Wie vergisst man eine Lady? - Anne Gracie - E-Book

Wie vergisst man eine Lady? E-Book

Anne Gracie

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Beschreibung

Ein schwerverletzter Diplomat und eine schöne Frau, die sich um ihn kümmert …
Band 4 der prickelnden Regency Romance-Reihe von Erfolgsautorin Anne Gracie

Als Nash Renfrew im Bett der schönen Maddy Woodford erwacht, glaubt er zu träumen. Dann erfährt er von seinem Unfall und dem Verlust seines Gedächtnisses. Doch als es zurückkehrt, will Nash nicht von Maddys Seite weichen und tut so, als ob er immer noch an Amnesie leide. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst Nashs Anziehungskraft zu Maddy. Aber er ist ein Diplomat und sie ist nur ein Mädchen vom Land. Wie kann er überhaupt auf die Idee kommen, sie zu verführen?

Maddy, die fünf verwaiste Halbgeschwister zu versorgen hat, braucht das Geld, das Nash ihr anbietet. So nimmt sie es an, obwohl sie weiß, dass sein Aufenthalt für Klatsch und Tratsch sorgen wird. Sie kann nicht verheimlichen, dass seine Anwesenheit ihr ein Gefühl der Sicherheit gibt. Ebenso wenig kann sie die Leidenschaft leugnen, die jede sanfte Liebkosung verspricht. Aber ihre Liebe entfacht auch eine Gefahr, die keiner von ihnen bemerkt …

Weitere Titel dieser Reihe
Ein Schurke zur rechten Zeit (ISBN: 9783986371340)
Im Herzen ein Earl (ISBN: 9783986371364)
Eine geheimnisvolle Lady (ISBN: 9783986371371)

Erste Leser:innenstimmen
„Wer eine Historical Romance mit starker Frauenfigur sucht, ist hier genau richtig!“
„Die leidenschadtliche Liebe zwischen Maddy und Nash hat mich völlig gefangen genommen.“
„Für mich die beste historische Liebesroman-Reihe von Anne Gracie, unvergleichlich mitreißend geschrieben!“
„schlagfertige und humorvolle Dialoge, anhaltende Spannung, eine schöne Lovestory“

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Seitenzahl: 595

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Über dieses E-Book

Als Nash Renfrew im Bett der schönen Maddy Woodford erwacht, glaubt er zu träumen. Dann erfährt er von seinem Unfall und dem Verlust seines Gedächtnisses. Doch als es zurückkehrt, will Nash nicht von Maddys Seite weichen und tut so, als ob er immer noch an Amnesie leide. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst Nashs Anziehungskraft zu Maddy. Aber er ist ein Diplomat und sie ist nur ein Mädchen vom Land. Wie kann er überhaupt auf die Idee kommen, sie zu verführen?

Maddy, die fünf verwaiste Halbgeschwister zu versorgen hat, braucht das Geld, das Nash ihr anbietet. So nimmt sie es an, obwohl sie weiß, dass sein Aufenthalt für Klatsch und Tratsch sorgen wird. Sie kann nicht verheimlichen, dass seine Anwesenheit ihr ein Gefühl der Sicherheit gibt. Ebenso wenig kann sie die Leidenschaft leugnen, die jede sanfte Liebkosung verspricht. Aber ihre Liebe entfacht auch eine Gefahr, die keiner von ihnen bemerkt …

Impressum

Erstausgabe 2010 Überarbeitete Neuausgabe Januar 2022

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-139-5

Copyright © 2010 by Anne Gracie Titel des englischen Originals: The Accidental Wedding

Anne Gracie: Zwischen Pflicht und purem Verlangen. Übersetzt von Trudi Perlinger.   © für die deutsche Übersetzung © CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition was published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © 2014, CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2014 bei CORA-Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg erschienenen Titels Zwischen Pflicht und purem Verlangen (ISBN: 978-3-95649-144-3).

Übersetzt von: Trudi Perlinger Covergestaltung: ARTC.ore Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © luck luckyfarm, © Rolf E. Staerk, © Paul Wishart, © Ironika PeriodImages.com: © Maria Chronis, VJ Dunraven Productions Korrektorat: Katharina Pomorski

E-Book-Version 29.09.2022, 08:49:25.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Wie vergisst man eine Lady?

Prolog

Bath, England 1819

„Ich soll eine geeignete Braut für dich finden?“ Lady Gosforth, Tante des ehrenwerten Nash Renfrew, musterte ihren Neffen mit strengem Blick durch ihr Lorgnon, das ihre Augen stark vergrößerte. Sie benutzte es gern, um ihr Gegenüber einzuschüchtern.

Bei Nash allerdings verfehlte diese Taktik ihre Wirkung. „Wenn du die Güte hättest, Tante Maude.“

Sie gab einen pikierten Laut von sich. „Ausgehend von den Gerüchten, die mir zu Ohren kamen, vermute ich, dass es dir nicht schwerfällt, Frauenbekanntschaften zu schließen, nicht einmal in St. Petersburg.“

Nash zuckte nicht einmal mit der Wimper. Woher zum Teufel wusste sie von seinem Leben in St. Petersburg, da sie doch vorwiegend in Bath residierte? Zugegeben, ihre gesellschaftlichen Kontakte waren legendär. Deshalb bat er sie ja auch um ihre Unterstützung.

„Das ist etwas anderes“, entgegnete er und winkte ab.

„Natürlich.“ Seine Tante seufzte enerviert. „Und du bittest mich überdies, einen Ball innerhalb von vier Wochen zu arrangieren? Ausgerechnet jetzt zu Beginn der Saison?“

„Wenn dir das nicht zu viel Mühe macht, liebe Tante.“

„Zu viel Mühe? Natürlich macht mir das erhebliche Mühe! Ich bin zu alt, um noch große Feste auszurichten.“ Sie setzte eine Leidensmiene auf.

„Tut mir leid, Tante Maude. Das habe ich nicht bedacht, denn du siehst so blühend und jung aus … Lass es gut sein, ich engagiere jemanden …“

„Jemanden engagieren? Ein gesellschaftliches Ereignis von Fremden organisieren lassen? Kommt nicht infrage!“ Dieser Gedanke versetzte sie in helle Empörung. „Das wäre im höchsten Maße vulgär. Ich versuche, irgendwie die Kraft aufzubringen, etwas zu arrangieren.“ Sie seufzte. „Und dir auch ein passendes Mädchen zu finden. Aber ich warne dich, Nash, in dieser kurzen Zeit, knapp vor der Saison, da alle Einladungen bereits ausgesprochen sind, kann es nichts anderes als eine bescheidene und belanglose Angelegenheit werden.“

„Ich weiß und es tut mir leid, dich damit zu behelligen.“ Nash war keineswegs beunruhigt, vielmehr war er davon überzeugt, dass sie nichts versäumen würde, um ein glanzvolles Fest auf die Beine zu stellen. Beiläufig fügte er hinzu: „Darf ich dich bitten, auch eine Einladung an die Tante des russischen Zaren zu senden, die Großfürstin Anna Petrowna Romanowa?“

Sie ließ das Lorgnon sinken. „Die Tante des russischen Zaren?“

„Sie reist wenige Tage vor dem Ball an. Und da sie in London keine gesellschaftlichen Kontakte hat, habe ich ihr meine Hilfe zugesichert. Sie wird keine Einwände gegen ein bescheidenes Fest haben.“ Die Großfürstin pflegte in Moskau ein ebenso reges Gesellschaftsleben wie seine Tante in England und liebte prunkvolle Feste.

„Eine Großfürstin?“ Tante Maude straffte die Schultern, ihre Augen glänzten vor Ehrgeiz. Und dann entrang sich ihr wieder ein tiefer Seufzer. „Du treibst mich noch an den Rand der Verzweiflung, mein Junge.“

„Ich weiß“, pflichtete er ihr mit zerknirschter Miene bei. Mit einer russischen Großfürstin als Ehrengast versprach der Ball das Ereignis der Saison zu werden und das wusste seine Tante.

Nash hatte aus zwei Gründen darum ersucht, nach England zurückzukehren: erstens, um ein Erbe anzutreten und zweitens, um eine Braut zu finden. Der britische Konsul, der um die Launenhaftigkeit der Großfürstin wusste, hatte seine Zustimmung unter der Bedingung erteilt, dass Nash die alte Dame in London unter seine Fittiche nahm.

Nash habe die Gabe, hatte der Botschafter gemeint, mit herrischen und launenhaften älteren Damen umzugehen. Und Nash hatte erwidert, er habe sein ganzes Leben mit herrischen und launenhaften Tanten und Großtanten zu tun gehabt. Eine davon beäugte ihn nun streng mit stechendem Blick durch ihr Lorgnon.

„Abgesehen von dem Ball für eine Großfürstin soll ich auch noch eine Ehefrau für dich aus dem Ärmel schütteln, wie?“

„Nicht irgendeine Ehefrau, sondern die Richtige. Sie sollte eine exzellente Partie sein.“

Sie zog eine sorgsam gezupfte Braue hoch. „Natürlich, du bist schließlich ein Renfrew. In unserer Familie ist nichts anderes denkbar. Aber was, bitteschön, ist deine Definition einer exzellenten Partie?“

Darüber hatte Nash eingehend nachgedacht.

Abgesehen von bestem familiären Hintergrund, hervorragender Bildung und Intelligenz, sollte seine Zukünftige auch glänzende gesellschaftliche Beziehungen vorweisen. Sie sollte einiges Wissen über politische Zusammenhänge haben, sich allerdings mit ihrer eigenen Meinung zurückhalten. Sie sollte versiert darin sein, große gesellschaftliche Anlässe zu organisieren und über ein gewisses Maß an Charme verfügen. In erster Linie sollte sie diskret sein, Gesellschaftsklatsch meiden und Toleranz zeigen für das extravagante Verhalten ihres Gemahls.

