Das Tor zur Phantasie - Esther Wäcken - E-Book

Das Tor zur Phantasie E-Book

Esther Wäcken

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Beschreibung

Im ersten Teil des Buches, "Märchenhafte Geschichten", finden die Leserinnen acht Kurzgeschichten mit märchenhaftem Flair. Der zweite Teil, "Eigentlich privat", ist ein Liebes-Kurzroman, erzählt aus der Perspektive der Krankenschwester Evelyn, welche sich in den charismatischen, leider verheirateten, neuen Oberarzt verliebt. Neben Informationen über bereits von Esther Wäcken erschienene Bücher befindet sich am Schluss des Buches das Gedicht "Bücherwelten".

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Seitenzahl: 148

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Inhaltsverzeichnis

Märchenhafte Geschichten

Mein Rapunzelturm

Im Garten der Sehnsucht

Der weiße Reiher

Am Ende der Phantasie

Bernsteintraum

Die Prinzessin und der Zeisig

Nereide

Der Seelenbrunnen

Eigentlich privat

Geburtstagsträume

Der wahrscheinlich beste Bruder der Welt

Wer ich bin und warum ich das hier schreibe

Der neue Arzt

Der Mann davor

Weiter wie gehabt

Ausflug mit Hercules

Schöner geht immer

Urlaub mit Robert

Das Haus am See

Und weiter?

Valentin

Ende und Anfang

Dezember

Märchenhafte Geschichten

Mein Rapunzelturm

Was für ein herrlicher Herbsttag! Kalt aber sonnig mit knallblauem Himmel. Nichts hielt mich mehr zu Hause. Raus, in die Natur, an die frische Luft, diesen wunderbaren Tag genießen. Ich stiefelte los, kreuz und quer durch Feld, Wald und Flur. Niemand außer mir war unterwegs. Alles, was ich hörte, war der heiser-gurrende Ruf der Kraniche, die sich am Himmel in ihrer typischen V-Formation zum Flug in wärmere Gefilde zusammen fanden. Selbst die kaum noch vernehmbaren Geräusche der nahen Landesstraße gerieten zum unbedeutenden Hintergrundrauschen. Natur, Stille, allein sein. So war ich unterwegs, ohne festes Ziel, umgeben von Ruhe.

Doch was war das? Lauschend hob ich den Kopf. Ja, doch, da sang jemand. Eine weibliche Stimme, leise und so wehmütig, traurig, dass mir allein vom Zuhören die Tränen kommen wollten. Wo kam dieser Gesang her? Ich versuchte, der Stimme zu folgen und fand mich zu meiner großen Verwunderung vor einem Turm wieder, der mir vorher nie aufgefallen war. Einsam und efeuumrankt stand er da zwischen den Bäumen. Und aus dem Fensterchen hoch oben im Turm kam die Stimme. Durch dorniges Gerank kämpfte ich mich näher an den Turm heran, umrundete ihn und entdeckte dabei eine Tür, die ebenfalls so von Dornenranken umschlungen war, dass ich sie zunächst gar nicht aufbekam.

Endlich gelang es mir doch und ich stieg die schmale, steile Treppe empor, hin zu der traurigen Stimme. Dann sah ich sie vor mir, eine zauberhaft schöne, junge Frau. Gekleidet und reich geschmückt wie ein Edelfräulein aus längst vergangenen Jahrhunderten. War sie überrascht, mich zu sehen? Ein kurzes Erschrecken war da sicher. Große, verwunderte Augen schauten mich an und ihre Stimme, die eben noch so wehmütig gesungen hatte, fragte: „Wer … wer seid Ihr und wie seid Ihr hier hinein gelangt?“

Ihr? Das klang schon sehr nach einer Ausdrucksweise, die man heutzutage nur noch aus Märchen kennt.

