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Ein magischer Walzer, der ihr Leben für immer verändert …
Der historische Liebesroman von Erfolgsautorin Anne Gracie
England, 1818: Seit ihrer Kindheit weiß Hope Merridew, dass sie nur einen perfekten Walzer von ihrem Traummann entfernt ist. Deswegen hält sie den letzten Tanz auf ihrer Tanzkarte immer frei. Als der attraktive Fremde Sebastian Reyne nach London kommt, scheint es sein einziges Ziel zu sein, all ihre Träume zunichte zu machen. Doch der unbändigen Anziehungskraft zwischen ihnen kann Hope jedes Mal weniger widerstehen …
Um den Fängen der Vergangenheit endlich zu entkommen, sucht Sebastian Reyne eine angesehene Ehefrau, die wie eine Mutter für seine kleinen Schwestern sorgt. Darum muss er unbedingt seine leidenschaftlichen Gefühle für die verführerisch schöne Hope Merridew im Zaum halten – bloß wie?
Erste Leserstimmen
„Eine Liebesgeschichte voller Spannung und Gefühl. Klare Leseempfehlung!“
„mitreißend, romantisch und einfach zum dahinschmelzen“
„Anne Gracie hat es geschafft mich in eine andere Zeit zu entführen, aus der ich gar nicht mehr auftauchen wollte!“
„Wer wie ich gerne Autorinnen wie Patricia Cabot liest, ist hier bestens aufgehoben.“
„Wunderschöne, unterhaltsame Historical Romance mit viel Herz.“
Weitere Titel dieser Reihe
Spiel zweier Herzen (ISBN: 9783968171623)
Der verbotene Kuss des Lords (ISBN: 9783968171630)
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Seitenzahl: 571
England, 1818: Seit ihrer Kindheit weiß Hope Merridew, dass sie nur einen perfekten Walzer von ihrem Traummann entfernt ist. Deswegen hält sie den letzten Tanz auf ihrer Tanzkarte immer frei. Als der attraktive Fremde Sebastian Reyne nach London kommt, scheint es sein einziges Ziel zu sein, all ihre Träume zunichte zu machen. Doch der unbändigen Anziehungskraft zwischen ihnen kann Hope jedes Mal weniger widerstehen …
Um den Fängen der Vergangenheit endlich zu entkommen, sucht Sebastian Reyne eine angesehene Ehefrau, die wie eine Mutter für seine kleinen Schwestern sorgt. Darum muss er unbedingt seine leidenschaftlichen Gefühle für die verführerisch schöne Hope Merridew im Zaum halten – bloß wie?
Erstausgabe 2005 Überarbeitete Neuausgabe September 2020
Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-034-3
Copyright © 2005 by Anne Gracie Titel des englischen Originals: The Perfect Waltz
Für die deutsche Übersetzung erschienen im CORA Verlag in der Reihe Historical Gold, 2016, © by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Ute-Christine Geiler
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Copyright © 2008, Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2008 bei Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg erschienenen Titels Ein magischer Walzer (ISBN: 978-3-73376-658-0).
Übersetzt von: Ute-Christine Geiler Covergestaltung: Miss Ly Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Anneka periodimages.com: © VJ Duncan Production Korrektorat: KoLibri Lektorat
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Manchester, England, März 1818
Seine kleine Schwester würde jeden Moment vom Dach stürzen und sich auf dem kalten, grauen Kopfsteinpflaster das Genick brechen!
„Halt, Cassie! Beweg dich nicht!“ Sebastian Reyne bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall, während er hastig absaß und einem Stallburschen die Zügel zuwarf. Was, zum Teufel, hatte sie auf dem Dach zu suchen? „Bleib ganz still stehen, bis ich oben bin und dich retten kann.“
„Ich brauch nicht gerettet werden!“, schrie Cassie zornig, und um ihre Behauptung zu unterstreichen, balancierte sie noch ein Stück weiter auf dem schmalen Mauersims des stattlichen Herrenhauses.
„Dann geh sofort wieder zurück.“
„Nein. Nicht solange die blöde Kuh da drin ist!“ Sie kletterte noch ein bisschen weiter. Er zuckte zusammen, als sie mit einem Fuß ausrutschte und ein Ziegel aus dunklem Schiefer auf dem Boden zerschellte.
Sebastian schaute zu dem Fenster hoch, aus dem sich Miss Thringstone lehnte, die neueste Gouvernante seiner Schwestern. Sobald sie ihn erblickte, begann sie, mit schriller Stimme zu zetern: „Sie hat mich geschlagen! Wirklich geschlagen! Diese Mädchen sind vollkommen unlenkbar …“
Er schnitt ihr das Wort ab. „In mein Arbeitszimmer, Miss Thringstone! Jetzt sofort! Ich werde mit Ihnen sprechen, wenn Cassie wieder sicher im Haus ist.“
Sie zögerte, ehe sie sich, sichtlich um Würde bemüht, wieder zurückzog.
Nach einem Augenblick fragte Cassie: „Ist sie weg?“
„Das sollte sie besser“, erwiderte Sebastian grimmig. „Und wenn du weißt, was gut für dich ist, schaust du, dass du wieder reinkommst. Auf der Stelle!“
„Ich gehe nicht, wenn du mich dann auch schlägst.“
Auch? „Keine Sorge, Cassie, ich werde dich nicht schlagen. Aber du wirst mir dein Benehmen erklären, und wenn du es verdienst, wirst du bestraft werden.“
Mit klopfendem Herzen beobachtete er, wie Cassie einen Moment nachdachte und schließlich langsam zurückkletterte. Ein weiterer Dachziegel zerbarst auf dem Kopfsteinpflaster in tausend Teile, ehe sie durch das Kinderzimmerfenster stieg. Sebastian begann wieder zu atmen. Als Erstes würde er die Fenster in den Zimmern der Mädchen vernageln lassen.
„Und nun, mein Fräulein, erkläre mir, warum du dich in so große Gefahr begeben hast.“
„Das war keine große Gefahr. Ich bin ja nicht runtergefallen, oder?“
„Hast du Miss Thringstone geschlagen?“
Cassie warf trotzig den Kopf in den Nacken. „Ja, das habe ich. Ich weiß, es war falsch, aber das ist mir egal. Ich hasse sie!“ Sie legte ihren Arm um ihre jüngere Schwester. „Das tun wir beide.“
Wenigstens hatte sie zugegeben, dass es falsch gewesen war. Das war immerhin ein Anfang. Sebastian schaute die elfjährige Dorie an. Sie hielt den Kopf gesenkt, unter seinem Blick war ihr sichtlich unbehaglich. Argwöhnisch spähte sie unter ihrer dunklen Haarmähne hervor. Er sprach sanfter. „Miss Thringstones Aufgabe ist es, euch beide zu jungen Damen zu erziehen, Cassie. Ich weiß, dass das schwer sein muss. Aber ihr habt beide jetzt ein neues Leben, und Miss Thringstone ist hier, um euch dabei zu helfen, euch darauf vorzubereiten.“
Cassie zog Dorie dichter an sich und schob ihr Kinn vor. „Wir hassen die pferdegesichtige alte Hexe, und von ihr werden wir nichts lernen.“
Sebastian ignorierte ihre absichtliche Verwendung von Schimpfwörtern. Cassie besaß ein hitziges Temperament und konnte außerordentlich schwierig sein, doch eines hatte er in den vergangenen vier Monaten über sie gelernt: In der Regel gab es einen Grund für ihr unerhörtes Benehmen. Nicht notwendigerweise einen guten Grund, aber immerhin einen Grund.
„Warum hasst ihr sie diesmal? Und warum hast du sie geschlagen?“
„Weil sie Dorie geschlagen hat!“
Sebastian erstarrte. Als sie vor vier Monaten hier in seinem Haus angekommen waren, zwei dürre kleine Straßenkinder, Dorie schweigsam zitternd und Cassie feindselig und Gleichgültigkeit heuchelnd, hatte er die Zeichen richtig gedeutet. In jenem Augenblick hatte er sich geschworen, dass sie nie wieder geschlagen werden würden. Er hatte der Gouvernante aufgetragen, dass sie, egal wie groß die Provokation auch sein mochte, die Mädchen auf keinen Fall mit Schlägen strafen dürfe. Niemals. Alle ernsteren Verfehlungen hatte sie ihm zu berichten.
Aber er musste ganz sichergehen. Cassie war gewieft und nicht darüber erhaben, die Lage zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen.
„Sie hat Dorie geschlagen?“, wiederholte er. „Wie? Und warum?“
„Sie hat ihr eine Ohrfeige gegeben. Fest.“ Cassie schaute ihn herausfordernd an und fügte hinzu: „Für dumme Verstocktheit.“
Sebastian atmete zischend aus. Dorie blickte auf. Ihr Haar fiel zurück, und Sebastian konnte ganz deutlich den roten Handabdruck auf ihrem blassen Gesichtchen sehen. Für dumme Verstocktheit!
Er streckte die Hand aus, um ihr tröstend übers Haar zu streichen, aber beide Mädchen zuckten ängstlich zurück. Er schluckte und sagte leise: „Geht und wascht euch die Gesichter, Mädchen. Cassie, es war richtig, dass du deine Schwester beschützt hast. Du wirst nicht bestraft.“
„Eine ordentliche Tracht Prügel würde diesen beiden Mädchen nur guttun!“, erklärte Miss Thringstone. „Ihnen fehlt es an Disziplin, Respekt und jeglichem Sinn für sittsames und anständiges Betragen.“
„Ich glaube, ich habe meine Ansichten über körperliche Züchtigung deutlich genug zum Ausdruck gebracht.“ Mit mühsam beherrschtem Zorn zog Sebastian ein Blatt Papier von dem Stapel auf seinem Schreibtisch, das Empfehlungsschreiben, das sie als die „beste Gouvernante des Landes“ beschrieb. Er wandte sich wieder dem Verfassen ihres Entlassungsbriefes zu.
