur wir unterwegs – und unser Freund da hinter uns. Die ganzen anderen Fahrer waren vernünftiger. Mein Daddy hat immer schon gesagt, dass mich mein Schwanz noch in Schwierigkeiten bringen würde. Schwierigkeiten sind das eine … der Tod das andere.«
»Was soll das heißen, der Tod?« Die Stimme des Mädchens hob sich um eine Oktave. Sie rutschte noch ein Stück näher an ihn heran.
»Das heißt, dass ich von dieser Straße abrutschen und mein blöder Kopf und auch dein hübscher an der Windschutzscheibe zerschmettern könnten.« Er legte seine feiste Hand an ihre Wange.
Sie rutschte weg und starrte wieder in den Spiegel. Die Scheinwerfer schienen ihnen zuzuwinken. »Woher wollen Sie wissen, dass es immer derselbe Laster ist?«
»Er wirkt unbeladen. Die meisten Laster, die vom Ölfeld kommen, sind beladen und liegen deshalb tiefer. Und außerdem klebt er auch jetzt bei dem kleinen Umweg, den wir fahren, um dich rauszulassen, an meiner Stoßstange. Vielleicht hat er sich verfahren. Falls er immer noch da ist, wenn wir anhalten, rede ich mit ihm. In so einer Nacht will man nicht allein hier draußen sein.«
Die schmale Brust des Mädchens hob und senkte sich. Der andere Laster hatte sich nicht verfahren. Sie scharrte mit den Händen auf dem Sitz herum. »Hören Sie – ich hab’s mir anders überlegt. Ich steige gleich hier aus.«
Der Mann glotzte sie erstaunt an. »Spinnst du, Mädchen? Bis zum Reservat sind es nur noch knapp fünf Meilen. Ich lass dich dort raus, wie du es wolltest.«
Die Scheinwerfer hinter ihnen kamen näher. Das Mädchen starrte in den Spiegel, der den Schein reflektierte. »Gleich kommt eine große Kurve, und die Straße führt bergauf. Ich steige hinter der Kurve aus. Fahren Sie langsam, aber halten Sie nicht an, sonst schafft es der Laster nicht den Berg hoch.«
»Du hast doch nicht mal einen Mantel. Du wirst erfrieren. Ich lasse dich dort raus, wo Leute sind.«
»Ich kenne eine Abkürzung.« Ihre Lippen wurden schmal, als sie sich zu einem freudlosen Lächeln verzogen. Es gab keine Abkürzung. Aber lieber noch der Sturm als die Bedrohung, die ihnen immer näher rückte. »Lassen Sie mich einfach raus. Hier kommt die Kurve.« Sie fuhren an einem gelben Schild vorbei, das vor einer Haarnadelkurve warnte. Die Gänge knirschten, während der Mann herunterschaltete. Das Mädchen legte die Hand an die Tür. Der Laster kroch um die Kurve, und die Scheinwerfer hinter ihnen verschwanden.
»Wenn Sie auch nur einer Menschenseele erzählen, dass Sie mich je gesehen haben«, zischte das Mädchen, »dann erzähle ich der ganzen Welt, was für einen winzigen, nutzlosen Schwanz Sie haben.«
Sie zog die Feder aus ihrem Sweatshirt, riss die Tür auf und flog in die Nacht hinaus.
1. Kapitel
Das tote Mädchen auf der Schneewehe sah aus, als schliefe es. Eine Hand war unter die Wange geschoben, die Haare über die bauschige Schneeverwehung gefächert. Nur die blau-roten Warnlampen des Streifenwagens, deren Schein auf ihr Gesicht fiel, störten die Ruhe. Lola Wicks kramte ein Notizbuch aus den Tiefen ihres Parkas und drängte sich in den Kreis der Uniformen, der den Leichnam umgab.
»Was ist passiert?« Niemand antwortete ihr. Lola trat zwischen zwei Stammespolizisten. »Grundgütiger, das ist ja Judith Calf Looking!«
Einer der Beamten löste sich aus der Gruppe. »Was zum Teufel machst du hier?« Die Stammespolizisten wandten ihre Aufmerksamkeit von dem toten Mädchen ab und dem lebendigen Streit zwischen der Reporterin und dem Sheriff zu.
»Ich habe es durch den Polizeifunk erfahren. Was machst du hier? Befinden wir uns hier nicht im Res? Dafür sind doch die zuständig.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Stammes-Cops, die die neugierigen Blicke verlegen senkten.
