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Der beliebteste Hobbydetektiv der Region ist zurück und ermittelt im touristisch hochattraktiven Fränkischen Seenland. Während seine Frau Katinka beruflich verreist ist, genießt Paul Flemming den Frühsommer und erholt sich in einem Hausboot am Brombachsee. Unversehens wird er dabei zum Retter eines Hundes, den er aus dem Wasser fischt. Dabei wird der Hobbydetektiv auf ein anderes Boot aufmerksam, das verwaist zu sein scheint, und entdeckt dort die Leiche eines Mannes. Wurde dieser etwa Opfer eines im See lebenden Ungeheuers, das bereits mehrere Urlauber gesichtet haben wollen? Während sich auch die Presse dahinterklemmt und eine Fotosafari auf die »fränkische Nessie« beginnt, hat es Paul bei seinen privaten Ermittlungen bald mit allzu menschlichen Widersachern zu tun ... Ein fränkischer Krimihochgenuss mit viel Humor und kulinarischen Höhepunkten.
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Seitenzahl: 193
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Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Franken und hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen neben seinen Paul-Flemming-Krimis u. a. auch der historische Kriminalroman Görings Plan (2014) sowie die Kurzkrimibände Die toten Augen von Nürnberg (2014) und Tod auf Fränkisch (2017).
Jan Beinßen
Paul Flemmings siebzehnter Fall
Frankenkrimi
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen
Originalausgabe (Erste Auflage 2023)
© 2023 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1,90556 Cadolzburg
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Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg
Motivauswahl: ars vivendi
Coverfoto: © Eberhard Grossgasteiger/pexels.com
eISBN 978-3-7472-0533-4
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Epilog
Danksagung
Lust aufs Weiterlesen?
»Je weniger wir Trugbilder bewundern,
desto mehr vermögen wir die Wahrheit aufzunehmen.«
Erasmus von Rotterdam
Es war ein Kampf auf Leben und Tod.
Noch schaffte sie es, sich an der Oberfläche zu halten, doch sie wurde schwächer. Das Ufer des Sees konnte nicht weit sein, aber sie hatte die Orientierung verloren, wusste nicht, in welche Richtung sie schwimmen sollte.
Es hatte einen heftigen Streit gegeben. Auf einem Boot. Ihr bester Freund war angegriffen worden. Sie wollte ihm helfen, aber sie hatte keine Chance und wurde über Bord geworfen. In die Nässe, wo sie um Luft ringen musste.
Sie fing an zu zittern. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie hatte kaum noch Kraft, doch der Überlebenswille hielt sie über Wasser. Sie musste das Ufer erreichen. Sie musste!
Sie versuchte schneller zu schwimmen. Sie gab ihr Bestes. Mit allen vier Läufen.
Wasser konnte ja so beruhigend sein! Paul Flemming hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht, die Lehne leicht hochgestellt, den Blick auf die glitzernde Oberfläche des Sees gerichtet. Er fühlte sich vollkommen entspannt und ausgeglichen. Ein paar kleine Wellen klatschten gegen die Holzbalustrade, einige Wasservögel gaben vereinzelte Laute von sich, ansonsten blieb es wohltuend still.
Zumindest so lange, bis Pauls Smartphone zu bimmeln begann. Dummerweise lag es auf einem kleinen Tisch neben der Schiebetür. Zu weit weg, um das Gespräch anzunehmen, ohne dafür aufstehen zu müssen. Und Paul wollte nicht aufstehen. Nicht jetzt, da ihm die Morgensonne so angenehm ins Gesicht schien und er sich vorgenommen hatte, den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als hier zu verweilen und fünfe gerade sein zu lassen.
Doch wer auch immer am anderen Ende der Leitung sein mochte, war ziemlich penetrant und störte die Idylle. Ob es Victor Blohfeld war, der Polizeireporter, der ihn mal wieder für irgendeinen unterbezahlten Job als Aushilfszeitungsfotograf anheuern wollte? Oder Hannes Fink, Pfarrer von St. Sebald, der seinen Nachbarn schon jetzt vermisste? Wahrscheinlicher schien Paul, dass Hannah ihn zu erreichen versuchte: Seine Stieftochter hütete das Haus in Nürnberg und wollte sich womöglich über den leer geräumten Kühlschrank beschweren, den Paul ihr hinterlassen hatte. Wie auch immer: Am liebsten würde er mit niemandem von ihnen reden, denn die fünfzig Kilometer Abstand taten ihm gerade sehr gut.
