Der Lohn des Bösen - Gwen Florio - E-Book

Der Lohn des Bösen E-Book

Gwen Florio

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Beschreibung

In den Bergen Montanas sucht Reporterin Lola Wicks einen Mörder – im Kampf gegen eine verschworene Gemeinschaft ...

Als ausgerechnet die erfahrene und weltgewandte Journalistin Lola Wicks in eine Provinzredaktion versetzt werden soll, flüchtet sie frustriert zu ihrer alten Freundin, der Lokalreporterin Mary Alice, die eine Hütte in den Bergen von Montana besitzt. Dort macht sie eine entsetzliche Entdeckung: Mary Alice wurde ermordet. Da Lola dem zuständigen Sheriff nicht traut, beginnt sie selbst zu ermitteln. Argwöhnisch beäugt von der verschworenen Gemeinschaft der Dorfbewohner fi ndet sie schließlich heraus, dass Mary Alice einer ungeheuerlichen Sache auf der Spur war, bei der es um viel Geld geht. So viel Geld, dass es sich lohnt, dafür zu töten ...

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Seitenzahl: 411

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Buch

Lola Wicks ist eine erfahrene, weltgewandte Auslandskorrespondentin. Doch ihre Zeitung in Baltimore schließt das Auslandsbüro und beruft Lola wieder in die USA zurück. Man werde einen Platz in einer lokalen Redaktion für sie finden, heißt es, zunächst aber solle sie einen langen Urlaub machen. Frustriert begibt sich Lola nach Magpie, Montana, um dort ihre alte Freundin und ehemalige Kollegin Mary Alice Carr zu besuchen, die in einem Blockhaus am Fuße der Rocky Mountains lebt. Als Lola bei Mary Alice ankommt, macht sie eine furchtbare Entdeckung: Die Freundin liegt tot neben ihrem Haus, offensichtlich wurde sie ermordet. Nachdem Lola die Polizei gerufen hat, will sie Montana so schnell wie möglich verlassen – doch sie muss sich als Zeugin für die Ermittlungen zur Verfügung stellen. Geduld ist nicht Lolas Sache, und da sie dem Sheriff ohnehin nicht traut, begibt sie sich selbst auf die Suche nach Mary Alice’ Mörder. Die Recherchen gestalten sich allerdings schwierig, da Lola auf eine eingeschworene Gemeinschaft prallt. Schließlich erfährt sie jedoch, dass Mary Alice an einem Artikel von höchster Brisanz gearbeitet hat. Lola scheint auf der richtigen Spur zu sein. Doch in ihrem Ermittlungseifer merkt sie nicht, dass sie selbst in den Fokus des Mörders geraten und ihr Leben in höchster Gefahr ist …

Informationen zu Gwen Floriofinden Sie am Ende des Buches.

Gwen Florio

Der Lohndes Bösen

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Angela Schumitz

Die Originalausgabe erschien 2013unter dem Titel »Montana«bei The Permanent Press, Sag Harbor.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Januar 2015Copyright © der Originalausgabe 2013 by Gwen FlorioPublished by Arrangement with SECOND CHANCEPRESS INC., Sag Harbor, NY, USACopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHDieses Werk wurde vermittelt durch die LiterarischeAgentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: Getty Images / E+ / Mike Rodriguez;FinePic®, MünchenRedaktion: Alexander GroßBH · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-14447-0www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Sean, Kate und Scott

PROLOG

Das Knacken eines Zweigs unter einer Stiefelsohle – dieses Geräusch ist im Wald mit nichts zu verwechseln.

Mary Alice Carr verbrachte einen Großteil der Nacht auf der Anhöhe hinter ihrem Blockhaus, mit weit aufgerissenen Augen aufrecht an ihren zusammengerollten Schlafsack gelehnt. Die Minuten ein Fluss tintenschwarzer Trostlosigkeit, unterbrochen von Momenten der Angst, die Stunden langsam verstreichend wie in einem Traum. Beim Nachhallen des Knackens in der Dunkelheit fragte sie sich kurz, ob sie sich das Geräusch in der dünnen Bergluft nur eingebildet hatte. Aber der junge Hund neben ihr hob den Kopf. Sie hatte sich also nicht verhört.

