Eine geheimnisvolle Lady - Anne Gracie - E-Book

Eine geheimnisvolle Lady E-Book

Anne Gracie

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Beschreibung

Ein Ex-Offizier auf der Flucht und eine schöne Lady, deren Maskerade aufzufliegen droht …
Band 3 der prickelnden Regency Romance-Reihe von Erfolgsautorin Anne Gracie

Rafe Ramsey, der Sohn des Earl of Axerbridge, liebt die Frauen und seinen ausschweifenden Lebensstil, doch nun droht ihm eine Vernunfts-Ehe. Um diese noch etwas aufzuschieben sucht er eine Ausrede und findet sie in der Suche nach der verschollenen Enkelin einer Bekannten. Zu seiner Freude führt ihn sein Abenteuer nach Kairo und zu der schönen und temperamentvollen Ayisha …

Um in Kairo unterzutauchen hat Ayisha einen neuen Namen angenommen. Doch wenn sogar dieser so attraktive wie aufdringliche Engländer es schafft, ihr nachzustellen, schaffen das auch andere und sie kann nicht nach England zurückkehren. Denn im Gegensatz zu Rafe ist Ayisha vor etwas viel schlimmerem auf der Flucht als einer ungewollten Verlobung …

Weitere Titel dieser Reihe
Ein Schurke zur rechten Zeit (ISBN: 9783986371340)
Im Herzen ein Earl (ISBN: 9783986371364)

Erste Leser:innenstimmen
„Sprüht nur so vor Leidenschaft und herzerwärmender Romantik.“
„Mit Ägypten wurde ein sehr spannender Schauplatz für eine ebenso spannende Liebesgeschichte gewählt.“
„Eine unvergleichlich fesselnde historische Liebesroman-Reihe!“
„Anne Gracie schreibt einfach die wunderbarsten Charaktere und Dialoge.“

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Seitenzahl: 560

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Über dieses E-Book

Rafe Ramsey, der Sohn des Earl of Axerbridge, liebt die Frauen und seinen ausschweifenden Lebensstil, doch nun droht ihm eine Vernunfts-Ehe. Um diese noch etwas aufzuschieben sucht er eine Ausrede und findet sie in der Suche nach der verschollenen Enkelin einer Bekannten. Zu seiner Freude führt ihn sein Abenteuer nach Kairo und zu der schönen und temperamentvollen Ayisha …

Um in Kairo unterzutauchen hat Ayisha einen neuen Namen angenommen. Doch wenn sogar dieser so attraktive wie aufdringliche Engländer es schafft, ihr nachzustellen, schaffen das auch andere und sie kann nicht nach England zurückkehren. Denn im Gegensatz zu Rafe ist Ayisha vor etwas viel schlimmerem auf der Flucht als einer ungewollten Verlobung …

Impressum

Erstausgabe 2009 Überarbeitete Neuausgabe Dezember 2021

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-137-1

Copyright © 2009 by Anne Gracie Titel des englischen Originals: To Catch a Bride

Anne Gracie: Gefährliche Maskerade einer Lady. Übersetzt von Trudi Perlinger.   © für die deutsche Übersetzung © CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition was published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © 2015, CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2015 bei CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg erschienenen Titels Gefährliche Maskerade einer Lady (ISBN: 978-0-42523-022-0).

Übersetzt von: Trudi Perlinger Covergestaltung: ARTC.ore Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Andrei Nekrassov, © kamin Jaroensuk, © Ironika PeriodImages.com: © Maria Chronis, VJ Dunraven Productions Korrektorat: Katharina Pomorski

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Eine geheimnisvolle Lady

Prolog

England

Dezember 1817

Das Geräusch einer laut knallenden Peitsche zerschnitt die Idylle der ruhigen Winterlandschaft. Zwei offene Karriolen, die von je zwei Pferden gezogen wurden, preschten mit donnerndem Hufgeklapper heran. Die Männer darin lieferten sich ein halsbrecherisches Kopf-an-Kopf-Rennen. Ohne ihr Tempo zu drosseln hielten sie auf die Wegbiegung zu. Die Straße war schmal, die Kurve scharf, aber keiner der Männer verzichtete auf die Führung.

Die Pferde galoppierten mit gestreckten Hälsen. Ihr Fell war schweißnass und um ihren schaumbedeckten Nüstern bildeten sich frostige Atemwolken.

In der Kurve streiften die Räder der bordeauxrot-silbernen Karriole die des schwarz-gelben Wagens.

„Um Himmels willen, Rafe! Fahr vorsichtiger! Nimm wenigstens ein bisschen Rücksicht auf meinen neuen Wagen“, brüllte Luke Ripton, der im schwarz-gelben Zweispänner saß.

Statt zu antworten, knallte Rafe Ramsey die Peitsche knapp über den Flanken seiner Pferde.

„Du fährst wie ein Wahnsinniger, Mann.“

„Ich muss zu einer Hochzeit.“ Rafe knallte erneut mit der Peitsche und trieb seine Pferde noch schneller an.

„Ich dachte, du wolltest lebend dort ankommen!“, rief Luke atemlos.

Rafe warf seinem Freund einen vernichtenden Seitenblick zu. Beim Anblick dieser eiskalten blauen Augen ließ Luke seinen Freund nur zu gerne vorbeiziehen. Er und Rafe lieferten sich solche Wettrennen oft aus purer Abenteuerlust.

Aber in der Stimmung, in der sich Rafe heute befand, waren alle Mühen vergebens.

Luke wusste, dass es nicht an ihm lag. Rafe war bereits schlechtgelaunt am Treffpunkt erschienen. Nichts hatte ihn bisher aufheitern können. Rafe reagierte auf jede witzige Bemerkung kühl und mühsam beherrscht.

Luke kannte diese Seite an seinem Freund. Er gab es auf, Rafe aufmuntern zu wollen. Sein alter Freund war im Grunde ein friedliebender Mensch, doch gelegentlich verfiel er in eine ganz düstere Stimmung, in der man ihn besser zufrieden ließ.

Schuld daran war wie immer Axebridge.

Rafe ließ seine Wut nur selten an seinen Freunden aus. Sein Zorn schwelte eher im Verborgenen und zerfraß Rafe von innen. Im Krieg hatte er diesen Zorn ausleben können. Nun waren riskante Wagenrennen sein wirksamstes Ventil.

In der Hoffnung, Rafes Zorn würde sich legen, hatte Luke seinen Freund heute noch härter gefordert. Sie waren auf dem Weg zu Harrys Hochzeit und Luke hatte gehofft, dort mit seinem charmanten, friedfertigen Freund aufzukreuzen.

Stattdessen verschanzte sich Rafe hinter einem eiskalten Panzer der Wut. In seinem Blick lag eine seltsame Leere und mit seinen Gedanken war er in irgendwelchen fremden Sphären. Luke fuhr langsamer, um seinen Freund wachzurütteln, der wie ein Besessener voranpreschte.

Die Einfahrt zu Alverleigh tauchte vor ihnen auf. In der hohen Steinmauer vor dem Park war ein imposantes schmiedeeisernes Tor eingelassen, das zu beiden Seiten von zwei mächtigen Säulen flankiert wurde. Heute standen die Torflügel offen, denn der Earl erwartete zahlreiche Gäste zur Vermählung seines Halbruders Harry mit Lady Helen Freymore.

Rafe raste mit seinem offenen Zweispänner so schnell die abschüssige Straße hinab auf die Tore zu, dass der leichte Wagen über die Schlaglöcher holperte und ins Schlingern geriet.

Er fährt viel zu schnell, dachte Luke. „Pass auf die vereisten Stellen auf“, schrie er.

Rafe reagierte nicht. Er war anscheinend vollkommen in seinen düsteren Gedanken versunken.

Plötzlich huschte ein kleines Tier direkt vor den Nasen der Pferde quer über die Straße. Ein Pferd erschrak und scheute. Es drängte sich tänzelnd an das zweite Pferd und brachte den Wagen dadurch ins Schleudern. Die Räder blockierten auf einer vereisten Stelle und schlitterten in einem weiten Bogen auf die Steinsäulen und Eisentore zu.

„Spring ab!“, brüllte Luke aus Leibeskräften. Er fürchtete, Rafe könnte im nächsten Moment gegen die Steinmauer prallen oder von einem Eisenpfahl aufgespießt werden.

Rafe jedoch zog mit einer Hand die Bremse an, nahm die Zügel kurz und zwang die erschrockenen Tiere wieder in seine Gewalt. Das Bremsmanöver verkürzte den Schleuderbogen, ohne Tempo herauszunehmen. Die Räder fanden noch immer keinen Halt auf dem Eis.

Rafe löste die Bremse und jagte sein Gespann waghalsig auf die Tore zu. Das Gewicht der schlitternden Kutsche zerrte die erschrockenen Pferde seitlich nach hinten.

Wieder knallte Rafe die Peitsche zischend durch die Luft. Die Tiere stürmten vorwärts. Luke hörte ein lautes Knirschen von Holz, das gegen Stein und Eisen ratschte. Die Kutsche schlingerte nun heftiger. Sie neigte sich gefährlich zur Seite und stand bald auf nur noch einem Rad. In der nächsten Sekunde würde sie seitlich kippen.

„Spring ab, du Narr, spring!“, brüllte Luke.

Rafe aber warf sich auf die andere Seite und lehnte sich weit aus dem Wagen, um mit seinem Körper ein Gegengewicht zu schaffen. Endlos lange Sekunden schwankte das Fahrzeug auf einem Rad und landete dann ächzend und quietschend auf beiden Rädern.