„Mein Name ist Esther“, stellte ich mich vor. „Ich bin hier spazieren gegangen und dann hörte ich deinen … Euren Gesang, bin ihm gefolgt und habe diesen Turm entdeckt.“

„Aber … wie ist das möglich? Niemand hat in all der langen Zeit je meinen Turm entdeckt, ihn gar betreten?“

„Und wer seid Ihr?“, fragte ich neugierig. „Doch nicht etwa Rapunzel?“

„Rapunzel, nein, wie kommt Ihr auf diesen Namen? Ich bin Prinzessin Vesna. Vor unendlich langer Zeit, da sollte ich mich vermählen. Die schönsten Prinzen aus allen Reichen kamen und hielten um meine Hand an. Aber ich hatte mich schon lange entschieden. Für mich gab es nur Einen, meinen geliebten Prinzen Wulfweard, den Gütigen. Er kam aus einem ganz kleinen, verarmten Fürstentum. Mir war es gleich. Ich selbst besaß genügend Reichtümer für uns beide. Mein Vater hätte mich gern einem begüterten Gemahl aus einem großen, bedeutenden Königreich gegeben, akzeptierte schließlich meine Wahl und ließ die Hochzeit ausrichten. Jedoch erschien einen Tag vor der Hochzeitsfeier der gefürchtetste Schwarzmagier aller Lande, den man nur den Namenlosen nannte, am Hof und begehrte mich zur Frau. Meinen Vater hatte er schnell so eingeschüchtert, dass er allem zustimmen wollte. Ich allein begehrte auf, sagte ihm, dass ich ihn niemals ehelichen könne und mich am morgigen Tag mit meinem geliebten Prinzen vermählen würde. Da schaute mich der Namenlose mit seinen finsteren Augen an und sprach: „Nun denn, so gehe diese Ehe ein, aber du wirst es auf ewig bereuen, dass du mich abgelehnt hast und niemals mit deinem Prinzen glücklich sein.“ Verschwunden war er, wie in Rauch aufgelöst. Natürlich überkam mich nach dieser Drohung Angst. Allein ich glaubte, meine Liebe zu Prinz Wulfweard und die seine zu mir wären stark genug, dass schwarze Magie ihr nichts anhaben könnte. Und so standen wir anderntags vor dem Priester, der uns den Segen gab. Doch kaum hatte dieser uns zu Mann und Frau erklärt, da erschien in einer schwarzen Rauchwolke der Namenlose, riss mich von Wulfweards Seite. Ich wurde ohnmächtig ob des Schreckens und als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in diesem Turm. Der Namenlose stand neben mir und sagte, höhnisch lachend: „Das ist nun deine Strafe dafür, dass du es gewagt hast, dich mir zu wiedersetzen. Du wirst auf ewig in diesem Turm leben, niemals altern, niemals sterben, denn in diesem Turm steht die Zeit still, es wird sich nie etwas verändern. Draußen wird das Leben weitergehen. Dein Prinz wird dich suchen und doch niemals finden, denn niemand kann diesen Turm sehen. Und du kannst den Turm nicht verlassen. Denn sobald du über die Schwelle trittst, wirst du zu Staub zerfallen. Nun lebe wohl und denk auf ewig daran, was du an meiner Seite hättest haben können.“

Wieder war er verschwunden, in Rauch aufgelöst und ich war allein und blieb allein. Oh, ich sah vom Fenster aus die Suchtrupps, die durch die Wälder zogen, um mich zu finden. Allen voran mein getreuer Prinz Wulfweard. Ich rief seinen Namen, ich schrie mir die Kehle heiser, doch er sah und hörte mich nicht, ganz, wie der Namenlose es gesagt hatte.

Ich zählte die Tage, die Wochen, die Monate, die Jahre. Immer und immer wieder sah ich Wulfweard vorbei reiten. Er hat die Suche nach mir nie aufgegeben. Ich musste zusehen, wie er älter und älter wurde und selbst Alter und Gebrechen ihn nicht davon abhielten, weiter nach mir zu suchen. Eines Tages kam er nicht mehr. Und ich sitze noch immer am Fenster, schaue hinaus auf die Welt, die sich weiter und immer weiter verändert, während ich so bleibe, wie ich seit Jahrhunderten bin. Ich habe längst aufgehört, die Jahre zu zählen, auf Erlösung zu warten. Und doch getraue ich mich nicht, den Turm zu verlassen. Obwohl das Leben mir nichts mehr zu bieten hat, seit der Namenlose mich von der Seite meines Geliebten riss, fürchte ich den Tod. Was wird mit mir geschehen, wenn ich den Turm verlasse und tatsächlich zu Staub zerfalle? Wird dieser Fluch über meinen Tod hinaus wirken? Werde ich niemals Frieden finden? Und auf einmal kommt Ihr in meinen Turm. Ob das ein Zeichen ist?“

Was für eine traurige Geschichte! Ich konnte nicht umhin, Prinzessin Vesna trösten in den Arm zu nehmen.