Abgesehen von seiner Uniform hätte Charlie Laurendeau, der erste indianische Sheriff des Landkreises, einer von ihnen sein können. Er war braunhäutig, kräftig und trotz seines Gewichts ziemlich leichtfüßig. Während sich Lola durch den tiefen Schnee zu ihm durchkämpfte, verfluchte sie innerlich den Impuls, der sie dazu verleitet hatte, am Ende des Sommers, nur wenige Wochen bevor der Winter hereinbrach, von Baltimore nach Montana umzuziehen. Charlie kam ihr entgegen. Er achtete nicht auf seine Schritte und geriet trotzdem nicht ins Stolpern. »Der Bezirk wird automatisch informiert, wenn ein Verbrechen vorliegt. Momentan weist noch nichts auf ein Verbrechen hin, aber sicherheitshalber ist auch die Staatspolizei schon unterwegs.«
Die Mienen der Stammespolizisten versteinerten. Selbst in der kurzen Zeit, in der Lola nun in Montana lebte, hatte sie bemerkt, dass das endlose Gerangel zwischen Stammespolizei und Ordnungshütern von außerhalb des Reservats ein verwirrendes Netz von lokalen, bundesstaatlichen, staatlichen und auf indianischen Gesetzen basierenden Vorschriften gesponnen hatte, das jede beteiligte Behörde behinderte, sobald es um ein Verbrechen ging, in das Blackfeet verwickelt waren. Charlie war Indianer und gleichzeitig Sheriff des weißen Landkreises, der das Reservat zum größten Teil umgab, was seine Arbeit zu einem wahren Drahtseilakt machte. Gerieten die Söhne der Blackfeet außerhalb des Reservats auf die schiefe Bahn und landeten in Charlies Gefängnis, warfen empörte Mütter ihm vor, er habe seine Wurzeln vergessen. Die weißen Bewohner hingegen murrten, dass indianische Jugendliche während Charlies Amtszeit als Sheriff ungeschoren davonkamen, solange sie nicht einen Mord begangen hatten. Und dann war Lola aufgekreuzt.
»Ich dachte, du hörst den Polizeifunk nicht mehr ab«, sagte Charlie. »Jan ist doch für die Polizeiberichterstattung zuständig, seit …«
»Seit du und ich miteinander ins Bett gehen?«
Die Stammespolizisten hoben den Blick. Lola konnte sich gut vorstellen, wie sie sich schieflachen würden, wenn sie die Geschichte später zum Besten gaben. Lola hatte Charlie im Sommer kennengelernt, als sie nach Montana gekommen war, um eine Freundin zu besuchen, die hier arbeitete. Doch bei ihrer Ankunft war Mary Alice tot gewesen – ermordet. Während der Ermittlungen waren sich Lola und Charlie nähergekommen – so nah, dass er es geschafft hatte, sie zu überreden, ihren Job bei einer Zeitung in Baltimore aufzugeben und bei der kleinen Tageszeitung in Magpie anzuheuern. Der Daily Express deckte die Nachrichten in einem Landkreis ab, dessen Bevölkerung in ein einziges Viertel von Baltimore gepasst hätte. Lola hatte sehr darunter gelitten, dass man sie bei ihrer alten Zeitung von ihrem Auslandsposten in Kabul abgezogen und zu einem Job in einer Lokalredaktion verdonnert hatte. Deshalb war ihr der Umzug wie der perfekte Abgang von der Zeitung in Baltimore erschienen. Jetzt, vor allem nachdem sie sich mit den winterlichen Gegebenheiten in Montana auseinandersetzen musste, war sie sich dessen nicht mehr so sicher.
Charlie nahm Lola am Arm und zerrte sie ein paar Schritte zur Seite. »Lola. Was soll das?«
»Jan ist mit einer anderen Story beschäftigt«, sagte sie. »Außerdem bin ich fürs Reservat zuständig, das weißt du doch. Im Funk wurde nur etwas von einer Leiche erwähnt, nichts von einem Verbrechen. Liegt hier ein Verdacht vor? Wenn ja, dann hole ich Jan weg von dem, woran sie gerade arbeitet.« Sie klopfte sich mit dem Bleistift an die Zähne – sie hatte rasch herausgefunden, dass Tinte bei Minusgraden einfror – und wartete auf seine Antwort. Ihr formloser Parka, dessen glatte Synthetikoberfläche anzeigte, dass er eine Neuerwerbung war, reichte ihr fast bis zu den Knien. Sie war mit ihren knapp eins achtzig beinahe so groß wie die anwesenden Männer. Allerdings waren diese um die Schultern und die Hüften ziemlich breit, solide wie die Getreidespeicher in den Orten der High Plains, während Lola mit ihrer schlaksigen Figur in dem weit geschnittenen Parka regelrecht zu versinken schien. Ein heftiger Windstoß brachte sie ins Wanken. Die Männer blieben reglos stehen. Lolas Atem fing sich in den Locken, die unter ihrer Strickmütze hervorlugten, und gefror dort. Winzige Eiszapfen glitzerten, als sie Charlie aufmunternd zunickte. Der Sheriff trug keine Mütze, und seine Lippen waren in der Eiseskälte blau angelaufen. Erschöpfung zeigte sich in den dunklen Ringen unter seinen Augen und grub grausame Furchen zwischen Mund und Kinn. Er war wegen eines Unfalls mit einem Sattelschlepper, bei dem der Fahrer zu Tode gekommen war, den Großteil der Nacht unterwegs gewesen, und jetzt das. Der Wind schlug ihm den Saum seiner Uniformhose um die Knöchel. Lola hatte ihm am Morgen beim Anziehen zugesehen; sie hatte die Decke bis ans Kinn gezogen, während er in eine lange Seidenunterhose geschlüpft war und danach in eine aus Baumwolle im traditionellen Waffelmuster, bevor er schließlich seine Uniformhose angezogen hatte. Bei den Füßen ging es wieder von vorn los: Erst kamen Füßlinge, dann zwei Paar Socken. Das Radio hatte minus achtundzwanzig Grad angekündigt. »Manche Cowboys tragen Strumpfhosen unter den Jeans«, erklärte er, als er merkte, dass sie ihm zusah. »So weit bin ich nie gegangen. Aber an einem derart kalten Tag bin ich fast versucht, es zu tun.«