Das Smartphone gab keine Ruhe. Unmutig schwang sich Paul vom Liegestuhl und schaute aufs Display.
Katinka – da musste er natürlich drangehen, wenn seine Frau sich meldete!
»Hallo, Paul, du lässt mich ja ganz schön warten. Warst du wohl schwimmen?«
»Noch habe ich mich nicht reingetraut«, antwortete Paul lachend und legte sich wieder hin. »Ich weiß nicht, ob das Wasser schon Badetemperatur erreicht hat.«
»Im Juni? Aber klar. Der Brombachsee ist ja nicht der Atlantische Ozean. Wie lebt es sich denn so auf dem Hausboot?«
Der Begriff traf es nicht ganz, fand Paul. Zwar hatte er sich wirklich auf einer Art Boot einquartiert, aber es würde niemals ablegen, sondern dümpelte fest vertäut an einem Pier, der weit in den See hineinreichte. Links und rechts neben der schwimmenden Behausung befanden sich weitere antriebslose Hausboote, jeweils ausgestattet mit Wohn-, Schlaf- und Waschräumen, Küchenzeile und heckseitiger Terrasse mit unverstelltem Meerblick. Oder vielmehr Seeblick. Dazu gab es sogar noch eine weitere Liegefläche auf dem Dach, beschattet von einem weißen Sonnensegel. Schwimmende Stadt nannte sich das Ensemble, das sich Katinka und Paul für einen Kurzurlaub in Heimatnähe ausgewählt hatten. Ein Urlaub, den Paul allerdings erst einmal allein hatte antreten müssen, da Katinka an einem Fortbildungsseminar teilnahm, dessen Termin sich nach hinten verschoben hatte.
»Wie läuft es in Wiesbaden?«, erkundigte er sich. »Konntest du dir einige Anregungen holen?«
»Anregungen? Wenn sich zwanzig Richter und Staatsanwälte treffen, gibt es vieles, aber sicher keine Anregungen. Wie du dir vorstellen kannst, ist das hier eine ziemlich trockene Angelegenheit.«
Paul blinzelte in die Sonne. »Fast tust du mir leid. Aber nur fast. Ich habe vor deiner Abreise das Programm gelesen und das Tagungshotel gegoogelt. Allein schon die Speisekarte lässt darauf schließen, dass es euch bei dieser Schulung an nichts mangelt. Und die Wellnesslandschaft ist auch nicht von schlechten Eltern. Hast du dir schon eine Hotstone-Massage gegönnt und die Saunen ausprobiert?«
»Das ist keine Vergnügungsreise, Paul. Aber ja, in die Sauna gehe ich auf jeden Fall, die macht einen sehr guten Eindruck. Trotzdem wäre ich jetzt gern bei dir am Wasser. Am liebsten würde ich sofort in meinen Badeanzug schlüpfen.«
»Lieber nicht, sonst bekommen deine männlichen Kollegen Schnappatmung«, spaßte Paul und fügte ebenso scherzhaft hinzu: »Außerdem könnte es gefährlich sein, hier unbedacht ins Wasser zu hüpfen. Denn in den Tiefen des Brombachsees lauert angeblich ein blutrünstiges Ungeheuer.«
Katinka lachte. »Etwa das Ungeheuer vom Brombachsee? Eine Schwester von Nessie aus dem Loch Ness? Wie kommst du denn darauf?«
»Die Zeitungen hier sind voll davon, auch das lokale Radio hat es schon gebracht. Urlauber wollen eine Art große Seeschlange gesehen haben. Es gibt sogar ein unscharfes Foto von dem Ding auf Facebook. Die Presse hat es auf den Namen ›Brommi‹ getauft.«
»Brommi, die Seeschlange? Wenn, dann ist das doch höchstens ein Aal«, meinte Katinka lachend. »Obwohl ich nicht weiß, ob Aale im Brombachsee überhaupt vorkommen.«
Das wusste Paul auch nicht, so wie ihm allgemein wenig über seinen derzeitigen Urlaubsort bekannt war. Lediglich, dass es sich um einen künstlich angelegten Speichersee handelte. Aber sonst? Er nahm sich vor, seine Wissenslücken bald aufzufüllen und ein bisschen über das Fränkische Seenland nachzulesen.