Miss Thringstone zog ihre Jacke glatt und musterte ihn hochnäsig. „Ohne Prügel werden diese Mädchen niemals Zutritt zu irgendeiner ehrbaren Gesellschaft finden, geschweige denn Ihre lachhaften Ambitionen erfüllen!“
„Diese Mädchen werden in angemessener Zeit ihr Debüt in der besten Londoner Gesellschaft machen.“ Das war die Feststellung einer Tatsache.
Miss Thringstone ließ sich nicht einschüchtern. Da sie selbst von guter Herkunft war und eine ausgezeichnete Erziehung genossen hatte, hatte sie in den vornehmsten Häusern des Landes gearbeitet. Ihre Worte wurden in einem Ton gesagt, der dazu angetan war, die anmaßenden Forderungen eines neureichen Emporkömmlings zu entmutigen. „Mr. Reyne, ich glaube kaum, dass Ihr eigener Hintergrund es Ihnen erlaubt, die Fertigkeiten und Eigenschaften richtig zu beurteilen, die von einer jungen Dame in den oberen Gesellschaftsschichten erwartet werden. Herkunft und Erziehung sind keine Frage des Geldes.“
Er hob eine Augenbraue. „In der Tat?“
Die Gouvernante vergaß sich soweit, mit dem Fuß aufzustampfen. „Ich kann jedes beliebige junge Mädchen darin unterweisen, die perfekte junge Dame zu werden, wenn das Ausgangsmaterial stimmt. In diesem Fall jedoch lässt das Material einiges zu wünschen übrig. Cassandra ist unerträglich wild. Sie ist grob, ungehorsam, gibt Widerworte und legt eine Ausdrucksweise an den Tag, die besser zur Gosse passt.“ Miss Thringstone erschauerte. „Wir haben bereits über den Gegenstand gesprochen, den sie am Körper trägt, daher werde ich ihn nicht noch einmal erwähnen. Nur ein Barbar würde so etwas bei sich haben!“
Er neigte den Kopf. „Ich bin überzeugt, sie hat ihre Gründe. Irgendwann wird sie sich sicher genug fühlen, um darauf zu verzichten.“
Die Gouvernante rümpfte die Nase. „Einem ungezogenen, jähzornigen Kind zu erlauben, so ein Ding ständig bei sich zu haben – nun, Sir, das grenzt an Wahnsinn!“
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Doch als sie Sie eben angegriffen hat, hat sie nur ihre Fäuste benutzt.“
Sie schürzte die Lippen.
„Gut. Nun, Sie sagten eben, beide Mädchen bräuchten eine Tracht Prügel. Ich hoffe, Sie erwarten nicht von mir, dass ich glaube, Dorie habe Widerworte gegeben.“
Sie wurde rot.
„‚Dumme Verstocktheit‘ war ihr Vergehen, glaube ich.“ Seine Worte hingen in der Luft.
Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen und wich seinem Blick aus.
„Es kann wohl kaum etwas anderes sein“, erklärte Sebastian mit bedrohlich seidenweicher Stimme.
Trotzig sprudelte es aus der Gouvernante heraus: „Auf ihre eigene Art und Weise ist Eudora genauso halsstarrig wie ihre Schwester und ebenso ungehorsam. Und sie weigert sich rundweg, das Stehlen aufzugeben.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sich Essen in unserem Haus zu nehmen, ist wohl kaum stehlen.“
Miss Thringstone presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Speisen vom Tisch, vielleicht nicht. Aber sie schleicht sich mitten in der Nacht nach unten und entwendet Essen aus der Küche.“
„Wir haben mehr als genug Lebensmittel. Diese Angewohnheit wird sie ebenfalls ablegen, wenn sie sich sicherer fühlt.“
So leicht gab sie sich nicht geschlagen. „Der Butler sagt, die Mäuse würden langsam zu einem Problem.“
„Ja, deswegen hat er auch schon mit mir gesprochen. Ich habe ihm geraten, eine Katze zu besorgen, aber da er von Katzen niesen muss …“ Er zuckte mit den Schultern.
Miss Thringstone vergaß sich erneut soweit, mit dem Fuß aufzustampfen. „Und werden Sie auch die Schultern zucken, wenn Eudora dazu übergeht, wertvollere Gegenstände zu nehmen? Weil sie gesehen hat, dass ihre Stehlereien ungestraft bleiben?“
Er schüttelte den Kopf. „Das wird nicht geschehen.“
Die Gouvernante warf die Hände in die Luft. „Das genau ist doch die Wurzel des Übels, Mr. Reyne! Sie sind der Grund dafür, dass diese Mädchen nie Aufnahme in der guten Gesellschaft finden werden! Ihnen sind ihr grässliches Benehmen oder ihre kriminellen Neigungen einfach gleichgültig.“
Seine Stimme war leise, aber stählern. „Oh, es ist mir mitnichten gleichgültig, Miss Thringstone. Wenn es das wäre, würde ich es vermutlich zulassen, dass Sie ihnen Zucht und Ordnung einprügeln.“ Er blickte sie aus kalten grauen Augen an und sagte: „Ihnen mag es unmöglich erscheinen, doch ich habe es mir angewöhnt, meine Ziele auch zu erreichen.“ Er ballte die Hand zur Faust. „Wenn die Zeit gekommen ist, werden die Mädchen bei Hofe vorgestellt, sie werden in die Gesellschaft eingeführt – und sie werden es mit jeder anderen jungen Dame dort aufnehmen können.“
Miss Thringstone machte einen abfälligen Laut, der wenig damenhaft klang. „Sehen Sie den Tatsachen ins Auge, Mr. Reyne. Alles Geld der Welt wird den Haute Ton nicht dazu bewegen können, diese beiden in ihre Reihen aufzunehmen. Eine fluchende Wildkatze, die ein Messer um ihren Oberschenkel geschnallt trägt? Oder ein Mädchen, das geistig zurückgeblieben ist und nicht sprechen kann? Niemals!“
Unter dem Blick, den er ihr zuwarf, zuckte sie zusammen und wich einen Schritt zurück, als glaubte sie, er wollte sie schlagen. Doch seine Stimme blieb kühl und gefühllos, als er erklärte: „Ihre Anstellung in diesem Hause, Miss Thringstone, ist beendet. Sie werden innerhalb der nächsten Stunde abreisen.“
Während die Gouvernante aus dem Zimmer stürmte, lehnte sich Sebastian resigniert in seinem Stuhl zurück und seufzte. Die siebte Gouvernante in vier Monaten. Eine neue anzustellen, würde genau zu denselben Ergebnissen führen, daran zweifelte er nicht.
Er brauchte eine andere Lösung für sein Problem. Er streckte den Arm aus und zog an der Klingelschnur.
„Senden Sie nach Mr. Black“, verlangte Sebastian, sobald ein Diener erschien. Er nahm sich ein frisches Blatt Papier und begann zu schreiben.
Vierzig Minuten später betrat Morton Black, Sebastians Agent, den Raum. Er hinkte leicht wegen des Holzbeines, das er seit Waterloo benötigte.
Sebastian nickte zum Gruß. „Ein weiterer vertraulicher Auftrag, Black. Er beinhaltet eine Reise nach London.“
Black wirkte leicht erstaunt. „Gut, Sir. Worum geht es bei diesem Auftrag?“
„Ich brauche eine Ehefrau, eine besondere Sorte Ehefrau. Sie wird nicht leicht zu finden sein. Ich habe alle wesentlichen Punkte notiert.“ Er reichte Black die Liste, die er eben geschrieben hatte.
Mit ausdrucksloser Miene nahm Black das Blatt und betrachtete es misstrauisch. „Verstehe. Und was soll ich damit tun, Sir?“
Sebastian runzelte die Stirn, ungeduldig über die ungewohnte Schwerfälligkeit seines Mittelsmannes. „Für mich eine Frau finden – eine Dame der Gesellschaft –, auf die die Bedingungen zutreffen. Es wird nicht einfach sein, aber ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Lassen Sie mich den Namen wissen, und ich übernehme den Rest.“
Black schluckte laut und erklärte hölzern: „Gut, Sir.“ Flüchtig schaute er auf die Liste. „Hier steht nichts über das Aussehen, Sir.“
Sebastian zuckte mit den Achseln. „Darauf kommt es nicht an. Charakter ist alles, was zählt. Gutes Aussehen vergeht mit der Zeit, der Charakter hingegen festigt sich.“
Black wirkte zweifelnd. „Aber Sie sind noch ein junger Mann, Sir.“
Sebastian schaute auf. „Sind meine Anweisungen nicht klar, Black?“
Morton Black richtete sich auf, hätte fast salutiert. „Sehr wohl, Sir, ganz klar. Ich werde sofort anfangen, Sir.“
Nachdem Black gegangen war, schrieb Sebastian einen Brief an seinen besten und ältesten Freund Giles Bemerton. Um sein Ziel zu erreichen, würde er jemandem den Hof machen müssen, etwas, worin er keine Erfahrung hatte. Er würde Giles’ Wissen auf diesem Gebiet brauchen, seine Weltgewandtheit und sein savoir-faire, um Erfolg zu haben.
Auf diese Aufgabe freute er sich nicht im Geringsten. Er hatte nicht vorgehabt, noch einmal zu heiraten. Aber Sebastian Reyne war kein Mann, der sich vor seiner Verantwortung drückte.