Das Blockhaus stand auf einer der wenigen Ebenen, die den steilen Anstieg der nördlichen Rockies gen Himmel kurz unterbrechen. Die dahinter aufragende Felswand bot Schutz vor dem unerbittlichen Wind, der häufig als ausgewachsener Sturm daherkam. Er schliff die Oberfläche des Landes und meißelte seltsame, düstere Formen in den Kalkstein. Aus den hier beheimateten Tieren machte er gefährliche, rücksichtslose Opportunisten, die Menschen brachte er dazu, gelegentlich grundlos in Tränen auszubrechen. Doch im Morgengrauen legte er sich und sammelte neue Kräfte für seine tägliche Belagerung. Ab und zu erklangen Geräusche, unvermittelt, deutlich hörbar: trockene Nadeln, die von Murraykiefern herabrieselten, das gedehnte Heulen eines Kojoten.

Schritte auf der Veranda ihres Blockhauses.

Der junge Border Collie zitterte angespannt unter Mary Alice’ Hand. Sie hielt ihm das Maul zu und fluchte stumm über ihre Torheit. Wer auch immer sich dort unten herumtrieb, bemühte sich nicht einmal, leise zu sein. Sie tastete nach ihrem Handy – eine nutzlose Gewohnheit. Ihr Blockhaus lag am äußersten Rand des Sendebereichs. Hier oben auf der Anhöhe hatte sie keinen Empfang. Ihre Finger glitten am Telefon vorbei und schlossen sich um die .45er. Sie entsicherte die Waffe mit einem leisen Klicken – noch ein fremdes Geräusch in der Stille kurz vor dem Morgengrauen.

Langsam legte sich Mary Alice auf den Bauch. Der glatte Stoff ihres dicken Daunenanoraks knisterte leise, als sie die Waffe auf einen flachen Stein vor sich ablegte. Den Stein hatte sie am Vorabend hierhergeschleppt. Da hatte sie die ausgetüftelten Vorbereitungen noch auf ihre Paranoia geschoben, die bei ihrem aktuellen Projekt immer schlimmer zu werden schien. Sie arbeitete nämlich schon sehr lange an einer Story, die immer merkwürdigere Wendungen nahm.

»Es kommt nie so schlimm, wie man denkt«, pflegte ihre Freundin Lola zu sagen. Das konnte sich auf alles Mögliche beziehen, von Restaurants über Männer hin zu den Storys, denen sie als junge Reporterinnen in Baltimore nachgejagt waren. »Es kommt schlimmer.« Lolas Flugzeug landete in wenigen Stunden. Seit fünf Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Damals war Lola nach Afghanistan gegangen und Mary Alice nach Montana. Ihre Karrieren, die lange Zeit parallel verlaufen waren, hatten sich plötzlich in völlig verschiedene Richtungen entwickelt. Lola hatte ihr ein paar Kriegsgeschichten versprochen. Mary Alice schloss die Augen und dachte, dass auch sie eine Kriegsgeschichte zu erzählen haben würde, wenn diese Nacht vorüber war.

Die Kälte nagte an ihren nackten Handgelenken. Der Mann hielt sich nun schon eine ganze Weile in ihrem Haus auf. Wahrscheinlich stand er an ihrem Schreibtisch. Dieser war übersät mit Unterlagen und Akten, die mit irreführenden Aufschriften versehen waren, und mit USB-Sticks voller bedeutungslosem Mist. Wenn sie sich nicht verrechnet hatte, würde er alles einstecken in der Annahme, er habe bekommen, wonach er suchte. Und dann würde er wegfahren. Bevor er in seinen Wagen stieg, würde er ihr hoffentlich ein paar wertvolle Sekunden gönnen, in denen sie einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Sie überlegte, wie lange sie danach noch hier oben bleiben sollte.

Dann fiel ihr ein, dass sie gar nicht gehört hatte, wie er hergefahren war.

Sie öffnete die Augen.