Judith spürte die Kälte längst nicht mehr. Was gut war, dachte Lola, während sie die Männerhose mit den nachlässig hochgekrempelten Hosenbeinen musterte, die Judith trug, und die nackten Füße des Mädchens, die in billigen Sneakern steckten. In ihrer Zeit als Auslandskorrespondentin hatte Lola in umkämpften Gebieten gearbeitet, die sich hauptsächlich durch den Einfallsreichtum der Tötungsmethoden unterschieden hatten. Diese Erfahrung lag noch nicht weit zurück. Deshalb war sie fast dankbar für die gnädigerweise meist noch recht intakten Leichen in ihrer Heimat. Ein Stammespolizist zog einen Fotoapparat aus dem Mantel und machte zwei Fotos von Judiths Leiche. Die Tätowierung unter ihrem Ohrläppchen, etwa so groß wie ein Zehncentstück, schimmerte wie neu auf der mittlerweile wächsernen Haut. Der Mann ging ein paar Schritte und schoss noch ein paar Aufnahmen aus einem anderen Winkel, bevor er den Apparat rasch wieder einsteckte. Etwas Dünnes, mit Spitze Gesäumtes flatterte unter Judiths Kapuzenshirt. Lola beugte sich vor, um das Kleidungsstück genauer zu betrachten. »Das sieht ja fast aus wie ein Nachthemd«, sagte sie zu Charlie. »Du hast nicht gesagt, ob du glaubst, dass es Mord war. Was hält sie denn da in der Hand?«
»Eine Adlerfeder.«
»Seltsam. Findest du nicht auch?«
»Hör auf, mich auszuhorchen, Lola. Wahrscheinlich ist sie erfroren. Wir haben sie noch nicht umgedreht, aber es gibt keine offensichtlichen Verletzungen. Vielleicht hat sie versucht, per Anhalter nach Hause zu kommen. Sie ist letztes Jahr aus dem Reservat verschwunden. Wenn jemand sie in der vergangenen Nacht mitten in dem heftigen Sturm an der Abzweigung abgesetzt hat, hat die Kälte sie erwischt, bevor jemand anders vorbeikam. Es ist ein Jammer. Sie hätte es nicht mehr weit gehabt.«
»Wie ist sie denn an diese Stelle gelangt, wenn sie per Anhalter gefahren ist?«, fragte Lola. »Hat ein Adler sie vom Himmel fallen lassen?« Die Köpfe der Stammespolizisten drehten sich im Einklang zu der etwa eine Viertelmeile entfernten Straße. Lola war mit ihrem Pick-up über die gefrorenen Furchen der Prärie gerumpelt, und diese Fahrt hatte sogar ihre Zahnfüllungen auf die Probe gestellt.
Charlie gab ihr keine Antwort. Er ließ seine Handschuhe in den Schnee fallen, streifte sich Latexhandschuhe über und beugte sich über Judiths Leiche. Er hakte eine Fingerspitze in den Ärmel des Sweatshirts und streifte ihn über Judiths Ellbogen hoch. Offenbar wollte er nachsehen, ob Judith wieder Drogen gespritzt hatte. Jeder wusste, dass das Mädchen jahrelang sämtliche Drogen genommen hatte, die gerade erhältlich waren.
Lola beugte sich über Charlie. »Verdammt«, entfuhr es ihr. Blutergüsse um Einstichstellen zogen sich über die bleiche Haut von Judiths Innenarm.
Aber das war nicht alles. Charlie hielt den Atem an. Die Stammespolizisten drängten sich um sie herum. Charlie ignorierte die Einstiche und fuhr mit einem behandschuhten Finger über eine schiefe Herzform. Die Linien waren erhaben, braun und glänzend.
»Das ist neu, stimmt’s?«, fragte Lola.
»Ja«, knurrte Charlie schroff.
»Bei dieser Tätowierung war kein Profi am Werk.«
»Das ist keine Tätowierung«, sagte Charlie. »Das ist ein Brandmal.«
Charlies Feststellung führte zu einem Ausbruch gedämpfter Aktivitäten. Ein Stammespolizist wandte den Blick ab, räusperte sich und spuckte aus; ein anderer drehte eine kleine Runde im Schnee; ein Dritter zog die Handschuhe aus, blies hinein und zog sie wieder an. Lola richtete sich auf und beugte sich von der Hüfte aus nach hinten, als wollte sie eine Verrenkung ausgleichen. Nur Charlie kniete weiter reglos, wie in ein Gebet versunken, neben Judiths Leiche.
»Vermutlich ist das der neueste Trend«, sagte er. »Tattoos und Piercings reichen offenbar nicht mehr.«
»Aber Judith war doch gar nicht so versessen auf solche Dinge«, sagte Lola. »Abgesehen von dem Stern und Ohrringen, aber die trägt hier ja jeder. Alle.« Sie erinnerte Charlie gern an die kleine Kerbe in seinem Ohrläppchen, eine Erinnerung an eine jugendliche Ausgelassenheit, die sie sich bei ihm kaum vorstellen konnte. Soweit sie das beurteilen konnte, war Charlie schon alt zur Welt gekommen.