Rafe sah Luke über die Schulter hinweg an, tippte mit der Gerte grüßend an die Mütze und jagte seine schweißbedeckten Pferde die Auffahrt entlang.

Als Luke an den Stallungen eintraf, wies Rafe den Stallburschen bereits an, seine Pferde abzukühlen, tüchtig abzureiben und ihnen eine Extraportion Hafer zu geben.

„Du bist von Sinnen“, sagte Luke. Er sprang von seinem Zweispänner und warf einem zweiten Burschen die Zügel zu. „Du hättest dich umbringen können.“

Rafe verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. „Das hätte für einige Aufregung gesorgt und die Pläne der Erbfolge ruiniert.“

„Mit Sicherheit hätte es die Hochzeit von Harry und Nell ruiniert!“, entgegnete Luke scharf. „Mir ist die Erbfolge von Axebridge auch einerlei, aber hier bist du unter Freunden, also reiß dich zusammen!“

Rafe blinzelte verlegen. Allmählich wich das kalte Glitzern aus seinen Augen und er entspannte sich: „Du hast ja recht, Luke. An Harry und Nell habe ich nicht gedacht.“

„Du hast an gar nichts gedacht“, erwiderte Luke bitter.

Rafe sah seinen Freund forschend an und seufzte. „War ich so schlimm?“

Luke atmete erleichtert aus. „Schlimmer denn je. Ich glaube, wir brauchen einen Drink.“

„Einverstanden.“ Rafe löste den Knoten seines Seidenschals und streifte die Lederhandschuhe ab. „Du schuldest mir übrigens fünfhundert Pfund, weil ich gewonnen habe.“

„Ich weiß“, knurrte Luke. Er ging auf das Portal von Alverleigh zu. „So ungern ich es auch zugebe, aber dein Rennen eben war ein Meisterstück. Ich dachte, du krachst gegen die Steinquader. Alle Achtung, du hast Prachtpferde.“

„Sie vereinen Eleganz und Mut gepaart mit Feuer“, pflichtete Rafe ihm bei. „Wann findet die Trauung statt? Ich weiß nicht, ob ich im Moment Lust auf eine Hochzeit habe.“

„Du hast keine Wahl, also reiß dich zusammen“, warnte Luke.

Rafe lächelte fahl. „Keine Angst, ich tu es für Nell und Harry. Ihre Hochzeit ist ein Grund zum Feiern.“

Während sie miteinander sprachen, eilte ihnen ihr Freund Gabriel Renfrew entgegen, um sie zu begrüßen. Gabriel war der Bruder des Earls und Halbbruder des Bräutigams „Wie war eure Fahrt?“, fragt er.

„Grauenhaft“, antwortete Luke.

Gabriel zog fragend eine Augenbraue hoch. „Eure Wettrennen sind doch immer grauenhaft. Was war diesmal denn anders?“

Luke wies mit dem Kinn zu Rafe. „Er kommt gerade aus Axebridge.“

Gabe musterte Rafe. „Verstehe. Du hast den Ehevertrag unterschrieben, nehme ich an?“

Rafe schwieg, nur ein Muskel in seiner Wange zog sich gefährlich zusammen und zuckte.

„Ich glaube, wir brauchen einen Drink“, sagte Gabriel.

„Mehr als nur einen“, pflichtete Luke ihm bei. „Und schenk gut ein. Rafe hat es nötig.“

„Unsinn“, erwiderte Rafe kühl, „ich bin vollkommen ruhig.“

„Ich weiß, mein Junge“, sagte Gabriel. „Das ist ja das Problem.“

Wenige Stunden später saß Rafe auf der schmalen Kirchenbank und beobachtete seinen Freund Harry, der unruhig vor dem Altar auf und ab ging und unruhig auf seine Braut wartete.

Am Portal wurden nun Stimmen laut. Mehrere Frauen und Männer wisperten und tuschelten. Rafe wusste, was es zu bedeuten hatte. Die Braut betrat nun die Kirche. Harrys graue, sonst so traurige Augen leuchteten beim Anblick von Nell voller Liebe auf. Rafe senkte schnell den Blick.

Kurz darauf sprach Harry ruhig und überzeugt und voller Stolz das Gelübde, in dem er versprach, seine Braut zu lieben und zu ehren.

Gabriel erinnerte sich an seine eigene Hochzeit und sah Callie, die Prinzessin seines Herzens, verliebt an.

„Gelobe ich dir Treue in guten wie in schlechten Tagen … Ich will dich lieben und ehren …

… bis dass der Tod uns scheidet.“

Rafe spürte, wie ihm die Kälte bis ins Mark kroch.

Könnte er das jemals einer Frau versprechen? Auf jeden Fall nicht Lady Lavinia. Nicht nach allem, was er in Axebridge erfahren hatte.

Aber könnte er dieses Gelöbnis überhaupt jemals ablegen?

In Rafe war keine Liebe. In ihm war niemals Liebe gewesen.

Er war nicht wie sein Freund Gabriel, der die Liebe leicht genommen und genossen hatte, bis er Callie getroffen und sich unwiderruflich in sie verliebt hatte.

Er war auch nicht wie Harry, der seine wahre Liebe erst fand, nachdem eine Frau ihm das Herz gebrochen hatte. Harry wäre daran beinahe zugrunde gegangen. Und nun stand er vor dem Altar und sah seine Braut verklärt und selig an. Er war ein vollkommen anderer Mann.

Rafe hatte diese Gefühle früher nicht verstanden und verstand sie auch heute nicht.

Er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt und noch keine Sekunde seines Lebens so wahnsinnig verliebt gewesen. In seinem Alter würde ihm die Liebe auch nicht mehr begegnen.

Natürlich hatte auch er Frauen gehabt, aber nur unter der Voraussetzung, dass sich ihre Bindung auf rein körperliche Bedürfnisse beschränkte. Er behandelte seine Geliebten stets gut und zeigte sich bei der Trennung großzügig. Keine seiner Bettgefährtinnen hegte einen Groll gegen ihn, aber es war auch keiner je gelungen, seine Gefühlskälte zu durchdringen.

Im Krieg gegen Napoleon war diese Kälte noch gewachsen. Auf dem Schlachtfeld war es zweckmäßig, kühl und analytisch zu bleiben und sich nicht von Leidenschaft überwältigen zu lassen. Dadurch war es ihm gelungen, das Leid von sich fernzuhalten. Menschen konnten vor Kummer und Schmerz sterben.

Er hatte geglaubt, sich vollkommen unter Kontrolle zu haben. Er dachte, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte.

Doch dann war er wieder nach Hause gekommen. Genauer gesagt, er war nach Axebridge zurückgekehrt.

Sein Vater, der Earl of Axebridge, war inzwischen verstorben und Axebridge schien nicht länger der feindselige Ort seiner Kindheit zu sein. Da der jetzige Earl, sein ältester Bruder, in zehn Jahren seiner Ehe keine Nachkommen gezeugt hatte, kamen auf Rafe neue Aufgaben zu. Er sollte heiraten und die Erbfolge sichern. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er von der Familie gebraucht und war bereit, seine Pflicht zu erfüllen.

Sein Bruder hatte ihm sogar eine passende Braut gesucht. Rafe war zwar nicht in sie verliebt, aber er hatte selbst keine geeignete Frau gefunden und Lady Lavinia Fettiplace entstammte einer angesehenen Familie von bestem Ruf. Sie verfügte über eine exzellente Erziehung, brachte ein Vermögen mit in die Ehe und sie war ausgesprochen hübsch.

Das Arrangement sei durchaus annehmbar, hatte er sich hundertmal versichert.

Bis ihm sein Bruder an diesem Morgen die Bedingungen der Eheschließung eröffnet hatte. Der Earl hatte sie ohne Rücksprache mit Rafe mit Lady Lavinia verhandelt.

Rafe spürte, wie der Zorn erneut in ihm aufwallte, und kämpfte ihn rasch nieder. Dies hier war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit. Er war kein kleiner Junge mehr. Seine Familie konnte ihn nur verletzen, wenn er es zuließ.

Am Morgen nach der Hochzeit brach das junge Paar unter dem lauten Jubel der Gäste zu seiner Hochzeitsreise auf. Nell strahlte vor Glück und Harrys Augen leuchteten so selig, wie Rafe es noch nie zuvor gesehen hatte.

Kurz darauf reisten auch die Gäste ab, um noch rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach Hause zu kommen. Sie hofften darauf, dass sich das klare Wetter halten würde. Rafe und Luke, die es nicht besonders eilig hatten, zählten zu den letzten. Sie verabschiedeten sich vom Earl und begaben sich zu den Stallungen, um auf das Anspannen ihrer Karriolen zu warten.

„Ich verweigere dir jedes Wettrennen auf der Rückfahrt“, sagte Luke, während sie über den knirschenden Kiesweg gingen. Es war ein kalter klarer Morgen mit trockener Luft und leichtem Wind. Perfekte Bedingungen für ein Wettrennen.

Rafe nickte. „Wie du meinst.“

„Ich kenne dich“, hakte Luke weiter nach. „Unter dem Mantel deiner scheinbaren Gelassenheit brodelt eine unbändige Wut über etwas, was immer es auch sein mag.“

Rafe zuckte mit den Schultern. Er hätte seinem Freund alles Mögliche versprechen können, doch er schwieg. Kein Rennen der Welt würde ihn von dieser Demütigung befreien können. Und von diesem Verrat! Aber er wusste, was zu tun war.