»Also, gehst du jetzt eine Runde schwimmen oder kneifst du?«, spornte Katinka ihn an.
Gerade wollte Paul, der keine Lust zum Baden hatte, erneut auf das Wassermonster hinweisen, da nahm er ein hektisches Planschen wahr und richtete sich auf seiner Liege auf, sodass er über die Brüstung hinwegblicken konnte. Tatsächlich trieb da etwas auf sein Boot zu. Ein mittelgroßer Körper, bedeckt mit klatschnassem Fell.
»Moment mal«, sagte er. »Da ist wirklich irgendwas Komisches im Wasser.« Paul legte das Handy beiseite. Er beugte sich über die Balustrade und sah die Schnauze eines Hundes auftauchen. Als dieser seine dunklen Augen auf Paul richtete, gab er einige klägliche Wufflaute von sich und paddelte auf Paul zu.
Wie kam das Tier bloß hierher? Weit weg von Ufer und Strand, wo die Leute normalerweise ihre Vierbeiner zur Abkühlung ins Nass schickten? Egal! Jetzt brauchte der Hund erst einmal Hilfe, denn er hechelte bedenklich. Paul streckte sich nach unten, bekam das zottelige Fell zu fassen und hievte den Hund aufs Heck des Hausboots. Die Promenadenmischung in unterschiedlichen Brauntönen reichte Paul bis knapp über Kniehöhe und begann, kaum dass sie an Bord war, sich ausgiebig zu schütteln. Auf dem Deck verteilten sich neben unzähligen Tropfen Reste von Wasserpflanzen wie Schilf und Algen. Dann musterte der Hund Paul, schnüffelte an seinen Beinen und wedelte dabei mit dem Schwanz.
»Wer bist du denn?« Paul betrachtete das Tier ziemlich ratlos. »Und wo gehörst du hin?«
»Mit wem sprichst du da?«, kam Katinkas Stimme aus dem Smartphone.
Paul schnappte es sich und erklärte: »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe gerade einen Hund in Seenot gerettet. Er muss irgendwo ins Wasser gefallen sein und hat wohl nicht wieder zurückgefunden.«
»Hund oder Hündin?«, wollte Katinka wissen.
»Äh, Augenblick …« Paul sah näher hin. »Ich würde sagen: Hündin.«
»Muss ein Labrador sein, die gehen gern ins Wasser.«
»Keine Ahnung. Sind die nicht eher groß und kräftig? Außerdem scheint die Hündin froh darüber zu sein, dass sie nicht länger schwimmen muss.«
»Ist sie denn brav?«
»Gebissen hat sie mich zum Glück nicht. Ich glaube, sie ist dankbar, dass ich ihr geholfen habe. Sie wedelt die ganze Zeit.«
»Mmmm«, machte Katinka. »Was wirst du jetzt tun? Nach ihrem Besitzer suchen?«
»Das muss ja eigentlich jemand von einem der anderen Hausboote sein«, nahm Paul an. »Ich glaube nicht, dass die Hündin vom Ufer aus hierhergeschwommen ist, das wäre zu weit. Aber sicher bin ich da nicht.«
»Okay, dann lass dich nicht aufhalten. Viel Glück bei der Suche, und melde dich, wenn du das Herrchen oder Frauchen gefunden hast. Ich muss jetzt zurück in den Seminarraum.«
»Mache ich«, versprach Paul und legte auf. Er wandte sich wieder der Hündin zu und überlegte, wie er sie dazu bewegen konnte, ihn zu begleiten. »Komm mit!«, rief er schließlich einfach und ging voraus. Die Hündin folgte ohne jedes Zögern.
»Brav«, lobte Paul und kletterte über den schmalen Steg, der das Hausboot mit dem Anleger verband.
Paul sah sich um. Wo sollte er anfangen zu suchen? Die Saison war längst angelaufen, die Uferpromenade füllte sich von Tag zu Tag mit mehr Menschen. Sicher waren die meisten Betten in den kleinen Hotels und Pensionen rund um den See schon belegt, am Strand tauchten mehr und mehr Familien auf, auf dem Wasser wimmelte es von kleinen und größeren Segeln, und auch morgens, beim Semmelnholen, merkte Paul, dass die Zahl der Urlauber wuchs, denn die Schlange vor der Theke wurde länger. Unter all diesen Menschen die Hundehalterin oder den Hundehalter zu finden, glich der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Trotzdem wollte Paul nichts unversucht lassen.