„Ob es ein Zeichen ist? Das weiß ich nicht. Ich bin keine Magierin, kenne mich mit sowas nicht aus. Aber, vielleicht ist es wirklich nicht ohne Grund passiert, dass ausgerechnet ich dich gehört habe, zu dir in deinen Turm kam.“

Ganz automatisch hatte ich angefangen, Prinzessin Vesna zu duzen. Sie sah noch so unglaublich jung aus, fast noch wie ein Kind. Wieder schauten ihre traurigen, großen Augen mich an.

„Könnt Ihr mir denn gar nicht helfen?“

Lange überlegte ich. Helfen? Wie denn? Ich kam aus einer ganz anderen, modernen Zeit, in der Magie, ob schwarz oder weiß, schon lange nur noch in Märchen und Filmen existiert. Ihren Prinzen konnte ich ihr wohl kaum zurück geben. Und das hier war auch nicht so etwas wie die Geschichte mit dem erlösenden Dornröschenkuss. Schließlich war ich weder ein Prinz noch eine Prinzessin. Dennoch…

„Vielleicht…“, begann ich unsicher, „Vielleicht bin ich hier, um dir zu helfen, deine Angst vor dem Hinausgehen zu überwinden. Vielleicht ist es endlich Zeit für dich, loszulassen, zu gehen. Was immer auch danach passiert. Nimm meine Hand, komm mit mir hinunter, nach draußen, vor den Turm. Du musst diesen Schritt, vor dem du so große Angst hast, nicht allein machen.“

Noch immer unsicher sah sie mich an, griff dann jedoch vertrauensvoll nach meiner Hand, folgte mir tatsächlich. Fester wurde ihr Händedruck, je näher wir dem gefürchteten „Draußen“ kamen. Sie klammerte sich geradezu an mir fest. Dann, der entscheidende Schritt über die Schwelle. Sie stand, schaute nach oben, in den strahlenden Sonnenschein und im nächsten Moment rieselte ihr Staub neben mir zu Boden. Meine Hand, eben noch von der Ihren umklammert, war leer und ich konnte ein Aufschluchzen nicht unterdrücken.

Doch was war das nun wieder? Hätte ich nicht eben schon so viel Unglaubliches erlebt, das hätte mich wirklich überfordert. Dort, wo sie als Staub hernieder gerieselt war, erhob sie sich nun als geisterhaft schöne, durchscheinende Erscheinung. Sah mich an, nicht mehr verängstigt und traurig, sondern strahlend und in liebevoller Dankbarkeit. Es sollte noch besser kommen. Denn zwischen den Bäumen begann es von Ferne zu strahlen und zu leuchten und mit größter Verwunderung sah ich eine weitere, geisterhafte Erscheinung näher kommen. Einen prachtvollen, jungen Mann auf einem edlen Ross. Vor Vesna und mir hielt der Geisterreiter an, beugte sich zu Vesna herab, hob sie zu sich hinauf auf sein Ross. Prinz Wulfweard – denn wer sollte dieser zauberhafte Geist sonst sein? – nickte mir zu, hob grüßend die Hand, wandte sein Pferd, ritt – die geliebte Prinzessin vor sich im Sattel – zurück in den Wald. Im nächsten Moment waren sie alle in einem Wirbel hell scheinenden Lichts verschwunden.

Ich stand und schaute noch lange vom Turm, der weiterhin still und unbewegt dastand zu der Stelle, wo diese beiden, nach Jahrhunderten endlich glücklich vereint, entschwunden waren. Wow, dass es sowas noch geben konnte, in unserer nüchternen, technisierten, modernen Zeit, wo Computerspiele die Märchen längst verdrängt haben. Wenn ich es nicht selbst erlebt, mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es nicht für möglich halten.

Die heiseren Rufe der Kraniche, die noch immer am Himmel kreisten, holten mich in die Gegenwart zurück. Auch für mich war es an der Zeit, zurück nach Hause zu gehen.

Mein geheimnisvoller Rapunzelturm steht noch immer stumm und still an seinem verborgenen Ort. Doch wer weiß, wenn ihr genau hinseht, vielleicht entdeckt ihr ihn dann auch. Ihr müsst nur auf der L770, von Espelkamp kommend, fahren. Dort, auf der rechten Seite, kurz vor dem Abzweig rechts nach Hille, da könnt ihr ihn finden. Nur seine verwunschene Bewohnerin, die hab allein ich kennen gelernt. Möge sie in der Ewigkeit mit ihrem Prinzen glücklich sein.