Die Freunde sahen den Stallburschen bei der Arbeit zu, während sie auf ihre Zweispänner warteten und die aufsteigende Kälte mit den Füßen wegstampften.

„Willst du, dass ich dich nach Axebridge begleite?“, fragte Luke.

„Weihnachten steht vor der Tür“, entgegnete Rafe. „Willst du es nicht mit deiner Familie verbringen?“

„Mutter und die Mädchen hätten nichts dagegen.“ Luke war der einzige Sohn der Familie, seine Mutter war Witwe und all ihre Töchter bis auf die jüngste waren verheiratet. Luke wurde von seiner Mutter und seinen Schwestern vergöttert.

Rafe lächelte ihn an. „Du bist ein schlechter Lügner.“

„Hör zu“, sagte Luke. „Sie hätten nichts dagegen, wenn ich bei dir bliebe. Du weißt, wie gern dich meine Mutter und meine Schwestern haben.“

Rafe schüttelte den Kopf. „Nein. Bleib du Weihnachten nur bei deiner Familie und grüß alle herzlich von mir.“

„Dann komm mit mir und feiere mit uns. Ein schöneres Geschenk könntest du uns nicht machen.“

„Ich habe deiner Mutter bereits etwas geschickt“, winkte Rafe ab. Als Junge hatte er oft unbeschwerte Feiertage bei den Riptons verbracht, um den steifen Feierlichkeiten mit einem wesentlich älteren Bruder, den er kaum kannte, und einem Vater, der die Existenz seines jüngsten Sohnes kaum wahrzunehmen schien, zu entfliehen.

„Du bist ein Dickschädel“, stöhnte Luke. „Na schön, sei unglücklich, wenn du es so haben willst. Dann sehen wir uns nach Neujahr in Axebridge.“

„Ach ja, du sprichst den Hausball an.“

Luke sah fragend zu Rafe. „Du klingst verdächtig vage, Ramsey. Kriegst du etwa kalte Füße wegen deiner Verlobung mit Lady Lavinia?“

Rafe zuckte wieder mit den Schultern. „Der Hausball findet meines Wissens statt.“

„Na gut, dann sehen wir uns eben dort.“

„Ich werde wohl nicht unter den Gästen sein“, entgegnete Rafe. Er beobachtete kritisch, wie ein Stallbursche das Geschirr anlegte.

„Wie bitte? Was hast du vor?“

„Erinnerst du dich, neben wem ich gestern beim Dinner saß?“

Luke dachte angestrengt nach. „Neben einer älteren Dame, nicht wahr? Es war keine glückliche Wahl, wie ich fand, dich neben sie zu platzieren.“

„Das war Lady Cleeve, eine sehr reizende alte Dame. Sie hat mir eine sehr interessante Geschichte erzählt.“

Luke sah ihn verblüfft an. „Von was für einer Geschichte redest du?“

„Sie scheint ihre Enkelin zu vermissen.“

„Was heißt vermissen? Ist das Mädchen vielleicht mit dem Wildhüter durchgebrannt?“

„Nein, nichts dergleichen. Die alte Dame trauert seit mehr als zwölf Jahren um das Kind, weil man sie in dem Glauben gelassen hatte, es sei zusammen mit ihrer Mutter gestorben. Als vor sechs Jahren auch noch ihr Sohn verstarb, wähnte sich Lady Cleeve vollkommen allein auf der Welt.“

„Sehr traurig“, sagte Luke, „aber was hat das mit dir zu tun?“

„Vor ein paar Monaten nun ist Alaric Stretton bei Lady Cleeve aufgetaucht. Du weißt schon, dieser Künstler und Weltenbummler, der Bücher über seine Abenteuer in den fernen Ländern schreibt. Er scheint ein alter Freund der Familie zu sein. Lady Cleeve kennt ihn aus Indien.“

Luke sah seinen Freund fragend an. Er schien auf die Pointe zu warten.

„Stretton hat gegenüber Lady Cleeve behauptet, dass ihre Enkelin vor sechs Jahren noch am Leben und bei ihrem Vater war. Er zeigte ihr sogar eine Zeichnung des Mädchens. Die Kleine sieht darauf richtig rührend aus, Stretton ist ein verdammt guter Zeichner. Kurzum, Lady Cleeve glaubt nun, dass ihre Enkelin noch lebt, und sehnt sich danach, sie zu finden.“

„Das klingt nach ausgemachtem Unfug.“

„Wer weiß?“

„Und was hat das mit dir zu tun?“, fragte Luke. Dann runzelte er die Stirn und sah seinen Freund ahnungsvoll an. „Soll das etwa heißen, du lässt deinen eigenen Verlobungsball für diese Geschichte sausen?“

Rafe lächelte. Er wäre beinahe der Versuchung erlegen, seinem eigenen Ball grundlos fernzubleiben. Die Intriganten hätten es verdient, doch es war nicht seine Art. Stattdessen hatte er am Morgen einen höflichen, doch kühlen Brief an Lady Lavinia und einen gleichlautenden an seinen Bruder und seine Schwägerin verfasst, in dem er sein Bedauern zum Ausdruck brachte.

Luke hob fassungslos die Hände. „Willst du mir damit etwa sagen, dass du dich aufgrund der Zeichnung eines verrückten Abenteurers auf die Suche nach der verschollenen Enkelin einer verwirrten alten Dame begibst?“

Rafe erwiderte nichts. Sein Entschluss stand fest.

Luke ließ nicht locker. „Ich kenne deine Schwäche für alte Damen, aber.“ Rafe unterbrach seinen Freund.

„Lady Cleeve war eine Jugendfreundin meiner Großmutter. Sie haben ihr ganzes Leben miteinander korrespondiert.“

„Ach du lieber Gott, das ist es also.“ Luke stöhnte resigniert. „Und wo wurde diese geheimnisvolle Enkeltochter zuletzt gesehen?“

„In Ägypten.“

Luke sah Rafe entgeistert an. „Du willst für ein vollkommen sinnloses Unterfangen nach Ägypten reisen?“

Wieder lächelte Rafe.

Die Kutschen waren fahrbereit. Luke starrte den Freund entgeistert an. „Rafe Ramsey, du bist total verrückt.“

Rafe schüttelte den Kopf. „Nicht verrückt, mein Lieber, nur unendlich wütend.“

„Na, dann tu, was wir alle machen, wenn wir wütend sind“, erwiderte Luke aufgebracht. „Verprügle deinen Bruder, schlag mich zusammen, schlag was auch immer du willst kurz und klein! Das ist alles besser, als nach Ägypten abzuhauen.“

Rafe lächelte und schwieg.

1. Kapitel

Ägypten

1818

„Da ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe“, sagte Ali und wies mit seinem kleinen schmutzigen Zeigefinger nach vorne. „Er soll Ramses heißen, aus England kommen und ein Mädchen kaufen wollen. Sie sagen, er bezahlt mit Gold.“

Ramses? So wie der berühmte Pharao? Aus dem dunklen Schatten der schmalen Gasse heraus entdeckte Ayisha den Ausländer sofort, der die Männer auf dem Marktplatz ausfragte. Er überragte alle um einen Kopf.

Ramses war ein komischer Name für einen Engländer.

Er war nicht so wie all die anderen, die in der Vergangenheit hinter ihr her waren.

Dieser Mann hier war sauber.

Und er war schön. Er war keiner dieser glatten hübschen Jungen, doch dank seiner markanten, beinahe strengen Gesichtszüge wirkte er elegant und anziehend. Er war ein Mann wie in Marmor gemeißelt.

Seine Haut war leicht gebräunt, aber noch heller als die der meisten Leute hier. Sie glich eher ihrer eigenen Hautfarbe, die sie sorgsam unter den Kleidern verhüllte. Er trug einen hellbraunen Hut, um sein Gesicht vor der Sonne zu schützen, und fremdländische, eng anliegende Kleidung, die keine Luft zur Kühlung an den Körper heranließ. Unter seiner dunkelblauen, schmal geschnittenen Jacke zeichneten sich breite, muskulöse Schultern ab. Darunter trug er ein weißes Hemd und um den Hals ein Tuch mit einem verschlungenen Knoten.

Dieser Mann trug viel zu viele, zu enge Kleider aus zu schwerem Stoff.

Dennoch wirkte er weder verschwitzt, noch erhitzt oder gar so zerknittert wie andere Engländer, die neu ins Land kamen. Dieser Mann war eher kühl und gelassen, beinahe schon hart.

Sie konnte den Blick nicht abwenden von seinen langen, muskulösen Beinen, die von sandfarbenen Reithosen umhüllt waren. Dazu trug der Fremde hohe, schwarz glänzende Stiefel. Dieser Engländer wirkte anziehend und attraktiv.

Die Männer, denen Ayisha sonst begegnete, trugen lose fließende Gewänder oder bauschige Hosen und weite lange Hemden. Ihre Kleider verhüllten die Körper und ließen nicht einmal erahnen, was sich darunter verbarg. Sie waren nicht zu vergleichen mit dieser beinahe schamlosen Kleidung, an der sich jede sehnige Muskelwölbung abzeichnete. Ayisha schluckte.

Auch ihre Kleidung verbarg, wer sie wirklich war. Andernfalls hätte sie hier nicht all die Jahre als Junge namens Azhar leben können.

Sie beobachtete das Muskelspiel des Engländers, der mit der geschmeidigen Kraft eines Löwen durch den Staub und das Menschengewirr auf dem Marktplatz schlenderte.

Obwohl sie im kühlen Schatten stand, wurde ihr plötzlich heiß.