Die Hündin lief ihm nach und hielt sich folgsam hinter ihm. Doch nur so lange, bis sie den Anleger erreichten. Nun begann sie zu bellen und rannte los.
Zwanzig Hausboote oder mehr lagen hier vertäut. Bis auf wenige Details glichen sie sich wie ein Ei dem anderem: elegant, in kubischer Bauweise, mit Planken aus hellem Holz vertäfelt, ausgestattet mit großen, bodentiefen Fenstern, die Terrassen am Heck und auf dem Oberdeck von Edelstahlgeländern umschlossen. Vielleicht hatte Paul ja Glück und die Hundehalter kamen tatsächlich von einem der anderen Boote aus der Nachbarschaft. Für eine Hundenase sollte es kein Problem sein, den richtigen Kahn zu finden. Paul wartete zunächst ab, welche Richtung die Hündin einschlug, dann ging er ihr nach.
Bei einem Hausboot am Ende des Kais blieb sie stehen und begann wieder zu kläffen. Da sie sich nun nicht mehr vom Fleck bewegte und weiter bellte, betrat Paul das fremde Boot und klopfte an die Scheibe der vorderen Schiebetür.
Nichts rührte sich. Unter lautstarker Anteilnahme der Hündin rief er mehrmals »Hallo!«, bevor er zum Schutz gegen das blendende Sonnenlicht die Hände an die Scheibe setzte und hineinspähte. Die Kabine wirkte bewohnt: Paul sah eine Strickjacke über einer Lehne hängen, Geschirr auf der Küchenzeile und eine Flasche Wein mit zwei Gläsern auf dem Tisch stehen.
Noch einmal machte sich Paul bemerkbar, indem er nach den Bewohnern rief – obwohl er sich das eigentlich hätte sparen können, denn die Hündin machte Krach genug. Dann, plötzlich, flitzte sie zur Flanke des Bootes, wo ein schmaler Gang zum Heck und zur hinteren Terrasse führte. Paul zögerte nicht lang und machte es ihr nach.
Leider war auch auf der Rückseite niemand zu sehen. Die Hündin schien darüber noch enttäuschter zu sein als Paul, denn anstatt weiter zu kläffen, ließ sie die Ohren hängen und winselte.
Paul tätschelte ihr Fell. »Nicht traurig sein, wir finden deine Besitzer schon noch«, sagte er, bevor sein Blick auf die Hecktür fiel. Sie stand halb offen.
Er steckte den Kopf in die Kabine und sah sich um. Wieder fiel ihm die Weinflasche auf. Nur zur Hälfte geleert. Auch eines der Gläser war noch fast voll. Seltsam, dachte er. Das sah nach einem überstürzten Aufbruch aus.
Inzwischen stand die Hündin dicht an der Bordwand, die Tatzen auf die Balustrade gelegt. Sie würde doch wohl nicht wieder ins Wasser springen?
»Halt!«, rief Paul, und da sie nicht reagierte: »Sitz! Platz! Aus!«
Paul versuchte die Hündin zurückzudrängen, als er auf ein ins Wasser hängendes Tau aufmerksam wurde, das an einer Klampe an der Bordwand befestigt war. Er setzte seine Hand an das Seil, woraufhin die Hündin auffordernd bellte.
Paul spürte einen Widerstand, und als er kräftiger zog, bewegte sich etwas dicht unter der Wasseroberfläche. Zunächst sah er nur einen dunklen Schatten, dann tauchte ein Bein auf – das Ende des Taus schlang sich um Fuß und Knöchel.
»Oh mein Gott«, entfuhr es Paul.
Behutsam und unter großer Anstrengung holte er das Seil weiter ein. Der Körper eines Mannes kam zum Vorschein. Kräftig gebaut, die Haare teilweise ergraut, am Hinterkopf eine Wunde.
Paul würde es nicht allein schaffen, den Mann aufs Deck zu hieven. Doch auch von hier aus konnte er sehen, dass jede Hilfe zu spät kam. Der Mann war tot, wahrscheinlich schon seit Stunden.
