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So außergewöhnlich wie herzergreifend: ein dramatisches Frauenschicksal zur Zeit des 2. Weltkriegs Eine junge Frau nutzt ihr Wissen über die Wildnis, um jüdische Flüchtlinge vor den Nazis zu retten – bis ein grausames Geheimnis alles zu zerstören droht. Seit sie als kleines Kind aus ihrem Elternhaus entführt wurde, ist Jona fast auf sich allein gestellt in der unerbittlichen Wildnis Osteuropas aufgewachsen. 1942 trifft sie tief im Wald auf eine Gruppe Juden, die den Nazis entkommen konnten. Jona ist fassungslos, als sie erfährt, was in der Welt geschieht. Sie bringt den Flüchtlingen alles bei, was sie über das Überleben abseits der Zivilisation weiß. Doch dann treibt ein bitterer Verrat Jona zur Flucht. Als sie sich ausgerechnet in einem von den Deutschen besetzten Dorf wiederfindet, muss sie sich einer Erkenntnis stellen, die ihr ganzes Leben verändert: Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte … Einfühlsam, berührend und gleichzeitig hochspannend erzählt Kristin Harmel eine eindrucksvolle Geschichte von Hoffnung, Liebe und Mut in finsteren Zeiten. Entdecken Sie auch die anderen bewegenden historischen Romane der Bestsellerautorin: - Solange am Himmel Sterne stehen - Heute fängt der Himmel an - Ein Ort für unsere Träume - Das letzte Licht des Tages - Das Buch der verschollenen Namen
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Seitenzahl: 568
Kristin Harmel
Roman
Übersetzt von Veronika Dünninger
Knaur eBooks
Seit sie als kleines Kind aus ihrem Elternhaus entführt wurde, ist Jona fast auf sich allein gestellt in der unerbittlichen Wildnis Osteuropas aufgewachsen. 1942 trifft sie tief im Wald auf eine Gruppe Juden, die den Nazis entkommen konnten. Jona ist fassungslos, als sie erfährt, was in der Welt geschieht. Sie bringt den Flüchtlingen alles bei, was sie über das Überleben abseits der Zivilisation weiß. Doch dann treibt ein bitterer Verrat Jona zur Flucht. Als sie sich ausgerechnet in einem von den Deutschen besetzten Dorf wiederfindet, muss sie sich einer Erkenntnis stellen, die ihr ganzes Leben verändert: Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Für Kathy Trocheck (Mary Kay Andrews),
Kristy Woodson Harvey, Patti Callahan Henry,
Mary Alice Monroe, Meg Walker, Shaun Hettinger
und all die Mitglieder unserer Friends & Fiction-Community.
Ihr habt ein dunkles Jahr mit Licht, Liebe und Freundschaft erfüllt, und ich werde für immer dankbar sein für all die Arten, auf die ihr mich gerettet habt.
1922
Die alte Frau beobachtete sie aus den Schatten vor der Behaimstraße 72 und wartete darauf, dass die Lichter drinnen flackernd erloschen. Der Balkon der Wohnung strotzte von purpurroten Rosen, und Efeu rankte sich an den Eisengeländern empor, aber das junge Paar, das dort lebte – der machthungrige Siegfried Jüttner und seine unnahbare Ehefrau Alwine –, waren nicht diejenigen, die sich um die Pflanzen kümmerten. Dies blieb ihrem Hausmädchen überlassen, denn die Pflege von Leben war etwas, das nur die mit einer gewissen Güte tun konnten.
Die alte Frau beobachtete die Jüttners jetzt schon seit fast zwei Jahren, und sie wusste Dinge über sie, Dinge, die wichtig für die Aufgabe waren, die sie im Begriff war auszuführen.
Sie wusste beispielsweise, dass Herr Jüttner einer der ersten Männer in Berlin gewesen war, die der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beitraten, einer neuen politischen Bewegung, die in dem vom Krieg zerrütteten Land allmählich Fuß fasste. Sie wusste, dass er den Anstoß dazu bei einem Urlaub in München knapp drei Jahre zuvor erhalten hatte, nachdem er gesehen hatte, wie ein zorniger junger Mann namens Adolf Hitler im Hofbräukeller eine flammende Rede hielt. Sie wusste, dass Herr Jüttner, nachdem er diese Rede gehört hatte, zwanzig Minuten zu Fuß zurück zu dem eleganten Hotel Vier Jahreszeiten ging, seine schlafende junge Ehefrau weckte und ihr beiwohnte, obwohl sie sich anfangs sträubte, denn sie hatte von einem jungen Mann geträumt, den sie einst geliebt hatte, einem Mann, der im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen war.
Die alte Frau wusste auch, dass das Kind, das in jener herbstlich riechenden bayerischen Nacht gezeugt wurde – ein Mädchen, dem die Jüttners den Namen Inge gegeben hatten –, ein Muttermal in Form einer Taube auf der Innenseite des linken Handgelenks trug.
Sie wusste außerdem, dass der zweite Geburtstag des Mädchens am darauffolgenden Tag, dem 6. Juli 1922 war. Und sie wusste so sicher, wie sie wusste, dass die glockenförmigen Knospen des Maiglöckchens und die bläulich violetten Blütenblätter des Eisenhuts einen Mann töten konnten, dass das Mädchen nicht bei den Jüttners bleiben durfte.
Das war der Grund, weshalb sie gekommen war.
Die alte Frau, die den Namen Jerusza trug, hatte schon immer Dinge gewusst, die andere Leute nicht wussten. So hatte sie es zum Beispiel gewusst, als Frédéric Chopin im Jahr 1849 starb, denn sie war just in dem Moment aus einem tiefen Schlummer erwacht, während die Klänge seiner »Revolutionsetüde« in einem Trauermarsch durch ihren Kopf hallten. Sie hatte gespürt, wie die Erde bei der Geburt von Marie Curie 1867 und Albert Einstein 1879 erbebte. Und an einem glühend heißen späten Junitag des Jahres 1914, zwei Monate nachdem sie vierundsiebzig geworden war, hatte sie es, Wochen bevor die Nachricht sie erreichte, tief in ihrer Halsvene gespürt, dass der österreichisch-ungarische Thronfolger von der Kugel eines Attentäters getötet worden war, die das fragile Gleichgewicht der Welt zerstörte. Damals hatte sie gewusst, dass sich ein Krieg zusammenbraute, genau wie sie es jetzt wusste. Sie konnte es an den dunklen Wolken sehen, die sich am Horizont ballten.
Jeruszas Mutter, die sich im Jahr 1860 mit einem Gebräu aus Giften das Leben genommen hatte, hatte ihr immer gesagt, unmögliche Dinge zu wissen sei eine Gabe Gottes, weitergereicht durch das mütterliche Blut nur der vom Glück begünstigsten jüdischen Frauen. Jerusza, die Letzte einer Linie, die seit Jahrhunderten existiert hatte, war sich mitunter sicher, dass es vielmehr ein Fluch war, aber was es auch war, es war ihr Leben lang ihre Last gewesen, den Stimmen zu folgen, die durch die Wälder hallten. Die Blätter flüsterten in den Bäumen; die Blumen erzählten Geschichten, so alt wie die Zeit selbst; die Flüsse rauschten von Neuigkeiten weit entlegener Orte. Wenn man nur genau genug horchte, gab die Natur immer ihre Geheimnisse preis, die, natürlich, die Geheimnisse Gottes waren. Und jetzt war es Gott, der Jerusza hierhergeführt hatte, an eine nebelverhangene Berliner Straßenecke, wo sie dafür verantwortlich sein würde, das Schicksal eines Kindes, und vielleicht auch eines Stücks der Welt, zu verändern.