London, England, April 1818
„Aber sie hat überhaupt keinen Busen! Du kannst doch keine Frau ohne Busen heiraten!“
Sebastian zuckte mit den Schultern. „Blacks Bericht zufolge passt sie am besten zu meinen Anforderungen. Außerdem hat Lady Elinore Whitelaw sehr wohl einen Busen. Sie ist schließlich eine Frau, oder?“
„Vielleicht nicht“, erklärte sein Freund Giles Bemerton düster. „Bedenkt man, was für unförmige Kleider sie bevorzugt, wie sie sich in Unmengen grauen Stoff hüllt, wer kann da schon sicher sein?“
„Du redest Unsinn“, entgegnete Sebastian fest. Die beiden Männer saßen in einem kleinen gemütlichen Raum, der zu Giles’ Junggesellenwohnung in London gehörte. Es war spät in der Nacht, und im Kamin flackerte lustig ein Feuer.
„Und sie ist mindestens zehn Jahre älter als du.“
„Nur sechs.“ Sebastian nahm einen Schluck von seinem Brandy. „Außerdem sucht ein Mann bei seiner Braut Reife.“
Giles warf ihm einen Blick zu, der vor Unglauben nur so triefte. „Sie hat die ganze Zeit nicht geheiratet, dabei muss sie trotz dieses Aussehens Anträge erhalten haben – ihr Vater hat sie gut versorgt zurückgelassen. Obwohl er von der Mutter entfremdet war. Warum sollte sie ausgerechnet jetzt ihre Meinung ändern?“
„Sie hat keine andere Wahl. Nach dem Tod ihrer Mutter letztes Jahr lebt sie in beengten Verhältnissen, und das Vermögen ihres Vaters erhält sie erst nach drei Jahren Ehe.“
Giles schürzte die Lippen. „Ach so. Aber du brauchst doch kein Vermögen, warum also solltest du dich an einen kalten Fisch wie Lady Elinore binden? Weißt du, ich habe einmal mit ihr getanzt. Sie hat überdeutlich klargemacht, dass sie mich abstoßend findet. Mich!“ Indigniert schaute Giles an seiner wohlgeformten Gestalt hinab.
Sebastian unterdrückte ein Grinsen. Dank Giles’ angenehmen Äußeren geschah es nur sehr selten, dass ihn ein weibliches Wesen abstoßend fand. Trocken erwiderte er: „Ein weiterer Punkt, der für sie spricht. Damit beweist sie ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen.“
„Pah! Sie ist eine Exzentrikerin! Ihre ganze Leidenschaft gilt guten Werken – Museen, Not leidenden Straßengören und wohltätigen Zwecken.“ Giles erschauerte beredt. „Das ist Wahnsinn, lass dir das sagen. Warum sollte irgendjemand freiwillig einen dürren Stock mit einer Wagenladung Probleme wie Lady Elinore Whitelaw zur Frau nehmen, wo doch genug hübschere und amüsantere Mädchen auf dem Heiratsmarkt zur Auswahl stehen?“
Sebastian war es gelungen, letzte Woche ein Treffen mit Lady Elinore zu bewerkstelligen; er fand sie ruhig und unauffällig. Sie hatten die wohltätigen Einrichtungen besprochen, in denen sie sich engagierte, und Lady Elinores Antworten hatten ihn in seinem Entschluss bestärkt. Einen großen Teil ihrer Zeit widmete sie der Arbeit mit Waisenmädchen. Sie würde bestens passen. „Hör auf, Giles. Ich habe mich entschieden. Hübschere und amüsantere junge Mädchen besitzen nicht die … die innere Stärke und Erfahrung, die eine Frau braucht, die mit meinen Schwestern zurechtkommen will.“
Giles unternahm einen letzten Versuch. „Aber du hast nichts mit ihr gemein, Bastian. Sie ist unscheinbar und uninteressant. Einer dieser ernsten Blaustrümpfe.“
„Das ist mir egal. Bei meiner zukünftigen Gattin suche ich keine Schönheit. Meine Schwestern brauchen Stabilität und Familiensinn. Ich kann ihnen das nicht geben, weil sie mir nicht trauen. Daher muss ich heiraten, und Lady Elinore ist genau die Sorte …“
„Was meinst du, sie können dir nicht trauen? Du bist der vertrauenswürdigste Mensch, den ich …“
„Danke“, unterbrach ihn Sebastian ruhig, „aber in solchen Dingen entscheidet nicht der Verstand. Ihre … Erfahrungen machen es ihnen unmöglich, mir zu trauen.“
„Das tut mir leid, Bastian. Ich weiß, wie sehr dir die Mädchen am Herzen liegen.“
Unbeholfen zuckte Sebastian die Schultern. Niemand würde je erfahren, wie sehr ihn das fehlende Vertrauen seiner kleinen Schwestern verletzte. Aber Klagen führten zu nichts. „Der Schaden wurde angerichtet, ehe ich sie wiedergefunden hatte. Dennoch werde ich sie nicht aufgeben. Lady Elinore ist eine Frau von Verstand, die viel Wert auf Pflichtbewusstsein legt, und ihre Erfahrungen mit armen Kindern bedeuten, dass sie vermutlich weniger leicht zu schockieren ist als die meisten anderen.“ Er seufzte. „Nicht weniger als sieben Gouvernanten haben mich davon unterrichtet, wie unmöglich Cassie ist.“
„Verstand und Pflichtbewusstsein!“ Giles schnaubte abfällig. „Was ist mit Liebe?“
„Liebe ist doch bloß ein Märchen.“
„Nein, es ist ein Spiel, ein höchst unterhaltsames Spiel.“
Sebastian verzog zynisch den Mund.
„Und dabei warst du früher immer so ein Romantiker.“ Giles ballte die Hände zu Fäusten. „Ich wünschte zu Gott, du hättest die verfluchten Iretons nie getroffen. Diese Hexe und ihr Vater …“
Sebastian fiel ihm ins Wort und entgegnete ruhig, aber bestimmt: „Wenn du von meinem verstorbenen Schwiegervater und meiner verstorbenen Frau sprichst, dann bitte mit dem gebotenen Respekt. Wären sie nicht gewesen, würde ich immer noch in Armut leben, meine Schwestern wären für immer verschollen und nichts von dem hier wäre möglich. Alles im Leben hat seinen Preis.“
„Ich weiß, aber trotzdem, was sie mit dir getan haben …“
„Ja, und man darf nicht vergessen, was für ein zartes Pflänzchen ich bin. Lass es, Giles.“
Ernüchtert schaute Giles ihn an. „Himmel, bist du stur.“
Sebastian lächelte. „Ich weiß. Und es ist sehr nett von dir, dich mit mir abzugeben. Kann ich mich jetzt darauf verlassen, dass du mir hilfst, die Klippen der guten Gesellschaft zu umschiffen?“
Giles lachte. „Das möchte ich auf keinen Fall missen!“
„Danke. Ich frage mich, warum mir diese Antwort so zu denken gibt.“ Sebastian stellte das leere Glas ab und reckte sich. „Ich muss jetzt gehen. Morgen habe ich in aller Frühe etwas vor.“ Er schnitt eine Grimasse. „Tanzstunden. Mit einem affektierten Franzosen, der Rouge trägt!“
Giles brach in Gelächter aus. „Ich hätte große Lust, vorbeizuschauen und mir das anzusehen.“
Sebastian warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Aber auf eigene Gefahr, Bemerton.“
„Alle Welt ist hier“, versicherte ihm Giles, als sie etwa zehn Tage später gemeinsam den Ballsaal von Frampton House betraten. Unverzüglich begann er, den Freund auf wichtige Persönlichkeiten aufmerksam zu machen, doch Sebastian interessierte sich nicht für sie. Er war nur aus einem einzigen Grund heute Abend hier.
„Und Lady Elinore?“ Er hatte sich ausgerechnet, dass er sie sechs- bis achtmal treffen müsste, ehe es angemessen wäre, ihr einen Heiratsantrag zu machen.
„Jaja. Sie ist dort drüben“, antwortete Giles ungeduldig. „Obwohl ich nicht weiß, warum sie sich überhaupt die Mühe macht zu kommen, so wie sie sich anzieht.“
„Gut, dann lass uns nicht weiter Zeit verlieren.“ Er ging geradewegs auf sie zu.
„Mehr Raffinesse, mein lieber Bastian. Ich bitte dich, zeig etwas mehr Raffinesse“, beschwerte sich Giles, während er Sebastian durch die Menge folgte. „Ich stehe in dem Ruf, ein feinsinniger Mensch zu sein, denk daran. Nicht so schnell!“
Sebastian grinste, ohne an Tempo zu verlieren. Er wollte diese Brautwerbung so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich wieder dem widmen, womit er sich am besten auskannte: Arbeit.
„Lady Elinore.“ Er machte eine Verbeugung. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Giles ihm einen Blick zuwarf, der ihn an ihre Unterhaltung neulich erinnerte. Unwillkürlich blickte er an ihr herab. Giles hatte recht, sie schien keinen Busen zu haben. Hastig erklärte er: „Sie sehen heute Abend ganz reizend aus, Lady Elinore.“
Sowohl sie als auch Giles schauten ihn zweifelnd an. Sie war eine kleine Frau, sehr blass und sehr dünn, mit mausbraunem Haar, das sie zu einem festen Knoten straff nach hinten frisiert und mit einer Art Haube bedeckt hatte. Heute hatte sie sich für ein schmuckloses Kleid aus dunkelgrauem Bombasin entschieden. Die Farbe ließ sie womöglich noch blasser erscheinen, und der strenge, hochgeschlossene Schnitt gab ihrer dürren Figur etwas Kantiges. Sie hatte keinen Schmuck angelegt.