Was die Nachkommenschaft betraf, so brauchte er keine Erben, Kinder waren nicht seine Sache. Wenn seine Gemahlin sich ein Kind wünschte, hätte er allerdings keine Einwände dagegen.

„Und vermutlich erwartest du von dieser Traumfrau auch Schönheit und Vermögen“, sagte Tante Maude sarkastisch, nachdem er mit seiner Wunschliste geendet hatte.

Nash schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. „Das wäre ganz reizend, beste aller Tanten.“

Sie wurde sichtlich versöhnlicher. „Pah! Jüngere Söhne!“ Sie beäugte ihn wieder mit ihrem scharfen Vogelblick, den all ihre Neffen nur zu gut kannten. „An einer Liebesheirat bist du wohl nicht interessiert, wie?“

Nash furchte irritiert die Stirn. „Eine Liebesheirat?“

„Deine Brüder haben aus Liebe geheiratet und sind beide sehr glücklich.“

„Gabriel und Harry wuchsen nicht in Alverleigh auf und waren nicht täglich den Eifersuchtsszenen unserer Eltern ausgesetzt“, entgegnete Nash. „Andernfalls wären beide noch Junggesellen wie Marcus und ich.“

„Gabriel und Harry wurden von eurer unverheirateten Großtante großgezogen, in deren Leben Männer den Rang hinter Pferden und Hunden einnahmen, eigentlich schätzte sie Männer kaum mehr als Küchenschaben“, erklärte seine Tante in liebenswürdigem Ton. „Auf die Renfrew-Männer hielt sie allerdings große Stücke, was einen gewissen Ausgleich schaffte.“

Nash hob die Achseln. „Ich will damit nur sagen, dass meine Brüder nicht erlebt haben, wie zerstörerisch eine Liebesheirat sein kann. Ich stelle mir eine sorgfältig geplante Vernunftehe vor, die auf gemeinsamen Zielen basiert.“

Lady Gosforth stieß einen verächtlichen Laut aus. „Eine blutleere Beziehung.“

Er nickte begeistert. „Ja, genau so soll es sein.“

„Aber ein Leben ohne Liebe, ohne Leidenschaft …“

„Liebe?“, fiel Nash ihr ins Wort. „Für meine Eltern war die Ehe ein Kriegsschauplatz der Leidenschaft. Wenn sie sich nicht gegenseitig mit ihren eifersüchtigen Streitigkeiten in den Haaren lagen und damit der ganzen Familie auf die Nerven gingen, hingen sie aneinander wie die Kletten.“ Nash schüttelte sich angewidert. „Ich würde lieber in … in einem Eiskeller leben.“

„Du irrst, mein Junge, aber ich versuche nicht, deine Meinung zu ändern. Du hast schließlich den legendären Dickschädel aller Renfrew-Männer. Gut, ich finde dir deine Traumfrau, aber gib mir nicht die Schuld daran, wenn du nach sechs Monaten Ehe vor Langeweile eingehst wie eine Primel.“

„Man heiratet nicht zum Vergnügen“, meinte er mit Nachdruck.

Wehmütig sah sie ihn an. „Ach Junge, die Ehe sollte ein romantisches Abenteuer sein.“

„Mein Beruf vereint alle Abenteuer, von denen ich je geträumt habe. Aber wenn du meinst, vielleicht strebe ich genau das an, was du eine schlechte Ehe nennst.“

„Über diese Dinge scherzt man nicht!“, wies sie ihn zurecht. „Niemals!“

1. Kapitel

Auf der Hügelkuppe zeichnete sich der dunkle Umriss eines Reiters gegen den bleigrau verhangenen Himmel ab. Der Reiter verharrte kurz, schien sich zu orientieren, bevor er den Hang im verhaltenen Trab hinunterritt. Hinter ihm zerrissen grelle Blitze die düstere Wolkendecke.

„Ein apokalyptischer Reiter“, bemerkte Maddy Woodford auf der Türschwelle ihres Cottages. „Wer immer er sein mag, er versteht es, sich in Szene zu setzen.“

Lizzie Brown folgte ihrem Blick. „Ein Gentleman“, verkündete sie und knöpfte ihren Mantel zu.

Maddy lachte. „Wie willst du das wissen? Bauern und Kaufleute haben auch Pferde. Kennst du ihn etwa?“

Lizzie schmunzelte kopfschüttelnd. „Den hab ich noch nie gesehen. Aber er reitet querfeldein über Privatbesitz.“ Sie zuckte mit den Achseln und verdrehte die Augen. „So etwas erlaubt sich nur ein Gentleman. Einfache Leute wagen sich nicht unbefugt auf fremdes Land. Unsereins kommt wegen geringerer Vergehen ins Gefängnis.“

„Anzunehmen.“

„Der will vermutlich nach Fonthill oder Whitethorn Manor.“ Verschmitzt fügte Lizzie hinzu: „Vielleicht reitet er an Ihrem Cottage vorbei. Sie könnten ihm den Weg versperren, Miss. Ein Gentleman würde anhalten. Wer weiß, vielleicht angeln Sie sich einen reichen Ehemann.“

Maddy schnaubte verächtlich. „Bei meinem Glück würde er mich mit Sicherheit über den Haufen reiten und ich …“

„Und Sie liegen im Dreck!“, beendete Lizzie den Gedanken und beide lachten. „Nein, er würde mit Sicherheit anhalten, so hübsch, wie Sie heute aussehen mit Ihrer neuen Frisur.“ Lizzie betrachtete prüfend Maddys Haar. „Das habe ich ziemlich gut hingekriegt, finde ich.“

Vorsichtig strich Maddy über ihren frisch frisierten Kopf. Lizzie erprobte ihr Geschick als Friseuse gern an ihr. „Das hast du sogar sehr gut gemacht, Lizzie. Du wirst bald eine gute Zofe sein.“

„Das hoffe ich, Miss Maddy. Ich habe es satt, immer nur Kühe zu melken. Und Sie werden bald die wunderbare Ehefrau eines Gentleman sein, das hoffe ich auch.“

„So lange keiner weiß, dass ich keinen roten Heller besitze.“ Maddy lachte. „Im Übrigen bin ich mir gar nicht sicher, ob ich den Wunsch habe, zu heiraten.“

Lizzies Lachen erstarb. „Sie haben ganz recht.“

Maddy machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Oh Lizzie, verzeih. Ich wollte nicht …“ Sie hatte gedankenlos drauflosgeplappert. Lizzie war gerade mal vier Monate verheiratet gewesen, als ihr Ehemann mit allen Ersparnissen in die Stadt gefahren und nie wieder aufgetaucht war.

Lizzie band sich ihr Kopftuch um und sagte bitter: „Sei‘s drum. Mit der Ehe kauft man eben die Katze im Sack. Bei Männern weiß man erst, woran man ist, wenn es zu spät ist. Aber wenn man reich ist, sind die Sorgen leichter zu ertragen.“

Maddy nickte, obgleich sie anderer Meinung war. Reichtum konnte schlimme Sorgen mit sich bringen. Um solchen Sorgen zu entfliehen, lebte Maddy hier in diesem armseligen Cottage. Aber davon hatte Lizzie keine Ahnung.

Davon hatte niemand eine Ahnung und Maddy würde niemals darüber sprechen.

„Ich muss los“, sagte Lizzie. „Es fängt jeden Moment an zu regnen. Hoffentlich schaffe ich es noch nach Hause, bevor ich bis auf die Haut nass werde. Und vielen Dank auch, Miss Maddy. Ohne Sie und Ihren Unterricht wäre ich aufgeschmissen. Onkel Bill ist Ihnen auch dankbar.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Ich bin die schlechteste Melkerin, die er je hatte, aber seine Nichte setzt man nicht einfach vor die Tür, habe ich recht? Er hofft natürlich, dass Sie mir alles beibringen, damit er mich bald loswird. Und wenn es so weit ist, wird er Sie Ihr ganzes Leben mit Milch, Butter und Käse versorgen, schätze ich.“

Maddy lachte. „Vielleicht nehme ich deinen Onkel beim Wort. Und nenn mich nicht immer Miss M…“ Aber Lizzie rannte bereits den Weg entlang.

Maddy schüttelte den Kopf. Unzählige Male hatte sie Lizzie gebeten, sie nur Maddy zu nennen, aber Lizzie beharrte auf dem Miss, obgleich sie im gleichen Alter von zweiundzwanzig waren.

„Sie sind eine geborene Lady und ich bin nur ein einfaches Bauernmädchen. Und außerdem, wenn ich Zofe werden will, ist es besser, mir respektvollen Umgang anzugewöhnen“, pflegte Lizzie zu erklären.

Maddy fröstelte. Der Gewittersturm näherte sich rasch und sie musste ihre jungen Pflanzen retten.

In den letzten Tagen war das Wetter umgeschlagen und es hatte wieder Frost gegeben. Knospen waren an den Zweigen erfroren, Osterglocken zu Eis erstarrt und der Nachtfrost hatte mehr als ein Drittel ihres zarten Frühlingsgemüses vernichtet und das war am schlimmsten.

Sie holte Sackleinen neben dem Holzstapel an der Hintertür, breitete die Bahnen über ein Spalier aus Holzstäben auf den Beeten, um ihre kostbaren Keimlinge abzudecken.

Als Neunjährige hatte sie ihre ersten Saaten ausgebracht, voller Neugier und gespannter Erwartung verfolgt, wie daraus Keimlinge sprossen, wuchsen und gediehen, bis sie ihren ersten Salatkopf stolz ihrer Großmutter präsentiert hatte. Diese spielerischen Gartenarbeiten ihrer Kindheit hatten sich später als sehr nützlich erwiesen und sie vor dem Verhungern bewahrt.