Nebel sammelte sich auf der Lichtung unter ihr, an den Rändern bauschte sich die Dunkelheit, ein neuer Tag brach an. Der Mann kniete auf der Veranda, eine feste, dunkle Form in dem fahlen Licht. Das Zielfernrohr eines AR-15, dessen Lauf auf der Verandabrüstung ruhte, war auf Mary Alice gerichtet. Ein Hut verdeckte sein Gesicht, aber Mary Alice konnte sich unschwer vorstellen, dass ihr Gesicht in der Mitte des Fadenkreuzes lag. Die stabile .45er, noch vor wenigen Minuten so tröstlich, fühlte sich in ihrer zitternden Hand auf einmal wie ein Spielzeug an. Fünfzig Meter war die äußerste Reichweite dieser Waffe. Während ihre Kugel langsam in Richtung Veranda flöge, würde sich sein Geschoss auf seinem zielsicheren Flug gerade erst aufgewärmt haben, wenn es sie durchbohrt hatte und dann weiterraste. Der Hund begann zu bellen.

Mary Alice ließ ihre Waffe fallen und hob die Hände.

1. KAPITEL

Miss?« Die Stimme schwebte auf dem flackernden Licht der Taschenlampe so leise durch den Türspalt, dass Lola Wicks sich von den vertrauten Geräuschen aus dem Nebenraum einlullen ließ und gleich wieder einschlief.

Das endlose Plätschern von Tee in schadhafte Tassen. Die kehligen Reibelaute des Paschtu. Das metallische Knirschen von Magazinen, die in Vorbereitung auf den nächsten Tag in die Waffen geschoben wurden. Lola rutschte tiefer in ihren Schlafsack und atmete den angenehmen Geruch von Holzfeuer und Kuhfladen ein, der von ihrem jüngsten Ausflug aus Kabul ins Hochland kündete. Ganze Jahrhunderte bröckelten weg, je weiter man sich aus der Stadt entfernte. Das einzig Moderne in diesen Bergdörfern waren die schrecklichen Waffen in den Händen der Sandalen tragenden und von Umhängen verhüllten Männer. Der Konflikt war hier ganz nah, nicht wie in Kabul, wo sich die Männer um Konferenztische versammelten und nur gelegentlich eine Handgranate durchs Fenster flog, damit die Sache spannend blieb. Im Hochland kannten sich die Kämpfenden beim Namen. Sie hatte etliche Monate gebraucht, bis sie das Vertrauen dieser Splittergruppe gewonnen hatte, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Amerikaner noch entschlossener aus ihrem Land zu vertreiben als vor zwei Jahrzehnten die Russen.

Trotz der Gefahren, die auf jeden lauerten, der Kabuls fragwürdige Sicherheit hinter sich ließ, fühlte sich eine Rückkehr in die umliegenden Regionen für Lola immer wie eine Heimkehr an. Sie betrachtete es jedes Mal als eine Art Erholung von ihrem öden Arbeitsplatz in der überfüllten Villa, die sie sich mit einer wechselnden, ständig streitenden Schar von Auslandskorrespondenten teilte. Wenn sie unterwegs war, fielen Ablenkungen und Verpflichtungen von ihr ab, bis sie an einem Ziel ankam, wo nur noch zwei Dinge wichtig waren: die Story zu dokumentieren und am Leben zu bleiben. Lola zog den Schlafsack fester um ihren Kopf. Es war Mitte Juni, doch in den Ausläufern des Hindukusch waren die Nächte noch empfindlich kühl.

»Miss.«

Die Tür ging weiter auf. Wieder ihr Mittelsmann. Seine Stimme klang eindringlich. Lola richtete sich auf und angelte sich ihr Kopftuch, das einzige Kleidungsstück, dessen sie sich nachts entledigte. Sie ließ sogar die Stiefel an und lockerte nur die Schnürsenkel. »Ho«, murmelte sie – ja.

»Ein Anruf, Miss.« Er ließ das läutende Handy, das er vom Ladekabel entfernt hatte, über den Lehmfußboden schlittern. Es blieb am Rand eines Teppichs hängen, dessen satte Farben und komplizierte Muster die karge Umgebung zu verspotten schienen.

Lola fluchte leise auf Englisch. Kein Warlord, und wäre er noch so versessen auf Öffentlichkeit, würde sie um diese Uhrzeit anrufen. Es musste ein Redakteur sein. Sie klappte das Telefon auf, ohne auf die Nummer zu blicken. »Denkt ihr Leute eigentlich nie an die Zeitverschiebung?«, knurrte sie. Dann richtete sie sich weiter auf. »Wie bitte?«, fragte sie. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie einen Moment später. Und fluchte noch einmal. Diesmal gab sie sich nicht die Mühe zu flüstern.