Im Geiste zuckte Sebastian mit den Achseln. Es kam nicht darauf an, ob ihr das Kleid stand oder nicht. Frauen zogen Komplimente der Wahrheit vor. Wenigstens hatte Thea das. Außerdem hasste er solche Gesellschaften und fühlte sich in keiner Weise dem leichten Geplauder gewachsen, das Giles so mühelos beherrschte. Er fand, ein Kompliment war nie fehl am Platze.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Reyne?“, murmelte Lady Elinore. „Ich habe mich schon gefragt, ob Sie heute hier sein würden.“ Mit einer leicht fragenden Miene schaute sie auf dem Platz links neben ihn.
„Ah, ja. Mein Freund, Mr. Giles Bemerton. Bemerton, ich glaube, du kennst Lady Elinore schon.“
Lady Elinore neigte ihren Kopf kaum merklich und sagte mit kühler Stimme: „Ich denke nicht, allerdings vermute ich, dass wir entfernt verwandt sind. Sie sind ein Staffordshire Bemerton, nicht wahr?“
Ganz offenkundig hatte Lady Elinore den Tanz, der sich derart in Giles’ Erinnerung eingebrannt hatte, völlig vergessen. Sebastian verfolgte, wie sein Freund seine Erbitterung meisterte und eine anmutige Verbeugung machte. „Ganz recht. Erfreut, Sie zu treffen, Lady Elinore.“
Aus Furcht vor weiteren Wortgefechten bat Sebastian Lady Elinore um den nächsten Ländler und den Tanz vor dem Supper. Auch Giles bat die Dame um einen Kotillon und einen Walzer. Später darauf angesprochen, erklärte er, er habe unmöglich zulassen können, dass sein Freund als Einziger mit einem hoffnungslosen Mauerblümchen tanze. Sebastian dankte ihm mit ernster Miene für diese Umsicht.
Mit mühsam beherrschter Ungeduld strich Sebastian um die Tanzfläche. Einer Frau den Hof zu machen, war eine langweilige Sache. Er hatte den Ländler mit Lady Elinore getanzt und wartete nun auf den nächsten Tanz. Unglückseligerweise würde es noch eine Weile dauern. Er hatte den Anblick der Beau Monde gründlich satt, wie sie sich vergnügte.
Die Beau Monde – die Welt der schönen Menschen. Menschen, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihr Äußeres mit Schminke und Schmuck zu verschönern. Für sie waren Kleider eine Zierde, dazu gemacht, ihrer Figur zu schmeicheln, nicht um den Körper vor Regen und Kälte zu schützen.
Er schaute ihnen beim Tanzen zu, wie sie sich lachend drehten, und wie sie tranken, und seine Laune verfinsterte sich. Schön, frivol. Sorglos. Ein Leben in Hülle und Fülle. Sie hatten keine Ahnung von dem Kampf ums Überleben, den die meisten ihrer Zeitgenossen führen mussten. Ihre Leiber waren wohlgenährt und wohlgeformt, nicht halb verhungert und bucklig von langen Stunden kräfteraubender, eintöniger Arbeit in den Fabriken. Oder verkrüppelt im Kampf für König und Vaterland wie Morton Black.
Sebastian gehörte hier nicht her. Er gehörte nicht zur Beau Monde. Er hatte kein sorgenfreies Leben gelebt wie die meisten Gäste. Er schaute auf seine vernarbten Hände, auf die beiden verkrümmten Finger an seiner linken Hand. Giles hatte ihm geraten, stets Handschuhe zu tragen, aber Sebastian hatte darauf verzichtet. Er wollte nicht verstecken, was er war.
Je eher er diese Brautwerbung aus dem Weg hatte und zu dem Leben zurückkehren konnte, das er verstand, desto besser. Sein Blick schweifte über das farbenfrohe Gedränge. Aber plötzlich hielt er inne, wie gebannt.
Er packte Giles am Arm. „Wer ist das?“ Er flüsterte die Frage nur, starrte quer über die Tanzfläche, unfähig, den Blick abzuwenden.
Giles stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Endlich! Äh, ich meine, ausgezeichnet. Ich wusste doch, dass der Frampton-Ball einiges an Unterhaltung bieten würde. Da gibt es Dutzende hübscher … äh, pflichtbewusster junger Damen mit Verstand. Nicht, dass du an einer anderen als Lady Elinore Interesse hättest, das weiß ich. Aber es schadet ja nicht, sich umzusehen. Welche hat deine Aufmerksamkeit erregt?“
Welche?, dachte Sebastian benommen. Da war nur eine. Giles mochte sagen, dass Dutzende hübscher Mädchen im Saal waren, vermutlich hatte er sogar recht. Aber diese junge Frau war nicht bloß hübsch, sie war schlicht und ergreifend atemberaubend. Unter den anderen stach sie wie ein Stern hervor, der zwischen Kerzen gelandet war.
Sie wirbelte am Arm ihres Partners über die Tanzfläche, lächelte ihm zu und schaute Sebastian dann einen Moment direkt in die Augen. Ihm stockte der Atem. Sie war von durchschnittlicher Größe, schlank, geschmeidig und vollkommen. Ihr Haar war golden – nicht blond oder flachsfarben, sondern fein gesponnenes Gold. Es umrahmte ihren Kopf in weichen Locken. Ihre Haut strahlte. Er konnte die genaue Farbe ihrer Augen aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber sie waren groß und, so glaubte er, blau. Was ihr Gesicht anging, so hatte er keine Worte, es zu beschreiben; es war einfach das allerschönste Gesicht, das er je gesehen hatte.
Das Gesicht eines Engels, nur ohne die Selbstgefälligkeit und die künstliche Ruhe der gemalten Engel, die er gesehen hatte. Dieser Engel sprühte vor Lebensfreude und Übermut. Und vor Freude am Tanz.
Ein Blinder konnte sehen, dass sie zum Tanzen geboren war. Es war nur ein einfacher Ländler, die Figuren so vertraut, dass sie den meisten Menschen zur Routine geworden waren, aber sie – die personifizierte Anmut – brachte eine unverbrauchte Freude mit in den Reigen, die ansteckend war.
Sebastian beobachtete sie fasziniert. Bis jetzt hatte er Tanzen immer für Zeitverschwendung gehalten. Aber das hier war nicht die strenge Abfolge vorgegebener Schritte und Bewegungen, aus denen für ihn Tanzen bestand. Das hier war etwas … Magisches.
Mit ungekünstelter Fröhlichkeit lachte sie ihren Partner an, und er lächelte zurück. Besitzergreifend. Sie wirbelte zu dem nächsten Tanzpartner weiter, und in ihr Gesicht trat neue Wärme. Sebastian schluckte. Der Empfänger ihres Lächelns zu sein …
Ihr neuer Partner war ein rüstiger älterer Gentleman, elegant und weit über sechzig. Was hatte er getan, sich solch … solch herzliche Vertrautheit mit diesem göttlichen Wesen zu verdienen?
Geistesabwesend zog Sebastian an seinem Halstuch, zerknitterte eine der streng geordneten Falten.
Der ältere Mann sagte etwas, und sie lachte wieder. Sebastian war sich ganz sicher, dass er es hören konnte, obwohl es im Saal laut war. Ihr Lachen, das wusste er, würde etwas Besonderes sein, wie das Wasser in einem Springbrunnen klingen, wie Regentropfen auf Diamanten …
Es rief ihn. Rücksichtslos drängte er den Gedanken zurück.
Sie war eine Schönheit der Beau Monde, verhätschelt, verwöhnt und beschützt vor allem Bösen der Welt. Sie war für Freude und Lebenslust geschaffen. Allein indem er sie ansah, wusste er, dass sie erwartete, durchs Leben zu tanzen. Und das würde sie auch.
Sebastian hatte den größten Teil seines Lebens in Lärm und Rauch, Schmutz und Härte verbracht. Selbst wenn er jetzt reich war, konnte er das Leben, das er früher geführt hatte, nicht einfach abstreifen. Er gehörte nicht hierher. Einzig, um eine Ehefrau für sich zu finden, wie seine Schwestern sie brauchten, hatte er diese Glitzerwelt betreten. Nicht, um sich in närrischen, unmöglichen Träumen zu verlieren.
Er brauchte eine starke Frau, eine, die die weniger schönen Seiten des Lebens kannte, eine Frau, deren ausgeprägtes Pflichtbewusstsein ihr über die Schwierigkeiten im Leben an seiner Seite helfen würde.
Diese fröhliche, vollkommene Elfe war nichts für Menschen wie ihn.
Man kaufte keinen rassigen Vollblüter und spannte ihn vor einen Kohlenkarren. Wenn er sie in seine grimmige Welt holte, würden die Freude und die Lebenslust in ihr ausgelöscht. Er hatte seine Mutter langsam dahinsiechen sehen; er hatte genug Schuld auf sich geladen, mit der er zu leben hatte.
Trotzdem konnte es nicht schaden, ihr beim Tanzen zuzusehen. Das war nicht verboten.
Sie glitt so leichtfüßig durch die Figuren, dass der ältere Gentleman übers ganze Gesicht strahlte, während er sich mühte, mit ihr Schritt zu halten. Das schien sie zu bemerken, denn sie lehnte sich plötzlich zur Seite und schaute ihn übermütig an. Der alte Mann schmunzelte. Und Sebastian konnte nicht anders, als ebenfalls zu schmunzeln.
Schlagartig erwachte er aus seiner Versunkenheit. Er stand auf den Stufen, die in den Ballsaal hinabführten, und versperrte den Eingang. Ein riesiger Raum voller adeliger Fremder, und er stand hier wie angewurzelt und grinste wie ein Narr, ohne den Blick von einer jungen Frau abwenden zu können, die er nie getroffen hatte und nicht kannte.
Grinste wie ein Narr.
Sebastian hüstelte, zog sein Halstuch gerade und ging eilig die Stufen hinab.