Der Sheriff stand auf und streifte die Handschuhe ab. Er warf sie in den Schnee und trat nach ihnen. Die Sonne hing bleich am fleckigen Himmel und senkte sich gerade über einen Gebirgszug. Die Namen der Berge kündeten von ihrer Geschichte als Territorium der Blackfeet, auch wenn sie dank der von den Weißen gezogenen Reservatsgrenze mittlerweile zum nahe gelegenen Glacier National Park gehörten. Lola betrachtete ihre Formen. Irgendwo dort drüben lag Sinopah. Um die langen Winterabende auszufüllen, hatte sie sich vorgenommen, die Namen der beeindruckenderen Gipfel auswendig zu lernen; dafür beugte sie sich über Atlanten und Fotos im Internet und fragte Charlie, wie die Berge in der Sprache der Blackfeet hießen. Sinopah – der Name einer Frau, der Tochter eines Häuptlings – war ihre jüngste Entdeckung. Der Berg war bekannt für seine perfekte Form, ein schneegekröntes Dreieck wie in einer Kinderzeichnung. Aber Lola, die aus dem Flachland stammte, war eigentlich von allen Gipfeln beeindruckt. Eine Windböe wehte ihr Auspuffgase ins Gesicht. Die Streifenwagen und Lolas Pick-up standen mit laufendem Motor in der Nähe, die Heizung voll aufgedreht. Lola steckte die Hände in die Achselhöhlen und hüpfte erst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß herum. Sie trug dick gefütterte Stiefel. Zwischen ihren Füßen und dem Schnee lagen etliche Schichten Synthetik und natürlich auch mehrere Sockenschichten; trotzdem waren ihre Zehen eiskalt. »Weiß es Joshua schon? Einen Zwilling zu verlieren muss besonders schlimm sein.«
»Wir haben im Stammesbüro angerufen, sobald wir gesehen haben, um wen es sich handelt«, antwortete einer der Cops. »Sie meinten, sie würden jemanden losschicken, der es ihm sagt. Das war vor etwa einer Stunde.«
Lola schob den Ärmel hoch, bis ihre Uhr zum Vorschein kam. Sie spähte darauf, dann zog sie den Ärmel schnell wieder über die bloße Haut. »Ihr seid also so gegen drei hier angekommen, oder? Wer hat sie gefunden?«
Charlies Stiefel knirschten im Schnee. Er öffnete die Tür von Lolas Truck. Ein schwarz-weißer Hund steckte die Schnauze heraus, zog sich jedoch rasch wieder in die Wärme zurück. »Hey! Du lässt die ganze Hitze entweichen. Boy wird frieren.« Lola stapfte durch den Schnee und versuchte, ihm die Tür zu entreißen.
»Vergiss es, Lola. Diese Geschichte geht dich nichts an. Offiziell liegt erst dann eine natürliche Todesursache vor, wenn ich es sage. Und an diesem Punkt bin ich noch lange nicht. Du fährst jetzt in die Redaktion zurück und beschäftigst dich mit dem, was du getan hast, bevor du den Polizeifunk abgehört hast. Sag Jan, dass sie mich anrufen kann. Ich sage ihr dann alles, was ich weiß.«
Die Hitze im Wageninneren umfing Lola wie eine Decke. Sie bedauerte es nicht allzu sehr, dass Charlie die Tür hinter ihr zuschlug. Boy erhob sich und legte die Vorderpfoten auf das Armaturenbrett. Er hatte nur noch eine Hinterpfote, schaffte es aber dennoch hervorragend, das Gleichgewicht zu halten, während Lola den Wagen zwischen den Schneewehen hindurchmanövrierte. Der Boden war vom Wind zerfurcht und hart wie nackter Fels, und die Straße war keine große Verbesserung. Der Wind drosch auf den Truck ein, und Schnee wehte über den Asphalt. Lola fuhr in der Mitte der Straße und kehrte nur auf ihre Spur zurück, wenn ein Tanklaster vorbeidonnerte. Und das passierte recht häufig. An der Kreuzung blieb sie stehen. An einen Zaunpfosten genagelte Pfeile wiesen den Weg zur Kreisstadt Magpie in der einen und zur Blackfeet Nation in der anderen Richtung. Lola drückte eine Nummer auf ihrem Handy.
»Magpie Daily Express«, trällerte eine Stimme unbestimmten Geschlechts.
»Hey, Finch.«
Die Stimme kühlte beträchtlich ab. »Lola. Ich stell dich zu Jan durch.«
Als Jan sich meldete, legte Lola sofort los. »Man hat Judith Calf Looking im Schnee hinter der Deadman’s Curve gefunden. Charlie geht davon aus, dass sie erfroren ist, aber sicher ist er sich nicht. Also kann ich die Story nicht schreiben.« Jans Antwort schallte vernehmlich aus dem Lautsprecher. Lola hielt das Handy ein Stück vom Ohr weg. »Ja, ich weiß. Ich hätte nie mit ihm schlafen sollen. Müssen wir das jetzt wieder diskutieren? Hör mal, ich übernehme deine Stadtratssitzung heute Abend, wenn du dich um diese Geschichte kümmerst. Danke.« Sie beendete das Gespräch und starrte auf ihr Handy. Das Display war in der Hitze des Wageninneren angelaufen. Sie wischte darüber. Es war kurz vor vier. Die Stadtratssitzung fing um sieben an.
»Eine Adlerfeder?«, fragte sie sich laut.
Solche Federn waren für ganz besondere Gelegenheiten vorgesehen. Krieger erhielten eine, wenn sie aus Afghanistan oder dem Irak zurückkehrten. Manchmal bekam auch ein Familienmitglied eine nach dem Tod einer Person, die dem Stamm in herausragender Weise geholfen hatte, und ab und zu wurden sie Leuten nach einer wichtigen Prüfung oder einer Wahl in ein Amt überreicht. Aber einem drogensüchtigen jungen Mädchen? Einen kurzen Moment lang fragte sich Lola, ob Judith die Feder geklaut hatte. Aber nein, das war unmöglich. Diese Federn waren so heilig, dass nur ein Älterer, der sich besondere Verdienste erworben hatte, oder jemand, dem diese Aufgabe zugeteilt worden war, sie aufheben durfte, wenn sie auf den Boden fielen.