In jenen Tagen hatte Maddy freilich nicht von einem Gemüsegarten geträumt, vielmehr von einem schönen Prinzen und festlichen Bällen, schönen Kleidern und der großen Liebe…

Allmählich war aus dem schönen Prinzen ihrer Träume ein gut aussehender Gentleman geworden und die festlichen Bälle … Darauf würde sie wohl für immer verzichten müssen. Selbst wenn sie eine Einladung erhalten würde, besaß sie kein hübsches Kleid und sie hatte auch kein Geld, um eines zu kaufen.

Heutzutage würde sie sich mit einem rechtschaffenen einfachen Mann zufriedengeben. Ein Landwirt oder Kaufmann, das war nicht wichtig, solange sie ihn gernhaben und respektieren konnte und er sie. Sie war kein Kind mehr und das Leben bestand nicht aus Traumschlössern; das Leben war ein ständiger Kampf.

Sie richtete sich auf, drückte ihren schmerzenden Rücken durch und überprüfte den Schutz ihrer zarten Pflänzchen. Sie würden die Kälte überstehen, mussten sie überstehen. Maddys kleine Familie war darauf angewiesen. Auch sie würden überleben. Es war nur eine Frage von harter Arbeit und Bescheidenheit.

Und etwas Glück. Sie hob den Blick in die dunkel brodelnde Wolkenwand.

Donnernde Hufschläge kündeten davon, dass der Reiter sich dem Cottage näherte. Und es handelte sich tatsächlich um einen Gentleman, darauf ließ seine Erscheinung schließen. Sein edles Vollblutpferd, sein eleganter brauner Pelerinenmantel, hohe Reitstiefel und der modische Biberhut. Er saß lässig zu Pferd, als wäre er im Sattel geboren.

Wen wollte er besuchen? Sir Jasper Brownrigg, der Besitzer von Whitethorn Manor, war vor drei Monaten verstorben und abgesehen vom Vikar war der Squire der einzige Gentleman im Distrikt und der war eher gentlemanlike als ein geborener Gentleman – ein feiner Unterschied, auf dem ihr Vater bestanden hätte. Ein grässlicher Snob, ihr verstorbener Herr Papa.

Und sieh nur, wohin uns dein affektiertes Gehabe gebracht hat, Papa, dachte sie in einem Anflug von Bitterkeit, in Lebensumstände, in denen ein paar alte Getreidesäcke, Gemüsesprösslinge und eine junge Melkerin mit Ambitionen zwischen deinen Kindern und der Hungersnot stehen.

Und zwischen Maddy und Fyfield Place.

Pferd und Reiter übersprangen einen breiten Graben und nahmen Kurs auf die lange niedrige Sandsteinmauer. Eine Begrenzung, die sich meilenweit den Hügeln und Mulden folgend durchs Land zog.

Seit Sir Jasper Brownrigg alt und gebrechlich geworden war, waren die Ländereien vernachlässigt, die Mauer war schadhaft geworden. Der Reiter lenkte sein Pferd seitlich an die Mauer heran, wo die Schlusssteine abbröckelten. Bei flüchtigem Hinsehen die ideale Stelle, um sie zu überspringen, aber…

„Nein, nicht dort!“, schrie Maddy. „Die Rutschbahn der Jungs …“

Ihre Worte wurden vom Wind verweht.

Unter ihren entsetzten Blicken trafen die Pferdehufe auf die glitschige Lehmbahn im selben Moment, als die Muskulatur seiner mächtigen Hinterhand sich anspannte und das Pferd zum Sprung ansetzte.

Das Tier glitt aus, die Hufe suchten verzweifelt Halt. Vergeblich. Das Pferd stürzte. Der Reiter flog durch die Luft und krachte gegen die Mauer.

In der erschrockenen Stille, die darauf folgte, schien die Welt stehen geblieben zu sein. Dann raffte das Pferd sich auf, schüttelte sich wiehernd und trabte davon, offenbar unverletzt.

Die dunkle Gestalt an der Mauer lag still da.

Maddy rannte los, ehe sie darüber nachdenken konnte, was sie tat, und stieß das verrostete Tor auf.

Der Fremde lag zusammengekrümmt im Morast, mit seltsam verdrehtem Kopf, auch ein Bein war unnatürlich nach außen gedreht. Er rührte sich nicht.

Maddy kauerte sich neben ihn, schob zwei Finger unter den Kragen seines Mantels und den dünnen Stoff seines Hemdes an seinen warmen Hals. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich, ob sie etwas an ihren Fingerkuppen spürte.

Nichts. Kein Klopfen. Keine Bewegung.

Sie entsann sich ihrer Bemerkung über den apokalyptischen Reiter.

Nein! Er durfte nicht tot sein. Bitte, lieber Gott!

Sie strich ihm das dunkle wirre Haar aus der Stirn und … spürte nichts.

Natürlich! Die Kälte hatte ihre Finger taub werden lassen. Sie rieb die Hände aneinander, bis sie brannten, schob sie erneut unter seinen Hemdkragen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Sie spürte seinen Puls.

Und er atmete.

Blut quoll aus einer Wunde an seinem Kopf und lief ihr warm und klebrig über die Finger.

„Sie werden nicht sterben“, befahl Maddy streng. „Hören Sie? Das lasse ich nicht zu!“

Offenbar verwirrt schlug er nach ihren Händen, bewegte Kopf und Beine rastlos. Ein gutes Zeichen. Mit einem gebrochenen Rückgrat könnte er sich nicht bewegen.

Sie faltete ihre Schürze mit der sauberen Seite nach außen zu einem notdürftigen Verband, drapierte ihn unter seinem Kopf und befestigte die Bänder über der Stirn. Dann untersuchte sie den Körper des Fremden nach Verletzungen und fand den lehmigen Abdruck eines Hufs an einem glänzend polierten schwarzen Stiefelschaft. Das Pferd hatte ihm gegen das Schienbein getreten.

Graupelschauer stachen ihr wie spitze Nadeln ins Gesicht. „Wir müssen Sie schleunigst ins Haus bringen“, erklärte Maddy ihm, als könnte er sie hören. Aber wie?

Sie legte ihm ihre Arme unter die Achseln. „Eins, zwei, drei.“ Sie versuchte, ihn hochzuhieven.

Auf dem glitschigen Lehm hätte er sich ziehen lassen sollen, das war ihre Hoffnung gewesen, aber er war ein großer Mann und schwerer, als sie vermutet hatte. Seine Kleidung war durchnässt und machte die Sache nicht leichter. Nach mehreren Versuchen, ihn wegzuschleppen, hatte sie ihn kaum einen Fußbreit von der Stelle bekommen. „Es ist hoffnungslos“, erklärte sie ihm. „Sie sind zu schwer.“

Und dann hatte sie eine Idee. „Die Schubkarre!“ Sie lief los. Die Schubkarre war alt und hatte ein eierndes Rad, aber sie funktionierte noch.

Wie sollte sie ihn aufladen? Sie versuchte, ihn hochzuheben, zuerst mit den Schultern, dann mit den Beinen zuerst. Aber alles Heben und Zerren war vergeblich, der Mann wog einfach zu viel.

„Verflixt!“, keuchte sie schließlich, als auch sie im Schlamm neben der seitlich gekippten Karre landete. Der eisige Graupelregen hatte sich verstärkt. Und dann hatte sie wieder eine Idee. Sie rollte den leblosen Körper in die umgekippte Karre, holte ein Seil und band ihn fest.

Mit einer Holzstange von der Wäscheleine über einem großen Stein als Hebel stemmte sie mit aller Kraft die Karre hoch, bis sie mitsamt ihrer Ladung wieder senkrecht stand.

Ihre Armmuskeln brannten höllisch, als sie ihn endlich durch die Haustür karrte, ohne auf die Schlammspuren zu achten, die sie dabei hinterließ.

Das Erdgeschoss des Cottages bestand aus einem Raum mit einer Feuerstelle, Tisch und Stühlen. In einer Ecke befand sich ihr breites Bett in einer Wandnische, das früher einmal für eine kranke Großmutter gebaut worden war. Nun war es Maddys Schlafstelle. Eigentlich wollte sie den Mann auf dem Bett abladen. Aber er war durchnässt, blutete und war völlig mit Lehm verschmutzt.

Sie nahm die Decken weg und breitete ein altes Öltuch über die vordere Hälfte des Bettes, damit die Laken nicht verdreckten.

Dann fuhr sie ihn neben das Bett, band ihn los, schob die Arme unter seine Achseln und zerrte ihn hoch. Die Karre kippte abermals, Maddy fiel rückwärts auf die Matratze mitsamt dem Gewicht des durchnässten verdreckten Fremden auf ihr, dessen Kopf nun an ihrem Busen lag.

„Geschafft! Wenigstens werden wir nicht mehr nass“, murmelte sie atemlos und strich ihm die nassen Locken aus der bleichen Stirn. Sie konnte kaum seine Atemzüge wahrnehmen. Er war am Leben, aber kalt, viel zu kalt.

„Wir werden Sie gleich wärmen“, sagte sie zu ihm, wand sich unter ihm hervor und bettete seinen Kopf behutsam auf das Kissen. Sie legte Brennholz nach, stellte den Wasserkessel über das Feuer und stapelte Ziegelsteine auf den Rost daneben. Mit warmem Wasser und einem sauberen Tuch wusch sie ihm das Gesicht. Und hielt inne.

Unter den Spritzern aus Lehm und Blut kam das markant geschnittene Gesicht eines schönen Mannes zum Vorschein. Dunkle dichte Wimpern auf bleicher Haut. Ein schön geschwungener Mund, ausgeprägte unrasierte Kinnpartie.

Sie ermahnte sich, ihn nicht ungebührlich anzustarren, schließlich wusste sie ja, dass ein solches Verhalten sich nicht ziemte.