Giles führte ihn zu einem Alkoven seitlich der Tanzfläche. „Wir können genauso gut von hier zusehen.“ Er schnipste mit den Fingern nach einem der vorübereilenden Lakaien und bestellte etwas zu trinken, ehe er sich wieder der Frage zuwandte. „Nun, welches Fohlen ist dir ins Auge gestochen?“ Er hob sein Monokel und sah sich um. „Ach, natürlich, eine der tugendhaften Zwillinge, gewiss. Die kann man nicht übersehen. Ganz reizende junge Dinger. Gleichen sich wie ein Ei dem anderen, und das in jeder Beziehung.“
Sebastian schüttelte brüsk den Kopf. Seines – das Mädchen, das er entdeckt hatte – war einmalig. „Egal“, erklärte er. „Es war nur vorübergehende Neugierde. Du weißt ja, dass ich allein Lady Elinores wegen hier bin.“
Giles überhörte das. „Das Merkwürdige daran ist, die eine von beiden ist Rechtshänderin und die andere Linkshänderin – allerdings kann ich mir nicht merken, welche. Die Linkshänderin möchte nicht, dass es bekannt wird. Aber es ist mehr die Persönlichkeit als das Aussehen, woran man sie unterscheiden kann. Miss Faith ist ruhiger und Miss Hope lebhafter. Nicht dass ich sie näher kennen würde. Mädchen von guter Herkunft auf der Suche nach einem Ehemann – das ist nicht mein Stil, weißt du.“
„Ja, das weiß ich. Schau, es ist nicht wichtig, Giles. Ich bin nicht hier, um mich umzusehen, ich habe meine Wahl bereits getroffen.“ Sebastians Stimme war fest.
Giles fuhr unbeeindruckt fort: „Ist es diejenige, die mit dem langen, dünnen Kerl in Gelb tanzt, oder die direkt neben Lady Augusta – die kleine rundliche Dame in lila Seide? Lady Augusta ist eine ganz bezaubernde alte Dame. Sir Oswald Merridew, der ältere Herr auf der Tanzfläche, ist von ihr ganz hingerissen, aber sie ist ihm in den letzten zwei Jahren gehörig auf der Nase herumgetanzt.“
Sebastian machte einen Laut, der hoffentlich für höfliches Interesse durchgehen würde, während Giles weiterredete. Die kleine Lady in Lila oder wer nun von ihr hingerissen war oder nicht konnte ihm nicht gleichgültiger sein. Er wollte den Namen des herrlichen Geschöpfes in Blau wissen. Er hätte natürlich sagen können: „Die in dem blauen Kleid“, aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht laut aussprechen.
Es würde dann … etwas bedeuten. Eine Art Eingeständnis oder so. Vollkommen lächerlich. Er wollte nicht, dass es irgendetwas bedeutete. Außerdem war er nicht interessiert. Er … schaute nur. Vertrieb sich die Zeit bis zum Supper. Erneut zerrte er an seinem Halstuch, und plötzlich kamen die Worte einfach aus ihm heraus. „In Blau.“
„Eine der Zwillinge dann – sie tragen beide Blau. An deinem Geschmack gibt es nichts auszusetzen, Bastian. Beide sind herrliche Geschöpfe. Herrlich vernünftig, ernsthaft und pflichtbewusst, meine ich selbstverständlich!“, verbesserte sich Giles hastig. „Also, welcher Zwilling ist es?“
Sebastian runzelte die Stirn. Sie war ein Zwilling? Er betrachtete die anderen Tanzpaare und merkte, dass da noch ein Mädchen war, das seiner fröhlichen Elfe ziemlich ähnlich sah. Aber sie strahlte nicht von innen.
Giles stieß ihn ungeduldig in die Rippen. „Azur- oder Himmelblau?“
Sebastian warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu. „Woher soll ich wissen, was für ein Blau es ist? Blau ist Blau!“ Das war eine Lüge. Wahrscheinlich konnte er sogar die Inhaltsstoffe in dem Färbebottich einzeln benennen, in dem der Stoff gefärbt worden war, aber das würde er nicht sagen. Giles würde es nicht verstehen, und außerdem war es nicht wichtig. Er wusste nur, dass die zarte azurblaue Seide abwechselnd um ihren schlanken Körper wirbelte oder sich anschmiegte, sodass ihm die Kehle trocken wurde und das Herz schneller klopfte. Angestrengt schluckte er.
Giles schüttelte den Kopf und erwiderte mahnend: „Wenn du dich im Ton bewegen willst, mein lieber Bastian, dann musst du solche Sachen lernen.“
„Ich will einer Frau den Hof machen, keinen Modesalon eröffnen!“, knurrte Sebastian. „Und außerdem möchte ich mich gar nicht im Ton bewegen. Sobald ich Lady Elinore geheiratet habe, werde ich den ganzen Unsinn hier hinter mir lassen.“
Übertrieben bekümmert schüttelte Giles den Kopf. „Du armer, fehlgeleiteter Mann. Zuallererst weißt du gar nicht, ob Lady Elinore deinen Antrag annimmt.“ Er hob eine Hand, damit Sebastian ihn nicht unterbrach. „Und selbst wenn sie das tut, musst du lernen, mit weiblichen Wesen eine höfliche Konversation zu führen, denn Lady Elinore ist eine Frau, wenn auch zugegebenermaßen eine seltsame. Und deine Schwestern sind es auch – weiblich, meine ich. Außerdem werden sie Freundinnen haben. Glaub mir, solche Kleinigkeiten sind Frauen außerordentlich wichtig, den hüb … äh, exzentrischen, pflichtbewussten und vernünftigen Geschöpfen. Also, welches Mädchen in Blau ist es?“
Zunächst schwieg Sebastian, schließlich aber zwang er sich, es auszusprechen: „Die, die mit dem ältlichen Herrn tanzt.“
Giles blickte sich um. „Aha! Azurblau. Der ältere Herr ist Sir Oswald Merridew, und seine Partnerin ist seine Großnichte, Miss Hope, glaube ich.“
Sebastian runzelte die Stirn angesichts Giles’ alberner Bemerkung. „Mishope?“ Was für eine Sorte Name ist das denn? Die gute Gesellschaft vergab gerne Spitznamen, das wusste er, aber Mishope?
„Ja, oder Miss Faith. Ich habe doch gesagt, dass ich die Zwillinge immer verwechsle.“
„Oh. Verstehe.“ Miss Hope. Ihr Name war Hope. Oder vielleicht auch Faith. Mit Mühe löste Sebastian seinen Blick von der Frau im blauen Seidenkleid und schaute zu ihrer Zwillingsschwester. Sie war sehr hübsch, aber keine goldene Elfe.
Miss Hope – wenn sie es war – schien von innen zu leuchten. Sie schäumte über vor Lebensfreude. Es war fast greifbar.
Er sollte sie nicht so anstarren. Schließlich war Lady Elinore seine Auserwählte. Sie anzuschauen, war Wahnsinn, sonst nichts.
Aber er konnte einfach nicht anders.
Die nächste Frage kam ihm unbeabsichtigt über die Lippen. „Miss Hope wer?“
„Ihr Name ist Merridew. Von den Norfolk Merridews. Sie werden die tugendhaften Schwestern genannt, weil alle ihre Vornamen Tugenden bezeichnen.“ Er begann, an seinen Fingern abzuzählen: „Da ist Prudence – Klugheit, jetzt Lady Carradice, und Charity – Mildtätigkeit, die den Duke of Dinstable geheiratet hat. Faith – Glaube – und Hope – Hoffnung – sind die Zwillinge, und dann ist da, glaube ich noch, eine, die Grace, Anmut, heißt. Sie ist ebenfalls eine Schönheit, aber sie ist noch im Schulzimmer. Egal, irgendein Witzbold hat sie die ‚tugendhaften Schwestern‘ getauft, und dabei ist es geblieben. Aber ihr Nachname ist Merridew. Während der Saison leben die Zwillinge bei Sir Oswald. Sonst wohnen sie bei Lord und Lady Carradice oder dem Duke und der Duchess of Dinstable.“
Die vielen Namen perlten von Sebastian ab wie Wassertropfen. Nur eines blieb hängen. Ihr Name war Hope Merridew. Oder vielleicht auch Faith. Das Gewicht auf seiner Brust hob sich, und er stellte fest, dass er wieder atmen konnte, wenn auch abgehackt.
Giles rieb sich die Hände. „Gut, komm mit, ich werde dich vorstellen.“
Sebastian legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn aufzuhalten. „Nein danke. Ich war nur … neugierig.“
Sein Freund starrte ihn ungläubig an. „Du meinst, du willst nicht vorgestellt werden? Das sind verflixt feine Mädels, die tugendhaften Zwillinge.“ Er betrachtete Sebastian mit gerunzelter Stirn. „Nicht die üblichen Schönheiten, keine von beiden. Du wirst sie nicht dabei ertappen, dass sie ihre Verehrer gegeneinander ausspielen, einfach so zum Spaß. Miss Faith ist süß und ruhig, und Miss Hope – ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das in dem azurblauen Kleid ist –, sie ist sehr lebhaft und charmant, immer lustig und gut gelaunt. Aber das kannst du ja selber sehen.“
„Allerdings.“ Sebastians Stimme war rau von der Anstrengung, die es ihn kostete, unbeteiligt zu klingen. „Nur einen Augenblick lang war meine Aufmerksamkeit erregt von der Art und Weise, wie sie tanzt. Ein gewisser … Überschwang.“
„Ah, ja. Überschwang“, erwiderte Giles, sofort wieder ernst. „Das stimmt. Da war entschieden Überschwang. Allerdings innerhalb der Grenzen des Anstands. Außerordentlich vernünftiger Überschwang. Kein bisschen frivol. Und ganz pflichtschuldig ausgeübt.“
„Lass das, Giles!“, knurrte Sebastian.