Ramses. Der Name passte zu dem Mann.

„Er hat ein Bild von dem Mädchen dabei, das er kaufen will“, fuhr Ali fort. „Er hat es gestern vielen Leuten auf dem Marktplatz gezeigt. Gadi hat es gesehen. Es ist ein fremdländisches Mädchen. Er sagte, es könnte deine kleine Schwester sein, wenn du eine hättest.“

Ayisha erschrak. Was hatte Gadi gesagt? Es gäbe eine Ähnlichkeit zwischen der Zeichnung eines jungen fremdländischen Mädchens und dem listigen ägyptischen Gassenjungen Azhar?

Ayisha erinnerte sich sofort an das Porträt, das ein englischer Gast vor mehr als sechs Jahren von ihr gezeichnet hatte. Der Mann war so gut, dass man beinahe glaubte, das Bild sei lebendig. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie andächtig sie den Gast bei seiner Arbeit beobachtet hatte. Sein Stift schien nur so über das Papier zu fliegen. Staunend blickte sie wenig später auf ihr Ebenbild. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen und noch ein Kind.

Dieser Fremde dort konnte unmöglich genau diese Zeichnung besitzen.

Nein, der Engländer hatte das Bild damals mitgenommen, als er Ägypten in Richtung China verließ. Sie war zu schüchtern gewesen, um ihn darum zu bitten.

Wie sollte diese Zeichnung in die Hände dieses Fremden dort geraten sein? Warum zeigte er das Bild herum? Und warum bot er Geld für das Mädchen auf dem Bild?

Es könnte deine kleine Schwester sein.

Diese Zeichnung konnte ihr ganzes Leben ruinieren.

Sie hielt den Blick auf den hochgewachsenen Ausländer gerichtet und versuchte, die Antworten auf ihre Fragen in seinem Gesicht abzulesen.

Im Souk hinter ihr röstete gerade ein Gewürzhändler Sesam, Koriander und Kreuzkümmel mit Haselnuss- und Cashew-Kernen, um Dukkah herzustellen. Ayishas Magen knurrte, als ihr das köstliche Aroma in die Nase stieg. Dennoch konnte sie den Blick nicht von dem Fremden wenden. Als ob er ihr Interesse spürte, änderte er plötzlich seine Richtung und schlenderte auf die Gasse zu, in der sie sich versteckte. Die Menge teilte sich wie selbstverständlich vor ihm, doch das lag nicht allein daran, dass er so groß und fremd war. Es lag an dem Mann selbst. Er bewegte sich so selbstbewusst und herrschaftlich wie ein Sultan und die Menge reagierte instinktiv.

Dieser Mann war es gewohnt, dorthin zu gehen, wo er wollte.

Dieser Mann war es gewohnt zu bekommen, was er wollte.

Diesmal wird er es nicht bekommen. Mich bekommt er nicht, schwor sie sich im Stillen.

„Es heißt, er sei ein angesehener englischer Lord“, wisperte Ali. „Er soll so viel Gold besitzen, dass er sich alles kaufen kann, was er will. Aber wieso macht sich einer wie er auf so eine weite Reise zu uns, nur um ein Mädchen zu kaufen? Gibt es in England keine Mädchen?“

Ayisha schnaufte verächtlich. „Natürlich gibt es dort Mädchen. Nur ein Narr schmeißt sein Gold so in den Staub.“ Ein kühles Grummeln in ihrem Magen strafte diese selbstsicheren Worte Lügen.

„Gadi sagt, wenn du jünger wärst, würde er dich als Mädchen verkleiden und dich an diesen Ramses verkaufen. Dann wäre er ein gemachter Mann.“ Ali lachte herzlich über diesen heimlichen Scherz. In ganz Kairo wussten nur er und Laila, dass Azhar das Mädchen Ayisha war.

Ayishas schnürte es die Kehle zu. Sie musste unbedingt an dieses Bild kommen und es vernichten. Gadi dachte, sie ähnle dem Mädchen auf der Zeichnung, doch er war ein dummer junger Mann. Er verstand gar nichts. Aber wenn er es weiterhin so leichtfertig dahinerzählte, könnten es schnell die falschen Leute hören.

Bittere Erinnerungen stiegen in ihr hoch.

Gadis Onkel war einer der Männer, die vor Jahren hinter ihr her gewesen waren. Wenn er das Bild jetzt sehen, wenn Gadi ihm im Scherz von seinem Plan erzählen würde.

Gadis Onkel war klug. Er wusste, wie sie früher ausgesehen hatte.

Sobald die Leute anfingen, sich Azhar, wenn auch zum Spaß, als Mädchen vorzustellen, würde die Wahrheit sehr bald herauskommen.

Gadis Onkel war nicht der Einzige, der ihr vor Jahren nachgestellt hatte.

„Gadi redet einen Haufen Unsinn“, sagte sie zu Ali.

Ali schüttelte den Kopf. „Nein, Gadi weiß viel über die Welt.“

Ayisha schwieg. Ihr kleiner Freund war zehn Jahre alt und Waise. Er neigte dazu, selbst im größten Taugenichts einen Helden zu sehen. Wieso nahm er sich keinen rechtschaffenden Mann zum Vorbild? Allerdings blieb Ali keine große Wahl. In den engen Gassen von Kairo traf man höchst selten rechtschaffende Männer. Wer anständig und redlich war, hatte es schwer, in der bitteren Armut der Elendsviertel zu überleben. Wer wusste das besser als sie?

Ayisha drückte sich tiefer in den Schatten und wartete darauf, dass der Engländer näher kam. Sie wollte ihn aus der Nähe sehen, wollte ihm in die Augen schauen. Das war gefährlich, aber sie musste wissen, was für ein Mann er war.

Erkenne deinen Feind.

Der Fremde schlenderte gelassen durch das Gedränge. Der Lärm, das dichte Gedränge, die schubsenden Menschen und sogar der ganze Schmutz schienen ihm nichts anzuhaben. Nie zuvor hatte Ayisha einen Mann für schön gehalten. Aber dieser Mann vor ihr war atemberaubend männlich, markant und schön. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Er war wie einer jener Männer aus den schaurig-schönen Geschichten, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Ihre Mutter hatte ihr viele wunderbare, aber auch Gruselgeschichten erzählt, von denen einige wahr, andere aber frei erfunden waren. Die Kunst bestand darin, den Unterschied zu erkennen.

Aber Ayisha war kein großäugiges staunendes Kind mehr und erst recht keine leichte Beute für Männer. Sechs Jahre lebte sie nun schon auf der Straße. Die Zeit hatte sie verändert. Sie war geschickt, gerissen, schlau wie ein Fuchs.

Der Engländer blieb stehen, schob den Hut in den Nacken und hob den Kopf so, als suche er einen Windhauch in der stickigen staubigen Luft. Er war ihr nun so nah, dass sie sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Ayisha bestaunte die markant geschnittenen Linien seiner Wangenknochen, seine gerade kühne Nase und seine breite hohe Stirn.

Seine Haut war makellos glatt und leicht gebräunt, nur neben seinem Mund schimmerte eine kleine helle Narbe. Seine Lippen waren so geschwungen, dass sie wie zusammengepresst wirkten. Sie waren so faszinierend, dass Ayisha zu gerne mit dem Finger darüberstreichen würde, um zu prüfen, ob sie weich wurden.

Doch seine mandelförmigen Augen faszinierten sie noch mehr. Sie blitzten unter müden Lidern hervor, was ihnen einen leicht verschlafenen Ausdruck verlieh.

Doch der Fremde war alles andere als schläfrig. Ayisha überlief eine Gänsehaut. Er wirkte auf sie wie eine Kobra. Seinen Augen entging nichts. Und nun blickte er direkt in ihre Richtung.

Er konnte sie unmöglich sehen, denn die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Ayisha drückte sich in den dunkelsten Schatten der Gasse. Sie hatte ihr Versteck mit Bedacht gewählt. Die Gewürzgasse war die dunkelste auf dem Markt. Gewürze vertrugen keine Sonne.

Er stand immer noch da und schien mit seinen Augen den Schatten zu durchbohren. Ayisha hatte das Gefühl, als würde er sie mit seinem Blick aufspießen. Sie erstarrte regungslos wie eine Maus vor einem Python und blickte ihm in die Augen. Ein eiskalter Schauer lief ihren Rücken entlang.

Noch niemals in ihrem Leben hatte sie solche Augen gesehen. Ihr kaltes helles Blau erinnerte sie an den Himmel kurz vor Tagesanbruch, wenn die Hoffnung am größten war und die Seelen die Erde verließen. In diesen Augen lagen keine Wärme, keine Hoffnung und kein Mitleid. Dieser Fremde hier vor ihr war ein Mann, für den Leben und Tod keine Bedeutung hatten. Es wunderte sie nicht, dass die Menschen ihm eilig den Weg frei machten.

Sie drückte sich noch stärker gegen die Lehmziegel der Mauer. Sie war sich sicher, dass er sie nicht sehen konnte und dennoch war sein Blick zermürbend.

Der Gewürzhändler in ihrer Nähe begann, die Dukkah-Mischung mit Salz zu vermengen.

Bei der geringsten Bewegung des Fremden würde sie fliehen. Ayisha kannte jede Gasse in der Stadt, jeden Souk und jeden Schlupfwinkel. Sie wartete angespannt.

Der Geruch der Gewürze zog in ihre Nase und raubte ihr den Atem.