Jerusza war seit zweiundachtzig Jahren am Leben, fast zweimal so lange, wie der durchschnittliche Deutsche zu jener Zeit lebte. Wenn Leute sie ansahen – falls sie sie überhaupt eines Blickes würdigten –, waren sie sichtlich verblüfft von ihren runzligen Gesichtszügen, ihren Händen, die knotig waren von Jahrzehnten eines harten Lebens. Aber die meiste Zeit ignorierten Fremde sie einfach, genau wie Siegfried und Alwine Jüttner es all die Hunderte Male getan hatten, die sie ihr auf der Straße begegnet waren. Jeruszas Alter machte sie insbesondere unsichtbar für diejenigen, die am meisten Wert auf Aussehen und Macht legten; sie gingen davon aus, dass sie für sie nutzlos war, Zeitverschwendung, Platzverschwendung. Schließlich würde eine Frau, die so alt war wie sie, bestimmt bald tot sein. Aber Jerusza, die sich ihr Leben lang in den dunkelsten Winkeln der tiefsten Wälder von Pflanzen und Kräutern ernährt hatte, wusste, dass sie noch fast zwanzig Jahre länger leben würde, bis zum Alter von einhundertundzwei Jahren, und dass sie an einem Dienstag im Frühling kurz nach der letzten Schneeschmelze des Jahres 1942 sterben würde.
Das Hausmädchen der Jüttners, die schüchterne Tochter eines toten Seemanns, war zwei Stunden zuvor nach Hause gegangen, und es war ein paar Minuten nach zehn, als die Jüttners endlich ihre Lichter löschten. Jerusza atmete aus. Die Dunkelheit war ihr Schutzschild, schon immer gewesen. Blinzelnd sah sie zu den geschlossenen Fenstern hoch und konnte die Umrisse des Kinderbetts des kleinen Mädchens eben noch erkennen, in dem Zimmer auf der rechten Seite, hinter hellen, cremefarbenen Vorhängen. Sie wusste genau, wo es stand, war oft in dem Zimmer gewesen, wenn die Familie nicht da war. Sie war mit den Fingern über die Gitterstäbe aus Kiefernholz geglitten, hatte die Kraft gespürt, die von den geschwungenen Formen ausging. Holz hatte, natürlich, ein Gedächtnis, und als Jerusza das Bett, in dem das Baby schlief, zum ersten Mal berührt hatte, war sie fast überwältigt gewesen von einer Flut aus warmem, weißem Licht.
Es war das gleiche Licht, das sie zwei Jahre zuvor aus dem Wald hierhergeführt hatte. Sie hatte es das erste Mal im Juni 1920 gesehen, leuchtend über den Baumwipfeln, wie ihr persönliches Polarlicht, das sie nach Norden winkte. Sie hasste die Großstadt, verabscheute es, an einem Ort zu sein, der von Menschen statt von Gott gemacht war, aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Ihre Füße hatten sie ohne Umwege zur Behaimstraße 72 getragen, um Zeugin zu sein, wie die rabenschwarzhaarige Frau Jüttner das Baby zum ersten Mal stillte. Jerusza hatte gesehen, wie das Baby strahlte, schon damals ein Licht in der Dunkelheit, die niemand heraufziehen sah.
Sie wollte kein Kind, hatte nie eines gewollt. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie so lange gebraucht hatte, um zu handeln. Aber die Natur macht keine Fehler, und jetzt, während sich der Himmel über der glitzernden Großstadt mit einer Wolke lautloser Amseln füllte, wusste sie, dass die Zeit gekommen war.
Es war leicht, die Feuerleiter des modernen Gebäudes hochzuklettern, noch leichter, das unverriegelte Fenster der Jüttners aufzudrücken und leise hineinzuschlüpfen. Das Kind war wach, betrachtete sie schweigend, seine außergewöhnlichen Augen – eines dämmerungsblau und eines waldgrün – im Dunkeln glimmend. Sein Haar war so schwarz wie die Nacht, die Lippen das verblüffende Rot von Mohnblumen.
»Ikh bin gekimen dir tzu nemen«, flüsterte Jerusza auf Jiddisch, eine Sprache, die das Mädchen noch nicht kennen konnte. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Sie war verblüfft festzustellen, dass ihr Herz raste.
Sie erwartete keine Antwort, aber die Lippen des Kindes teilten sich, und es streckte die linke Hand aus, die Handfläche nach oben gedreht, sodass das taubenförmige Muttermal im Dunkeln schimmerte. Es sagte leise etwas – etwas, das eine geringere Person als das bedeutungslose Gebrabbel eines kleinen Mädchens abgetan hätte, aber für Jerusza war es unmissverständlich. »Dus zent ir«, erwiderte das Mädchen auf Jiddisch. Du bist es.
»Yo, dus bin ikh«, bestätigte Jerusza. Und mit diesen Worten hob sie das Baby hoch, das nicht aufschrie, und drückte es fest an die gebrechlichen Rundungen ihres Körpers, kletterte aus dem Fenster und glitt an dem Eisengeländer hinunter, bis ihre Füße geräuschlos auf dem Gehsteig landeten.
Aus den Falten von Jeruszas Umhang beobachtete das Baby lautlos, seine ungleichen Ozeanaugen groß und rund, wie Berlin hinter ihnen verschwand und der Wald im Norden sie vollständig verschluckte.
1928
Das Mädchen aus Berlin war acht Jahre alt, als Jerusza ihr zum ersten Mal beibrachte, einen Mann zu töten.
Natürlich hatte Jerusza den Rufnamen des Kindes verworfen, sobald sie, sechs Jahre zuvor, den frischen, kühlen Rand der Wälder erreicht hatten. Inge bedeutete »die Tochter eines heldenhaften Vaters«, und das war eine Lüge. Das Kind hatte jetzt keinen Elternteil mehr bis auf den Wald selbst.
Außerdem hatte Jerusza von dem Augenblick an, in dem sie zum ersten Mal das Licht über Berlin sah, gewusst, dass das Kind Jona genannt werden sollte, was auf Hebräisch »Taube« bedeutete. Sie hatte es gewusst, schon bevor sie das Muttermal des Mädchens sah, das mit der Zeit nicht verblasst, sondern kräftiger, dunkler geworden war, ein Zeichen, dass dieses Kind etwas Besonderes war, dass es zu etwas Großem bestimmt war.
Der richtige Name war von entscheidender Bedeutung, und die alte Frau konnte Jona nichts anderes nennen als das, was sie war. Sie erwartete, natürlich, im Gegenzug dasselbe, Respekt vor ihrer wahren Identität. Jerusza bedeutete »angenommenes Erbe« – eine Anspielung auf die magischen Kräfte, die sie von ihrer eigenen Linie erhalten hatte, und ein Tribut an die Tatsache, dass sie vom Wald selbst angenommen worden war –, und das war der einzige Name, bei dem Jona sie nennen durfte. »Mutter« bedeutete etwas anderes, etwas, das Jerusza nie sein würde, nie sein wollte.
»Es gibt Hunderte von Arten, ein Leben zu nehmen«, erklärte Jerusza dem Mädchen an einem schwindenden Julinachmittag kurz nach dem achten Geburtstag des Kindes. »Und du musst sie alle kennen.«
Jona, die dabei war, einen winzigen Zaunkönig aus einem Stück Holz zu schnitzen, sah auf. Sie hatte damit begonnen, sich zur Gesellschaft Geschöpfe zu gestalten, was Jerusza nicht verstand, denn sie selbst schätzte Einsamkeit mehr als alles andere, aber es schien ein harmloser Zeitvertreib zu sein. Jonas Haar, in der Farbe der tiefsten sternlosen Nacht, ergoss sich über ihren Rücken, wallte über vogelartige Schultern. Ihre Augen – endlos und beunruhigend – waren trübe vor Verwirrung. Die Sonne stand tief am Himmel, und Jonas Schatten erstreckte sich hinter ihr bis zum Rand der Lichtung, als versuchte er, in die Bäume zu fliehen. »Aber du hast mir doch immer gesagt, dass das Leben kostbar ist, dass es Gottes Geschenk an die Menschheit ist, dass es beschützt werden muss«, erwiderte das Mädchen.