Sein Freund lachte nur. „Ich denke, du solltest sie kennenlernen. Diese Mädchen sind anders; sie heucheln keine Langeweile oder Abgeklärtheit wie die meisten anderen. Wenn sie etwas mögen, dann zeigen sie es auch.“
„Das sehe ich.2 Sebastian beobachtete, wie Miss Hope Merridew mit ansteckender Begeisterung die schwungvollen Bewegungen des schottischen Tanzes ausführte, bis jeder Mann in ihrer Reihe wie ein Idiot grinste.
„Nun denn. Wirklich erfrischend, wenn du mich fragst.“
Sebastian verzog das Gesicht und erklärte kühl: „Wenn du meinst. Ich sehe eine junge Frau, die sehr freizügig mit ihrem Lächeln ist – sie schenkt es allen Männern, egal ob jung oder alt. Ganz nach dem Geschmack der Gesellschaft.“ Er drehte sich um, unfähig, sie länger anzusehen. Ihm war klar, dass sein Freund ihn mit offenem Mund anstarrte, aber er musste hier weg. Sie war gefährlich. Das konnte er mit einem Blick erkennen. Sie war alles, was er nicht wollte – oder brauchte. Für seine Bedürfnisse war Lady Elinore die perfekte Gattin. Das Gefühl, seine Welt sei in ihren Grundfesten erschüttert, würde vergehen. Er musste weitermachen, seinen Atem wiederfinden und seinen Puls beruhigen. Der Versuchung widerstehen. Sich wieder seinem eigentlichen Ziel zuwenden.
„Bastian, nein. Das hast du falsch verstanden! Das habe ich nicht gemeint. Völlig respektable Mädchen mit gefälligen Manieren. Überhaupt nicht …“
Sebastian hob seine Hand. „Ich wollte ihre Respektabilität nicht anzweifeln, Giles. Aber ich bin hier, um Lady Elinore den Hof zu machen. An verhätschelten jungen Damen habe ich nicht das geringste Interesse. Lady Elinore ist reifer und verantwortungsbewusster, als Miss Merridew es je sein könnte. Gehen wir jetzt weiter? Ich dachte, du wolltest dir noch die anderen jungen Damen im Angebot heute Abend ansehen.“ Die Antwort seines Freundes wartete er gar nicht ab, sondern begann, durch den Raum zu schlendern, atmete langsam und gleichmäßig und zwang seinen rasenden Puls zur Ruhe.
Wie erwartet, schluckte Giles den Köder. „Im Angebot?“ Er zuckte übertrieben zusammen und folgte Sebastian, wobei er ihm mit gequälter Stimme erklärte: „Ich kann mit deiner fehlenden Raffinesse vielleicht leben – obwohl ich mir verflucht sicher bin, dass du so raffiniert sein kannst, wie du nur willst, wenn es dir in den Kram passt –, aber ehrlich, Bastian: im Angebot? Das ist ja fast schon vulgär. Und während es dir vielleicht egal ist, wenn du dich der Welt als ungehobelter Klotz präsentierst, könntest du schon ein wenig Rücksicht auf mich nehmen.“
Sebastian hob sarkastisch eine Augenbraue.
Giles fuhr fort: „Ich stehe in dem Ruf, Charme zu besitzen, Raffinesse, Anmut, Feinsinn und …“
„Bescheidenheit.“
„Das auch. Und ich schätze diesen meinen Ruf sehr.“
„Ah, gut, mit dieser Anmut und Tugend bis in die Fingerspitzen wird deine unerklärliche Freundschaft mit einem ungehobelten Klotz aus dem Norden höchstens als Zeichen von Charakterstärke angesehen.“
Giles lachte, fügte aber nüchtern hinzu: „Das meine ich ernst, Bastian. Du musst deine unverblümte Sprache zügeln. Sonst bringst du andere überflüssigerweise gegen dich auf. Es wird bereits über dich geredet. Darüber, woher du kommst, man spekuliert über deinen Hintergrund und so weiter.“
Sebastian bedachte ihn mit einem unergründlichen Blick. „Die Menschen werden immer … reden. Das Geschwätz der Gelangweilten bedeutet mir nichts.“ Er hielt den Kopf schräg. „Beginnt da nicht gerade der Kotillon? Hattest du nicht Lady Elinore aufgefordert?“
Giles fluchte leise und eilte über die Tanzfläche dorthin, wo Lady Elinore allein stand, eine kleine, graue Bohnenstange von Frau. Beinahe hätte Sebastian gelächelt, während er beobachtete, wie das ungleiche Paar sich zum Tanz aufstellte: Giles in seiner makellos eleganten Abendkleidung ganz geschmeidige Anmut und Charme, und Lady Elinore in ihrem formlosen grauen Kleid, kantig, frostig und steif.
Er schlenderte weiter, schaute seinem Freund zu, wie er sich bemühte, mit Lady Elinore eine Unterhaltung zu führen, während sie tanzten. Ohne nennenswerten Erfolg. Sebastian nahm es erfreut zur Kenntnis. Eine geschwätzige Frau war ermüdend.
Drei Tänze noch bis zum Supper. Seine Miene wurde immer finsterer von der Anstrengung, seinen Blick nicht wieder zu dem Mädchen in dem azurblauen Ballkleid zurückkehren zu lassen.
„Mrs. Jenner, wer ist dieser Mann?“ Hope Merridew stieß ihre Anstandsdame an, eine modisch gekleidete Dame mittleren Alters.
Hope hatte ihn während des letzten Teils des schottischen Reels bemerkt. Seinen Blick hatte sie auf sich gespürt wie eine Berührung, mit einer Intensität, die sie erschauern ließ.
Groß und kräftig gebaut, wirkte er hart und rau. Sie war unter der gestrengen Vormundschaft ihres großen, gewalttätigen und wahnsinnigen Großvaters aufgewachsen; nie würde sie sich leichtfertig in die Gewalt eines solchen Mannes begeben. Sie zog Eleganz roher Körperkraft vor.
Sie erschauerte erneut. Nicht, dass sie Angst hatte – sie besaß inzwischen mehr Erfahrung und Selbstvertrauen, seit sie und ihre Schwestern der brutalen Herrschaft ihres Großvaters entkommen waren, und sie ließ sich nicht mehr leicht einschüchtern. Aber da war etwas … Besonderes in der Art und Weise, wie er sie anstarrte.
Seit ihrer Ankunft in London hatte sich Hope daran gewöhnt, die Blicke auf sich zu ziehen, sogar angestarrt zu werden. Die Leute fanden Zwillinge faszinierend; sie schauten sie immer an und verglichen sie, um die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zu entdecken. Hope hatte die ursprünglich dabei empfundene Verlegenheit überwunden, aber ihre Zwillingsschwester Faith fand es oft noch unangenehm.
Aber dies hier fühlte sich irgendwie anders an. Als schaute er nicht sie beide an, sondern nur sie.
Er beugte sich vor und sagte etwas zu Giles Bemerton. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Mr. Bemerton, der Salonlöwe schlechthin, war schlank und elegant und von goldener Schönheit. Sein Freund, der hochgewachsene, geheimnisvolle Fremde, erinnerte eher an einen Raubvogel und besaß eine düstere Eindringlichkeit.
Der Schöne … und das Biest. Nicht, dass er bestialisch war, aber das Leben hatte Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen; selbst aus der Entfernung noch konnte sie sehen, dass seine Nase mindestens einmal gebrochen worden war. Aber nicht sein ernstes, dunkles Äußeres fand sie so fesselnd, sondern dass er sich mit der kühnen Gleichgültigkeit eines Kriegerfürsten in zivilisierten Gewässern bewegte. Nicht arrogant, eher mit ruhiger Selbstsicherheit.
Mr. Bemerton war da viel eher Hopes Stil: unbekümmert, charmant und amüsant, immer vertraut mit den neuesten Gerüchten.
Die beiden Männer schlenderten weiter, und Hope bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, deren Blicke dem hochgewachsenen Fremden folgten. Sie beobachtete, wie die zwei sich kurz trennten, als sie um eine Gruppe junger Debütantinnen herumgingen. Das Geplapper der jungen Mädchen erstarb, und jeder der kunstvoll frisierten Köpfe drehte sich nach ihm um.
„Wissen Sie, wer das ist?“, fragte sie ihre Anstandsdame erneut.
„Hm? Wer, meine Liebe?“ Mrs. Jenner schaute sich suchend um.
„Der hochgewachsene Herr dort drüben. Er ist eher für eine Beerdigung gekleidet als einen Ball und schreitet mit finster gerunzelter Stirn durch den Saal. Ich glaube nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen habe.“ Das hatte sie auf keinen Fall. Wer könnte einen Mann wie ihn vergessen?
„Welchen Gentleman meinen Sie?“ Mrs. Jenner hob ihr Lorgnon. „Beerdigung, sagen Sie? Die Hälfte der jungen Männer zieht sich heute wie für eine Beerdigung statt für einen Ball an. Zu meiner Zeit kleidete man sich prächtig wie Pfauen, in Satinhosen und kunstvoll bestickten Westen – ach du meine Güte, der Mann!“ Mrs. Jenner zuckte leicht zusammen, als sie dem Blick ihres Schützlings gefolgt war. „Dieser grässliche Junge Giles Bemerton führt den Kerl in die besten Kreise ein. Für alle Andeutungen, es zu unterlassen, ist er taub – da stellt er sich stur.“
„Warum sollte Mr. Bemerton ihn denn nicht überall vorstellen?“, erkundigte sich Hope interessiert.