Eine Woche später überquerte sie den Atlantik in einem glatten, glänzenden Zylinder, dessen Insassen ebenso gut gepolstert wirkten wie die Sitze. Keine einzige Kalaschnikow weit und breit. Sie hatte so viel Zeit unter Leuten verbracht, die ganz selbstverständlich bis an die Zähne bewaffnet waren, dass die plötzliche Abwesenheit von Waffen sie leicht verunsicherte. Unter ihr wogte das zerknitterte graue Laken des Ozeans. Lola rutschte hin und her in dem Versuch, es sich bequemer zu machen, und entschuldigte sich bei ihrem Nachbarn, wenn sie ihn mit dem Ellbogen berührte. Wann hatte ihre Zeitung aufgehört, bei Langstreckenflügen Business-Class zu buchen? Sie war zu groß für die Touristenklasse. Dennoch genoss sie es kurz, dass die Leute um sie herum Stewardessen und ständig verfügbaren Alkohol für selbstverständlich zu halten schienen. Sie überlegte, wie viel sie schon getrunken hatte und wie viel Chemie sie sich dazu genehmigen durfte. Schließlich halbierte sie eine Schlaftablette und signalisierte der Stewardess, dass sie gern noch ein Glas Wein hätte. Zweimal war sie schon durch die Gänge geschlichen und hatte ihre Mitreisenden mit scharfen Augen gemustert. Aber sie war zu lange weg gewesen. Die Leute sahen alle gleich aus. Sie hatte die Fähigkeit verloren, solche Menschen einzuschätzen. Die Pillenhälften lagen vor ihr auf dem Klapptablett.

Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal versucht hatte, in einem Flugzeug zu schlafen. Sie hatte zu viele Jahre damit verbracht, an Orte zu gelangen, denen vernünftige Menschen entkommen wollten. Dorthin war sie in rostigen Propellermaschinen von zweifelhafter Herkunft geflogen, gesteuert von Piloten mit zwielichtigem Hintergrund, unter Bedingungen, in denen sie sich gefragt hatte, warum sie je um einen Fensterplatz gekämpft hatte. Auf jeder dieser Reisen hatte sich ihr der Magen umgedreht, und sie hatte die Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, wann sich das Glück gegen sie wenden und den Preis für früheren exzessiven Hochmut einfordern würde. Normalerweise schlief sie nicht auf einem Flug, aber diesmal wollte sie unbedingt ein paar Stunden ruhen, sich einige Zeit ins Vergessen flüchten, um der Realität dieses Telefonats zu entkommen. Sie nahm die beiden Hälften der Tablette und schluckte sie ohne Flüssigkeit. Dann drückte sie wieder auf den Knopf, um einen Flugbegleiter auf sich aufmerksam zu machen. Sie entdeckte eine Stewardess im vorderen Bereich des Flugzeugs. Der Vorhang zur ersten Klasse war zur Seite geschoben, und die Frau unterhielt sich dort mit jemandem. Sie warf Lola nur einen kurzen Blick zu und redete weiter.

Lola zerknüllte ihre Serviette und lehnte sich in den Gang. Es war ein kurzer, gerader Wurf, fast schon zu leicht, selbst bei den unklaren physikalischen Zusammenhängen zwischen dem zusammengeknüllten Papier und dem Luftdruck in der Kabine. Sie winkelte den Arm an, dann ließ sie ihn vorschnellen. Die Serviette flog quer durch den Gang und traf die Stewardess zwischen den Schulterblättern, bevor sie mit einem feuchten Platschen im Drink eines Mitreisenden landete. Lola drückte noch einmal auf den Knopf. Die Stewardess drehte sich um. Sie wirkte eindeutig beunruhigt.