»Ja. Aber das wichtigste Leben, das du beschützen musst, ist dein eigenes.« Jerusza streckte eine Hand flach aus und legte sie mit der Kante an ihre eigene Luftröhre. »Wenn jemand kommt, um dich zu holen, kann ein harter Schlag hier, korrekt ausgeführt, tödlich sein.«
Jona blinzelte ein paarmal, sodass ihre langen Wimpern ihre Wangen berührten, die unnatürlich blass waren, immer blass, obwohl die Sonne unerbittlich auf sie herunterbrannte. Als sie den hölzernen Zaunkönig neben sich auf dem Boden ablegte, zitterten ihre Hände. »Aber wer sollte denn kommen, um mich zu holen?«
Jerusza starrte das Mädchen voller Missbilligung an. Sie hatte den Kopf in den Wolken, Jeruszas Lehren zum Trotz. »Du törichtes Kind!«, fauchte sie.
Das Mädchen zuckte vor ihr zurück. Es war gut, dass das Mädchen Angst hatte; entsetzliche Dinge würden geschehen. »Deine Frage ist die falsche, wie üblich. Es wird einmal ein Tag kommen, da wirst du froh sein, dass ich dich gelehrt habe, was ich weiß.«
Es war keine Antwort, aber das Mädchen würde sie nicht gegen sich aufbringen. Jerusza war so kräftig wie eine Bergziege, klug wie eine Nebelkrähe, rachsüchtig wie eine Elster. Sie lebte jetzt seit fast neun Jahrzehnten auf dieser Erde, und sie wusste, dass das Mädchen verängstigt von ihrem Alter und ihrer Weisheit war. Jerusza mochte es so; dem Kind sollte klar sein, dass Jerusza keine Mutter war. Sie war eine Lehrerin, nichts weiter.
»Aber Jerusza, ich weiß nicht, ob ich ein Leben nehmen könnte«, erwiderte Jona schließlich leise. »Wie würde ich denn dann mit mir selbst leben?«
Jerusza schnaubte verächtlich. Es war schwer zu glauben, dass das Mädchen noch immer so naiv sein konnte. »Ich habe vier Männer und eine Frau getötet, Kind. Und ich lebe sehr gut mit mir selbst.«
Jonas Augen wurden groß, aber sie sprach nicht wieder, bis das Licht vom Himmel verschwunden und die Lektionen des Tages zu Ende waren. »Wen hast du getötet, Jerusza?«, flüsterte sie in die Dunkelheit, während sie unter einem Dach aus Fichtenrinde, das sie sich erst in der Woche zuvor gebaut hatten, auf dem Waldboden auf dem Rücken lagen. Sie zogen alle ein bis zwei Monate weiter, errichteten eine neue Hütte aus den Gaben, die der Wald ihnen spendete, wobei sie jedes Mal einen Spalt in der hastig zurechtgehauenen Rindendecke ließen, um die Sterne sehen zu können, wenn kein Regen drohte. An diesem Abend war der Himmel klar, und Jerusza konnte den Kleinen Wagen, den Großen Wagen und Draco, den Drachen, über den Himmel ziehen sehen. Das Leben änderte sich ständig, aber die Sterne blieben stets konstant.
»Einen Bauern, zwei Soldaten, einen Schmied und die Frau, die meinen Vater ermordet hat«, antwortete Jerusza, ohne Jona anzusehen. »Sie alle hätten mich selbst getötet, wenn ich ihnen die Chance dazu gegeben hätte. Du darfst nie jemandem diese Gelegenheit geben, Jona. Vergiss diese Lektion, und du wirst sterben. Und jetzt ruh dich ein bisschen aus.«
Bis zum nächsten Vollmond wusste Jona, dass ein Tritt genau rechts neben die Basis der Wirbelsäule eine Niere zerfetzen konnte. Ein horizontaler Schlag mit der Handkante gegen den Nasenrücken konnte die Gesichtsknochen tief in den Schädel rammen und eine Hirnblutung verursachen. Ein harter Zehentritt gegen die Schläfe, sobald ein Mann am Boden lag, konnte ein Leben rasch beenden. Ein schneller Würgegriff hinter einem sitzenden Mann, in Verbindung mit einem scharfen Ruck nach hinten, konnte ein Genick brechen. Ein Messer, an der Speichenarterie entlang vom Handgelenk zum inneren Ellbogen hochgezogen, konnte einen Mann binnen Minuten verbluten lassen.
Aber im Universum ging es um Ausgewogenheit, daher brachte Jerusza dem Mädchen für jede Methode des Tötens auch eine Art bei, Heilung zu verabreichen. Heidelbeeren konnten bei einem Herzversagen den Blutkreislauf wieder in Schwung bringen oder eine sterbende Niere wiederbeleben. Katzenmelisse, zu einer Paste zerrieben, konnte eine Blutung stillen. Klettenwurzeln konnten Gift aus der Blutbahn entfernen. Zerdrückte Holunderbeeren konnten ein tödliches Fieber senken.
Leben und Tod. Tod und Leben. Zwei Dinge, die wenig bedeuteten, denn letztendlich überlebten die Seelen den Körper und wurden eins mit einem unendlichen Gott. Aber das verstand Jona nicht, noch nicht. Sie wusste noch nicht, dass sie um Tikkun olam, der Heilung der Welt, willen geboren worden war und dass jede Mizwa, die zu erfüllen sie gerufen wurde, göttliche Funken aus Licht emporsteigen lassen würde.
Wenn nur der Wald allein sie beide am Leben erhalten könnte, aber während das Mädchen heranwuchs, brauchte sie Kleidung, Milch, um ihre Knochen zu kräftigen, Schuhe, damit ihre Füße nicht im Sommer vom Waldboden aufgeschürft wurden oder im Winter abfroren. Als Jona klein war, ließ Jerusza sie hin und wieder für einen Tag und eine Nacht allein im Wald zurück, machte ihr Angst mit Geschichten von Werwölfen, die kleine Mädchen fraßen, damit sie sich nicht vom Fleck rührte, während sie sich allein in nahe gelegene Städte hinauswagte, um die Dinge zu holen, die sie brauchten. Aber als das Mädchen begann, mehr Fragen zu stellen, blieb ihr keine andere Wahl, als anzufangen, sie mitzunehmen, ihr die Gefahren der Außenwelt zu zeigen, ihr in Erinnerung zu rufen, dass man niemandem vertrauen konnte.
Es war eine kalte Winternacht des Jahres 1931, und Schnee rieselte von einem schwarzen Himmel herab, als Jerusza das staunende Kind zu einer Stadt namens Grajewo im Nordosten Polens mitnahm. Und obwohl Jerusza ihr ausdrücklich eingeschärft hatte, still zu bleiben, konnte Jona ihre Worte offenbar nicht im Zaum halten. Während sie durch die Dunkelheit auf ein Bauernhaus zuschlichen, bombardierte das Mädchen sie mit Fragen: Woraus ist dieses Dach gemacht? Warum schlafen die Pferde in einer Scheune und nicht auf einem Feld? Wie haben sie diese Straßen gemacht? Was ist das da auf der Fahne?
Schließlich schnellte Jerusza zu ihr herum. »Genug, Kind! Hier gibt es nichts für dich, nichts als Verzweiflung und Gefahr! Dich nach einem Leben zu sehnen, das du nicht verstehst, ist, als würdest du in die Sonne starren; deine Torheit wird dich zugrunde richten.«
Jona war so verblüfft, dass sie eine Weile schwieg, aber nachdem Jerusza durch die Hintertür in das Haus geschlüpft und mit einem Paar Stiefel, einer Hose und einer Wolljacke, die Jona mindestens durch ein paar Winter bringen würden, wieder aufgetaucht war, weigerte sich Jona, ihr zu folgen, als Jerusza ihr ein Zeichen gab.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Jerusza gereizt.
»Was tun sie da?« Jona zeigte durch das Fenster des Bauernhauses, wo die Familie um einen Tisch versammelt war. Es war der erste Abend von Chanukka, und diese Familie war jüdisch; das war der Grund, weshalb Jerusza dieses Haus ausgewählt hatte, denn sie wusste, dass die Leute beschäftigt sein würden, während sie sich ihre Dinge nahm. Jetzt stand der Vater der Familie da, das Gesicht erhellt vom Schein der Kerze, die auf der Menora der Familie brannte, und obwohl seine Stimme nicht zu vernehmen war, war offensichtlich, dass er sang, die Augen geschlossen. Jerusza gefiel der Ausdruck in Jonas Augen nicht, während sie zusah; er sprach von Sehnsucht und Entzücken, und diese Art Gefühle führten nur zu schlecht durchdachten Ideen von Flucht.