Lola machte kehrt und schlug die Straße zum Reservat ein. Es gehörte sich, dass sie Judiths Familie ihr Beileid bekundete, versicherte sie sich selbst. Und wenn sie dabei ein paar Antworten erhielt, umso besser.
2. Kapitel
Lola parkte einen Block vom Haus der Familie Calf Looking entfernt. Es war erst ein paar Stunden her, dass Charlie das Stammesbüro angerufen hatte, aber im Reservat verbreiteten sich Nachrichten in einer Geschwindigkeit, die das Internet in den Schatten stellte. Pick-ups – manche neu, manche weit davon entfernt – und höher gelegte Wagen parkten bereits in zwei Reihen an der Straße. Der mehrere Tage dauernde Prozess einer Beerdigung im Reservat hatte also schon begonnen. Lola schubste Boy aus dem Truck. Er lief zwei Schritte, balancierte auf seinem verbliebenen Hinterbein, um zu pinkeln, und hüpfte wieder in den Wagen.
»Bin bald wieder da«, erklärte sie ihm. Zu Beginn des Winters hatte sie sich Sorgen gemacht, wenn sie Boy im Auto lassen musste. Charlie hatte sie auf die vielen Rinder und Pferde hingewiesen, die den Winter über im Freien blieben, sowie die Hunde der Farmer, die ihr Leben auf den Ladeflächen der Pick-ups verbrachten, egal bei welchem Wetter. »Er wird nicht frieren«, hatte er ihr versichert. »Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du ihn zu lange im Haus lässt. Dann verliert er nämlich sein Winterfell. Und das braucht er genau wie du deinen Parka.«
Lola bemühte sich, in ihren vielen Kleiderschichten große Schritte zu machen, um zu einer Gruppe von Frauen aufzuschließen, die gerade ins Haus drängten. Drinnen war die Luft tropisch. Nachdem Lola sich aus ihrem Parka geschält, die Stiefel ausgezogen und die Sachen auf die Haufen am Eingang geworfen hatte, war sie schweißgebadet. Das Haus – wie alle Häuser im Reservat ein Fertighaus – war schon unter gewöhnlichen Umständen stets ziemlich voll, doch an diesem Nachmittag bekam man hier Platzangst. Zumindest ging es Lola so, die sich noch nicht recht an die Masse von Verwandten gewöhnt hatte, die sich zu jedem wichtigeren Anlass zusammenfand. Soweit sie das beurteilen konnte, war hier jeder irgendwie mit jedem verwandt. Sie hatte den Eindruck, dass bei jeder Schulabschlussfeier, jeder militärischen Verabschiedung und jeder Beerdigung das gesamte Reservat aufkreuzte.
»Es ist wirklich nervig«, hatte Charlie ihr einmal erklärt, auch wenn der liebevolle Tonfall seine Worte Lügen strafte. »Als Kind konnte ich nie etwas anstellen, ohne sofort erwischt zu werden. Überall waren Tanten. Sie geben dir was zu essen, das ist ja ganz schön, aber sie lassen dich auch nie aus den Augen.«
Lola, das einzige Kind von Eltern, die ebenfalls Einzelkinder gewesen waren, konnte sich kaum vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn man derart im Familienleben aufging. Fühlte man sich beschützt, wie in einen Kokon gehüllt? Oder erdrückt? »Ein bisschen von beidem«, hatte Charlie zugegeben. Nun wischte sie sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und reckte sich, um in der Menge nach Joshua Ausschau zu halten.
»Dort drüben«, erklärte ihr Josephine deRoche mit geschürzten Lippen. Lola kannte Josephine von den Treffen des Stammesrats. Als Schatzmeisterin überwachte Josephine das Budget ebenso sorgfältig wie ihr Äußeres, aber Hitze und Trauer im Doppelpack waren zu viel für sie. Ihr normalerweise straff in der Mitte sitzender Haarknoten war verrutscht, und auf ihren vollen Wangen sammelte sich Wimperntusche.
Die Leute drängten sich um zwei Sessel in der Ecke des Raums. Auf dem einen saß Joshua, offenbar der einzige hier anwesende Mann, auf dem anderen die Stammesälteste Alice Kicking Woman. Joshua umklammerte ein gerahmtes Schulabschlussfoto von sich und Judith: Beide trugen mit Sternen bestickte Decken um die Schultern, und die offenen Haare unter den Baretts reichten ihnen bis zur Hüfte. Lola fasste sich mit der Hand an den Kopf. Im Reservat machten sie ihre dünnen, krausen Locken immer etwas befangen. Hier hatten alle Leute derart dichte, schimmernde glatte Haare, dass sie in einer Shampoowerbung hätten auftreten können. Alle außer Joshua. Sein Haar war frisch geschnitten und stand ihm in Büscheln vom Kopf. Alice’ gekrümmte Gestalt drängte sich wie ein Fragezeichen in seine Richtung. Tiefe Furchen durchzogen ihr Gesicht, verloren sich in den Wangenhöhlen und tauchten als vertikale Linien um ihren Mund herum wieder auf.