„Nun befreien wir Sie erst mal von Ihren durchnässten Kleidern.“

Sie streifte ihm die feinen Lederhandschuhe ab. Lange elegante Finger, saubere, gepflegte Nägel. Eindeutig die Hände eines Gentlemans, dachte sie mit einem trübsinnigen Blick auf ihre geröteten schwieligen Hände.

Sie schälte ihn aus Weste, Hemd und Unterhemd. Auf seinem Oberkörper waren frische Blutergüsse zu sehen, aber wohl nichts Ernsthaftes.

Ihr Mund wurde trocken, als sie ihn mit einem Tuch abrieb. Männliche Nacktheit war kein Geheimnis für sie seit Papas Unfall und mit zwei kleinen Buben, die sie badete und anzog. Aber dieser Körper war anders. Völlig anders.

Papa war alt gewesen, seine Haut faltig, sein Fleisch welk und die Buben fühlten sich an wie junge Hunde, die keine Sekunde stillhalten konnten.

Dies war ein Mann, jung und stark, in der Blüte seiner Jahre.

Papa hatte säuerlich nach altem Mann, Talkumpuder und der Salbe gerochen, mit der sie ihm Rücken und Beine gegen seine Schmerzen eingerieben hatte. Die Buben rochen nach … kleinen Jungen und Kernseife. Der Mann in ihrem Bett roch schwach nach Rasierseife, Kölnischwasser und Pferd und nasser Wolle und … noch etwas. Sie atmete seinen Geruch ein, ohne dieses Etwas definieren zu können – ein dunkler moschusähnlicher Geruch nach Mann. Ein Geruch, der sie abstoßen sollte. Stattdessen fand sie ihn … verlockend.

Sie rubbelte mit dem rauen Tuch über seinen breiten Brustkorb und seine muskulösen Arme, um seine Durchblutung zu fördern. Sein Geruch prägte sich ihr ein. Sie legte eine Decke über seine Nacktheit und steckte den weichen Stoff seitlich unter ihm fest.

Nun Stiefel und Reithosen.

Die Stiefel waren das größte Problem. Sollte sein Bein oder der Fuß gebrochen sein, würde sie die Verletzung verschlimmern, wenn sie ihm den Stiefel auszog.

Papas Stiefel waren mit dem Rasiermesser aufgeschnitten worden. Damals hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht. Heutzutage war sie sich über den Wert der Dinge weit mehr bewusst und diese Stiefel waren sehr edel und wertvoll.

„Aber es muss getan werden“, beschloss sie streng, während sie Papas Rasiermesser holte und froh war, es mitgenommen zu haben. Es war schärfer als ihre Küchenmesser.

Mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn schnitt sie den Schaft auf und entledigte ihn vorsichtig seines Stiefels und Strumpfes. Der Knöchel war geschwollen und bereits verfärbt. Ob er gebrochen war, konnte sie nicht feststellen. Wegen der Kopfwunde musste sie ohnehin den Doktor kommen lassen. Hoffentlich hatte der Fremde Geld bei sich, um ihn zu bezahlen, denn sie besaß keinen Penny.

„Nun die Reithosen“, sagte sie. „Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht ausgerechnet in diesem Moment zu Bewusstsein kämen.“ Forschend blickte sie in sein regloses Gesicht. Nicht das geringste Zucken, oder?

Mit raschen Handgriffen öffnete sie die Knöpfe seiner Hose. Sie badete die Jungs jeden Samstag und ein erwachsener nackter Mann würde auch nicht wesentlich anders aussehen.

Im Übrigen, obwohl sie das niemals einer Menschenseele gestehen würde, war sie neugierig, wie ein junger Mann aussah.

Das war das französische Blut in ihr, wie sie vermutete. Diese Seite in ihr brachte sie seit jeher in Schwierigkeiten. Papa und seine Verwandtschaft waren wesentlich sittsamer und zurückhaltender als Mama und Grand mère. Beinahe puritanisch.

So krank und hilflos Papa auch gewesen war, er hatte darauf bestanden, dass sein Kammerdiener Bates diese intimen Verrichtungen übernahm. Bates hasste diese Aufgaben, aber Papa duldete keinen Widerspruch. So schwach sein Körper auch gewesen sein mochte, sein Wille war stark bis zum Ende geblieben.

Das durchnässte kalte Rehleder klebte an der Haut des Mannes und ließ sich mitsamt der Baumwollunterhose nur mühsam über seine Hüften nach unten ziehen. Als das endlich geglückt war, war es leichter, ihn auch noch aus dem Rest zu schälen. Sie warf die klatschnasse Hose zu Boden, griff nach dem Handtuch und… starrte ihn an.

Sie schluckte. Er war ein Fremder. Sie sollte den Blick abwenden, sollte die Intimsphäre des hilflosen Mannes respektieren, der ohne Bewusstsein vor ihr lag.

Es gelang ihr nicht. Ihr erster nackter Mann.

Was für ein komisches Ding, seine Männlichkeit in einem Nest dunkler krauser Wolle, dunkelrosa gefärbt und ziemlich weich und schlaff. Nicht annähernd zu vergleichen mit den Beschreibungen, die sie gehört hatte. Auch kleiner, als sie erwartet hätte. Männer übertrieben maßlos.

Sie hob den Blick in sein Gesicht und stellte entsetzt fest, dass seine Augen geöffnet waren und er sie ansah. Er beobachtete sie dabei, wie sie sein … betrachtete.

„Sie sind wach!“, rief sie und deckte hastig das Tuch über ihn. „Wie fühlen Sie sich?“ Ihre Wangen waren heiß, aber sie wollte sich nicht entschuldigen. Schließlich war sie gezwungen gewesen, ihm die nassen Sachen auszuziehen.

Er gab keine Antwort. Sein Blick blieb auf sie gerichtet. Seine Augen waren sehr blau. Sie hatte noch nie zuvor so blaue Augen gesehen.

„Sie sind vom Pferd gestürzt und haben sich den Kopf verletzt. Können Sie sprechen?“

Er versuchte, etwas zu sagen, versuchte sich aufzusetzen. Aber bevor sie bei ihm war, um ihm zu helfen, sank er stöhnend zurück und schloss die Augen wieder.

„Bleiben Sie wach. Wer sind Sie?“ Sie rüttelte ihn am Arm. Er reagierte nicht.

Wenigstens war er am Leben und konnte sich bewegen. Das war immerhin ein gutes Zeichen.

Eilig rieb sie seinen restlichen Körper trocken und versuchte, nicht daran zu denken, dass er sie dabei ertappt hatte, wie sie seine Geschlechtsteile begutachtet hatte. Das war zwar peinlich, aber nichts, wofür sie sich schämen musste, redete sie sich ein. Er war verletzt, es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn anzusehen.

Aha! Um sich zu vergewissern, dass sein Ding nicht gebrochen war, meldete sich eine dünne tadelnde Stimme in ihrem Kopf, die sie ignorierte.

Da sie ratlos war, wie sie den geschwollenen Knöchel versorgen sollte, verband sie ihn mit Streifen aus Leinen. Danach rollte sie den Mann auf die saubere Seite ihres Bettes und hüllte ihn in die Bettdecke.

Mit Ofenzangen holte sie die Ziegel aus dem Feuer, wickelte sie in Wolltücher und legte sie nah an seinen Körper. Es war wichtig, ihn warm zu halten, und außerdem würden die Ziegel verhindern, dass er aus dem Bett fiel.

Schließlich überprüfte sie den Verband um seinen Kopf, kein Anzeichen von frischem Blut.

Trotz der Wärme in der Stube fror sie erbärmlich. Bevor sie sich um seine Kopfwunde kümmerte, musste sie ihre nassen Kleider loswerden, sonst würde sie sich erkälten.

Sie warf ihrem bewusstlosen Gast einen Blick zu. Sie sollte sich oben umziehen. Aber in den ungeheizten Dachkammern war es eiskalt. Die Kinder kleideten sich in der Stube vor dem Herd an und aus und vor dem Schlafengehen wärmte sie ihre Betten mit heißen Ziegelsteinen.

Maddy zögerte. Der Fremde atmete regelmäßig, seine Augen blieben geschlossen. Sie ging das Risiko ein.

Von ihm abgewandt legte sie ihre nassen Kleider ab, rieb sich ihren klammen Körper trocken und schlüpfte schnell in frische Kleider.

Als sie sich umdrehte, schloss der Fremde die Augen. Eine reflexartige Bewegung oder hatte er sie beobachtet? Unmöglich zu sagen. Ihr Fehler. Sie hätte sich oben umziehen müssen.

Und außerdem hatte auch sie ihn heimlich beobachtet. Was dem einen Recht, ist dem anderen billig. Dennoch glühten ihre Wangen und sie hoffte inständig, sich geirrt zu haben.

Nun aber zu seiner Kopfwunde. „Das wird nicht leicht sein“, erklärte sie ihm. „Da komme ich nur schwer ran.“

Sie legte alle nötigen Utensilien auf dem Bett zurecht. Dann kletterte sie hinter ihn, zog ihn zum Sitzen hoch, stützte seinen Rücken mit den Knien ab und ließ ihn sanft seitlich nach hinten sinken, bis seine Wange an ihren Brüsten ruhte.

„Anstößig, ich weiß“, murmelte sie und griff nach dem Honigtopf. „Aber Sie wissen nichts davon und ich rede nicht darüber. Nur so kann ich diese böse Kopfwunde versorgen.“

Seine Haare waren mit Lehm und Blut verkrustet. Sie wusch den gröbsten Dreck ab, bevor sie die Haare um die Wunde abschnitt. Eine tiefe Platzwunde, aus der nun wieder Blut sickerte. Aber sie glaubte nicht, dass sie genäht werden musste. Gottlob! Der Anblick einer Nadel, die durch lebendiges Fleisch stach, war ihr unerträglich, ganz zu schweigen von dem Gedanken, so etwas selbst tun zu müssen.