Die Hündin stieß ein jammervolles Jaulen aus.
*
Mit der Ruhe war es endgültig vorbei, als sich Rettungssanitäter, ein Notarzt sowie zwei Polizisten in Uniform und einer in Zivil auf der Bootsterrasse drängten. Hinzu kamen zwei Vertreter der Freiwilligen Feuerwehr, die den Leblosen aus dem Wasser gezogen hatten. Paul stand ganz am Rand an die großen Scheiben der Schiebetüren gelehnt und beobachtete das ihm bereits bekannte Prozedere, das sich vor seinen Augen abspielte; oft genug war er dabei gewesen, wenn sich ein Unglück ereignet hatte und die Rettungskräfte ihren Dienst taten. Die Hündin hatte er erst einmal im Hausboot eingesperrt; von drinnen hörte man ihr wehklagendes Winseln.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, konnte dem Mann aus dem Wasser nicht mehr geholfen werden. Der Notarzt schüttelte nach kurzer Untersuchung nur noch den Kopf und unternahm nicht mal den Versuch einer Wiederbelebung. Gemeinsam mit dem grauhaarigen Zivilbeamten, der die Sechzig wohl schon überschritten hatte, beugte er sich über den Kopf des Toten und begutachtete die Wunde. Anschließend musterten sie das von der Schlinge umschlossene Bein. Vom Gespräch der beiden bekam Paul nichts mit, aber es dauerte nicht besonders lang, und wenig später füllte der Notarzt einen Papierbogen aus, den er dem Kriminaler reichte. Gleich darauf packten Notarzt und Sanis ihre Sachen zusammen und verließen das Deck.
Der Zivilpolizist, der sich Paul mit dem Namen Kilian vorgestellt hatte, kam auf ihn zu. »Wir haben ein Bestattungsinstitut informiert. Der Leichnam wird bald abgeholt. Die Kollegen der Schutzpolizei bleiben so lange hier. Sie können gehen, wenn Sie möchten. Ihre Kontaktdaten haben wir ja bereits, sollte es noch Nachfragen geben.«
»Er wird schon weggebracht?«, wunderte sich Paul, der ja reichlich Erfahrung mit den Abläufen an Tatorten besaß. »Muss denn nicht erst die Spurensicherung kommen?«
Kilian zeigte ihm ein schiefes Lächeln. »Wir haben es mit einem selbst verschuldeten Unfall zu tun, daran besteht kein Zweifel. Der Mann hat sich mit dem Fuß in einem der Taue verfangen, ist auf den feuchten Bodenplanken ausgerutscht und gestürzt. Mit dem Kopf schlug er gegen die Reling und fiel bewusstlos ins Wasser. So stellt sich der Ablauf dar. Da gehe ich mit dem Arzt d’accord.«
Paul staunte über die Gewissheit, mit der der Polizist seine Version des Geschehenen vortrug. »Wie können Sie das so genau sagen, ohne weitere Ermittlungen?«
Wieder präsentierte ihm Kilian sein lakonisches Lächeln. »Hören Sie: Ich bin seit sechsunddreißig Jahren beim Kriminaldauerdienst. Auch wenn das hier eine ländliche und überwiegend friedliche Gegend ist, bedeutet das nicht, dass wir keine Verbrechen kennen. Ich weiß, wann ich es mit einem zu tun habe. Das hier ist ganz bestimmt keines gewesen. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele dumme Haushaltsunfälle es gibt, die tödlich enden?«
»Haushaltsunfall? Wir sind hier auf einem Boot«, entgegnete Paul.