Lola zögerte. Den Benimmregeln zufolge musste man erst einen Älteren begrüßen. Aber wie verhielt man sich bei einem Todesfall? War dann der Hinterbliebene als Erster an der Reihe? Lola hielt Ausschau nach Alice’ Urenkelin. Tina besuchte die letzte Highschool-Klasse und hatte vor Kurzem erklärt, dass sie gern ein Praktikum bei der Zeitung machen würde. Lola nahm Tina manchmal bei ihren Recherchen mit, und im Gegenzug half Tina Lola, die vielschichtigen Stammesgebräuche zu verstehen und zu befolgen. Ohne Tinas Führung kniete sich Lola schließlich zwischen die Sessel und umfasste Alice’ Hand mit der einen und die von Joshua mit der anderen Hand. »Es tut mir so leid, das mit Ju…« Sie erhielt einen Tritt gegen das Schienbein und hob fragend den Blick. Tinas vertrauter Pferdeschwanz tanzte hin und her, während sie den Kopf schüttelte.
»Keine Namen«, gab sie Lola leise zu verstehen.
»… mit deiner Schwester«, beendete Lola ihren Satz.
Joshua ließ nicht erkennen, ob er sie gehört hatte. Lola stand auf, um dem Nächsten Platz zu machen, und folgte Tinas wippendem Pferdeschwanz in die Küche, wo Frauen wie am Fließband Pfannenbrot buken. »Was ist denn mit seinen Haaren passiert?«, fragte sie Tina leise, während sie sich zu den anderen gesellten.
»Er hat sie abgeschnitten, als er es erfahren hat«, erklärte Tina. »Das ist das traditionelle Zeichen der Trauer. Gib mir deine Hände.«
Tina bestäubte Lolas Handflächen mit Mehl, dann übergab sie ihr einen Teigball. Lola begann, ihn zu plätten und zu formen, doch ihre Bewegungen wirkten ungelenk im Vergleich zu der raschen, sicheren Arbeit der anderen. Sie wartete darauf, dass das Gefühl des Fremdseins nachließ, das sie als einzige Weiße im Raum stets befiel.
»Es ist so traurig«, sagte jemand. »Erst ihre Eltern und dann ihre Großmutter. Die beiden haben sich mehr oder weniger gegenseitig großgezogen.«
Lola hob den Blick, um festzustellen, von wem diese Worte stammten, und steckte einen Finger durch ihre Teigscheibe. Es war Josephines verheiratete Enkelin, Angela Kills At Night. Lola rollte den Teig wieder zu einer Kugel und fing von vorn an. »Wann ist die Großmutter denn gestorben?«
»Vor fünf, sechs Jahren. Die Zwillinge sind damals gerade auf die Highschool gekommen«, erläuterte Angela. »Sie waren ein paar Jahre hinter mir.« Sie angelte mit einer Gabel ein Stück gebratenes Brot aus der Pfanne und warf es auf einen Stapel Küchentücher, die sich sofort dunkel färbten. Dann legte sie ihren Teigkreis – papierdünn und genau in der richtigen Größe – in die Pfanne. Er färbte sich golden und ging sofort auf. »Die Hälfte ihrer Verwandten, die noch übrig sind, jedenfalls die Männer, arbeitet drüben auf dem Ölfeld. Es wird ziemlich schwierig werden, sie hierherzubekommen.«
»Wegen des Wetters?«, fragte Lola.
»Weil sie gerade mit ihren drei Wochen angefangen haben.«
Lola nickte. Sie wusste inzwischen, dass die Leute in ihren Jobs auf dem Bakken-Ölfeld in North Dakota immer in Schichten von mehreren Wochen am Stück arbeiteten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Chefs die Produktionstermine riskieren, selbst wenn es um eine Beerdigung geht«, sagte Angela. »Es reicht schon, dass wir unsere Männer wochenlang nicht bei uns haben. Jetzt müssen sie sich auch noch Sorgen machen, dass sie ihre Jobs verlieren, wenn sie das Richtige tun wollen.«
Selbst Lola spürte die Anspannung im Raum. Vor allem im Winter, wenn die saisonalen Jobs versiegten, deren Basis die Touristen auf dem Weg zum Glacier waren, stieg die Arbeitslosigkeit im Reservat oft auf siebzig bis achtzig Prozent. Nichtsdestotrotz war eine Beerdigung wichtiger als ein Job, das wusste jeder, zumindest alle lokalen Arbeitgeber. Aber ob die Bosse fast fünfhundert Meilen entfernt dafür Verständnis aufbringen würden?
Josephine lenkte das Thema wieder auf Judith. »Ich habe gehört, dass sie es beinahe nach Hause geschafft hat«, sagte sie. Josephine war gut sechzig Jahre alt, doch ihre Haut war nach wie vor faltenlos, und ihre Haare schimmerten wie Obsidian. Lola, die erst Mitte dreißig war, war sich sehr bewusst, dass ihre wirren kastanienbraunen Locken schon von silbernen Strähnen durchzogen waren und sich in den Winkeln ihrer grauen Augen die ersten Fältchen zeigten. Josephine legte die Pfannenbrote auf ein Tablett, auf dem bereits ein Berg der üblichen Wurst-Käse-Sandwiches lag. Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, dann tunkte sie eine Hand in eine Puderzuckertüte und bestreute die Brote. Schließlich wischte sie sich die Hand wieder ab, nahm das Tablett und öffnete die Küchentür mit einem Hüftschwung. Die Frauen warteten, bis die Tür hinter ihr zugegangen war. »Wenigstens wissen wir jetzt, wo Joshuas Schwester ist«, sagte Angela. »Im Gegensatz zu den anderen, die weggelaufen sind.«
Tina erstarrte neben Lola. Aber in einer Gruppe älterer Frauen konnte sie nicht den Mund aufmachen. Lola fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Welche anderen?« Manchmal war es auch von Vorteil, wenn man sich bei den Benimmregeln noch nicht ganz sicher war.