Sie reinigte die Wunde gründlich mit warmem Salzwasser, um zu verhindern, dass sich Eiter bildete.

Der Doktor würde Basilikumpuder in die Wunde streuen, aber so etwas hatte sie nicht im Haus. Sie hatte gehört, Spinnweben seien geeignet, um Blutungen zu stillen. Aber ihr graute vor Spinnen, deshalb gab es auch keine Spinnweben im Cottage. Sie hatte nur Honig. Mit Honig heilten Verbrennungen und kleine Wunden schneller und davon hatte sie reichlich. Sanft begann sie, Honig auf die Wunde zu streichen.

Es fühlte sich weich an wie eine weibliche Brust.

Sein Körper war wie Eis. Und Feuer. Unerträglich pochende Schmerzen vom Kopf bis zu den Zehen. Er versuchte, sich zu bewegen.

„Halten Sie still!“ Leise Stimme. Weiblich.

Er versuchte, die Augen zu öffnen. Schmerz durchzuckte ihn. Übelkeit.

„Ganz ruhig.“ Kühle Finger pressten ihn gegen etwas Warmes und Weiches.

Eindeutig ein Busen. Wessen Busen?

Eine zarte Hand drückte seine Wange sanft gegen diesen Busen. „Ich muss Ihre Kopfwunde versorgen.“ Ihre Stimme war weich, wohltuend. Beruhigend.

Gute Eigenschaft einer Frau. Ein ironisches Lachen stieg in ihm auf. Er biss die Zähne aufeinander gegen den Schmerz. Narr. Er versuchte wieder, sich zu bewegen. Rasender Kopfschmerz.

Kopfwunde? Würde er sterben?

Wenn ja, so war dies eine gute Art zu gehen, das Gesicht vergraben in den duftenden Tiefen eines Busens, sanfte streichelnde Finger, eine weiche murmelnde Stimme.

Dieser Busen, diese Finger, diese Stimme.

Wem immer sie gehören mochten.

Er spürte, wie sie sich bewegte. Schmerz durchbohrte ihn, Übelkeit, dann … schwarzes Nichts…

2. Kapitel

„Maddy, Maddy, wir haben ein Pferd gefunden!“ Die Tür flog auf, Maddys achtjähriger Halbbruder Henry stürmte in die Stube, gefolgt von seinem drei Jahre älteren Bruder John.

„Ein prachtvoller Vollblüter, Maddy, ein Hengst“, rief John. „Ein Brauner mit kraftvollen Schultern und Sprunggelenken. Ich wette, der nimmt jedes Hindernis …“

„Wir haben ihn eingefangen!“, unterbrach Henry ihn aufgeregt.

„Ich habe ihn gefangen“, korrigierte John.

„Ja, aber ich habe geholfen. Ohne mich hättest du es nicht geschafft, das weißt du genau!“

John wandte sich wieder an Maddy. „Ich hatte einen angebissenen Apfel in der Tasche und er nahm ihn lammfromm.“

„Ich habe ihn auch gefüttert mit Gras“, erklärte Henry.

„Und dann habe ich ihn zum Vikar gebracht. Na ja, wo sollten wir ein Pferd unterstellen? Und der Vikar hat nichts dagegen. Tut mir leid, dass wir uns verspätet haben, aber das Pferd war nass und ich musste ihm den Sattel abnehmen und ihn trocken reiben …“

„Wir beide haben ihn trocken gerieben“, beeilte sich Henry hinzuzufügen.

„Psst, psst, nicht so laut“, sagte Maddy lachend. „Und wo sind eure Schwestern?“

„Die kommen gleich“, antwortete John ein wenig schuldbewusst. „Vorhin waren sie noch hinter uns.“ Als Mann der Familie, obwohl die zwölfjährige Jane ein Jahr älter war als er, sollte er auf seine Schwestern aufpassen. „Aber sie trödeln so, Maddy, und regen sich über den schlammigen Weg und ihre Schuhe auf und ich wollte dir von dem Pferd erzählen.“

Maddys Mundwinkel zuckten. „Ich weiß, mein Junge, und sie interessieren sich nicht die Bohne für Pferde. Ich habe auch eine Überraschung für euch, aber … Aha, da sind auch die Mädchen.“ Jane, Susan und Lucy betraten die Stube.

„Tut uns leid, dass wir zu spät kommen, Maddy“, erklärte Jane und nahm der kleinen Lucy den dicken Schal ab. „Aber es regnete so stark und dann fanden die Jungs ein Pferd und mussten es unbedingt einfangen und zum Vikar bringen und ein Riesentheater veranstalten, und dann der Weg …“

„Schon gut, Jane, Liebes“, beschwichtigte Maddy sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Die zwölfjährige Jane nahm ihre Verantwortung sehr ernst. Sie war von der Veränderung ihrer aller Lebensumstände am stärksten betroffen. Maddy sah sich gezwungen, Jane weit mehr Pflichten zu übertragen, als ihr lieb gewesen wäre.

Sie wusste ein Lied davon zu singen, was es bedeutete, seine Kindheit vorzeitiger Pflichterfüllung opfern zu müssen und wünschte verzweifelt, Jane eine unbeschwerte Jugend bieten zu können, aber es gelang ihr einfach nicht. Noch nicht, ermahnte sie sich.

„Nicht nur die Jungs haben heute für eine Überraschung gesorgt“, erklärte sie den Kindern. „Ihr habt das Pferd gefunden. Ich fand den Reiter.“

Ein Schwall aufgeregter Fragen prasselte auf sie hernieder.

„Psst, psst, ihr müsst leise sein, um ihn nicht zu wecken.“

„Aber wo ist er?“, fragte Susan und schaute sich neugierig in der Stube um.

„In meinem Bett. Er ist schwer verletzt.“

„Dürfen wir ihn sehen?“

„Ja, aber ihr müsst ganz leise sein. Der arme Mann hat eine Kopfwunde und Lärm bereitet ihm Schmerzen.“

Die Kinder schlichen auf Zehenspitzen ans Bett und Maddy öffnete den verblichenen roten Vorhang an der Nische.

„Wie hat er sich den Kopf verletzt?“, flüsterte Jane.

„Er hatte einen Unfall.“

„Wieso liegt er in deinem Bett, Maddy?“, fragte die kleine Lucy.

„Schsch. Wir müssen alle ganz leise sprechen, weil er sehr krank ist“, sagte Maddy. „Deshalb liegt er in meinem Bett.“

„Und wo schläfst du?“, beharrte Lucy mit tiefer Stimme, die sie für leise hielt.

„Darüber reden wir später“, antwortete Maddy, die sich diese Frage bereits gestellt hatte.

„Er sieht hübsch aus“, sagte die achtjährige Susan im lauten Flüsterton.

„Ist er ein Prinz?“, wisperte Lucy rau. „Er sieht aus wie ein Prinz.“

„Bist du sicher, dass ihm das Pferd gehört, das wir gefunden haben?“ John klang enttäuscht. Zweifellos hegte er die Hoffnung, es behalten zu dürfen, nach dem Motto: Wer etwas findet, darf es behalten.

„Ja, ich habe gesehen, wie er stürzte und das Pferd weglief.“

„Er ist vom Pferd gefallen?“ Johns Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen.

„Jeder fällt mal vom Pferd“, wies sie ihn zurecht. „Und weißt du auch, warum der Mann gestürzt ist? Weil sein Pferd auf einer vereisten Rutschbahn ausgeglitten ist, die irgendwelche Lausbuben gebaut haben.“

„Oh.“ John und Henry tauschten beschämte Blicke.

„Ja. Und nun musst du loslaufen und den Doktor holen.“

„Jetzt gleich?“ Johns Miene hellte sich auf.

„Vorher müsst ihr essen. Es gibt Suppe …“

„Ich habe schon gegessen“, sagte John.

„Ich auch. Bratwurst und Stampfkartoffeln! Und hinterher gab es Pudding!“, erklärte Henry grinsend.

„Mrs Matheson lud uns zum Mittagessen ein, Maddy“, sagte Jane entschuldigend. Sie als Älteste der Kinder ahnte, was Maddy dabei empfand, milde Gaben von wohlmeinenden Nachbarn anzunehmen, die gleichfalls mit jedem Penny rechnen mussten.

Aber Maddy wollte die Kinder nicht mit ihren Sorgen belasten. „Bratwurst? Wie fein“, sagte sie freundlich. Die gütige Frau des Vikars, selbst kinderlos, bemutterte die Kinder gern.

Maddy fühlte sich lediglich nicht wohl bei dem Gedanken, etwas geschenkt zu bekommen, ohne sich dafür erkenntlich zeigen zu können.

„John, wenn ihr also schon gegessen habt, lauf zum Vikar und bitte ihn, den Doktor zu holen. Nein, John, der Weg zum Doktor ist zu weit. Es wird früh dunkel. Sag dem Vikar Bescheid und er schickt jemand mit dem Gig.“

„Er schickt Jenkins zum Doktor“, meinte Henry.

„Ja, gib dem Vikar diese Zeilen für den Doktor und komme gleich wieder heim.“

John zögerte. „Darf ich noch einen Apfel für das Pferd haben? Nur einen wurmstichigen verschrumpelten?“

Maddy verdrehte die Augen. „Na schön, aber nur einen.“ Aus wurmstichigen Äpfeln kochte sie Apfelmus.