»Das macht nicht wirklich einen Unterschied, oder?«, blieb der gesetzte Beamte ungerührt. Er hob den Arm und deutete in die Wohnkabine hinter sich, wo die halb geleerte Flasche Wein noch immer auf dem Tisch stand. »Auch das spricht gegen Fremdverschulden: Das Opfer hatte getrunken. Es fügt sich alles ins Gesamtbild.«
Paul räusperte sich, bevor er sein Unbehagen ausdrückte: »Bei allem Respekt, ich habe eine hohe Anerkennung für Ihren Beruf und würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass die Polizei die Dinge allgemein falsch einschätzt. Doch die Umstände dieses Todes kommen mir zumindest so ungewöhnlich vor, dass es wirklich schwer nachzuvollziehen ist, wie Sie mit derartiger Gewissheit Fremdverschulden ausschließen.«
Kilian bedachte ihn mit einem Blick, den er wahrscheinlich auch für einen gerade überführten Schwerverbrecher aufgesetzt hätte. Keine Frage: Dieser Mann konnte keine Kritik vertragen. »Noch einmal zum Mitschreiben: Haben Sie eine Ahnung, zu wie vielen Todesfällen mit unklarer Ursache ich in meinem Berufsleben bereits gerufen worden bin? Das ist ein Tagesgeschäft, bei dem man lernt, einen Unfall von einem Totschlag oder Mord zu unterscheiden. Ich habe Erfahrung genug, um …« Er unterbrach sich selbst, winkte heftig ab und sagte patzig: »Bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig? Nein.«
Von innen meldete sich die Hündin mit einem Jaulen. Die kleinen Tatzen kratzten unablässig am Türrahmen. »Was geschieht jetzt mit ihr?«, erkundigte sich Paul.
»Tierheim«, sagte Kilian ungerührt. »Wir veranlassen das.«
»Ist der Mann denn allein auf dem Boot gewesen, ohne seine Frau?«, wollte Paul wissen.
»Solo. Die Buchung lief nur über eine Person plus Haustier.« Kilian spähte kurz durch die Scheibe. »Was ist das eigentlich für ein Hund? Sieht ein bisschen nach Terrier aus.«
»Keine Ahnung, ich kenne mich nicht aus mit Hunden.«
»Ist ja auch egal.«
Paul sah in Kilians abgeklärtes Gesicht, dann in die traurigen dunklen Augen der Hündin. Spontan bot er an: »Ich kann mich darum kümmern. Der Verstorbene hat doch sicher Verwandte. Familie oder Freunde. Bis die informiert sind und die Hündin abholen, kann sie bei mir bleiben.«
Kilian neigte den Kopf. »Mmm«, machte er, zog den Ausweis des Toten aus seiner Tasche und las Namen und Adresse von dem Plastikkärtchen ab: »Uwe Herold, Jahrgang 1966. Registriert ist er in Düsseldorf. Verdammt weit weg. Kann eine Weile dauern, bis da wer aus NRW anreist, um den Köter zu holen. Wollen Sie sich das wirklich antun?«
»Ja«, sagte Paul bestimmt.
»Also gut«, stimmte Kilian ein. »Nehmen Sie sie mit. Wir geben den nächsten Angehörigen Bescheid, dass sie sich bei Ihnen melden sollen.« Dann ließ er doch noch einen Hauch Empathie erkennen und fragte: »Wie werden Sie das Tier denn nennen? Der Name ist ja nicht bekannt.«
Wieder fiel Pauls Entscheidung impulsiv aus dem Bauch heraus: »Nessie.«
Als er das Boot verließ, kamen ihm bereits zwei Bestatter mit einem metallischen Sarg entgegen. Gleich dahinter wartete der Reinigungstrupp der Hausbootverwaltung. Es würde nicht lange dauern, dann wäre Herolds Feriendomizil blitzblank geputzt und jede Spur eines möglichen Verbrechens beseitigt.
*
Nessie ließ Kopf und Schwanz hängen, folgte aber brav ihrem Ersatzherrchen Paul, der sich in der überschaubaren Innenstadt nach einem Laden umsah, in dem er ein paar Dinge für sie kaufen konnte. Vor allem Futter schien ihm wichtig zu sein, vielleicht auch etwas zum Spielen. Dummerweise hatte er versäumt, im Hausboot des Besitzers danach zu suchen.
Mangels Alternativen wählte er ein Geschäft aus, in dessen Schaufenster hauptsächlich Freizeitartikel angepriesen wurden. Wer Schwimmflügel, Sonnencreme und Käppis verkaufte, führte sicher auch Haustierbedarf im Sortiment, überlegte Paul, denn viele Urlauber nahmen ihre Vierbeiner ja mit in den Urlaub oder ins lange Wochenende.