Im Garten der Sehnsucht

Lieber Herzensfreund,

es wird dich überraschen, diesen Brief von mir zu erhalten, so viele Jahre, nachdem ich verschwunden bin, ohne ein Wort, weder zu dir, noch zu den anderen. Ich weiß, meine Geschichte klingt so phantastisch, dass du sie mir vielleicht gar nicht glauben wirst. Und doch ist es die reine Wahrheit. Ich bin damals nicht bewusst und absichtlich verschwunden. Es ist, wie soll ich sagen, einfach so passiert. Aber, ich sollte wohl besser von vorn anfangen.

Du weißt ja, dass mich mein Weg zur Arbeit jeden Tag an dieser langen, grauen Mauer entlang führte, über die man nicht hinweg sehen kann. Nie war mir an dieser Mauer etwas Besonderes aufgefallen. Doch eines Tages traute ich meinen Augen kaum. Da war auf einmal ein Gittertor in dieser Mauer, welches mir nie zuvor aufgefallen war. Und hinter diesem Tor entdeckte ich einen wunderschönen Garten, der mich in seinen Bann zog. Gern hätte ich ihn betreten, das Tor jedoch war verschlossen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, weil in diesem Garten alles blühte und grünte, wo es doch tatsächlich noch mitten im Winter war. Mehrere Tage ging ich nun an diesem Tor vorbei, schaute jedes Mal sehnsuchtsvoll in den Garten. Doch eines Tages, da standen die Torflügel plötzlich einladen offen.

Es war wie ein Zwang, der mich den Garten betreten ließ. Schöneres hatte ich nie gesehen, als dieses üppige Grünen und Blühen. Vögel huschten zwitschernd durch die Büsche. Bunte Schmetterlinge umtanzten mich in taumelndem Flug. Und alles duftete so wunderbar frühlingsfrisch. Ich lief und lief, immer weiter drauf los, entdeckte immer wieder Neues. Der Garten schien kein Ende zu nehmen. Unmerklich gingen die gepflegten Parkanlagen in natürlichen Wald und Wiesen über. Weiter lief ich, immer weiter, diese herrliche Landschaft bestaunend. So rein, neu und unberührt wirkte sie. Nicht so, wie man es kennt, dass überall der Mensch seine Spuren hinterlassen hat, leider nur allzu oft in Form von zurückgelassenem Unrat.

Ich kann das Gefühl nicht beschreiben. Ich merkte nicht, dass die Zeit verging, ob sie überhaupt verging. Die ganze Zeit über blieb es sonnig und frühlingshaft warm. Imposante Bergmassive kamen in Sicht, aber auch endlose, weiße Sandstrände und ein kristallklares Meer wurden mir geboten. Ich erinnere mich, dass ich an ein Schloss kam, welches ich neugierig betrat. Es war unbewohnt, aber in jedem einzelnen Raum entdeckte ich sorgsam geordnete Bücherregale, welche sämtliche Wände einnahmen. Na, du kannst dir denken, dass das genau richtig für mich war! Ich verlor mich in den Büchern, verschlang eines nach dem anderen.

Ist mir je der Gedanke gekommen, dass das alles hier doch nicht normal sein kann? Bewusst sicher nicht, dazu genoss ich es viel zu sehr, immer nur weiter zu gehen, zu schauen, zu staunen, Neues zu entdecken. Müde wurde ich niemals und es wurde auch nie Nacht. Sobald ich die Lust auf Essbares verspürte, erspähte ich auch schon in einem lauschigen Winkel einen gedeckten Tisch, auf welchem ich genau das vorfand, wonach es mich gelüstete.

Und erst die Pferde! Irgendwann entdeckte ich auch sie. Eine riesige Herde der prächtigsten Tiere, die du dir denken kannst. Und jedes Einzelne so zahm, dass ich es ohne Sattel und Zaum perfekt zu reiten vermochte.

Tiere gab es dort in Hülle und Fülle und sie alle waren mir freundlich gesonnen. Nicht eines dabei, welches mich gestochen, gebissen oder auch nur erschreckt hätte.