„Ich will mitgehen.“ Henry bedachte sie mit einem flehenden Blick. „Du sagst doch immer, zwei Köpfe denken besser als einer.“

Schmunzelnd verwuschelte sie ihm den Lockenschopf. „Na schön, lauft los!“, willigte sie ein. „Aber dass ihr mir gleich wieder nach Hause kommt.“

Am Abend schickte sie die Kinder zeitig zu Bett. Sie waren begeistert von dem schlafenden Fremden und Maddy hatte Mühe gehabt, sie daran zu hindern, ständig nach ihm zu sehen. Alle fünf waren auf Zehenspitzen durch die Stube geschlichen, hatten im angestrengten Flüsterton gesprochen, aber Maddy hätte ihnen zugetraut, ihn heimlich wecken zu wollen.

Der Doktor war gekommen, hatte die Kopfwunde des Mannes untersucht und Maddy ein Lob für ihre Behandlung ausgesprochen. Er hatte Basilikumpuder drübergestreut und keinerlei Einwände gegen Honig als Heilsalbe erhoben.

„Honig wird auf dem Land seit Generationen verwendet“, sagte er. „Bei der starken Schwellung am Knöchel kann ich keine genaue Diagnose stellen. Es könnte ein Knochenbruch oder nur eine Prellung sein. Der Verband ist gut. Wir werden mehr wissen, sobald er aufwacht.“

„Wird er denn aufwachen?“ Maddy war in Sorge, ob der Patient je wieder das Bewusstsein erlangte. So etwas kam vor, das wusste sie.

Der Doktor zuckte mit den Achseln. „Schwer zu sagen bei Kopfverletzungen. Jedenfalls ist er in diesem Zustand nicht transportfähig, das werde ich dem Vikar berichten.“ Auf ihren überraschten Blick fügte er erläuternd hinzu: „Der gute Reverend ist nicht erbaut darüber, dass der Mann bei Ihnen ist. Sein Gepäck hat ihm nicht gefallen.“

„Sein Gepäck?“

„Nun ja, er untersuchte den Inhalt seiner Reisetasche, die am Sattel befestigt war, um etwas über die Identität des Reiters zu erfahren. Alles von feinster Qualität, was darauf schließen lässt, dass es sich um einen Gentleman handelt, eine Vermutung, der ich beipflichte. Er führt jedoch keine Dokumente bei sich und keinerlei Hinweis auf seine Herkunft. Der Reverend war allerdings entsetzt, feststellen zu müssen, dass ein bestimmter Gegenstand fehlte, was Rückschlüsse auf den Charakter des Mannes zulässt.“

„Inwiefern?“, fragte Maddy gespannt. „Welcher Gegenstand fehlte?“

„Ein Nachthemd“, antwortete der Doktor trocken. „Laut Reverend Matheson handelt es sich bei einem Gentleman, der ohne Nachthemd verreist, um einen Lebemann.“ Der Arzt schnaubte verächtlich. „Aber ich verstehe seine Besorgnis. Eine unverheiratete junge Frau wie Sie sollte nicht ohne Aufsichtsperson mit einem fremden Mann unter einem Dach wohnen. Andererseits kann ich es als Arzt nicht verantworten, dass der Mann verlegt wird, das wäre seiner Genesung ausgesprochen abträglich. Es empfiehlt sich also abzuwarten, bis er zu Bewusstsein kommt und aus eigener Kraft aufrecht sitzen kann.“

„Schon in Ordnung“, versicherte Maddy ihm. „Und was die Aufsichtsperson betrifft …“, sie wies zu den Kindern hinüber, „… davon habe ich fünf aufzuweisen. Nicht, dass ich mir im Moment über Fragen der Schicklichkeit Sorgen machen würde.“

Der Doktor nickte. „Ich hätte Sie auch nicht für eine zimperliche Person gehalten. Sie haben Ihre Sache bisher ausgezeichnet gemacht. Wenn der Mann die Sache übersteht, verdankt er Ihnen sein Leben.“

Er klappte seine Arzttasche zu und ging zur Tür. „Könnten Sie heute Nacht ein paarmal nach ihm schauen? Sie müssen nicht die ganze Nacht bei ihm Wache halten, nur gelegentlich ein Auge auf ihn haben, ob sein Zustand sich verändert. Falls Sie etwas beunruhigt, lassen Sie mich holen. Er ist noch nicht außer Lebensgefahr.“

„Was mache ich, wenn er aufwacht?“

„Kommt drauf an. Wenn er ruhig bleibt, besteht kein Grund zur Sorge. Wenn er rastlos ist, Fieber bekommt oder Schmerzen hat, geben Sie ihm davon.“ Er reichte ihr ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit. „Fünf Tropfen in einem Glas warmen Wasser. Stellen Sie es außer Reichweite der Kinder.“

Maddy nickte.

An der Türe drehte der Doktor sich noch einmal um. „Wir ziehen Erkundigungen über ihn ein. Mit etwas Glück vermisst ihn seine Familie und holt ihn ab, sobald er reisefähig ist. Lassen Sie mich wissen, wenn er zu Bewusstsein kommt.“

Maddy hatte ihm alles versprochen. Sie war keineswegs darauf erpicht, den Fremden länger als nötig zu beherbergen, der sie aus ihrem Bett vertrieben hatte. Sie war gezwungen, bei den Mädchen zu schlafen, und das würde sehr eng werden.

Nun schliefen die Kinder, und Maddy schaute ein letztes Mal nach dem Fremden, der sich kaum bewegt hatte. Vor dem Feuer entkleidete sie sich, schlüpfte in ihr Nachthemd und eilte nach oben.

Frierend stand sie vor dem Bett ihrer kleinen Schwestern. Vorhin hatte sie noch geglaubt, es würde sehr eng werden, wäre aber möglich. Nun war sie unschlüssig.

Kinder schliefen nicht wie Erwachsene, sie lagen kreuz und quer, Arme und Beine von sich gestreckt. Jane und Susan lagen außen, die kleine Lucy in ihrer Mitte. Es war sehr wenig Platz.

Aber mit einem fremden Mann in ihrem Bett blieb ihr keine Wahl. Sie würde sich zu Susan kuscheln, neben der noch ein Streifen Matratze frei war. Sanft schob sie das Mädchen näher zu Lucy, die Mädchen murmelten im Schlaf. Maddy hatte ein Bein unter der Decke, als Jane mit einem Schrei hochfuhr.

„Jane, was ist?“

Jane krallte ihre kleinen Fäuste in die Bettdecke, riss erschrocken die Augen auf und sagte schläfrig: „Weiß nicht. Ich falle aus dem Bett. Aber ich falle doch sonst nicht raus.“

„Schon gut, Kleines“, beruhigte Maddy sie und verließ das Bett. „Schlaf weiter.“ Sie deckte die Kinder noch einmal richtig zu, gab Jane noch einen Gutenachtkuss und huschte wieder nach unten. Das Bett der Jungs war noch schmaler, dort war erst recht kein Platz für sie. Sie musste auf dem Fußboden vor dem Feuer schlafen.

Zwei Stunden später war Maddy immer noch hellwach und von Minute zu Minute mürrischer. Sie fror erbärmlich.

Vom Feuer war nur noch graue Asche übrig. Brennholz kostete Geld und sie konnte es sich nicht leisten, den Herd die Nacht durchzuheizen. Außerdem müsste sie Holz hinter dem Cottage holen. Und Regen und Graupelschauer prasselten gegen die Fensterscheiben.

Sie hatte sich aus Jutesäcken ein Lager gerichtet und sich in einen wattierten Quilt und zwei Wolldecken gewickelt. Aber der Steinboden war eiskalt und der kalte Luftzug durch die Ritzen in dem alten Cottage kroch ihr bis in die Knochen.

Und die ganze Zeit schienen sie die regelmäßigen Atemzüge des Mannes zu verspotten, die an ihr Ohr drangen, wenn Sturm und Regenschauer für ein paar Sekunden nachließen. Er hatte es warm. Sie war halb erfroren. Er konnte schlafen. Kopfwunde hin oder her, er lag nicht wach, todmüde und schlotternd vor Kälte, unglücklich und wütend. Aber sie.

Er war nicht bei Bewusstsein, Herrgott noch mal. Ohnmächtig. Was könnte er ihr antun? Sie sprang auf, rollte den Quilt zu einer langen Wurst und stopfte sie der Länge nach dicht an den Körper des schlafenden Fremden.

Ihr kleiner Hadrianswall sollte sie vor dem Übergriff des Barbaren schützen. Der besinnungslose Barbar mit dem schön geschwungenen Mund, dem markanten stoppelbärtigen Kinn und den gepflegten sauberen Händen.

Er rührte sich nicht, gab keinen Laut von sich, atmete nur regelmäßig. Maddy lächelte. Was für ein Barbar.

Sie schlüpfte unter die Bettdecke. Himmlisch warm und weich. Niemand würde je davon erfahren…

Maddy schlief augenblicklich ein.

In der dunkelsten Nachtstunde erwachte der Mann im Bett. Er lag in fremder Umgebung, versuchte, sich zu orientieren. Er hatte keine Ahnung, wo er war, wie er hierhergekommen war, wusste nur, dass es Nacht war. Aber welche Nacht, welcher Ort …? Alles ein Mysterium. In seinem Kopf war dumpfe Leere.

Nein, keine Leere, in seinem Kopf war eher so etwas wie wabernder Nebel, Gesichter, Ereignisse tauchten schemenhaft auf und verschwanden wieder. Verhöhnten ihn.

Sein ganzer Körper schmerzte. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihm die Schädeldecke gespalten. Mühsam hob er den Arm und furchte die Stirn, als seine Finger einen Verband ertasteten. Er war also verletzt. Wie? Und von wem? Er war verbunden worden von…

Einer Frau. Durch das Gewirr von Bilderfetzen wusste er, dass es eine Frau gab mit sanften Händen und leiser Stimme. Und dem Geruch nach…

Er drehte sich seitlich und atmete tief ein. Er konnte sie riechen. Wie ein Jagdhund witterte er ihre Nähe.

Er war nicht allein.