Angela zählte an den bemehlten Fingern ab. »Mal sehen. Maylinn Kiyo – sie war die Erste. Carole Bear Shoe und Annie Lenoir sind ebenfalls weggelaufen.«
Jeanette Finley Heavy Runner schüttete wieder Mehl in eine Schüssel, gab Backpulver und Salz dazu und knetete Schmalz darunter. Sie war eine Salish von der anderen Seite der kontinentalen Wasserscheide, aber vor dreißig Jahren hatte sie einen Blackfeet geheiratet und das Labyrinth aus Verwandtschaft und Klatsch längst gemeistert. »Und Nancy deRoche, die Tochter des Neffen von Josephines Mann. Sie ist bei Josephine aufgewachsen.« Die Frauen schauten zur Tür.
»Ich kenne keine von ihnen«, sagte Lola.
»Sie sind letztes Jahr verschwunden. Ein paar Wochen nach Judith, aber bevor du hierhergezogen bist. Eine Zeit lang sah es fast so aus, als liefe jeden Tag eine weg.«
»Meine Schwester ist nicht weggelaufen.« Joshua stand im Türrahmen. Das Fett in der Pfanne zischte und spritzte. In der einkehrenden Stille klang es wie kleine Explosionen.
»Niemand hat je von ihr gehört«, sagte Angela schließlich.
»Deshalb weiß ich, dass sie nicht weggelaufen ist. Sie wäre nie verschwunden, ohne sich von mir zu verabschieden. Es ging ihr so gut. Die anderen Mädchen, die haben …« Er sah sich im Raum um und senkte die Stimme. »Drogen genommen.«
Lola dachte an die Spuren auf Judiths Unterarm und an das grässliche Brandmal. »Ich weiß, dass …« Sie stoppte sich gerade noch rechtzeitig, bevor sie den Namen nannte. »Dass auch deine Schwester Probleme hatte.«
Joshuas Augen waren gerötet, die Stimme heiser. »Die hat sie im vergangenen Jahr überwunden. Bei ihrem Aufenthalt im Sanatorium, da hat sie’s geschafft. Die Behandlung dort basiert auf traditionellen Heilmethoden. Als sie damit fertig war, hat man ihr eine Adlerfeder überreicht. Sie war so stolz.«
Lola sah die dunkle Feder in Judiths erfrorener Hand vor sich, die bei jedem Windstoß wie eine Wetterfahne hin und her geweht war. Sie hörte auf zu kneten.
Angela nahm ihr den Teig ab, bearbeitete ihn kurz und legte ihn in das heiße Schmalz.
»Hast du denn schon mit Charlie gesprochen?«, fragte Lola.
»Nein, nur mit den Stammespolizisten. Warum?«
»Red mal mit ihm«, sagte Lola und wandte sich ab, um der Frage in Tinas weit aufgerissenen Augen zu entkommen.
3. Kapitel
Die glühenden Ziffern des Weckers zeigten ein Uhr, als Lola die Haustür hörte. Auf dem Nachttisch brannte eine Kerze. Die Flamme duckte sich tief unter dem Ansturm der Kälte, die plötzlich ins Haus drängte. Als die Tür zufiel, richtete sie sich wieder zu ihrer vollen Höhe auf. Charlie schlich in Socken ins Schlafzimmer. Sein Schatten war im Kerzenschein riesig. Lola beobachtete ihn im flackernden Licht, während er seine morgendliche Routine umkehrte. Erst auf dem einen Bein balancierend, dann auf dem anderen zog er die vielen Schichten von Socken, die Hose und die Unterhosen aus, dann den Pullover und das wollene Unterhemd.
»Eines Tages brennst du mit deinen verdammten Kerzen noch das Haus ab.« Seine Stimme klang liebevoll.
»Ich mag Kerzen.« Sie hatte ihm nie erzählt, warum. Kerzen erinnerten sie an ihre Jahre in Kabul und die unzuverlässige dortige Stromversorgung. Es war sinnvoll gewesen, Kerzen als Lichtquelle zu nutzen und den kostbaren, vom Generator erzeugten Strom für die Computer, die Kameras und die Satellitentelefone zu verwenden. Sie hatte das sanfte Kerzenlicht zu schätzen gelernt, das die Räume gemütlicher wirken ließ und die Leute zwang, eng zusammenzurücken. Die Wand aus Dunkelheit, die sich dahinter auftürmte, ließ das nächtliche, entweder von Banditen oder von Aufständischen stammende Gewehrfeuer unbedeutend und sehr weit weg erscheinen.
»Nun mach schon, bring es hinter dich.« Noch viel unangenehmer als die Kerzen war Charlie die Art und Weise, wie Lola sie löschte.