»Die Sitte von Dummköpfen«, antwortete sie schließlich. »Da gibt es nichts für dich. Komm jetzt.«
Jona rührte sich noch immer nicht vom Fleck. »Aber sie sehen glücklich aus. Feiern sie Chanukka?«
Natürlich wusste das Mädchen bereits, dass sie das taten. Jerusza schnitzte jedes Jahr eine Menora aus Holz, einfach weil ihre eigene Mutter es Jahre zuvor so verlangt hatte. Chanukka zählte nicht zu den wichtigsten jüdischen Feiertagen, aber es feierte das Überleben, und das war etwas, das jeder, der im Wald lebte, respektieren konnte. Trotzdem, das Mädchen benahm sich töricht.
Jerusza verengte die Augen. »Sie wiederholen Worte, die vermutlich alle Bedeutung für sie verloren haben, Jona. Wiederholung ist etwas für Leute, die nicht selbst denken wollen, Leute, die keine Fantasie haben. Wie kannst du Gott in Momenten finden, die zur Routine geworden sind?«
Sie schwiegen beide einen Moment, während sie weiter der Familie zusahen. »Aber was, wenn sie in der Wiederholung Trost finden?«, fragte Jona schließlich leise. »Was, wenn sie darin Magie finden?«
»Wie in aller Welt könnte Wiederholung denn Magie sein?« Sie mussten sich noch ein paar Krüge Milch aus der Scheune besorgen, und Jerusza verlor allmählich die Geduld.
»Nun ja, Gott lässt jedes Jahr dieselben Bäume wieder zum Leben erwachen, oder?«, erwiderte Jona langsam. »Er lässt dieselben Jahreszeiten kommen und gehen, dieselben Blumen erblühen, dieselben Vögel rufen. Und darin liegt Magie, oder etwa nicht?«
Jerusza schwieg verblüfft. Das Mädchen hatte sie noch nie zuvor bei ihrem eigenen Spiel geschlagen. »Stell mich niemals infrage«, fauchte sie schließlich. »Und jetzt halt den Mund und komm mit.«
Es war unvermeidlich, dass Jona anfangen würde, über die Welt außerhalb der Wälder nachzugrübeln. Jerusza hatte immer gewusst, dass diese Zeit einmal kommen würde, und jetzt trug sie schwer an der Aufgabe, sicherzugehen, dass das Mädchen, wenn es an die Zivilisation dachte, sie mit der gebührenden Furcht betrachtete.
Jerusza hatte Jona alle Sprachen gelehrt, die sie kannte, seit sie sie geholt hatte, und das Kind sprach fließend Jiddisch, Polnisch, Belarussisch, Russisch und Deutsch sowie ein paar Brocken Französisch und Englisch. Man muss die Worte seiner Feinde kennen, sagte Jerusza immer zu ihr, und sie war froh über die Angst, die sie in Jonas Augen sehen konnte.
Aber sie hatte sie noch mehr zu lehren, daher begann sie, auf ihren Beutezügen in die Städte auch Bücher zu stehlen. Sie lehrte das Kind zu lesen, Naturwissenschaft zu verstehen, mit Zahlen zu arbeiten. Sie bestand darauf, dass Jona die Thora und den Talmud kannte, aber sie brachte ihr auch die christliche Bibel und sogar den muslimischen Koran mit, denn Gott war überall, und die Suche nach ihm war endlos. Diese Suche hatte Jerusza ihr Leben lang verzehrt und sie im Sommer 1922 zu jener dunklen Straßenecke in Berlin geführt, wo sie gezwungen gewesen war, dieses Kind zu stehlen, das zu einem solchen Stachel in ihrer Seite geworden war.
Und obwohl Jona sie oft erzürnte, musste selbst Jerusza zugeben, dass das Mädchen aufgeweckt, feinfühlig, einfühlsam war. Sie sog die Bücher in sich auf wie kühles Wasser und hörte mit gebannter Aufmerksamkeit zu, wann immer Jerusza sich dazu herabließ, ihre Geheimnisse an sie weiterzugeben. Bis Jona vierzehn war, wusste sie mehr über die Welt als die meisten Männer, die an Universitäten ausgebildet worden waren. Und was noch wichtiger war, sie kannte die Geheimnisse des Waldes, alle Arten, um zu überleben.
Während sich die Augen des Mädchens allmählich für die Welt öffneten, bestand Jerusza nur auf zwei Dingen: Erstens, Jona musste ihr immer gehorchen. Und zweitens, sie musste immer im Wald versteckt bleiben, fern von denen, die ihr etwas antun könnten.
Manchmal fragte Jona, warum. Wer würde ihr etwas antun wollen? Was würden sie zu tun versuchen?
Aber Jerusza antwortete nie, denn die Wahrheit war, sie war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie in den frühen Morgenstunden des 6. Juli 1922, während sie mit einem zweijährigen Kind in den Wald forteilte, eine Stimme vom Himmel hörte, klar und deutlich. Eines Tages, sagte die Stimme, wenn sie nicht achtgibt, wird ihre Vergangenheit zurückkehren – und sie wird den Verlauf vieler Leben ändern und sie vielleicht sogar ihr eigenes kosten. Der einzige sichere Ort ist der Wald.
Es war dieselbe Stimme, die ihr damals befohlen hatte, das Mädchen zu holen, die Stimme, die Jerusza immer in den Bäumen zugeflüstert hatte. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte Jerusza gedacht, dass die Stimme Gott gehörte. Aber jetzt, im Herbst ihres Lebens, war sie sich nicht mehr sicher. Was, wenn die Stimme in ihrem Kopf ihr allein gehörte? Was, wenn sie das Vermächtnis des Wahns ihrer Mutter war, ein Funken Verrücktheit statt eines höheren Rufs?
Aber jedes Mal, wenn diese Fragen an die Oberfläche hochperlten, verdrängte Jerusza sie. Die Stimme von oben hatte gesprochen, und wer wusste, was für ein Schicksal sie erwartete, wenn sie nicht auf sie hörte?
Zwei Jahre später und einhundertfünfzig Kilometer weiter südlich wagte Jona es schließlich, sich Jeruszas Befehlen zu widersetzen.
Inzwischen waren sie und Jerusza tief im Białowieża-Wald, dem Wald des Weißen Turms, und obwohl sich der Herbst bereits dem Winter entgegenneigte, war der Boden noch immer übersät von Pilzen, die Tage durchsetzt von hämmernden Spechten und dahintrottenden Elchen, die Stille der Nächte unterbrochen vom Heulen umherziehender Wolfsrudel. Es war ein magischer Ort, und Jona, die ihre Liebe zu Vögeln entdeckt hatte, fiel es schwer, sich zu konzentrieren, während all die Weißstörche und gestreiften Rohrdommeln über ihnen dahinsegelten. Sie stellte sich vor, sich selbst in den Himmel emporzuschwingen, meilenweit zu sehen, die Fähigkeit zu haben, einfach von hier wegzufliegen, wohin auch immer sie wollte. Aber das war nur ein Traum.
Es war ein später Oktobertag, die Luft klar und kalt, und Jona war unterwegs und sammelte Eicheln in einen großen Korb. Sie und Jerusza würden sie für den langen Winter einlagern, der vor ihnen lag; sie würden die meisten davon auswaschen, trocknen und mahlen, um Mehl zu gewinnen, aber sie würden auch einige in Honig von den Bienenstöcken rösten, die Jerusza im Inneren verfallender Bäume aufzuspüren verstand. Jona war so abgelenkt von dem plötzlichen Tscha-tscha-tscha eines seltenen Seggenrohrsängers über ihr, dass sie nicht auf der Hut war. Der Mann war nur einhundert Meter von ihr entfernt, als sie ihn bemerkte, und mit einem scharfen Atemzug wich sie rasch zwischen die Weiden zurück.