Wer war sie, die mit ihm das Bett teilte? Er schloss die Augen. So viele Fragen. Und keine Antworten.

Einerlei. Sie war hier und das reichte. Er rückte näher und fand etwas anderes im Bett. Etwas Langes, Stoffartiges. Warum?

Er zog es heraus, warf es zur Seite und wandte sich wieder der Frau zu. Sie lag mit dem Rücken zu ihm, warm und weich. Er schlang den Arm um sie und zog sie an sich, schmiegte sich an sie.

Ihr Fuß streifte sein Bein. Ein kalter Fuß. Er schob ihre Füße zwischen seine Waden und spürte, wie sie sich allmählich erwärmten.

Er näherte sein Gesicht ihrem Nacken auf dem Kissen und atmete ihren Duft.

Es tat gut, sie in den Armen zu halten. Er zog sie näher an sich. Sie war sein Anker, das einzig Feste in einem wogenden Meer hämischer Gespenster. Die Fragen, die in seinem Schädel hämmerten, verebbten allmählich.

Er presste seinen geschundenen Körper an sie, sein Mund berührte die zarte Haut an ihrem Hals. Bald passten sich seine Atemzüge den ihren an, und er schlief ein.

Die Träume vor Morgengrauen waren am schönsten. Aus diesen Morgenträumen löste Maddy sich behutsam, ließ ihre innigsten Wünsche zu, ihren Fantasien freien Lauf…

Ihr Traumgeliebter … warm, kraftvoll…

Eng an ihn geschmiegt, nichts dazwischen. Geborgen in seiner Wärme, umschlungen von kräftigen besitzergreifenden Armen und leicht behaarten Beinen. Seine Atemzüge im Gleichklang mit den ihren, ein … aus … ein … aus.

Innig vereint lag sie mit ihm in einem weichen Bett, spürte seine Wärme, seine Haut, tauschte Träume und Pläne für den kommenden Tag mit ihm nach einer herrlichen Liebesnacht…

Dieser Teil ihrer Morgenträume war stets ein wenig verschleiert. Sie hatte nur vage Vorstellungen davon, was es mit der Liebe zwischen Mann und Frau auf sich hatte. Von den getuschelten Gesprächen der Mägde im Dorf wusste sie, was dabei geschah und fand es keineswegs erstrebenswert. Es klang hässlich und brutal.

Mama hatte gesagt, Männer brauchen es; für Frauen sei es eine Pflicht, die sie ertragen mussten, deren Folge Schwangerschaften und schmerzhafte Geburten waren. Eine Aussicht, die Maddy noch weniger erstrebenswert zu sein schien.

Aber von Grand mère wusste sie, dass die Vereinigung zwischen Mann und Frau eine Quelle des Glücks bedeutete.

Grand mère hatte dieses Glück erst spät in ihrem Leben erfahren. Sie war bereits seit fünfzehn Jahre Witwe gewesen, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, sich einen Liebhaber oder einen zweiten Ehemann zu nehmen, bis Raoul Dubois, ein gut aussehender Bauernbursche mit breiten Schultern und starken Händen, ein Auge auf sie geworfen hatte.

Maddy war damals dreizehn gewesen und hatte die ganze Angelegenheit mit großem Staunen verfolgt.

Zu Grand mères Verlegenheit war Raoul ihr beharrlich nachgestiegen, ohne sich von ihrer Zurückweisung, ihrer gesellschaftlichen Position, nicht einmal von dem Altersunterschied beirren zu lassen. All die Bedenken, die Grand mère erhoben hatte, um ihn abzuschrecken.

Raoul beantwortete ihre Einwände lediglich mit einem Schulterzucken. Und Grand mère sah ihn an, seufzte und wiederholte ihre Begründungen, ihre zunehmend halbherzige Verteidigung.

„Non! Es ist undenkbar! Sie sind ein einfacher Waldarbeiter und ich …“

„Es gab eine Revolution, erinnern Sie sich? In Frankreich sind jetzt alle Menschen gleich.“ Er grinste ironisch, denn er wusste wie jeder andere auch, dass sich an den Klassenunterschieden gar nichts geändert hatte.

„Mein Vater würde sich im Grab umdrehen.“

„Alle Väter drehen sich im Grab um. Das ist ihr Schicksal.“

„Aber ich bin Jahre älter als Sie!“, wandte Grand mère ein. „Unmöglich!“

Grand mère wurde im selben Jahr geboren wie die bedauernswerte Königin Marie Antoinette, von der niemals gesprochen werden durfte. Im Jahr 1793 endete die unglückliche Königin mit fast achtunddreißig Jahren unter der Guillotine. Und Grand mère war nun gut in den Fünfzigern.

Raoul war früh verwitwet, ein Mann in der Blüte seiner Jahre, gerade vierzig geworden. „Was zählen schon Jahre?“, entgegnete er lächelnd. „Sie sind eine schöne Frau und ich, ich bin ein Mann. Nur das zählt. Ich verlange nichts von Ihnen, nicht die Ehe, keinen Besitz, ich will nur Sie, ma belle.“ Und dann lächelte er wieder und dieses Lächeln hatte Maddy eine Seite in ihrer Großmutter offenbart, die sie niemals an ihr erwartet hätte. Ihre Großmutter errötete wie ein junges Mädchen.

Es dauerte zwei Jahre, bis Raoul ihren Widerstand gebrochen hatte.

Nachdem Raoul und Grand mère ein Liebespaar geworden waren, hatte Maddy verstanden, dass ein gemeinsames Leben mit einem guten Mann – dem richtigen Mann – die Welt einer Frau, die alles verloren hatte, völlig verändern konnte. Grand mère war eine verwandelte Frau.

Ihr Zorn und ihre Bitterkeit waren verschwunden. Mit Raoul in ihrem Leben war sie voller Freude und Lachen und … Elan.

Gelegentlich erwachte Maddy nachts oder in den frühen Morgenstunden und hörte ihr Liebesspiel. Anfangs war sie in Sorge, doch die glänzenden Augen ihrer Großmutter am nächsten Morgen sagten ihr, dass die stöhnenden Laute sie in die Irre geführt hatten und etwas Wundervolles verhießen.

Dann wieder erwachte sie nachts und hörte, wie das Paar miteinander flüsterte, die leise Stimme ihrer Großmutter und das tiefe Murmeln von Raoul. Die Gespräche klangen so friedvoll vertraulich und Maddy sehnte die Zeit herbei, in der auch sie behaglich mit ihrem geliebten Mann im Bett liegen und leise mit ihm plaudern würde.

Raoul und Grand mère verbrachten fünf glückliche Jahre miteinander, bis er von einem umstürzenden Baum getötet wurde und jede Freude in Grand mères Augen erlosch. Sie starb ein knappes Jahr nach ihm.

Aber sie hinterließ Maddy ein kostbares Vermächtnis: das Wissen, dass mit dem richtigen Mann der Liebesakt höchste Erfüllung bedeutete.

„Männer und Frauen belügen sich ständig, chérie, auch im Bett, aber beim Liebesakt gibt es nur Ehrlichkeit und Wahrheit“, hatte Grand mère einmal gesagt. „Und mit dem richtigen Mann … ah, welche Glückseligkeit.“ Und sie hatte geseufzt.

Maddy würde vermutlich nie heiraten, sie war zu arm und musste zu viele hungrige Mäuler füttern. Aber dennoch hoffte sie, dass es einmal auch für sie einen Raoul Dubois geben würde.

Im Moment allerdings existierte er nur in ihren morgendlichen Träumen, gesichtslos, namenlos, ein Mann, der nichts wollte, nur sie…

Der Gedanke, beim Erwachen zu wissen, sie wäre nicht allein; was der kommende Tag auch bringen mochte, welche Bürden sie zu schultern hätten, sie würden sie gemeinsam schultern. Und nachts im Bett würden sie glücklich sein.

Sie wünschte sich keinen Prinzen, keinen reichen Mann. Nur einen Mann und ein gemeinsames Cottage…

Ein Cottage…

Der Mietzins. Der Gedanke krachte in ihr Bewusstsein wie ein Felsbrocken in einen stillen See. Der abertausendste Traum in Scherben zersprungen, dachte sie schläfrig. Ein neuer Tag brach an.

Sie streckte die Glieder und erschrak. Weit davon entfernt, jemanden zu haben, der ihre Sorgen teilte, lag ein Problem neben ihr im Bett.

Ein Fremder, der sie in seinen Armen hielt, zärtlich und fest. Eine Hand lag besitzergreifend auf ihrer Brust.

Maddy erstarrte. „Was tun Sie da?“, flüsterte sie. Lächerliche Frage. Es war völlig klar, was er tat. „Hören Sie auf.“

Er reagierte nicht. Er atmete nur regelmäßig wie die ganze Nacht schon. Er konnte doch nicht schlafen … oder?

Achtsam löste sie seine Hand von ihrer Brust und schob seinen Arm dahin, wohin er gehörte, drehte sich vorsichtig zur Seite und sah den Mann an.

Sein Gesicht war im Schlaf entspannt, seine Augen geschlossen, seine Wimpern dunkle Halbmonde über bleichen Wangen. Er wurde unruhig und rückte näher an Maddy.

Sie machte sich steif, als er seine Hand auf ihre Hüfte legte. „Wie können Sie es wagen?“ Seine Knie stießen gegen die ihren, er schob ein behaartes Bein zwischen ihre Beine und seufzte. Und wurde wieder ruhig.

Bang betrachtete sie ihn, wagte kaum zu atmen, aber er rührte sich nicht.

Er schlief tief, wusste nicht, was er tat, suchte nur Wärme und Geborgenheit.

Wie es ihr ergangen war. Unbewusst hatte sie seine Wärme genossen, seinen Körper gespürt, hatte Geborgenheit im Traum gefunden.

Träume waren ein großer Trost.