Der Engländer zog seine dunklen Augenbrauen zusammen und blickte verkniffen. Seine Nasenflügel bebten so, als wittere er Beute. Englische Lords jagten Füchse. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt und ihr versprochen, eines Tages mit ihr nach England zu reisen und sie zur Fuchsjagd mitzunehmen.

Auch ihr Vater war ein großartiger Geschichtenerzähler gewesen. Ayisha hatte ihm alle Geschichten geglaubt. Welches Kind zweifelte schon an dem, was sein Vater ihm sagte?

Doch dann war er gestorben und seine Geschichten hatten sich als Lügen entpuppt. Ayisha würde niemals dieses schöne grüne England aus den Erzählungen ihres Vaters sehen.

Und selbst wenn, würde auch der mächtigste englische Lord sie nicht dazu zwingen können, Füchse zu jagen.

Sie selbst war zu oft gejagt worden, um an so etwas jemals Gefallen finden zu können.

Allerdings sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen englischen Lord. Waren ihm die Fuchsjagden so langweilig geworden, dass er die weite Reise übers Meer antrat, um nun in Ägypten Jagd auf Mädchen zu machen?

Von der anderen Seite des Marktes drang Lärm und Geschrei zu ihnen herüber. Es gab Streit bei einem Orangenverkäufer. Der Engländer blickte für einen kurzen Moment in die Richtung. Ayisha nutzte die Gelegenheit und verkroch sich blitzschnell hinter den Decken eines Verkaufsstands.

Durch die Ritzen in den Stoffbahnen hindurch sah sie, wie der Fremde nach einem flüchtigen Blick auf das Handgemenge am Orangenstand wieder auf die Stelle starrte, wo sie zuvor im Schatten gekauert hatte.

Stirnrunzelnd suchte er mit seinen Augen die Umgebung ab. Dann heftete sich sein Blick auf den Verkaufstand. Der Fremde kniff die Augen zusammen, als wisse er, dass sie sich unter den rot-weiß gestreiften Stoffbahnen versteckte. Dabei konnte er sie unmöglich sehen. Immerhin war er kein Dschinn und auch kein Zauberer.

Ayisha glaubte nicht an diesen Unsinn. Die abergläubischen Leute, unter denen sie seit sechs Jahren lebte, mochten an Dschinns, Afarit und andere böse Geister glauben, Ayisha zählte sich nicht dazu. Anders als viele Menschen hier im Souk konnte sie lesen und schreiben, und sie verstand mehrere Sprachen. Außerdem war sie Christin und hielt Dämonen und das Auge des Bösen für ausgemachten Unsinn.

Dennoch bekreuzigte sie sich im Stillen.

Plötzlich schlenderte der Fremde weiter über den Marktplatz und blickte aufmerksam um sich herum.

Ayisha atmete erleichtert auf.

Nein, er war keineswegs mit den Männern zu vergleichen, die sie früher gejagt hatten. Dieser Ausländer dort war wesentlich gefährlicher als alle anderen.

Sie wartete, bis er am anderen Ende des Marktplatzes um eine Ecke bog und verschwand, bevor sie unter der Bude hervorkroch und hinter Ali hinterherrannte, der zielstrebig den Platz überquerte. Sie packte ihn am Kragen und riss ihn herum.

„Autsch!“, murrte Ali.

„Du schleichst diesem Mann nicht nach“, zischte sie streng. „Er ist gefährlich.“

Ali prustete mürrisch. „Aber ich kann doch …“ Ayisha fuhr ihm über den Mund.

„Ich meine es ernst, Ali.“ Sie fasste ihn grob an seinen mageren Schultern. „Du schleichst ihm nicht nach und du sprichst ihn nicht an. Hast du mich verstanden?“

Er wand sich verlegen unter ihrem strengen Blick. „Aber Ayisha, ich will das Bild sehen. Ich will wissen, ob es dir so ähnlich sieht, wie Gadi sagt.“

„Es sieht mir nicht ähnlich.“

„Woher willst du das wissen, wenn du es nicht gesehen hast?“

„Weil Gadi nur blöde Geschichten erzählt.“

Ali schmollte. „Wenn ich etwas von seinem Gold hätte, könnten wir das Haus in Alexandria kaufen.“

„Und wie willst du an das Gold kommen?“

Ali wandte verlegen den Blick.

„Ali! Du denkst doch nicht etwa daran, diesen Engländer zu bestehlen?“

Ali ließ den Kopf hängen und murrte: „Gadi sagt, der Engländer hat so viel Gold, dass er gar nicht merkt, wenn ihm etwas davon fehlen würde.“

„Dann soll Gadi versuchen, ihn zu bestehlen. Aber denk an meine Worte, wenn sie ihn erwischen und ihm zur Strafe die Hand abhacken.“ Sie schnaufte verächtlich. „Dieser Mann mag zwar aussehen wie ein harmloser Ausländer, aber er ist das genaue Gegenteil davon.“

Ali blickte sie mürrisch an und zog die Schultern hoch. „Du könntest mir doch das Stehlen beibringen.“

„Tu ich aber nicht. Stehlen ist böse und es ist gefährlich.“

„Du stiehlst doch auch.“

„Tu ich nicht.“ Sie zog ihn an der Hand durch das Gewirr schmaler Gassen und Durchgänge, ohne überlegen zu müssen. Dieses Labyrinth war ihr Zuhause.

„Aber du hast gestohlen“, brummte Ali aufmüpfig, „und damals warst du nicht älter als ich jetzt. Gadi sagt“, er stockte.

„Gadi redet zu viel. Ich habe gestohlen, als ich klein war, aber nur, um nicht zu verhungern. Aber jetzt arbeite ich und arbeiten ist ehrlich. Du“, sie kniff ihn leicht in seine magere schmutzige Wange, „musst nicht verhungern, solange Laila und ich am Leben sind. Du hast es viel besser.“

„Aber“, knurrte Ali.

„Schluss damit!“ Ayisha schüttelte seinen Arm. „Es würde Laila umbringen, wenn dir etwas zustößt. Du bist ihr Ein und Alles, obwohl ich nicht nachvollziehen kann, was ihr an einem garstigen schmutzigen Jungen liegt, der für sein Leben gern Dieb werden will.“

„Ach, Ayisha.“ Ali verdrehte die Augen und verzog das Gesicht beleidigt, um sich nicht anmerken zu lassen, wie geschmeichelt er sich fühlte.

„Stöhne nicht!“ Sie schubste ihn zur Hintertür ihres Hauses. Ein köstlicher Duft empfing sie. „Geh lieber in die Küche und hilf Leila beim Backen, aber iss nicht zu viel von den Fladen. Und halte dich von dem Engländer fern.“

„Ramses“, fiel Ali ihr ins Wort. „Aber ich will das Bild unbedingt sehen. Ich will dir zeigen …“

Ayisha fiel ihm zornig ins Wort. „Schluss jetzt! Kein Wort mehr über diesen Mann und das Bild!“, befahl sie. „Geh endlich!“

Es dauerte nicht lange, bis sie den Engländer wieder gefunden hatte. Abgesehen von seiner Kleidung, fiel er durch seine imposante Größe auf.

Er befand sich im Haus von Hassan, dem ehemaligen Gärtner ihres Vaters. Auch wenn ihr nicht bereits fünf Leute berichtet hätten, dass ein großer ausländischer Herr gekommen war, um mit Hassan zu sprechen, hätte sie gewusst, dass er bei ihm war. Seine hohen schwarz glänzenden Stiefel standen neben der Eingangstür.

Sie war versucht, sie wegzunehmen, um sie an anderer Stelle zu verstecken. Das sollte ihm eine Lehre sein, hinter ihr her zu schnüffeln! Sollte er doch auch auf nackten Füßen durch Kairo laufen wie sie. Aber es standen zu viele Leute herum.

Sie hatte seit sechs Jahren nicht mit Hassan gesprochen. Sie hatte seit dem Tod ihres Vaters mit keinem ihrer ehemaligen Bediensteten gesprochen. Nach allem, was passiert war, hatte sie es nicht gewagt. Aber sie kannte sich auch in dieser Gegend gut aus.

Hassans Haus war klein und alt. Die ganze Familie teilte sich nur zwei kleine Räume. Der große Engländer würde darin kaum Platz finden. Vielleicht hatten sie die Hintertür geöffnet, auch weil es so heiß war. Von hinten könnte sie vielleicht etwas sehen.

Sie huschte in einen Durchgang, kaum breiter als ihre Schultern, kletterte unbeobachtet über eine Mauer und ein paar Steinstufen hoch auf das Dach des Nebenhauses. Die Häuser standen so dicht beieinander, dass sie einen freien Blick in den winzigen Innenhof von Hassans Haus hatte, wo sich eine Frau an der Feuerstelle zu schaffen machte. Sie brühte Tee auf und trug ihn für den Gast ins Haus, wobei sie die Türen offen ließ.

Ayisha lag flach auf dem Bauch und lauschte. Sie schützte ihre Augen mit den Händen vor der gleißenden Sonne und versuchte ins Haus zu spähen. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel dort drin. Sie konnte den Engländer sehen, der das Bild aus der Innentasche seiner Jacke nahm und es Hassan zeigte. Hassan sah es sich an. Er nickte langsam, sagte etwas und schüttelte den Kopf.

Sosehr sie sich auch bemühte, Ayisha konnte kein Wort verstehen. Viele Engländer sprachen so laut, dass die ganze Nachbarschaft erfuhr, worum es ging, doch dieser verfluchte Kerl redete nur leise. Ayisha konnte kaum mehr als ein Raunen hören.