Er hatte sie nicht gesehen, hatte nicht gehört, wie sie sich bewegte. Jona hatte sich angewöhnt, mit den Bäumen zu rascheln, in einem solch ruhigen Einklang mit ihnen, dass ihre Bewegungen mit dem Wind zu fließen schienen. Sie griff instinktiv nach dem Messer, das sie, an ihren Knöchel geschnallt, immer bei sich trug. Es war das, bei dem Jerusza darauf bestand, dass sie es jede Woche schärfte, nur für alle Fälle, und ihr Herz raste, während sie in die Richtung des Mannes starrte.
Der Mann war nicht so alt, wie sie auf den ersten Blick gedacht hatte. Tatsächlich war er kaum mehr als ein Junge, vielleicht ein, zwei Jahre älter als sie. Sein Haar war so weißblond, wie ihres tiefschwarz war, seine Haut gegerbt wie Rindsleder. Seine Schultern waren breit, und er bewegte sich mit einer Selbstsicherheit, die ihr verriet, dass er den Wald kannte.
Aber woher war er gekommen? Sie und Jerusza hatten seit drei Wochen ihr Lager hier aufgeschlagen, und sie hatten keine Spur von anderen Menschen gesehen. Lebte er auch zwischen den Bäumen? Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, während sie sich, nur für eine Sekunde, gestattete, die Möglichkeit einer verwandten Seele in Betracht zu ziehen. Der Schmerz, der sich dabei in ihrer Brust regte, war eine Symphonie aus Sehnsucht und Einsamkeit und Angst, und sie machte sie tollkühn. Langsam, bevor sie die Chance hatte, es zu Ende zu durchdenken, nahm sie die Hand vom Heft ihres Messers, richtete sich auf und trat aus ihrem Versteck zwischen den Bäumen.
»Hallo«, sagte sie, aber er wandte sich nicht um, und ihr wurde bewusst, dass sie es tatsächlich nicht laut gesagt hatte, obwohl ihre Lippen das Wort in der Luft geformt hatten. Beim zweiten Mal konzentrierte sie sich auf ihren Atem, und als sie den Gruß wiederholte, klang er zu scharf, und der junge Mann schnellte herum, um sie anzustarren.
»Hallo«, erwiderte er nach ein paar Sekunden. Seine Stimme war tief, seine Augen geweitet vor Neugier. Sie fragte sich, was er wohl sah. Sie wusste, von einem gelegentlichen Blick auf ihr Spiegelbild in plätschernden Bächen, dass ihre Augen – jedes in einer anderen Farbe – groß für ihr Gesicht waren, ihre Nase lang, ihre Wangenknochen hoch, ihre Lippen wie eine Rosenknospe gebogen. Ihre Haut war unglaublich weiß, obwohl sie ihr Leben im Freien verbrachte, und ihr Haar war ein Vorhang aus schwarzem Rauch und ergoss sich bis zu ihrer Taille. Seit ihrem sechzehnten Geburtstag im Juli war sie hoch aufgeschossen wie ein Halm, und ihre Beine waren jetzt so lang und schlaksig wie die eines Rehkitzes. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie sich ihres Körpers bewusst, der bislang lediglich zweckmäßig gewesen war.
Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte, daher hüstelte sie, um ihre zugeschnürte Kehle zu lockern, und presste die erstbesten Worte heraus, die ihr einfielen. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
Er zog die Augenbrauen hoch – so blond, dass sie fast unsichtbar waren – und lachte. »Ich nehme an, aus demselben Grund wie Sie. Um Essen für den Winter zu sammeln.«
Sie hatte eine Million Fragen. Woher war er gekommen? Wohin wollte er? Wie war die Welt außerhalb des Waldes? Aber all die Fragen rangelten in ihrem Kopf um Platz, und alles, was herauskam, war: »Ich habe Sie noch nie gesehen.«
Er lachte wieder, und ihr wurde bewusst, dass sie das Geräusch mochte. Es war anders als Jeruszas Lachen, das spröde und kratzig klang und von Allwissenheit triefte. Es gab nichts, was Jona tun konnte, um Jerusza zu schockieren, und jetzt verstand sie, dass Macht, vielleicht sogar Freude, darin lag, jemanden zu verblüffen.
»Ich habe Sie auch noch nie gesehen«, erwiderte der junge Mann. Er trat einen Schritt näher, und sie stolperte reflexartig rückwärts. Er blieb prompt stehen und hob die Hände. »Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Oh, das haben Sie nicht.« Die Lüge lag salzig auf ihrer Zunge.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, während er sie betrachtete. »Leben Sie hier in der Gegend?«
»Ja.« Gleich darauf berichtigte sie ihre Antwort. »Äh … nein.« Sie konnte spüren, wie ihre Wangen sich erwärmten.
Der junge Mann zögerte, während er sie studierte. »Na schön. Nun ja, ich lebe in Hajnówka.«
»Verstehe.« Jona hatte keine Ahnung, was das bedeutete.
»Am Rande des Waldes«, stellte er klar. »Etwa einen Tagesmarsch von hier entfernt.«
»Natürlich.« Das Vortäuschen von Wissen, das sie nicht besaß, schmeckte wie noch eine Lüge. Jerusza hatte sie alle Länder der Erde lernen lassen; sie konnte Brasilien, Nepal, Tripura auf einer Landkarte ausfindig machen, und bisweilen träumte sie davon, sich aufzuschwingen wie ein Vogel und weit, weit davonzusegeln zu einem anderen Land. Aber über die Dörfer gleich außerhalb des Waldes wusste sie nur wenig, was, so ihr Verdacht, genau Jeruszas Absicht war. Wissen war Versuchung, und Jeruszas Weigerung, ihr Karten der hiesigen Gegend zu zeigen, war eine Art, dafür zu sorgen, dass es für Jona keinen greifbaren Ort gab, an den sie gehen könnte.
»Und Sie?«, fragte der Junge. »Wo leben Sie?«
»Wir …« Sie brach unvermittelt ab. Sie war im Begriff gewesen zu sagen, dass sie im Wald lebte, aber hatte Jerusza ihr nicht eingeschärft, den Leuten das nicht zu sagen? Dass Männer kommen könnten, um ihnen etwas anzutun? Sie nahm nicht an, dass dieser junge Mann etwas in der Richtung im Sinn hatte, aber sie musste vorsichtig sein. »Ich bin aus Berlin.«
Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Jerusza hatte nie ein Wort darüber verloren, dass Jona von irgendwo anders als den Wäldern kam. Aber nachts, wenn Jona schlief, träumte sie bisweilen von einer großen Stadt, einem hölzernen Bett, Plüschdecken, Eltern, die sie liebten, und Milch, die anders schmeckte als die, die Jerusza hin und wieder von umherziehenden Ziegen besorgte. Aber das Wort – Berlin – schmeckte nicht wie Salz auf ihrer Zunge, und Jona fragte sich, ob es vielleicht irgendwie wahr sein könnte.
»Berlin?« Die Augenbrauen des jungen Mannes schossen hoch. »Aber das ist sechs-, siebenhundert Kilometer westlich von hier.«
Verlegen zuckte Jona die Schultern. Das wusste sie natürlich von den Landkarten, die sie studiert hatte, aber warum hatte sie dann Berlin gesagt? Es war eine Welt entfernt, ein Ort, den sie nur in ihrer Fantasie sehen konnte, ein Ort, zu dem Jerusza sie niemals führen würde. Wie töricht war es gewesen, das zu sagen. »Ich weiß«, murmelte sie.