Sie lag still und beobachtete ihn im Morgenlicht. Sein volles brünettes Haar fiel ihm in die Stirn. Sanft strich sie es ihm nach hinten. Er seufzte abermals, ohne aufzuwachen. Behutsam zeichnete sie mit einem Finger die Sorgenfalten auf seiner Stirn nach.

Seine dichten Brauen waren etwas dunkler als sein Haar, seine Wimpern unverschämt lang für einen Mann. Seine Lider waren beinahe durchscheinend, sie konnte die Äderchen unter der dünnen Haut erkennen. Seine Augäpfel bewegten sich unter geschlossenen Lidern. Er träumte, zuckte leicht wie ein schlafender Hund. Offenbar war es ein angenehmer Traum, denn seine Lippen umspielte ein leises Lächeln, das Maddy erwiderte.

Er schien keine Schmerzen zu haben.

Um seine Augen lag ein Kranz feiner Fältchen, an den Mundwinkeln waren zwei senkrechte Falten, die sich vertiefen würden, wenn er richtig lächelte. Dieser Mann lächelte gern, stellte sie fest.

Das gefiel ihr. Ein Leben ohne Lachen war wie ein Leben ohne Sonnenschein; man konnte überleben, aber ohne Freude.

Seine Kinnpartie war kantig. Sie ließ ihre Finger über seine Wangen gleiten, spürte raue Bartstoppeln, legte die flache Hand an seinen sehnigen Hals und spürte das gleichmäßige Klopfen seines Pulses, bum, bum, bum.

Und immer wieder kehrte ihr Blick zu seinem Mund zurück, angezogen wie eine Motte vom Licht.

Sein Mund faszinierte sie. Ein schöner Mund. Nie hatte sie einen Männermund als schön empfunden. Aber sein Mund war schön, ohne weich und feminin zu wirken.

Lippen, die von einem meisterlichen Bildhauer geformt schienen, klar ausgeprägt, perfekt geschwungen. Vorsichtig berührte sie seinen Mund, fuhr mit dem Finger über die leicht geteilten Lippen, die leichte Falte von Nase bis zum Mund, verweilte an einer winzigen hellen Narbe im Mundwinkel.

Wer hatte sie ihm zugefügt? Wie?

Er seufzte wieder, bewegte die Lippen an ihrem Finger, nahm ihn in den Mund, saugte ein wenig daran. Maddy erschrak. Ein Prickeln durchrieselte sie, hastig zog sie ihre Hand zurück, seltsam beunruhigt. Bald entspannte er sich wieder in seinen Träumen, atmete leicht und regelmäßig.

Sie strich ihm eine Locke hinters Ohr. Wovon träumst du, schöner Mann? Bist du einsam wie ich?

Rasch verbannte sie diesen Gedanken. Dieser Mann wäre niemals einsam. Er war zu schön, zu elegant gekleidet. Und dann diese Lachfältchen. Keine Frau könnte ihm widerstehen.

Nein, er war sicher nicht einsam.

Nur jetzt war er allein und in Not. Und in dieser Situation gehörte er ihr.

Sie beugte sich über ihn und küsste ihn zart auf den Mund. Seine Lippen fühlten sich weich und warm an.

„Ich kümmere mich um dich“, flüsterte sie und küsste ihn noch einmal. „Du bist nicht allein.“

Er lag schlafend, eingesponnen in seiner eigenen Welt, hilflos.

Es war höchste Zeit, die falschen Verlockungen ihrer Morgenträume abzuschütteln und den Tag zu beginnen. Der Fremde war in ihrer Obhut, aber nicht für immer. Es war töricht, sich in Fantasien über ihn zu verlieren. Sobald er wieder zu Bewusstsein kam, würde er gehen, zurück zu seinen Freunden, seiner Familie, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden in ihrer Einsamkeit.

Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht einsam gewesen wäre. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie damit verbracht, sich um andere zu kümmern. Zuerst um Mama, dann Grand mère, dann Papa und jetzt die Kinder. Das störte sie nicht sonderlich, sie kam gut damit zurecht.

Aber es war nicht leicht, immer diejenige zu sein, die alle Sorgen ertragen, Lösungen finden, gegen Widerstände kämpfen musste. Und immer allein, auf sich selbst gestellt.

Maddy kletterte aus dem Bett. Der Fremde war gottlob nicht aufgewacht. Sie wäre zutiefst beschämt gewesen, hätte er die Augen aufgeschlagen und entdeckt, wie sie ihn berührte. Er war nicht ihr Raoul Dubois. Er wusste nicht einmal, dass es sie gab.

Während ihrer gewohnten morgendlichen Verrichtungen – Feuer machen, Wasser aufsetzen, Waschen, Ankleiden, Frühstück bereiten – wollte dieses seltsame Gefühl der Verlassenheit nicht weichen. Wie immer, redete sie sich ein, wenn sie aus einem Morgentraum erwachte und mit der Realität konfrontiert wurde.

Träume waren tröstlich. Aber an manchen Morgen verstärkten Träume ihre Einsamkeit.

„Aber Sir Jasper hat es versprochen!“

Ihre Stimme – besorgt? verärgert? – weckte ihn aus dem Tiefschlaf.

Eine tiefe Männerstimme antwortete hart, bedrohlich.

Er versuchte, sich aufzusetzen. Musste helfen … beschützen … Übelkeit übermannte ihn. Er sank ins Kissen zurück.

Wortfetzen erreichten ihn und verwehten wieder. „Prüfen Sie die Unterlagen. Sir Jasper und ich… eine Abmachung … Er hat es versprochen.“

Er kannte ihre Stimme … irgendwie, aber ihre Worte ergaben keinen Sinn … Er begriff sie nicht. Konnte sich verdammt noch mal nicht erinnern.

Er legte die Hände an seine Schläfen gegen das schmerzhafte Pochen und spürte einen Verband. Was für einen Verband? Er schloss die Augen. Die Stimmen verebbten.

3. Kapitel

„Er ist ein Prinz“, beharrte Lucy. „Und er braucht eine Prinzessin, die ihn küsst, damit er aufwacht.“

„Das ist Dornröschen, dummes Ding“, wies Susan sie zurecht.

„Das ist das Gleiche“, erklärte Lucy eigensinnig.

„Nein, weil Dornröschen eine schöne Prinzessin ist und das ist ein Mann.“

„Und ein Mann kann nicht schön sein“, warf Henry ein.

„Warum nicht?“

„Weil es so ist“, behauptete Henry. „Nur Damen können schön sein.“

Maddy lächelte still in sich hinein. Das stimmte nicht. Dieser Mann war sehr männlich und schön.

„Ist mir egal. Er schläft seit fast zwei Tagen und niemand schläft so lange. Deshalb hat eine böse Hexe einen Fluch über ihn gesprochen. Und Hexen sprechen nur Flüche über Prinzen und Prinzessinnen. Deshalb muss jemand ihn küssen und den Fluch brechen.“

„Eine Prinzessin. Wenn jemand ihn küsst, muss es eine Prinzessin sein“, verkündete John im Brustton der Überzeugung. „Aber wir haben keine Prinzessin, also muss es ein Eimer Wasser sein.“

„Nein!“ Die Mädchen waren entsetzt. „Wage bloß nicht, einen Eimer Wasser über ihn zu schütten, John Woodf…“

„Wollt ihr wohl still sein, alle miteinander“, mischte Maddy sich ein. „John, hör auf, deine Schwestern zu triezen. Der Mann ist kein Prinz, Lucy, nur ein kranker Mann mit einer Kopfverletzung, der noch stärkere Kopfschmerzen bekommt bei eurem Geschrei. Haltet euch vom Bett fern, ihr alle, und sprecht um Himmels willen leise miteinander.“

Mit einem letzten schuldbewussten Blick auf den schlafenden Mann entfernten die Kinder sich auf Zehenspitzen vom Bett und trugen ihren Streit flüsternd aus. Maddy verkniff sich ein Lächeln. Im Grunde genommen verhielten die Kinder sich erstaunlich gehorsam.

Am Morgen hatte der Doktor ihn noch einmal untersucht. „Solange er friedlich schläft und kein Fieber hat, können wir nicht viel tun. Lassen Sie ihn getrost schlafen. Wenn er aufwacht und Schmerzen hat, geben Sie ihm von den Tropfen, die ich Ihnen gestern dagelassen habe. Wenn er Fieber bekommt, kühlen Sie ihn und verabreichen Sie ihm davon.“ Er hielt ihr eine kleine Tüte mit weißem Pulver hin. „Und einen Aufguss aus Weidenrinde, nicht mehr als vier Tassen pro Tag. Haben Sie Weidenrinde im Haus?“

Sie hatte genickt.

„Wenn das Fieber höher steigt als bei dem kleinen Henry, als er im letzten Herbst so krank war, schicken Sie nach mir. Aber Schlaf ist die beste Medizin.“

Also ließ sie ihn schlafen.

Es regnete den ganzen Tag, und es war schwer für die Kinder, im Haus bleiben und still sein zu müssen, nachdem sie die langen Wintermonate kaum hatten draußen sein können. Sie hatten ihre sämtlichen Bücher immer wieder gelesen, alle Spiele, die sie kannten, gespielt, und gebastelt, den ganzen Winter lang. Nun, da sie bereits einen Vorgeschmack auf den Frühling bekommen hatten, hatten diese Beschäftigungen jeglichen Reiz verloren.

Noch dazu gab es diesen geheimnisvollen Fremden in Maddys Bett.

Nicht nur die Kinder waren von ihm fasziniert. Maddy konnte nicht vergessen, dass sie in den Armen eines fremden Mannes erwacht war, an seinen Körper geschmiegt. Seinen nackten Körper.

Die Intimität seiner Umarmung, beinahe beschützerisch, hatte seltsame Empfindungen in ihr geweckt.