„Er hat Schultern wie ein gewöhnlicher Hafenarbeiter!“ Mrs. Jenner rümpfte die Nase. „Keine Überraschung, bedenkt man, wo er herkommt.“
Als merkte er, dass er das Thema ihres Gesprächs war, wandte er den Kopf und schaute sie geradewegs an. Er schaute Hope an. Nicht sie und ihre Zwillingsschwester. Er sah sich nicht im Raum um, sondern einfach nur zu Hope. Der Blick, den er ihr zuwarf, war unmissverständlich. In ihm loderte Verlangen. Verlangen nach Hope.
Unfähig, den Bann seines Blickes zu brechen, spürte Hope ein Prickeln in ihrem Körper.
„Schauen Sie weg, meine Lieben“, verlangte Mrs. Jenner scharf. „Der Kerl hat im Ballsaal einer Dame nichts verloren. Und für zwei schöne, unverheiratete junge Mädchen ist er erst recht nichts.“ Damit drehte sie sich um und entfernte sich, ihre Schützlinge im Gefolge.
Faith zwinkerte ihrer Schwester zu, während sie zu einem ruhigen Alkoven geführt wurden, aber Hope war nicht in der Verfassung zurückzuzwinkern.
Der kurze, wortlose Austausch hatte sie erschüttert wie selten etwas. Er streifte durch den Saal wie jemand, der sich seines Platzes in der Welt sicher war, gleichgültig seiner Umgebung gegenüber. Als er hingegen Hope angesehen hatte, hatte sie Hunger in seinen Augen entdeckt. Sehnsucht, die ihr galt.
Es berührte etwas in ihr, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es besaß. Am liebsten wollte sie zurück in den Ballsaal gehen, sich vor ihn stellen und seine Hand nehmen. Sie wollte ihm in die Augen sehen und seine Stimme hören.
War das der Donnerschlag, von dem sie immer geträumt hatte? Das konnte nicht sein. Das Schicksal wäre nicht so grausam. Sie wollte keinen großen, hart aussehenden Mann, einen, der sie an ihren Großvater erinnerte!
Nachdem sie Sitzplätze gefunden hatte, ließ Hope sich dankbar nieder. Ihre Knie zitterten. Mrs. Jenner schickte die in der Nähe wartenden jungen Herren um Gläser mit Ratafia und danach ihrer Wege. „Lassen Sie uns bitte einen Moment allein, meine Herren“, verlangte sie. „Die Mädchen und ich müssen wieder zu Atem kommen.“ Wie eine Schar neugieriger Gänse scheuchte sie die Bewunderer ihrer Schützlinge fort.
Von ihrem Platz im Alkoven aus beobachtete Hope ihn. Seine Größe machte es leicht, ihn in dem Gewühl zu verfolgen. Mr. Bemerton grüßte Bekannte hier und da, stellte seinen Freund vor, der seinerseits immer nur wenig zu erwidern schien und dann mit dem Anschein kaum gezügelter Ungeduld wartete, bis sein Freund weiterging.
Einmal hatte sie einen Tiger in einem Käfig gesehen, der erst kürzlich im Tower eingetroffen und genauso auf und ab geschritten war, ungeduldig mit seinem Schwanz schlug und sich keinen Deut um die Zuschauer draußen kümmerte.
Er sagte etwas mit gerunzelter Stirn zu Mr. Bemerton, der den Kopf in den Nacken warf und lachte. Der Tigerausdruck verschwand, an seine Stelle trat ironische Belustigung. Er war jünger, als sie zunächst angenommen hatte. Ungefähr genauso alt wie Giles Bemerton, entschied sie nun; noch nicht dreißig. Merkwürdig, dass er zuerst älter gewirkt hatte, als bedrückte ihn etwas.
Eine interessante Freundschaft, dachte Hope. Sie kannte Mr. Bemerton nicht sehr gut, aber sie hatte ihn immer für unbeschwert gehalten, einen unterhaltsamen Plauderer, wie Mrs. Jenner es ausdrücken würde, und ein bisschen einen Frauenhelden. Nie hätte sie gedacht, dass er mit jemandem befreundet sein könnte, der so grimmig und eindringlich wirkte.
Während sie an ihren Getränken nippten, bemerkte Hope beiläufig: „Mrs. Jenner, Sie müssen mir das erklären. Wer ist er? Ich gestehe, meine Neugier ist geweckt. Er wirkt in dieser Gesellschaft fehl am Platze, aber kümmert ihn das? Nein, ihn nicht.“
Mrs. Jenner rümpfte wieder die Nase, zögerte, ehe sie mit vornehmer Entrüstung erklärte: „Er ist ein Pilz.“
Hope musste unwillkürlich lachen. „Ein ziemlich großer Pilz, möchte man meinen. Er muss sechs Fuß groß sein.“
„Pah! Sie wissen, was ich meine – er ist ein Parvenü, ein Neureicher, ein Emporkömmling. Mehr noch, er ist jemand, der einfach nicht in den Salon einer Dame gehört. Giles Bemerton verdient eine Tracht Prügel – der arme Junge! Der Teufel muss ihn irgendwie in der Hand haben. Es gibt keine andere Erklärung. Giles’ Mutter ist doch über jeden Zweifel erhaben.“
„Wirklich?“, hauchte Faith fasziniert. „Sie können doch nicht meinen, dass er Mr. Bemerton erpresst, ihn mitzunehmen und überall vorzustellen?“
Verdrossen zuckte Mrs. Jenner mit den Achseln. „Woher soll ich die schaurigen Einzelheiten wissen? Aber irgendetwas muss es sein – Spielschulden oder so etwas –, das sage ich Ihnen.“
„Ich wäre mir nicht so sicher.“ Hope beobachtete die beiden Männer nachdenklich. Zwischen ihnen bestand aufrichtige Freundschaft, da war sie sich sicher. Und während der hochgewachsene Mann aussah, als gäbe er keinen Deut darum, ob er das Gesetz brach, war er doch zu … irgendwie zu groß, um sich zu Erpressung herabzulassen. Erpressung war die Waffe der Schwachen. Und dieser Mann erweckte nicht den Eindruck, als besäße er auch nur die kleinste Schwäche.
Für einen Mann, der sich angeblich der Gesellschaft aufdrängte, gab er sich erstaunlich wenig Mühe, sich beliebt zu machen. Parvenüs versuchten, sich einzuschmeicheln. Soweit Hope es jedoch sehen konnte, unternahm dieser Mann nicht den kleinsten Versuch, jemandem zu gefallen oder zu schmeicheln. Es sei denn, er glaubte, finster die Stirn zu runzeln und gleichzeitig gelangweilt und ungeduldig auszusehen, sei charmant, dachte sie amüsiert.
„Wie, sagten Sie, ist sein Name?“
„Den habe ich nicht gesagt.“ Mrs. Jenner nahm einen Schluck von ihrem Ratafia. „Ist der Ballsaal heute Abend nicht überaus geschmackvoll dekoriert?“
„Ja, sehr geschmackvoll“, stimmte ihr Hope zu. „Und sein Name ist …?“ Sie fand die Entschlossenheit ihrer Anstandsdame, sie zu schützen, ausgesprochen lästig. Hope wusste um Großonkel Oswalds Wunsch, dass Faith und sie eine ausgezeichnete Verbindung eingingen – am besten mit einem Duke oder einem Marquis –, aber dies hier war immerhin ihre zweite Saison, sie waren keine jungen Mädchen mehr, die vor Unbill und unschönen Wahrheiten geschützt werden mussten.
Mrs. Jenner nahm ihren Fächer und fächerte sich in einem Anflug von Verzweiflung frische Luft zu. „Natürlich ist es von den Framptons wirklich nett, so einen gut besuchten Ball zu veranstalten, aber ich persönlich finde es hier ein wenig zu warm.“
„Ja, sehr warm“, pflichtete ihr Hope liebenswürdig bei, „aber der kühle Luftzug von den Fenstern her ist doch erfrischend, nicht wahr? Wissen Sie, ich kann seinen Namen auch von jemand anderem in Erfahrung bringen. Ich bin sicher, wenigstens ein Dutzend Leute wären nur zu froh, mich zu informieren. Die gute Gesellschaft hat so eine bedauerliche Vorliebe für Klatsch.“
„Ausgesprochen verwerflich“, erwiderte Mrs. Jenner matt. „Na gut, er heißt Reyne. Mr. Sebastian Reyne.“
Sebastian Reyne. Das passte zu ihm. Groß, dunkel und irgendwie … geheimnisvoll. „Und weiter?“, hakte Hope nach.
Mrs. Jenner verdrehte die Augen. „Er ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, hat jede Menge Geld – allerdings ist die Quelle seines Reichtums … trübe.“
„Also hat er keine Familie?“
Mrs. Jenner schürzte die Lippen. „Was das angeht, so sind die Reynes durchaus bekannt und angesehen, aber sie erkennen ihn nicht an.“
Hope zog die Augenbrauen zusammen. „Meinen Sie, er ist illegitim? Wenn das stimmt, dann ist es ein unglücklicher Umstand, aber ich begreife nicht, warum man ausgerechnet ihm daraus einen Vorwurf machen kann. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Leuten, von denen wir wissen, dass sie nicht die wahren Kinder ihrer Väter sind – das ist ein offenes Geheimnis.“
Mrs. Jenner war entsetzt. „Pst! Sie dürfen noch nicht einmal daran denken, Mitglieder der guten Gesellschaft mit ihm zu vergleichen. Ich wollte nur sagen, dass die Reynes ihn nicht kennen. Jeder kann einen bestimmten Namen benutzen. Ob er auch das Recht dazu besitzt, steht auf einem anderen Blatt.“
„Warum ist er dann unerwünscht?“, fragte ihre Zwillingsschwester. „Er schaut unwirsch aus, und sein finsteres Stirnrunzeln ist ziemlich einschüchternd. Meinen Sie das?“
Unwirsch war etwas übertrieben, dachte Hope. Einschüchternd dagegen traf zu. Er schaute sie an, als wollte er am liebsten quer durch den Saal zu ihr laufen, sie sich über die Schulter werfen und forttragen.