Ayisha lag in der sengenden Sonne. Sie schwitzte, sie war durstig und verärgert. Schließlich stand der Engländer auf, drückte Hassan etwas in die Hand und ging gebückt durch die Tür. Vermutlich hat er ihm Gold gegeben, dachte sie verbittert.

Sie kletterte vom Dach und rannte den schmalen Durchgang entlang nach vorne. Aus Angst, sie könne ihn wieder aus den Augen verlieren, bog sie eilig in Hassans Gasse ein und kam schlitternd im Staub zum Stehen.

Der Engländer hob den Kopf und sah in ihre Richtung. Er sah ihr direkt in die Augen. Er war im Begriff, seine hohen Stiefel anzuziehen, doch als er Ayisha sah, erstarrte er. Er kniff seine kalten Augen zusammen und zog seine dunklen Augenbrauen ahnungsvoll zusammen.

Ayisha fluchte leise. Sie kehrte sofort um und rannte in die andere Richtung. Nun musste sie ein paar Häuser umrunden, um ihn später wieder einzuholen.

Er hatte sie bemerkt und sie verwundert angestarrt.

Wie dumm sie war, so auf sich aufmerksam zu machen! Wie dumm und leichtsinnig zugleich. Natürlich hatte er den Kopf gehoben. Jeder hätte das getan, wenn ein wild gewordener Junge wie ein Verrückter auf die Straße rannte, sofort wieder kehrtmachte und davonlief.

Ihr Herz klopfte wild. Er kann unmöglich wissen, wer ich bin, redete sie sich ein. Kein Bekannter ihres Vaters hatte sie in den letzten Jahren gesehen. Außerdem lebte sie jetzt als Junge. Wenn ihre Verkleidung so leicht zu durchschauen wäre, hätte sie niemals sechs Jahre auf der Straße überlebt. Ein alleinstehendes Mädchen wurde in den Souks nicht geduldet, und schon gar keine alleinstehende Frau, die in Männerkleidung herumlief. Das war eine Todsünde, ein unverzeihliches Verbrechen. Es wurde nach dem Gesetz streng bestraft. Ayisha schüttelte sich bei dem Gedanken an die grausigen Möglichkeiten.

Nein, ihre Verkleidung war gut. Mit Ausnahme von Ali wusste kein Mensch, dass sie ein Mädchen war. Und Ali war wie ein kleiner Bruder für sie, der nachts neben ihr auf einer Strohmatte schlief. Auch Laila hatte den Schwindel vor Jahren durchschaut, doch sie bewahrte das Geheimnis und half Ayisha, ihre Verkleidung zu verbessern. Laila wusste um die Notwendigkeit.

Für alle anderen war Ayisha der Straßenjunge Azhar.

Wer ihre Eltern waren, wusste niemand. Nicht einmal Laila hatte sie es verraten. Dieses Geheimnis war mehr wert als Ayishas Leben.

Nein, es war ebenso wertvoll wie ihr Leben.

Dieses Geheimnis durfte sie keinem Menschen anvertrauen. Sie vergaß es, so gut es ging, und erinnerte sich nur daran, wenn wieder einmal jemand begann, sie zu jagen.

Jemand wie dieser Engländer.

Aber er konnte unmöglich nur durch einen Blick hinter ihr Geheimnis gekommen sein. Es war lediglich unvorsichtig von ihr gewesen, dass sie so kurz vor ihm zum Stehen gekommen war und dass sie so offen ihr Interesse an ihm gezeigt hatte. Normalerweise würde sie diesem kurzen Moment keine Bedeutung beimessen. Doch seine durchdringenden blauen Augen schienen einfach alles zu sehen.

In Zukunft musste sie besser aufpassen.

Wenig später entdeckte sie ihn wieder. Mittlerweile hatte sie den staubigen blauen Turban gegen ein weißes Stück Stoff getauscht, in den ein roter Streifen eingewebt war. Sie trug stets einen andersfarbigen Stoff bei sich, den sie sich um die Mitte band. Im Gedränge der Souks suchten die Menschen einander anhand ihrer Kopfbedeckungen. Wer den Turban wechselte, wurde ein anderer Mensch.

Sie beschattete den Fremden den ganzen Tag über, hielt sich dabei aber wohlweislich im Schatten oder in Hauseingängen verborgen oder sie versteckte sich hinter anderen Passanten. Der Engländer drehte sich immer wieder um und ließ seinen Blick über die Gassen schweifen, so als spüre er seine Beobachterin, doch zum Glück war Ayisha klein und schäbig und zu geschickt darin, nicht aufzufallen.

Unermüdlich suchte er nahezu alle ehemaligen Bediensteten ihres Vaters auf. Er ging dabei ausgesprochen sorgsam vor, wesentlich sorgfältiger jedenfalls als die anderen vor ihm.

Jedes Mal zog er die Ledermappe mit ihrem Bild aus der Innentasche seiner Jacke hervor und zeigte es herum. Jeder, dem er das Bild zeigte, nickte wissend mit dem Kopf. Anschließend aber schüttelten sie den Kopf oder zuckten ratlos mit den Schultern.

Für Ayisha ergab sich nicht die geringste Chance, das Bild zu stehlen. Eine dicht gedrängte Menschenmenge wie auf dem Markt wäre das ideale Umfeld für sie, doch der Engländer mied die Souks.

Den ganzen Nachmittag klapperte er die kleinen Häuser in den engen Gängen und Sachgassen ab. Es ergab sich keine günstige Gelegenheit für einen Dieb wie sie, der aus der Übung gekommen war, obwohl der Fremde nur von wenigen Neugierigen und Bettlern verfolgt wurde. Einige von ihnen kannten Azhar und würden natürlich weitertratschen, dass er Interesse an der Zeichnung hatte.

Nun stand der Engländer vor der Haustür eines Mannes, der früher einmal Gelegenheitsarbeiten für ihren Vater verrichtet hatte. Der Angestellte war mittlerweile dick geworden, aber sie erinnerte sich noch ganz genau an Gamal. Sie hatte ihn nie leiden können. Es wäre höflich gewesen, den Ausländer ins Haus zu bitten, so wie alle anderen es vor ihm getan hatten, doch Gamal wollte, dass alle Nachbarn seinen vornehmen Besucher sahen und ließ ihn deshalb in der prallen Sonne stehen.

Ayisha wollte sich Gamals Unhöflichkeit zunutze machen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich eine kleine Gruppe Neugieriger um ihn und seinen Gast gebildet. Sie drängte sich näher.

„Ha! Ich wusste doch, dass du gelogen hast. Du interessierst dich ja doch für ihn“, flüsterte eine Stimme an ihrem Ellbogen.

„Ali! Was suchst du hier?“ Leise fluchend zerrte sie den Jungen von der Menge weg. „Du solltest doch Laila beim Backen helfen.“

„Hab ich auch“, entgegnete Ali trotzig, „aber jetzt soll ich Grünzeug für die morgigen Fladen pflücken.“ Er hielt einen kleinen Jutesack hoch.

„Das Grünzeug dazu wächst unten am Flussufer und nicht hier. Also geh! Ich habe dir gesagt, du sollst dich von diesem Mann fernhalten.“

„Ach Ayisha, Grünzeug pflücken ist Frauenarbeit.“

Sie hatte keine Geduld, sich sein ständiges Nörgeln anzuhören. „Und essen und ungehorsam sein ist die Aufgabe eines Jungen? Willst du etwa mal werden wie Omar?“

Ali verzog genervt das Gesicht. Er hasste es, mit Omar verglichen zu werden.

Denn Lailas Bruder Omar war ein Nichtsnutz. Laila arbeitete, um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie buk Brot und Gebäck in dem kleinen Lehmofen auf ihrem winzigen Innenhof und fertigte Füllungen für ihre Pasteten aus Wildkräutern und einem kleinen bisschen Käse. Sie sammelte Holz, Reisig und getrockneten Tierdung als Brennmaterial. Sie war eine geborene Köchin und ihre Backwaren fanden reißenden Absatz.

Obwohl sie selbst keine Kinder hatte, war sie eine echte Mutter. Das Elend der Straßenkinder zerriss ihr das Herz. Zu gerne würde sie jedes von ihnen durchfüttern, doch Omar hatte es ihr verboten. Er nahm Laila jede Münze ab, die sie verdiente, da er als Familienoberhaupt das Recht dazu hatte.

Jede Münze, von der er wusste. Aber Laila und Ayisha hatten einen perfekten Plan ausgeklüngelt.

„Omar ist kein Mann, er ist ein Blutegel“, sagte Ayisha bestimmt. „Und so etwas wie Frauenarbeit gibt es nicht, es gibt nur Arbeit. Wenn Laila dich also bittet, Kräuter zu sammeln, tust du es! Kapiert?“

Ali nickte seufzend. Dann äugte er sehnsüchtig zu dem fremden Engländer in seinen hohen schwarzen Stiefeln hinüber. Er war so groß, so imposant und so viel aufregender als diese Kräuter. „Können wir ihn nicht bitten, uns das Bild zu zeigen?“

„Nein.“

„Warum nicht? Ich will es aber sehen. Wieso bist du denn hier?“

„Ich bin zufällig vorbeigekommen und aus reiner Neugier stehen geblieben“, entgegnete sie beiläufig. „Aber ich habe zu tun, genau wie du, mein kleiner Kräutersammler. Also, lauf los!“ Sie gab ihm einen leichten Schubs in Richtung Fluss.