Lola hob ihren Plastikbecher. »Noch einen Drink, bitte!«

In Baltimore lehnte sich ein Redakteur – einer der neuen – auf seinem Stuhl zurück und wich ihrem Blick aus. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte er. »Wir schließen unsere Büros im Ausland. Wir finden hier etwas für Sie, vielleicht in einer Lokalredaktion. Bei all den Entlassungen sind wir an den Rändern nur noch schwach vertreten. Immerhin haben Sie noch einen Job. Sie können sich glücklich schätzen.«

Lola betrachtete einen Briefbeschwerer aus milchig-weißem Glas, der zwischen einer Akte und einer Zeitung auf dem Schreibtisch lag. Er sah schwer aus. Sie nahm ihn in die Hand. Er war schwer. »Eine Lokalredaktion. Was für ein Glück.«

Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, bildeten die Front des Büros. Sie stammten aus jenen Tagen, als Zeitungen noch einen stattlichen Profit abwarfen, der in viel gepriesene neue Auslandsbüros überschwappte, in über mehrere Jahre angelegte preisverdächtige investigative Projekte und mit einem Nicken abgesegnete Spesenabrechnungen. Diese Woge hatte sich längst gelegt. Ihr folgten Lohnkürzungen, Entlassungen und unbezahlte Urlaube. Auf einigen Schreibtischen standen Umzugskartons, andere sahen aus, als säße schon seit Monaten keiner mehr daran. Risse, die nicht repariert worden waren, durchzogen die hohen staubigen Fenster. Das Dauerfeuer automatischer Waffen drang schwach durch sie hindurch. Lola zählte stumm, um die Entfernung einzuschätzen. Dann sah sie den Mann am Straßenrand, der über einen Presslufthammer gebeugt war. Sein Oberkörper wurde mit dem Gerät hin und her geschüttelt.

»Das hieße vermutlich Reportagen über Schulausschüsse«, sagte Lola. »Über Anhörungen zu Flächennutzungen. Über Nachbarn, die wegen minimaler Abweichungen ihrer Grundstücksgrenzen Anwälte aufeinanderhetzen.« Sie warf den Briefbeschwerer in die Luft und fing ihn wieder auf. Er landete mit einem befriedigenden Stich in ihrer Hand.

»Unter anderem. Das interessiert die Leute.«

»Normalerweise decken Praktikanten diesen Mist ab.«

»Wir haben keine Praktikanten mehr. Schon seit drei oder vier Jahren. Sie waren lange im Ausland. Sie haben noch nicht mal ein Smartphone, oder? Wir haben eine Reihe von jüngeren Reportern draußen in den Vorstädten, die Sie bei der Technik auf den neuesten Stand bringen können. Hören Sie mal, würden Sie das bitte zurücklegen? Es war teuer.« Seine Wangen waren rosa und glatt, sein gestärktes Hemd schimmerte hell unter dem teuren dunklen Wollstoff seines Blazers hervor. Lola versuchte, sich an ein Leben zu erinnern, in dem tägliche Hygiene eine Selbstverständlichkeit war. Sie streckte die Beine aus, nahm zu viel Platz ein in dem zu kleinen Büro. Die abgenutzten Spitzen ihrer genagelten Bergschuhe berührten beinahe seine smarten, auf Hochglanz polierten Slipper. Im Stehen war sie fünfzehn Zentimeter größer als er.

»Sie können mich jetzt nicht abziehen«, sagte sie. »Die Warlords bewaffnen sich wieder. Irgendwo und irgendwie steckt ihnen jemand Geld zu, viel Geld. Ganz ehrlich, was dort abgeht, wird den Lauf der Geschichte im nächsten Jahrzehnt bestimmen. Das wissen Sie, und trotzdem bringen Sie den heutigen Artikel über Afghanistan auf …« Sie tauschte den Briefbeschwerer gegen die Zeitung ein, blätterte die Seiten um, zählte laut. »Auf Seite eins – nein. Zwei – nein, auch dort nicht. Drei, vier – hier steht was darüber, dass alle das Foto einer Schauspielerin ohne Slip tweeten. Der Artikel steht direkt über einem Bericht zu einem Massaker im Kongo. Schön, dass Sie klare Prioritäten setzen.«

»Twittern.«

»Wie bitte?«

»Nicht wichtig. Die Berichterstattung über Afghanistan können die Nachrichtenagenturen übernehmen.«

»Verflucht noch mal!« Sie rollte die Zeitung zusammen und schlug damit auf den Schreibtisch. Der Briefbeschwerer wackelte. »Die Nachrichtenagenturen schaffen das nicht. Dort gibt es ebenfalls Entlassungen, falls Sie das noch nicht bemerkt haben. Der einzige Bursche, der von AP noch in Kabul sitzt, hat viel zu viel Schiss, um die Stadt zu verlassen. Er erledigt seinen Job hauptsächlich per Telefon. Aber ich bin dort, wo alles passiert. Ich war dort. Bis Sie angerufen haben.«