Der Mann legte zweifelnd die Stirn in Falten. »Na ja, vielleicht werde ich Sie ja wiedersehen.«
Jona wusste, dass sie kurz davor war, ihn zu verlieren, dass er im Begriff war zu gehen, und auf einmal wollte sie ihn unbedingt dazu bringen zu bleiben. »Wer sind Sie? Ihr Name, meine ich.«
Er lächelte wieder, aber nur leicht diesmal. Seine Stirn war noch immer tief gefurcht von seinem Mangel an Vertrauen in sie. »Marcin. Und Sie sind …?«
»Jona.«
»Jona.« Er schien ihren Namen vorsichtig über seine Zunge rollen zu lassen. Ihr gefiel, wie das klang. »Na ja, Jona, ich werde morgen wieder hier sein, falls Sie in der Gegend sind. Mein Vater und ich haben ganz in der Nähe unser Lager aufgeschlagen.«
»Na schön.« Und da sie nicht wusste, was sie sonst noch sagen sollte, zog Jona sich langsam zurück, verschmolz mit dem Wald, bis sie den Jungen nicht mehr sehen konnte. Dann wandte sie sich um und rannte los. Sie lief eine Stunde lang, bevor sie kehrtmachte und zurück in Richtung der Hütte lief, die sie sich mit Jerusza teilte, denn auch wenn sie fasziniert von Marcin war, wollte sie sichergehen, dass er ihr nicht folgte.
An jenem Abend, bei einer Mahlzeit aus süßen Honigpilzen mit Bärlauch, musste Jona sich auf die Zunge beißen. Sie wusste, dass sie und Jerusza, wenn sie den jungen Mann erwähnte, sofort weiterziehen würden.
»Du bist sehr still heute Abend«, bemerkte Jerusza, während sie zu dem nahe gelegenen Bach hinuntergingen, um ihre Teller abzuspülen, die sie vor langer Zeit von einem Bauernhof am Rande des Waldes gestohlen hatten. Auf diese Weise hatten sie die meisten ihrer Habseligkeiten angesammelt: ihre Kleider, ihre Stiefel, ihre Töpfe, ihre Axt, ihre Messer.
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Jona prompt, was natürlich dazu führte, dass Jerusza misstrauisch die Augen zusammenkniff. Jona hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie so leicht zu durchschauen war.
»Normalerweise erzählst du mir von deinem Tag – den Geschöpfen, die du gesehen hast, den Dingen, die du gesammelt hast. Um genau zu sein, redest du normalerweise in einem fort, denn du bist noch nicht weise genug, um zu wissen, dass die besten Geschichten schweigend erzählt werden.«
Jona zwang sich zu einem Lächeln, obwohl die Worte wehtaten. »Ein Seggenrohrsänger!«, sagte sie allzu rasch, allzu fröhlich. »Ich habe einen Seggenrohrsänger gesehen.«
»Ah.« Jeruszas Augen waren zwei skeptische dunkle Schlitze. »Wie du, ein Vogel, der nicht im Käfig gehalten werden kann. Vielleicht ein Zeichen, dass du zu nah an die Zivilisation herangekommen bist und dass dir, wenn du nicht achtgibst, deine Freiheit genommen werden wird.«
Jona sah verblüfft auf. »Ich … ich bin nicht nah an die Zivilisation herangekommen.« Der salzige Geschmack war wieder da.
Jeruszas Miene war wissend, während ihre Augen schließlich wieder ihre normale Form annahmen. »Natürlich nicht. Wir sind mitten im Wald. Du hättest es nicht in ein Dorf und wieder zurück schaffen können, ohne …«
»Berlin!«, platzte Jona heraus, in einem verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln.
»Wie bitte?« Auf einmal war Jerusza sehr still.
»Berlin«, wiederholte Jona etwas weniger selbstsicher. »Haben wir dort gelebt, als ich klein war, Jerusza? In einem Haus mit Betten und Decken und frischer Milch?«
Jeruszas Lippen kräuselten sich, so, wie sie es taten, wenn sie eine säuerliche Beere schmeckte. »Du dummes Mädchen. Kannst du dir mich in Berlin vorstellen?«
Jonas Stimmung sank. Manchmal waren Träume einfach nur Träume. »Nein.«
»Dann stell mir nicht solche Fragen.«
In jener Nacht träumte Jona nicht von Berlin. Sie träumte von einem Jungen namens Marcin, der auf sie zutrat und ihre Wange berührte. Aber dann, bevor sie etwas sagen konnte, verwandelte er sich in einen Rohrsänger und flog davon, schwang sich über die Baumwipfel auf, während sie selbst wie angewurzelt am Boden zurückblieb.
Drei Tage verstrichen, bevor Jona Marcin wiedersah. Als er aufblickte und sie aus einer Gruppe von Eichen auf sich zukommen sah, glitt Erleichterung über seine Züge.
»Na, ich dachte schon, du wärst für immer gegangen«, sagte er, als sie sich näherte.
»Ich war nicht für immer gegangen.« Es war eine dumme Antwort, und sie wusste es, sobald sie es sagte. Sie war froh, als er lachte.
»Ja, das sehe ich. Und, wo bist du gewesen? Bist du zurück nach Berlin gegangen, deutsches Mädchen?«
Sie konnte die Belustigung in seinen Augen sehen, daher gestattete sie sich ein leichtes Lächeln, während sie ihn abschätzte. Seine Kleidung war abgetragen, sein Hemd zu klein für ihn und eingerissen an den Ellbogen. Jona war verblüfft von dem Impuls, der sie bei dem Anblick durchzuckte, dem Drang, seine Ärmel zu flicken. Und da war noch etwas anderes, etwas, das sie noch mehr beunruhigte – ein Verlangen, seine Haut zu berühren, zu sehen, ob sie ebenso heiß glühte wie ihre. »Nein, das bin ich nicht«, antwortete sie abrupt.
Sein Lächeln schwand ein klein wenig. »Ich habe nur einen Witz gemacht.«
»Natürlich. Es ist nur … ich bin nicht …« Hilflos brach sie ab. Wie könnte sie ihm erklären, dass sie noch nie in ihrem Leben mit irgendjemandem außer Jerusza gesprochen hatte? Dass sie Witze nicht wirklich verstand, weil Jerusza nie einen machte? Dass sie jedes Jahr nur ein paarmal einen flüchtigen Blick auf die Welt außerhalb des Waldes erhascht hatte, wenn Jerusza Jona gestattet hatte, ihr mitten in der Nacht in ein Dorf zu folgen?
»Schon gut.« Marcins Ton war jetzt sanfter. »Es war ohnehin ein etwas dummer Witz. Berlin wäre jetzt kein guter Ort, um dort zu sein.«
»Warum denn nicht?«
Er blinzelte sie ein paarmal an. »Du hast doch sicher von den Dingen gehört, die dort passieren.«
»Was denn für Dinge?« Auf einmal bekam sie ein ungutes Gefühl, einen Blick auf Gewitterwolken, die heraufzogen, eine Ahnung, dass er im Begriff war, etwas zu sagen, das sie instinktiv bereits wusste.
Sein Lächeln war verschwunden, aber seine Augen blickten noch immer freundlich. »Ich hätte nicht davon ausgehen sollen. Es stand in der Zeitung. Kannst du lesen, Jona?« Die Frage war nicht grausam. Er hielt sie für ein einfaches, ungebildetes Mädchen aus dem Wald, das über die einzige ferne Großstadt, von der sie je gehört hatte, gelogen hatte.
Aber er täuschte sich. Das Problem war, dass die Bücher, die Jerusza aus den Bibliotheken in den Städten und Dörfern außerhalb des Waldes, oder aus Kirchen und Synagogen, stahl, nach irgendeinem Plan ausgewählt wurden, den Jona nicht verstand. Ihre Bildung war beschränkt gewesen auf Geschichten der Welt und naturwissenschaftliche Texte über Pflanzen, Kräuter und Biologie, und auf die umfassende Lektüre von Texten verschiedener Religionen. Das Leben, sagte Jerusza, war eine endlose Suche nach der wahren Bedeutung Gottes. »Ja, ich kann lesen.«
»Entschuldige. Natürlich kannst du das … ich dachte nur, dass …« Marcin brach ab, aber er blickte betrübt.