Ali blickte sie mürrisch an und trollte sich widerwillig. Doch dann hellte sich seine Miene auf und er flitzte los. Ayisha schmunzelte. Man musste Ali einfach gern haben. Sie drehte sich nach dem Engländer um, der seinen Weg vollkommen in sich gekehrt fortsetzte.

Gamal blieb vor seinem Haus stehen und prahlte vor der kleinen Schar Neugieriger, die nun näher rückte. Ayisha schlich sich von hinten an, um zu hören, was Gamal zu sagen hatte.

„Mein Besucher ist ein großer Lord aus England. Er heißt Ramses und ist ein Bruder des englischen Königs.“

Pah, dachte Ayisha verächtlich. Als ob ein englischer Prinz ganz allein mit einem Dolmetscher, aber ohne bewaffnete Leibgarde durch die schmutzigen Gassen von Kairo spazieren würde. Selbst wenn der englische König dies seinem Bruder gestatten sollte, Mehmet Ali, der Pascha von Kairo, würde es verbieten.

Gamal warf sich in die Brust: „Er hat die lange Reise von der anderen Seite der Welt gemacht, nur um mit mir zu reden. Er hat mich nach dem anderen Engländer gefragt, der früher in der rosafarbenen Villa am Flussufer gewohnt hat.“

„Ist der andere nicht tot?“, fragte jemand.

„Ja“, antwortete Gamal. „Aber etwas aus seinem Besitz ist verloren gegangen, und die Familie des Engländers will es wiederfinden.“

Etwas aus seinem Besitz ist verloren gegangen. Ayisha spürte einen eiskalten Schauer auf ihrem Rücken.

„Hast du es gestohlen, Gamal?“, scherzte ein Umstehender und alle anderen lachten, allerdings nicht freundlich.

„Wie sollte einer wie ich, der mit englischen Lords verkehrt, mich mit so unwissenden Fellachen abgeben?“ Gamal sah seine Nachbarn hochmütig an, ging zurück ins Haus und schloss die Tür.

Die Männer brummten verärgert und zerstreuten sich in kleinen Grüppchen. Von ihnen würde Ayisha nichts erfahren.

Sie holte den Engländer und seinen Dolmetscher wieder ein, als sie in eine schmale gepflasterte Gasse einbogen. Der Mut drohte sie zu verlassen. Sie kannte die Gasse. Das drittletzte Haus war in gewissen Kreisen wohl bekannt.

Es war Zamils Haus.

Natürlich klopfte der Engländer an dessen schwerer eisenbeschlagenen Tür.

Ayishas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was konnte der Fremde von Zamil wollen?

Sie drängte sich in den Schatten, während der Übersetzer mit jemandem durch das kleine Gitterfenster sprach. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und die Männer traten ein. Die schwere Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

Jede Faser in ihr schrie auf und riet ihr, schleunigst zu verschwinden. Sie machte kehrt, blieb dann aber unschlüssig stehen. Sie musste wissen, womit sie es zu tun hatte.

„Was hast du vor Zamils Haus zu suchen, du Zwerg?“, knurrte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum. Vor ihr türmte sich ein riesiger Mann auf, dessen hässliches, vernarbtes Gesicht ein mächtiger schwarzer Schnauzbart zierte. Ayisha erkannte ihn sofort. Jeder, der auf der Straße lebte, kannte ihn als Zamils Griechen, den bösartigsten und schnellsten Messer-Mann in ganz Kairo.

„Na, rede schon! Willst wohl einen heimlichen Blick auf Zamils Ware werfen, was?“ Hämisch grinsend beugte er sich ganz nah an Ayishas Gesicht und zeigte dabei seine braunen Zähne, von denen einige spitz geschliffen waren. Sein Atem stank faulig.

Es wäre ein Fehler, vor einem solchen Mann Angst zu zeigen. Ayisha wies gleichmütig mit dem Kinn zur Tür. „Mein Herr, dieser englische Lord, ist dort drin.“

„Dein Herr!?“, höhnte der Grieche laut. „Kein Kunde von Zamil und schon gar kein englischer Lord würde einen mageren zerlumpten Straßenköter wie dich in seine Dienste nehmen. Hau ab, du Bengel, es sei denn“, der Grieche musterte sie mit hinterhältigem, lüsternem Blick, „es sei denn, du hast etwas zu verkaufen.“

Ayisha erschauderte unmerklich. „Nein, ich verkaufe nur Informationen, Effendi. Wer denkst du, hat den ausländischen Lord zu diesem Haus geführt? Meinst du etwa, sein einfältiger Diener hätte gewusst, wo Zamil wohnt?“

Sie schnaufte verächtlich und sah dem Riesen frech in die Augen. „Vielleicht könnte der große Zamil oder sein hochverehrter Vertrauter sich dafür erkenntlich zeigen, wie?“

Der Grieche stutzte, dann lachte er dröhnend und warf belustigt seinen Kopf in den Nacken. „Du gefällst mir, Zwerg“, sagte er und schlug Ayisha kräftig auf den Rücken.

Seine fleischige Faust schlug gleich darauf krachend gegen die Tür. Das Gitterfenster wurde geöffnet. „Dieser freche Affe hier meint, er sei alt genug, um sich Zamils Ware anzusehen. Lass ihn rein zu seinem Herren.“ Als die Tür aufging, sagte er an Ayisha gewandt: „Pass auf deine großen Augen auf, Zwerg.“

„Meine Augen?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Dass sie dir nicht aus dem Gesicht fallen, wenn du Zamils Weiber siehst“, antwortete er, und beide Männer lachten dröhnend über den Witz.

Ayisha gelang es, halbherzig zu lächeln, dann schlenderte sie scheinbar unbekümmert drauflos. Dabei schlug ihr Herz laut und wild. Das Tor fiel hinter ihr gemächlich ins Schloss. Sie befand sich in einer anderen Welt, die nichts mit der staubigen lärmenden Stadt da draußen zu tun hatte.

Sie stand in einem weiten Innenhof, der mit honigfarbenen glatten Steinplatten gepflastert und von erhabenen Arkaden umgeben war, die auf reich verzierten Steinsäulen ruhten. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Springbrunnen mit einer kleinen Wasserfontäne in einem Marmorbecken, in dem kleine Seerosen schwammen. An einem verschnörkelten Spalier aus Gusseisen rankte sich ein blühender Jasmin empor, der einen betörenden Duft verströmte.

In einiger Entfernung unterhielten sich etwa ein Dutzend kostbar gewandeter Männer miteinander wie Zuschauer, die auf den Beginn einer Vorstellung warteten. Vor einem verdunkelten Eingang stand ein großer Türke, der an unsichtbare Menschen im Raum Befehle erteilte.

Ayisha wusste, worauf die Männer warteten. Ihr Magen verkrampfte sich. Zu gerne würde sie jetzt auf die andere Seite des schweren eisenbeschlagenen Tores fliehen.

Diener reichten den wartenden Männern zur Erfrischung Tee, kalte Fruchtsäfte und kleine Delikatessen. Der würzige Essensduft stieg Ayisha in die Nase. Sie war hungrig, denn sie hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen. Aber selbst wenn man ihr etwas angeboten hätte, was natürlich nicht geschah, an diesem Ort hätte sie keinen Bissen davon herunterbekommen.

Sie entdeckte den Engländer am anderen Ende des Innenhofs. Seine fremde Kleidung zog neugierige, aber auch feindselige Blicke der umstehenden Männer an, die ihn offenbar nicht bekümmerten. Er begutachtete seine Umgebung mit kühler Distanz.

Ayisha senkte den Kopf und schlenderte möglichst unauffällig über den Hof. Sie stellte sich mit einigem Abstand hinter ihn und drückte sich wie ein bescheidener Diener an die Mauer.

Der Engländer sagte etwas zu seinem Dolmetscher, der sich daraufhin dem Mann näherte, der auf einem Podest in der anderen Ecke des Innenhofs saß. Es war ein beleibter Mann in fließenden Seidengewändern. Zamil.

Nach wenigen Schritten traten ihm Zamils Leibwächter in den Weg, die ihn allerdings nach einem kurzen Gespräch zu Zamil geleiteten. Kurz darauf winkte Zamil den Engländer zu sich.

Ayisha huschte durch die Wartenden näher.

Er zog den Lederumschlag aus der Tasche und zeigte Zamil das Bild. Zamil schaute es an und zuckte die Schultern. Der Engländer sagte etwas, was Ayisha nicht hören konnte.

Sie schlich näher und dann hörte sie Zamil sagen: „Nein, eine junge weiße Jungfrau bringt einen guten Preis und vor sechs Jahren“, er neigte seinen Kopf hin und her und schien nachzudenken, „wer weiß, was aus ihr geworden ist. Aber eines ist jedenfalls sicher, eine Jungfrau ist sie jetzt nicht mehr.“

Er blickte in das ausdruckslose Gesicht des Engländers und lachte leise. „Frischer Fisch schmeckt nun einmal besser als alter, nicht wahr?“ Er wies mit einem wulstigen Finger zum Podium. „Die Auktion fängt bald an, wenn Sie kaufen wollen.“

Aber der Engländer verabschiedete sich nur mit einer kurzen Verneigung und schritt durch die Gruppe der Käufer, als wären sie Luft. Und wie das einfache Volk auf dem Marktplatz machten auch ihm diese Männer hier Platz. Ayisha folgte ihm.

Sie hatte Mühe, Schritt zu halten, denn niemand machte einem verwahrlosten Straßenjungen Platz. Der Engländer war bereits auf der Straße, als Ayisha die Unruhe der Wartenden hinter sich hörte.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

Sie wollte es nicht sehen, aber sie hörte es.