Sie überlegte flüchtig, was für ein Gefühl es wohl wäre, wenn er das täte. Es würde ihr nicht gefallen, entschied sie.
Mrs. Jenner schüttelte den Kopf. „Meine Meinung von ihm beruht nicht auf seinem Aussehen – obwohl ich Ihnen recht geben muss, meine Liebe. Er ist ausgesprochen hässlich.“
„Hässlich!“, entfuhr es Hope unwillkürlich. „Ich finde ihn überhaupt nicht hässlich. Er sieht streng aus, sicher, aber da ist auch eine gewisse … männliche Stärke, die auf manche vielleicht anziehend wirkt.“ Sie fing die überraschten Blicke ihrer Schwester und ihrer Anstandsdame auf und brach ab, wurde vor Verlegenheit rot. „Ich nicht! Du weißt nur zu gut, Faith, dass er nicht nach meinem Geschmack ist. Aber du kannst auch nicht abstreiten, wie interessant er ist.“
Interessant war eine Untertreibung. Und wenn er ihr ins Gesicht sah, dann raubte ihr der Ausdruck in seinen Augen den Atem.
Ein Hunger, wie sie ihn nie zuvor bei einem Mann gesehen hatte.
Sie trank einen Schluck von ihrem Ratafia und hoffte, niemandem würde das leichte Beben ihrer Finger auffallen. Es war sehr verwirrend.
„Mrs. Jenner“, begann Faith beruhigend, „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Hope könnte sich nie für einen Mann wie ihn interessieren.“
Hope schaute ihre Zwillingsschwester erstaunt an, und Mrs. Jenner erkundigte sich: „Warum?“
Faith lächelte. „Das ist doch offensichtlich. Gib ihm vierzig Jahre dazu, und wen siehst du dann? Großvater!“
Hope blinzelte. „Er sieht doch überhaupt nicht wie Großvater aus.“
„Doch, ein bisschen schon. Und von seinem Körperbau her ist er genau das, was du und ich am meisten verabscheuen.“
Darauf konnte Hope nichts erwidern. Es stimmte. Oder hatte gestimmt …
Trotz Faith’ Erklärung beobachtete Mrs. Jenner Hope nach wie vor wie ein Habicht. Von der anderen Seite des Saales schaute der Mann sie an. Auch wie ein Habicht, nur ein viel größerer, gefährlicherer. Die Versuchung war zu groß.
Sie wartete, bis er das nächste Mal zu ihr blickte. Genau in dem Moment bewegte sie ihren Fächer herausfordernd, nicht kokett und auch nicht offen einladend, aber auf eine Art und Weise, die ihm verriet, dass sie sich seiner nicht unbewusst war.
Jäh wandte er sich ab, sein Stirnrunzeln finsterer als zuvor. Hope lächelte insgeheim. Der Tiger billigte Flirten also nicht. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr das.
Mrs. Jenner berührte sie warnend am Arm. „Spielen Sie bloß nicht mit dem Feuer, Miss. Dieser Mann ist gefährlich. Die Gerüchte behaupten, er sei auf der Suche nach einer Gattin. Die arme Frau tut mir jetzt schon leid.“
„Warum?“, fragte Hope, beunruhigt über die vehemente Ablehnung ihrer Anstandsdame. „Warum tut sie Ihnen leid?“
Gerade, als Mrs. Jenner zu einer Antwort ansetzte, kamen zwei junge Herren, um die Zwillinge zum Kotillon zu holen, und der Moment war vorüber.
Während Hope die vertraute Schrittfolge ausführte, spürte sie wieder seine Augen auf sich. Die Haut in ihrem Nacken begann zu prickeln, sie war sich ihrer Umgebung bewusster, ihre Sinne geschärft. Das Gefühl hielt an, bis der Tanz zu Ende ging. Fast, als könnte sie den Atem eines anderen im Genick spüren.
Warum sollte Mrs. Jenner sie warnen?
Er sah wirklich gefährlich aus. Nur galten eine ganze Reihe der hier anwesenden Herren als gefährlich für unverheiratete junge Damen: stadtbekannte Frauenhelden, Mitgiftjäger, Spieler, Trunkenbolde und sonstige zwielichtige Gestalten. Hope und Faith wussten alles über sie.
Nach der Hochzeit ihrer Schwestern Prudence und Charity hatte sich Großonkel Oswald entschlossen, dass er jemanden brauchte, der die Zwillinge begleitete, während er sich darauf konzentrierte, Lady Augusta Montigua del Fuego den Hof zu machen. Er hatte Mrs. Jenner angestellt, die Witwe eines entfernten Cousins. In vielerlei Hinsicht war sie albern, aber sie war auch eine Quelle nützlicher Informationen. Großonkel Oswald, Lady Gussie und Mrs. Jenner hatten die Zwillinge über alle Stolperfallen und Klippen der Londoner Gesellschaft unterrichtet. Aber es gab eine Reihe von Dingen, die sie für die Ohren von jungen Damen für ungeeignet hielten. Vielleicht war dies eine dieser Sachen. Hope runzelte die Stirn. Es war lästig, wie ein Kind behandelt zu werden.
Der Tanz zum Supper stand unmittelbar bevor. Sie schaute sich im Saal um. Seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Sie reckte den Hals, um es zu sehen, als er sich gerade in Bewegung setzte. Wie ein dunkles Schwert bahnte er sich einen Weg durch das bunte Gedränge.
Geradewegs zu Lady Elinore.
Sie blinzelte überrascht. Lady Elinore? Wer hätte gedacht, dass ein solcher Mann Interesse an einer bekennenden alten Jungfer wie Lady Elinore hätte? Hope zuckte mit den Achseln und ließ sich von ihrem Partner auf die Tanzfläche bringen.
Mr. Reyne tanzte mit Lady Elinore und begleitete sie anschließend zum Supper. Sie saßen mit Mr. Bemerton und seiner Partnerin zusammen, einer üppigen Dame in einem grünen Seidenkleid. Umgeben von Familie und Freunden, beobachtete Hope sie heimlich. Mr. Bemerton und die Dame in Grün bestritten den Hauptteil der Unterhaltung.
Warum bemitleidete Mrs. Jenner seine zukünftige Gattin? Sie wollte fragen, doch der Tisch war voll, und es ergab sich keine Gelegenheit für ein vertraulicheres Gespräch.
Nach dem Supper tanzte sie mehrmals, war aber stiller. Daran nahmen ihre Partner keinen Anstoß, denn sie waren nur zu glücklich, sie mit Geschichten ihrer Abenteuer zu ergötzen. Hope hörte mit halbem Ohr zu und suchte den Saal währenddessen mit den Augen nach einem großen, dunklen Mann ab.
Als der Abend sich allmählich seinem Ende zuneigte, ärgerte sie sich über sich selbst. Wie konnte ein einziger Mann sie so beschäftigen? Noch dazu einer, der sich nach den anfänglich bohrenden Blicken noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sich ihr vorstellen zu lassen? Sie war hier, um sich zu vergnügen, und das würde sie auch. An den verflixten Mr. Reyne würde sie keinen weiteren Gedanken verschwenden. Es gab schließlich genug andere, und gleich würde der letzte Walzer beginnen.
Der letzte Walzer eines Abends war für Hope ein besonderer Tanz. Eines Nachts vor vielen Jahren, als sie in tiefster Verzweiflung lebten, hatten Hope und ihre Zwillingsschwester einen herrlichen Traum gehabt, einen Traum von Liebe und Schicksal, den ihnen, da waren sie beide sicher, ihre Mutter gesandt hatte. Sie waren beide mitten in der Nacht aufgewacht, und als sie ihre Träume verglichen, war es beinahe unheimlich: die Ähnlichkeit und die kleinen, aber wichtigen Unterschiede …
In Hopes Traum stand sie im klaren, kühlen Mondlicht, umgeben von bedrohlichen Schatten. Sie wartete, allein und schrecklich einsam. Plötzlich trat aus den Schatten ein Mann. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er nahm sie in die Arme, und dann tanzten sie. Die Schatten waren vertrieben, und Hope war nie wieder einsam oder unglücklich.
Faith’ Traum war fast genauso, außer dass der Mann in ihrem Traum nicht tanzte. Er musizierte …
Der Traum war so eindringlich und machtvoll gewesen, dass keine der beiden ihn je vergessen konnte. Er hatte die Hoffnung genährt in den schlimmen Jahren mit Großvater, und er bestimmte ihr Tun während ihrer ersten und dann auch ihrer zweiten Saison in London. Sie hatten viele Anträge erhalten, aber keinen davon angenommen. Ihre Traummänner waren noch nicht erschienen.
Vom Beginn der ersten Saison an hatte Hope sich stets geweigert, den letzten Walzer auf ihrer Tanzkarte zu vergeben, sodass sie sich bis zum letzten Moment die Entscheidung offenhielt. Sie wusste nicht, wer er sein würde oder wie er aussah, aber der düstere, schneidige Mann ihrer Vorstellung würde sich nicht zahm in ihre Tanzkarte eintragen und warten, bis er an der Reihe war. Daher hielt sie diesen einen Walzer für ihn frei, weil er eines Tages kommen würde – beim Walzer würde sie ihn erkennen. Es würde der perfekte Walzer sein, geradezu magisch.
Hopes Gewohnheit war allgemein bekannt, nur der Grund dafür nicht. So kam es, dass am Ende jedes Abends eine Gruppe Gentlemen sich in ihrer Nähe sammelte in der Hoffnung, ausgewählt zu werden. Sie entschied sich niemals zweimal für denselben Mann.