»Schon gut. Ich … ich liebe Bücher wirklich, meistens. Sie sind …« Sie zögerte, während die richtigen Worte auf ihrer Zungenspitze tänzelten. »Bücher sind magisch, nicht wahr?«
»Na ja, in Deutschland würden die zuständigen Leute dir da im Moment widersprechen. Sie würden sagen, dass Bücher gefährlich sind.«
»Aber wie könnte ein Buch denn gefährlich sein?«
»Ich weiß nicht.« Er zuckte die Schultern. »Sie verbrennen sie dort, in deinem Berlin, weißt du. Das ist, was ich dir zu sagen versucht habe.«
»Bücher verbrennen?« Jona blinzelte ihn ein paarmal an. »Aber warum würde irgendjemand so etwas tun?«
»Ich nehme an, sie glauben nicht, dass Leute Bücher lesen können sollten, mit denen sie nicht einverstanden sind, geschrieben von Leuten, mit denen sie nicht einverstanden sind.«
Es klang ein bisschen so, wie Jerusza über die Dinge dachte – ein selbstgerechtes Gefühl, die Kontrolle über die Gedanken anderer Leute verdient zu haben –, aber Jona bezweifelte, dass die alte Frau so weit gehen würde, Wissen zu verbrennen. »Das ist ja entsetzlich.«
Ein leiser Ruf ertönte irgendwo in der Ferne, die tiefe Stimme eines Mannes, und Jona versteifte sich, und ihre Hand schoss prompt zu dem Messer an ihrem Knöchel.
Marcin hörte ihn ebenfalls, denn er neigte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und seufzte. »Mein Vater«, sagte er. »Willst du …«
»Ich sollte gehen«, beeilte sich Jona zu sagen. Und obwohl sie bleiben wollte, obwohl sie Marcin fragen wollte, was sonst noch in der Welt geschah, wie sein Leben aussah und was er in Büchern und Zeitungen gelesen hatte, hatte sie auf einmal schreckliche Angst. Marcin schien freundlich gesinnt. Aber was, wenn sein Vater einer dieser Leute war, vor denen Jerusza sie gewarnt hatte? Sie war bereits zu lange geblieben. »Ich … ich werde morgen wiederkommen.«
»Jona, bitte lauf nicht wieder weg«, sagte Marcin und trat einen Schritt vor.
Aber sie war bereits gegangen, zwischen den Bäumen verschwunden wie eine Windböe, bis es war, als wäre sie nie wirklich dort gewesen.
Als Jona an jenem Nachmittag zu ihrem Lager zurückkehrte, hämmerte ihr Herz vor Reue. Warum war sie nicht länger geblieben? Hatte nicht den Mut gehabt, mehr zu fragen?
Sie war so sehr in ihre eigenen Gedanken verloren, dass sie ein paar Sekunden brauchte, um zu bemerken, dass Jerusza dabei war, die Hütte auseinanderzunehmen, die sie in den letzten drei Wochen ihr Zuhause genannt hatten, die Rinde vom Dach zu entfernen, die Holzpfähle mit wütenden, ruckartigen Bewegungen aus dem Boden zu reißen. Jona blieb stehen und starrte sie an. »Warum …?«, begann sie.
Jerusza schnellte zu ihr herum. »Dachtest du etwa, ich würde das mit dem Jungen nicht herausfinden? Wie kannst du es wagen, dich mir zu widersetzen? Du kennst die Welt nicht, und du besitzt nicht die Weisheit, deine eigenen Entscheidungen zu treffen, du leichtsinnige Närrin. Was, wenn er dir gefolgt wäre?«
»Ich habe nicht …«
»Genug!«, schnitt Jerusza ihr das Wort ab, ihre Stimme ein scharfes Messer der Enttäuschung. »Was hast du getan?«
Stumm vor Scham sammelte Jona ihre Sachen zusammen und versuchte, nicht zu weinen, aber es nützte nichts. Während sie durch den Wald stapften, fort von dort, wo Marcin am nächsten Tag auf sie warten würde, liefen Jona die Tränen über die Wangen und benetzten lautlos die Erde.
»Er war freundlich, Jerusza«, sagte Jona, nachdem sie eine Stunde lang schweigend gegangen waren. »Er wollte mir nichts antun.«
»Du weißt gar nichts«, gab Jerusza zurück. »Männer können grausam und herzlos und kalt sein. Und die Fehler, die wir begehen, verfolgen uns unser Leben lang.«
»Er war mein Freund«, flüsterte Jona.
»War er das? Oder wollte er Dinge von dir?«
Jona war verwirrt. Er hatte, schien es, nichts als ein Gespräch gewollt. »Was denn für Dinge?«
Jerusza spie aus. »Auf dieser Welt behältst du deine Macht, solange du deine Beine geschlossen hältst.«
Jona blinzelte sie nur an, völlig verständnislos. »Ich … ich verstehe nicht.«
Jerusza starrte sie ungläubig an. »Ich bitte dich, Kind. Jungen wollen Dinge von Mädchen. Das ist die älteste Geschichte der Welt.«
Und dann, blitzartig, verstand Jona, und Hitze schoss ihr in die Wangen. »Aber es war nichts dergleichen!« Sie wusste von der Funktionsweise geschlechtlichen Verkehrs – eine bedauerliche Notwendigkeit, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern, hatte Jerusza es genannt –, aber in ihrer Vorstellung hatte es nichts mit dem Gefühl zu tun, einen gemeinsamen Nenner mit einem anderen Menschen zu haben. Sie hatten nur geredet, was nichts mit ihren Körpern zu tun hatte.
Andererseits hatte sie sich danach gesehnt, ihm näherzukommen, oder? War das die Natur am Werk? Oder war es schlicht der verzweifelte Wunsch, jemandem zu zeigen, dass sie lebendig, vollständig war?
Später, im Laufe der Jahre, während sie und Jerusza erst nach Norden und dann nach Osten zogen, dachte sie manchmal an Marcin zurück und wünschte, sie wäre mutig genug gewesen, die Haut seines Arms zu berühren, nur um, wenn auch nur für eine Sekunde, zu wissen, wie es sich anfühlte, Kontakt zu einem anderen menschlichen Wesen zu haben.
Aber dort, wo sie waren, waren keine anderen Menschen zu finden, und für eine Weile verfiel das Leben in eine vorhersehbare Monotonie. Jeden Tag sammelten sie Nahrung und Kräuter. Jeden Abend kochten sie über einem kleinen Feuer das, was sie gefunden hatten. Sie zogen mindestens einmal im Monat weiter, sodass sie kaum eine Spur hinterließen, sollte irgendjemand nach ihnen suchen. Im Spätsommer und Herbst sammelten und räucherten sie Nahrungsmittel für den Winter; sobald die Blätter sich verfärbten, begannen sie, sich einen Schutzraum zu bauen, tief in die sandige Erde gegraben und abgestützt von aus Baumstämmen zurechtgehauenen Pfählen. Im Winter kauerten sie sich um ein kleines Feuer in ihrem beengten Erdloch aneinander, das sie nur verließen, um ihre bescheidene Speisekammer mit Schlammbeißern, Käferlarven und gefrorenen Beeren aufzufüllen, während ihre Vorräte schwanden, und um frisch gefallenen Schnee in Töpfe zu schaufeln, um Trinkwasser zu haben. In jedem Frühjahr wagte sich Jerusza in Dörfer hinaus, um Kleidung, Schuhe, Decken, Messer und Äxte zu stehlen – wobei sie Jona jetzt immer zurückließ mit der strikten Anweisung, sich nicht vom Fleck zu rühren, sonst würde es harte Konsequenzen geben –, und von jeder Expedition brachte sie Bücher mit, die Jona begierig verschlang, voller Sehnsucht, sich vorzustellen, wie das Leben außerhalb des Waldes aussah. Im Sommer führte ihr Weg sie zu aufgegebenen russischen Feldlagern, die nach dem Ersten Weltkrieg hinterlassen worden waren, und sie gruben in der Erde, bis sie Schätze wie Magnesiumstäbe und Ferrostangen fanden, die es ihnen erleichterten, ein Feuer zu entfachen. Im Laufe der Zeit füllten sie einen kleinen Sack damit, den sie überallhin mitnahmen, denn er würde ihnen über Jahre hinweg mühelos Licht und Wärme liefern.