Er beugte sich über den Schreibtisch und nahm ihr die Zeitung aus der Hand. »Unsere Leser interessieren sich momentan nun mal eher dafür, welche Auswirkung eine Erhöhung der Grundsteuer auf sie hat. Wie es in Afghanistan in zehn Jahren aussieht, ist ihnen ziemlich egal.« Er schlug den Ordner auf und kramte einige Formulare heraus. »Ihnen steht ein bisschen Freizeit – nein, viel Freizeit bevor. Sie haben jahrelang keinen Urlaub genommen. Das hat unsere Abrechnungen ziemlich durcheinandergebracht. Sie müssen Ihren Urlaub nehmen. Ruhen Sie sich aus, machen Sie eine Pause.«

Lola griff wieder zum Briefbeschwerer und sah zur Decke. »Die mache ich in Kabul. Beim Softball kann man sich wunderbar ausruhen. Ich spiele häufig Softball. Bei den Kabul Kabooms bin ich der Pitcher. Wir stehen kurz davor, den Talibanieri den Meistertitel abzunehmen.« Ihre Hand schnellte nach oben. Der Briefbeschwerer flog hoch und stürzte gleich darauf wieder herab. Kurz bevor er auf dem Kopf ihres Gesprächspartners landete, fing sie ihn auf. »Wollen Sie wirklich, dass die Italiener uns bei unserem Spiel schlagen?«

»Herr im Himmel!« Er richtete sich auf. »Ihr Auslandskorrespondenten seid manchmal echt nervig, wenn ihr zurückkommt. Wir haben jetzt Juni. Wenn ich Ihren Anspruch richtig berechnet habe, müssen wir Ihnen gut zehn Wochen bezahlten Urlaub geben. Sie haben also fast bis September frei. Bis dahin sollten Sie sich wieder eingewöhnt haben. Nehmen Sie diesen Urlaub. In unserem Budget waren Heimflüge für Sie vorgesehen, die Sie nie in Anspruch genommen haben. Deshalb werden wir Ihre Flugtickets bezahlen – solange sie sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Fliegen Sie nicht nach Tahiti. Lassen Sie keine großen Hotelrechnungen zusammenkommen. Gehen Sie irgendwohin, wo Sie sich von Freunden verköstigen lassen können. Und legen Sie das verdammte Ding weg!«

»Ich kenne hier keinen mehr. Sie haben alle entlassen. Außer einer, die Ihnen zuvorgekommen ist.« Zu spät merkte sie, dass sie ihm eine Angriffsfläche bot.

»Wer ist das denn?«

»Mary Alice Carr«, sagte sie bedächtig, wobei sie sich wünschte, sie hätte sich einen anderen Namen einfallen lassen. »Sie ist vor ein paar Jahren gegangen, damals, als man hier noch Abfindungen bekam. Vor Ihrer Zeit, glaube ich.«

Aber er nickte. »Ich erinnere mich an sie. Sie ging, kurz nachdem ich hier anfing. An irgendeinen verrückten Ort. Idaho, Wyoming oder so. Sie hat uns vor ein paar Wochen angerufen.«

»Montana. Was wollte sie?«

»Sie war ziemlich aufgeregt wegen irgendwas, was dort draußen abging. Sie hat versucht, uns die Geschichte zu verkaufen. Irgendein Verrückter hat sie zu mir durchgestellt.« Er verzog das Gesicht. »Sie wusste nicht, dass wir uns mittlerweile nahezu ausschließlich auf Lokales konzentrieren. Warum sollten wir eine Story aus Montana kaufen? Außerdem gibt es kein Budget für Freiberufler, die außerhalb unseres Staates tätig sind, selbst wenn wir an der Story interessiert gewesen wären. Was wir nicht waren.«