Tatsächlich wurde er bald fündig, obwohl es das verschachtelte Geschäft an Übersichtlichkeit missen ließ. Er stellte sich mit einem Beutel Trockenfutter und einem pinken Gummiknochen an die Kasse, wo ihm ein ziemlich grimmig wirkender Verkäufer die Ware abnahm und die Preise wortlos in eine alte Registrierkasse eingab. Der Mann strahlte so wenig Kundenfreundlichkeit aus wie der ganze Laden, und unwillkürlich zog Paul Vergleiche zu Ausflügen ins Allgäu und an den Starnberger See, wo der Tourismus eine ganz andere Dimension einnahm und sich das auch in den Stadtbildern und dem Servicegedanken der Einheimischen widerspiegelte. Ob dem Verkäufer das bewusst war?
»In der Eigenvermarktung des Seenlandes ist noch viel Luft nach oben«, äußerte Paul seine Gedanken, woraufhin ihn sein Gegenüber befremdet ansah. Paul erklärte: »Der Bekanntheitsgrad der Region ist ausbaufähig, obwohl es hier doch so schön ist.«
»Bitte?«
»Na ja, Sie sind hier inmitten einer attraktiven Urlaubsgegend, aber ich habe ein wenig den Eindruck, dass zu wenig daraus gemacht wird. Ich nehme an, wenn Sie als Seenländer mal selbst auf Reisen gingen, kämen Sie nicht auf die Idee, Ihre Herkunft zu nennen. Weil zum Beispiel ein Berliner nicht wüsste, woher Sie genau kommen. Im Gegensatz zum Tegernsee oder der Mecklenburgischen Seenplatte kennt den Brombachsee nämlich kein Mensch.«
»Ich verstehe nicht, was Sie mir sagen wollen«, sagte der Verkäufer und reichte Paul die Einkäufe über die Theke zurück.
»Das ist ein bisschen das Henne-Ei-Problem: Solange nur wenigen das Fränkische Seenland geläufig ist, sagt auswärts keiner, dass er von dort kommt, was dazu führt, dass weiterhin kaum einem außerhalb Frankens das Seenland ein Begriff ist. Dabei ist Bekanntheit doch das Wichtigste für den Tourismus und würde auch Ihren Umsatz erhöhen, oder?«
Aus dem Gesicht des Verkäufers sprach großes Unverständnis. »Die Leute hier möchten keine Nachteile durch zu viel Tourismus«, sagte er schmallippig. »Einen solchen Trubel wie am Königssee oder Bodensee, den will niemand von uns.«
Eine ältere Dame, die sich hinter Paul angestellt hatte und offenbar aus dem Ort kam, pflichtete dem Mann an der Kasse bei: »Da reichen schon die Tagesgäste aus Nürnberg, um manche Albträume zu erleben. Niemand hier braucht überfüllte Parkplätze, Staus und Drängeleien in den Gasthäusern.«
»Darum besser: nicht zu viel Werbung für die Seenplatte«, sagte der Verkäufer. »Schon gar nicht in Berlin. Die haben doch ihren Wannsee, da sollen sie ruhig bleiben. Mehr Gäste als jetzt wollen wir eigentlich nicht. – Sie kommen doch nicht etwa aus Berlin?«
»Nein. Nürnberg. Hört man das nicht?«
Die Frau hinter ihm tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Verkäufer.
Jetzt wusste Paul, woran er war, und vergegenwärtigte sich wieder einmal den fundamentalen Unterschied zwischen seinen fränkischen Landsleuten, die das Gute lieber für sich behielten, und beispielsweise den selbstbewussten Bayern. Die vertraten ja ganz ernsthaft die Überzeugung, dass es sie zu etwas Besserem machte, weil sie aus Bayern kamen. Da war Paul das fränkische Understatement dann doch lieber.
Der Sonntag verwöhnte die Urlauber rund um den Brombachsee mit Wohlfühlwetter und angenehmen dreiundzwanzig Grad. Am Samstagnachmittag hatte Paul den Sack Hundefutter aus dem Dorfladen besorgt, außerdem den Hartgummiknochen, sollte es Nessie zu langweilig bei ihm werden. Leine und Halsband hatte er von Zivilpolizist Kilian bekommen, der diese im Nachlass des Toten gefunden hatte. Nun bereitete Paul das Frühstück auf der Terrasse vor, während Nessie neben ihm stand und ihn nicht aus den Augen ließ.
»Du musst fressen«, forderte Paul die Hündin auf, die den reichlich gefüllten Futternapf bisher nicht angerührt hatte. »Lecker, lecker. Sei brav und friss.«