Sag selbst, klingt das nicht alles viel zu perfekt, um wahr zu sein? Wie sich dann heraus stellte, war es das auch nicht. Während meiner nicht enden wollenden Streifzüge durch immer neue, interessante Landschaften, stieß ich nämlich urplötzlich auf dieses Gebäude, welches einem kleinen Mausoleum glich. Doch es war kein Haus der Toten. Tatsächlich traf ich dort das einzige menschenähnliche Lebewesen. Ich sage menschenähnlich, und das nicht ohne Grund. Sicher, es handelte sich um eine Frau mit perfekt proportioniertem Körper. Jedoch war sie vollständig weiß, wie frisch gefallener Schnee. Ihre Haut, ihre Augen, ihre bodenlang wallenden Haare, das wehende, flatternde Gewand, in welches sie gekleidet war. Und ihre Stimme erst, mit der sie mich ansprach! Wie überirdisch schöne Sphärenmusik.

„Ich bin überrascht, dass du zu mir gefunden hast“, waren ihre Worte.

„Wer bist du?“, fragte ich, nicht minder überrascht.

„Ich bin die Wächterin der Sehnsüchte und du bist mein Gast im Garten deiner Sehnsüchte.“

„Im Garten meiner Sehnsüchte?“

„So ist es! Jeder Mensch hat seine ganz eigenen Sehnsüchte. Und so stellt sich der Garten der Sehnsüchte für jeden Menschen anders dar.“

Sehnsüchte! Na klar! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Wonach sehne ich mich denn am meisten? Nach der Natur, danach draußen unterwegs zu sein, stundenlang, allein und ungestört. Und danach, genügend Zeit zum Lesen zu haben, ebenfalls allein und ungestört. Zeit vor allem, viel Zeit statt der immerwährende Hetze. Tiere, ja, die mag ich immer und jederzeit um mich haben. Mit Menschen hingegen kann ich meist weniger anfangen. Und deshalb habe ich dort im Garten der Sehnsüchte auch niemanden angetroffen.

Mein lieber Herzensfreund, du magst dich zu Recht fragen, ob ich mich denn so gar nicht nach dir sehne. Aber du weißt sicher auch noch, dass es vor meinem Verschwinden zwischen uns etwas schwierig war, dass unsere Beziehung an einen Punkt gekommen war, wo wir gar nicht mehr so recht wussten, wie wir noch miteinander umgehen sollen, ob wir überhaupt noch miteinander umgehen sollen. Und doch muss ich mich unbewusst nach dir gesehnt haben, denn sonst hätte ich die Wächterin der Sehnsüchte niemals gefunden, wie diese mir kurz darauf erklärte. Sie drückte es folgendermaßen aus: „In all den Jahrtausenden, die ich nun schon Wächterin der Sehnsucht bin, ist es mir kaum jemals passiert, dass ein Mensch aus seinem Garten der Sehnsucht, wenn er ihn einmal gefunden hat, zurück in sein reales Leben wollte. Die meisten verlieren sich so sehr in ihren Wünschen und Träumen, die ihnen hier alle zur Verfügung stehen, dass sie niemals das Verlangen nach Rückkehr verspüren. Bei dir jedoch, in deinem Herzen, da gibt es einen besonderen Menschen, den du niemals ganz vergessen hast. Du sehnst dich nach ihm zurück, aber haben kannst du ihn nur in der realen Welt. Wenn es dein fester Wunsch ist, zu diesem Menschen zurück zu kehren, dann werde ich dich zurück schicken. Bedenke nur, dass in der Welt draußen die Zeit weitergegangen ist, dass er dich vielleicht längst vergessen hat.“

Ich bestand dennoch auf meiner Rückkehr und so befand ich mich auf einmal wieder vor der langen, grauen Mauer und das Gittertor war auch verschwunden. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Doch nach und nach entdeckte ich kleinere und größere Veränderungen eben doch. Ich wusste erst nicht, wie ich mich verhalten soll. Zunächst suchte ich meine Wohnung auf, um festzustellen, dass ich dort nicht mehr wohnte. Dann machte ich mich auf den Weg zu meinen Eltern, die sich vor Freude nicht zu lassen wussten und von 4 Jahren redeten, die ich spurlos verschwunden gewesen war. Mein nächster Gedanke war, mit dir wieder Kontakt aufzunehmen und dafür schien mir ein ausführlicher Brief der geeignetste Weg.

Ich weiß nicht, ob du mir meine Geschichte glauben wirst. Ob du überhaupt noch an mir interessiert bist. Aber es ist die reine Wahrheit, wenn ich dir sage: Ich sehne mich nach dir!

Bitte antworte mir und sage mir, ob es dir genau so geht.

In inniger Liebe, deine Herzensfreundin

Der weiße Reiher