Lola stand auf. »Ich habe also wirklich den ganzen Sommer frei?«

»Diese Zeit steht Ihnen rechtmäßig zu. Zeit, die ich im Übrigen nicht habe.« Er blickte nachdrücklich auf sein Handy, dessen Nachrichtenlämpchen blinkte. »Reisen Sie nach Montana. Gehen Sie zum Fliegenfischen, zum Reiten oder was auch immer da so geboten wird. Wir haben noch ein Reisebüro. Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Reise dort gebucht wird, bevor auch dieser Posten gestrichen wird.«

»Ich angle nicht«, sagte Lola. »Und ich mag keine Pferde. Was ist denn so schlimm daran, wenn ich einfach nach Kabul zurückkehre und das beende, woran ich gerade gearbeitet habe? Also, wir sehen uns dann im September!« Ganz bestimmt würde das nicht der Fall sein, aber zuerst musste sie zurück. Wie sie es schaffen sollte, dort zu bleiben, konnte sie sich später noch überlegen.

Er schob seinen Stuhl zurück. »Ich glaube nicht, dass Sie mich richtig verstanden haben«, sagte er. »Sie sind dort drüben fertig. Ihren Laptop und Ihr Satellitentelefon können Sie beim Empfang abgeben. Die Sachen brauchen Sie nicht mehr. Sobald Sie durch diese Tür gegangen sind, haben wir kein Auslandsbüro mehr.«

»Das Satellitentelefon habe ich in Kabul zurückgelassen, meine Panzerweste und die ganze übrige Ausrüstung auch. Ich muss zurück, um die Sachen zu holen.«

»Netter Versuch«, erwiderte er. »Sagen Sie doch diesen durchgeknallten Franzosen – die es immer so witzig finden, an Ihr Telefon zu gehen und gleich wieder aufzulegen, wenn ich versuche, Sie zu erreichen –, dass sie Ihr Zeug herschicken sollen. Sie gehen nicht zurück. Wir haben Ihre Kreditkarte und Ihr Spesenkonto bereits gesperrt.«

Er redete weiter, doch Lolas Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Lieferwagen – perfekt, um darin ein Dutzend Ölfässer, gefüllt mit einer trüben Mischung aus Düngemittel und Rennbenzin, zu transportieren. Der Lieferwagen fuhr langsam an dem Gebäude vorbei. Lola starrte den Fahrer an und wartete auf das plötzliche Umschwenken des Lenkrads, mit dem der Wagen in die Lobby krachen würde, und auf die Sprengung, die dann erfolgen würde. Die Erschütterung würde die Fensterrahmen der Redaktion verbiegen, dann würde das Glas mit einer solchen Geschwindigkeit und Intensität nach innen gesaugt werden, dass es zerbarst. Scherben würden quer durch das Büro schießen, sich in Möbel, Papier und Fleisch bohren. Lola atmete tief aus, schlug die Tür hinter sich zu und marschierte durch die spärlich besetzte Redaktion. Der blöde teure Briefbeschwerer in ihrer Tasche schlug bei jedem Schritt gegen ihren Oberschenkel.

2. KAPITEL

An der Gepäckausgabe blieb Lola abrupt stehen.

Sie war an alle möglichen chaotischen Dritte-Welt-Flughäfen gewöhnt – Orte, wo das Bodenpersonal eine Kalaschnikow in der einen Hand hielt und mit der anderen das Gepäck auf die Landepiste warf, die nur aus gestampftem Lehm bestand; Orte, wo die Taschen aufgeschlitzt ankamen und die Reste ihres Inhalts daraus hervorquollen; Orte, wo Möchtegernträger sie mit Gepäck bedrängten, das nicht ihr gehörte. Aber sie hatte auch vergessen, dass nicht jeder amerikanische Flughafen wie der in New York oder in L.A. aussah, wo sich in riesigen Hallen Gepäckförderbänder drehten, beladen mit identischen schwarzen Rollkoffern. In Helena, Montana, gab es nur ein einziges Förderband, das sich rasch leerte. Lola ging mit einer kleinen Reisetasche in der Hand daran vorbei, den Tagesrucksack mit ihrem Schlafsack und dem Laptop geschultert. Sie warf seitliche Blicke auf ihre Mitreisenden, die riesige Rucksäcke und zylindrische Behälter, die aussahen, als könnten sie Granatwerfer enthalten, vom Band wuchteten. Es mussten wohl Angeln zum Fliegenfischen darin sein, beschloss sie, nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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