Sie benetzte Daumen und Zeigefinger mit Spucke und positionierte sie links und rechts neben der Flamme. Dann zählte sie langsam, wobei sie ihre Finger immer weiter zusammendrückte. »Eintausendeins, eintausendzwei, eintausenddrei, eintausendvier – autsch.« Die Flamme erlosch zwischen ihren zusammengedrückten Fingerspitzen. Sie pustete darauf, während Charlie in T-Shirt und Unterhose ins Bett glitt. »Deine Füße sind eisig.«
»Sagt die Frau, die mit dem Feuer spielt. Warum führst du dich wegen der Kälte so auf? Außerdem wären deine Füße auch kalt, wenn du in den letzten Stunden im Schnee herumgestanden wärst. Rutsch zur Seite und gönn mir den warmen Fleck.«
Lola kuschelte sich tiefer in die Lagen der Decken, die Charlies Großmutter mit Sternen bestickt hatte. Die feuerroten, orangefarbenen und goldenen Muster erinnerten sie an die Kerzenflamme, die sie soeben gelöscht hatte. »Kommt nicht in Frage. Schieb Boy weg. Du kannst seine Stelle haben.«
Lola drehte sich auf die Seite, Charlie kuschelte sich an sie und drückte seine Brust an ihren Rücken. Sie fühlte sich an wie eine Eisplatte, die langsam auftaute. »Ziemlich heftig, die Sache mit Judith«, sagte sie.
»Und die mit dem Truckfahrer.«
Lola war der Mann, der bei dem Unfall gestorben war und Charlie einen Großteil der vergangenen Nacht beschäftigt hatte, ziemlich egal. Aber sie wollte auch nicht zu neugierig erscheinen, was Judith anging. »Was war eigentlich mit ihm? Die Sache klang doch ziemlich eindeutig. Der Laster ist im Sturm von der Straße abgekommen, oder?«
»So sieht es aus, aber man kann es nicht genau sagen. Der Schnee hat die Reifenspuren zugedeckt, und der Wind hat alles verwischt. Auf der Straße gibt es keine Rutschspuren. Wenn es an der Deadman’s Curve passiert wäre, könnte ich es ja noch nachvollziehen, aber es ist einige Meilen dahinter geschehen, auf einer kerzengeraden Strecke. Und dann sein Genick. Es war …« Charlie verstummte.
»Was war mit seinem Genick?« Sie rutschte ein wenig von ihm weg und spürte, wie er schlagartig hellwach wurde.
»Es war gebrochen. Umgedreht. Ich habe schon viele Genickbrüche bei Unfällen gesehen, aber so einen noch nie. Und es gab eine Fußspur.«
Lola sprach lauter, um ihn daran zu hindern, wieder wegzudösen. »Hast du nicht gesagt, der Wind hat alles mit Schnee zugeweht?«
»Dort, wo der Laster sich quer stellte, gab es einen windgeschützten Bereich. Und einen Fußabdruck, so klar wie der Tag.«
»Lass mich raten – er hat nicht zu den Schuhen des Fahrers gepasst.«
»Es war ein Stiefelabdruck, nicht annähernd passend.«
»Vielleicht hat jemand angehalten, um zu sehen, ob er helfen konnte, und ist weitergefahren, als er merkte, dass er zu spät gekommen war. Wer hat denn überhaupt angerufen?«
Charlies Worte kamen zögernd, als würden sie ihm aus einem kleinen Teil seines Selbst entlockt, der noch wach war. »Ein Mann, der sich nicht mit Namen meldete. Meinte, er habe so viel damit zu tun, seine Karre in all dem Schnee auf der Straße zu halten, dass er uns nur die Stelle nennen könne. ›In all diesem Scheißschnee‹, hat er gesagt.«
Das Haus erzitterte unter einer erneuten Windböe. Schnee trommelte wie Kies an die Fensterscheiben. Die Stürme in Montana hatten nichts gemeinsam mit dem sanften Schneefall in Lolas Kindheit an der Küste von Maryland. Dort schwebten dicke Flocken träge zu Boden, bildeten weiche, funkelnde Haufen, setzten sich auf jeden Ast und jeden Busch. Die kleinen Ortschaften dort hielten sich hauptsächlich mit der Austernfischerei über Wasser, da sie zu weit von Washington D.C. entfernt waren, um vom Tourismus leben zu können. Dort war der Winter eine Postkartenidylle. In Montana hingegen knallte der Wind den Schnee auf die steinhart gefrorene Erde und schob ihn zu derart festen Wehen zusammen, dass Rinder darauf laufen konnten. Wenn ein Rind doch einmal einbrach, rissen die scharfen Ränder ihm die Beine auf.
»Das kann ich gut verstehen. Ich hasse den Schnee hier auch«, sagte sie, weil sie Charlie wach halten wollte. Trotzdem war sie überrascht, als er ihr antwortete.
»Wie ging es dir denn in Afghanistan? Hast du nicht gesagt, dass es wettermäßig ziemlich ähnlich war wie in Montana? Dann hat es dort doch bestimmt genauso heftig geschneit.«
»Im Winter war ich kaum da.« Die streitenden Fraktionen waren viele Jahre mit den Russen im Krieg gelegen, dann mit den Amerikanern. Dadurch waren sie so pragmatisch geworden, dass sie ihre Gewehre, Granaten und Sprengfallen im Winter meist zur Seite legten. Lolas Redakteure, denen jeder unbeschäftigte Reporter ein Dorn im Auge war, schickten sie dann meist in eine andere Krisenregion. Damals hatte sie sich darüber beklagt, dass sie permanent unterwegs war, jetzt stellte sie fest, dass es ihr abging. Seit ihrer Ankunft in Montana war sie – abgesehen von ihren fast täglichen Fahrten ins Reservat – kaum aus Magpie rausgekommen.
ENDE DER LESEPROBE