Es ging um eine Sklavin. Ayisha hörte das erwartungsvolle Raunen der Kunden, bevor Zamils Mann die Frau anpries. „Eine junge Tscherkessin, eine garantierte und beglaubigte Jungfrau.“ Das Raunen verstärkte sich in wachsender Erregung.

Ayisha schluckte den Brechreiz herunter, der in ihr aufstieg und taumelte zum Ausgang.

Der Wächter lachte, als er Ayishas aschfahles Gesicht sah. „So viel nacktes Fleisch ist wohl zu viel für einen Grünschnabel wie dich! Der Grieche hat dich doch gewarnt. Aber der Anblick wird dir heute Nacht süße Träume bescheren, du Zwerg!“ Er lachte dreckig und entriegelte das Portal. „Von nun an wirst du beim Anblick einer verschleierten Frau sofort wissen, was sie darunter verbirgt, nicht wahr?“

Ayisha drängte sich an ihm vorbei und rannte, bis ihr die schmerzhaften Stiche im Brustkorb die Luft zum Atmen nahmen. Sie röchelte und schluchzte resigniert.

2. Kapitel

Sie rannte hinunter bis zum Nil, die endlos fließende Quelle von Leben, Fruchtbarkeit, aber auch Tod. Der Fluss hatte stets eine tröstliche Wirkung auf sie. Und mahnte sie daran, niemals unachtsam zu werden. Denn hier lauerten überall Krokodile.

Im Wasser und an Land.

Sie kauerte sich ans Ufer, zog die Beine bis zu den Knien an und blickte über das glitzernde Wasser. Und mit einem Mal kamen die Erinnerungen mit geballter Wucht zurück.

Ayisha hörte das krachende Splittern von Holz unter den gewaltigen Schlägen gegen die Tür. Ein Klirren bedeutete ihr, dass die Riegel brachen. Die Räuber waren gekommen. Sie wussten immer, wann sie zuschlagen mussten.

Die Diener waren bereits alle beim ersten Anzeichen der Seuche geflohen.

Es gab niemanden, der sie hätte aufhalten können, außer Ayisha und ihrer sterbenden Mutter. Ihr Vater war bereits tot.

Ihre Mutter hatte verzweifelt ihre Hand gedrückt. „Versteck dich“, wisperte sie und deutete unter das Bett.

Ayisha kroch blitzschnell darunter und lag mucksmäuschenstill. Sie wagte es kaum zu atmen. Über sich hörte sie die schweren Atemzüge ihrer Mutter. Sie atmete in immer größeren Abständen ein und aus und ein und aus.

Zwei riesige schmutzige Männerfüße näherten sich vorsichtig dem Bett und blieben davor stehen.

Ayisha hielt den Atem an. Die langen Fußnägel des Mannes waren verhornt und schmutzig gelb.

„Tot“, hörte sie die tiefe Männerstimme über sich.

Nicht Mama, dachte sie verstört. Noch nicht. Auch Mama wird sich bestimmt verstecken.

„Irgendeine Spur von dem Kind?“, fragte ein anderer Mann.

„Nein, aber sie muss hier sein.“

Sie spannte jeden einzelnen Muskel an, bestimmt würde sie jeden Moment entdeckt und aus ihrem Versteck gezerrt.

„Such sie! Eine weiße Kindjungfrau bringt einen besseren Preis auf dem Sklavenmarkt als alles andere hier.“ Sie hörte, wie der Schmuck ihrer Mutter in den Händen des einen Räubers klimperte.

Mama hatte ihre Augen geöffnet und ihn mit ihrem letzten Atemzug verflucht.

Ayisha umschlang fröstelnd ihre Knie und blickte auf das endlos fließende Wasser des Flusses. Nichts brachte ihn aus seiner Ruhe, nichts bekümmerte ihn. Alles verging.

Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag und ihre Übelkeit wich.

Es hatte keinen Sinn, an Dinge zu denken, die nicht zu ändern waren. Ihr Ziel bestand einzig darin, zu überleben. Es war töricht gewesen, zu Zamil zu gehen. Nun war sie nur wieder krank vor Angst und Abscheu. Was hatte sie erwartet?

Sie raffte sich auf. Es war spät geworden und statt Geld zu verdienen, hatte sie fast den ganzen Tag damit vergeudet, dem Engländer zu folgen.

Da sie nur wenige Münzen eingenommen hatte, wollte sie Laila wenigstens Reisig für ihren Backofen bringen.

Sie sammelte trockenes Schilf, dürre Zweige, welkes Gras und trockenen Kameldung. Die Arbeit beruhigte sie. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Laila ihr zu essen gegeben und Ayisha hatte ihr zum Dank trockenen Reisig gebracht. Daraus war eine innige Beziehung zwischen ihnen entstanden.

Sie hatte es seither weit gebracht. Sie war nicht mehr das halb verhungerte, verängstigte Kind, sondern eine junge Frau, der viele Möglichkeiten offen standen. Sie musste sie nur ergreifen.

Die Sonne stand tief am Himmel, als sie ihr Bündel nach Hause schleppte. Sie zahlte zwar immer noch für ihr Essen, aber Laila war inzwischen so etwas wie ihre Familie geworden. Sie hatte zuerst Ayisha unter ihre Fittiche genommen und später Ali. Ginge es nach ihr, würden beide Kinder mit in ihrem Haus wohnen, doch Omar hatte es verboten.

Die Hütte mit den zwei Kammern, der gesamte Hausrat, ja sogar Laila gehörte Omar.

Ayisha betrat den winzigen Innenhof durch die Hintertür und stapelte das Brennmaterial sorgfältig neben dem Lehmofen. Laila würde es morgen brauchen.

Mmrrau? Ihr Kater Tom begrüßte sie wie immer von der hohen Mauer, die den Hof umgab. Tom betrachtete sich die Welt gern von oben.

Ayisha schmunzelte, als er sich streckte und heruntersprang, um ihr um die Beine zu streichen. Sie hob ihn hoch und streichelte ihn zärtlich. Schnurrend rieb er sein Köpfchen an ihrem Gesicht.

„Wo ist denn Ali?“, fragte sie den Kater mit einem Blick auf den leeren Strohsack unter der Bank. „Er müsste doch schon längst zu Hause sein.“

Sie klopfte leise an die Tür. Ali und sie betraten nur selten das Haus. Omar erlaubte Laila zwar zähneknirschend, sich um verwahrloste Straßenbettler zu kümmern, aber sie durfte keinen von ihnen ins Haus lassen oder auch nur einen Piaster für sie ausgeben.

Deshalb schliefen Ayisha und Ali im Innenhof auf einem Strohsack unter der Bank. Es war gar nicht so schlecht. Im Winter, wenn es kalt war, schliefen sie neben dem Backofen, der auch dann noch Wärme spendete, wenn die Glut schon lange erloschen war. Tom schlief zu Ayishas Füßen und hielt sie warm. Und im Sommer war es im Freien sogar kühler als im Haus. Es war wesentlich angenehmer, als auf der Straße zu schlafen.

Laila öffnete. Ihre Lippe war gespalten und mit dunkel verkrustetem Blut befleckt.

„Was ist passiert?“, fragte Ayisha besorgt, als wüsste sie es nicht.

Nach fünfzehn Jahren Ehe hatte Lailas Ehemann sie zu ihrem Bruder Omar zurückgeschickt wie ein unerwünschtes Paket. Er hatte sie fortgeschickt, weil sie ihm keine Kinder gebar. Es bedeutete das Ende all ihrer Träume, denn niemand nahm eine unfruchtbare Frau auf. Nun musste sie bei Omar leben, der gewalttätig, faul und habgierig war.

Ayisha hasste ihn. Er behandelte Laila wie eine niedere Dienstmagd, so als habe sie durch ihre Unfruchtbarkeit jeglichen Wert verloren.

Laila schüttelte den Kopf. „Es ist nichts. Er hat mir nur alles Geld abgenommen und heute hatte ich richtig gut verdient.“

Ayisha blickte vorsichtig in die Kammer hinein. „Ist er fort?“

„Ja, und wir werden ihn nicht eher wiedersehen, bis er alles Geld im Hurenhaus auf den Kopf gehauen hat.“ Sie sah Ayisha resigniert an. „Wir werden es nie schaffen, von hier fortzukommen. Niemals.“

„Doch, wir schaffen es“, widersprach Ayisha heftig und machte sich an einem lockeren Lehmziegel am Ofen zu schaffen. „Von diesem Versteck hier weiß er nichts. Auch wenn er dir dein Geld gestohlen hat, kann ich noch etwas dazutun.“ Sie nahm den Ziegel, griff in den Hohlraum holte einen kleinen Lederbeutel hervor, gab eine kleine Handvoll Münzen dazu und steckte ihn wieder zurück. „Mit jedem Tag haben wir etwas mehr beisammen, jeden Tag kommen wir Alexandria einen Schritt näher.“

Die beiden träumten davon, genügend Geld beiseitezulegen, um Kairo heimlich verlassen und nach Alexandria reisen zu können. Dort wollten sie ganz von vorne anfangen. Omar würde Laila niemals in der Stadt am Mittelmeer vermuten und niemand würde dort nach Ayisha suchen. Sie würden endlich frei sein und sich ein kleines Haus mieten, einen Backofen bauen und Backwaren verkaufen. Die Leute in Alexandria würden Lailas Kuchen, Fladen und Pasteten ebenso lieben wie die Leute hier.