Aber irgendetwas geschah, und bis Jona zwanzig wurde, war die Welt um den Wald herum in Aufruhr. Die Erde rumorte, und Flugzeuge donnerten immer häufiger über sie hinweg und durchbrachen die Stille des Himmels. Manchmal gab es Explosionen in weiter Ferne und Geräusche, die, wie Jerusza erklärte, Schüsse aus den Gewehren von Soldaten waren, und obwohl Jona Jerusza anflehte, ihr zu sagen, was los war, waren die Antworten der alten Frau verwirrend. »Gott ist wütend«, sagte sie oft, während die Furcht in ihren Augen funkelte. Oder: »Wir werden auf die Probe gestellt.« Wenn Jona noch mehr fragte, packte Jerusza sie jedes Mal bei den Schultern und zischte Warnungen wie: »Solange du hier bist, Jona, bist du in Sicherheit. Vergiss das nie«, oder: »Der Wald wird dich beschützen.« Aber wie sollte Jona Schutz vor etwas finden, das sie nicht kannte, nicht verstand?
Es waren jetzt auch mehr Leute im Wald, und das schien die im Allgemeinen unerschütterliche Jerusza zu verängstigen. »Diese Männer, sie werden uns etwas antun, wenn sie uns finden«, flüsterte sie eines Abends, während sie im Dunkel einer dreihundert Jahre alten hohlen Eiche kauerten, jede von ihnen ein Messer umklammernd, und auf schwere Schritte in der Nähe lauschten.
»Wer sind sie?«, fragte Jona.
»Böse Männer. Das Grauen hat eben erst begonnen.« Aber Jerusza erklärte nichts weiter.
Später an jenem Abend, lange nachdem die Schritte verhallt waren, zogen sie wieder weiter, diesmal nach Osten.
»Wohin gehen wir?«, fragte Jona leise, während sie angestrengt versuchte, mit Jerusza Schritt zu halten, die entschlossen durch die Dunkelheit stapfte.
»Nach Osten natürlich«, erwiderte die alte Frau, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, ohne sich umzuwenden, um Jona anzusehen. »Wenn es Ärger gibt, musst du immer zum Beginn des Tages ziehen, nicht zu seinem Ende. Das weißt du doch, Kind. Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«
Im Sommer 1941 fielen eines strahlenden Nachmittags rundliche schwarze Klötze vom Himmel, erschütterten die feste Erde, scheuchten die Vögel aus den Bäumen auf und verjagten die Kaninchen unter die Erde, während der Boden bebte und rumorte.
»Bomben«, sagte Jerusza mit einer Stimme, die so hohl war wie eine tote Eiche. »Sie bombardieren Polen.«
Jona wusste natürlich von Bomben, denn sie waren auch zwei Jahre zuvor schon gefallen. Aber sie hatte sie noch nie so gesehen, wie sie einen strahlend blauen Himmel verdüsterten. »Wer denn?« Auf einmal fröstelte Jona, trotz der Hitze der Sonne. In der Ferne waren noch mehr Explosionen zu hören. »Wer bombardiert Polen?«
»Die Deutschen.« Jerusza sah Jona nicht an, als sie antwortete. »Komm. Wir haben keine Zeit zu verlieren, sonst werden wir russischen Deserteuren genau in die Arme laufen.«
»Was?«, fragte Jona, jetzt völlig verwirrt, aber Jerusza gab keine Antwort. Stattdessen sammelte sie schweigend ihre Sachen zusammen, drückte Jona ein paar Rucksäcke in die Arme und lief los in den Wald, schneller, als Jona sie je zuvor hatte laufen sehen.
Sie marschierten zwei Tage und zwei Nächte, hielten nur inne, um ein paar Stunden zu schlafen, wenn ihre Füße sie nicht länger tragen konnten, bis sie den Rand eines scheinbar endlosen Sumpfs erreichten, genau westlich des Herzens des Waldes.
»Wo sind wir?«, fragte Jona.
»In Sicherheit. Und jetzt nimm dein Gepäck ab und halt dich bereit, es über dem Kopf zu tragen. Und auch dein Messer.«
Stumm vor Verblüffung suchte Jona den Horizont ab. Der Sumpf erstreckte sich weiter, als das Auge reichte, und erschien Jona wie eine optische Täuschung; er war mit Inseln gesprenkelt, aber vom Rand aus ließ sich unmöglich sagen, welche Teile des Sumpfs fester Boden waren und wo tiefes, schlammiges Wasser wirbelte. Bildete Jona es sich nur ein, oder konnte sie hören, wie das Wasser das Wort zischelte, das Jerusza eben gesagt hatte? Sicherheit, schien es zu sagen. Siiiiicherheit.
»Aber wirst du nicht krank werden?«, fragte Jona, während Jerusza begann, in den immer tiefer werdenden Sumpf voranzugehen, und das Wasser ihnen bereits bis zur Hüfte reichte. Schließlich war die alte Frau ein Jahrhundert alt, und erst in der Woche zuvor hatte sie begonnen, nachts zu husten und zu zittern.
Jerusza stieß ein freudloses Lachen aus. »Habe ich dir inzwischen nicht beigebracht, dass der Wald sich um die Seinen kümmert?«
»Aber warum tun wir das, Jerusza?«, hatte Jona eine Stunde später gefragt, als ihnen das Wasser bis zum Hals reichte. Um sie herum zischelte der Sumpf noch immer. Sie trugen ihr Gepäck auf dem Kopf, damit der trübe Schlamm ihre Habseligkeiten nicht durchnässte.
»Weil du diesen Wald in- und auswendig kennen musst, sein Herz und seine Seele. Jetzt bist du in seinem Bauch, und sein Bauch wird für deine Sicherheit sorgen.«
Sie benötigten zwei Tage, bis sie eine Insel in der Mitte des Sumpfs erreichten, wo sie Pilze, Heidelbeeren und aufgeschreckte Igel fanden, die leicht zu fangen waren. Sie blieben einen Monat dort, bis sie die Insel von aller Nahrung leer gepflückt hatten, bis sie keine Explosionen oder das Rat-tat-tat von Gewehrfeuer in der Ferne mehr hören konnten.
Als sie sich Anfang August endlich auf den Weg zurück zu einem vertrauteren Teil des Waldes machten, nahm Jona ihren Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, die ihr schon lange auf den Nägeln brannte. »Woran glaubst du, Jerusza?«, fragte sie, während sie gingen, die alte Frau mehrere Schritte vor ihr, den Weg aufzeigend. »Du nennst dich jüdisch, und wir begehen die jüdischen Feiertage, aber du verspottest sie auch.«
Jerusza wandte sich nicht um, um sie anzusehen, verlangsamte nicht ihre Schritte. »Ich glaube an alles und nichts. Ich bin eine Sucherin der Wahrheit, eine Sucherin Gottes.« Es war keine Antwort. Schließlich seufzte Jerusza einmal tief auf. »Wie du weißt, war meine Mutter jüdisch, daher bin ich es nach dem jüdischen Gesetz ebenfalls. Du weißt diese Dinge doch, Kind. Warum zwingst du mich, meinen Atem zu verschwenden?«
»Ich … ich nehme an, ich frage mich, was mit mir selbst ist.«
»Was soll denn mit dir selbst sein?«
»Na ja … was bin ich? Du bist nicht meine Mutter, aber du hast mich großgezogen. Bin ich dadurch auch jüdisch?«
Das Schweigen schwebte zwischen ihnen, während sie weitergingen. »Du bist, wozu du geboren wurdest«, sagte Jerusza schließlich.
Jona ballte entnervt die Fäuste. Es hätte eine einfache Frage sein sollen, aber irgendwie, selbst nach all den Jahren, war es das nicht. »Aber was ist das?«, beharrte sie. »Warum gibst du mir nie eine klare Antwort? Wozu wurde ich geboren?«
»Ich wünschte, das wüsste ich«, gab Jerusza zurück. »Ich wünschte, ich würde verstehen, warum der Wald mich zu dir gerufen hat. Ich wünschte, ich könnte verstehen, warum ich die letzten Jahre meines Lebens mit einem undankbaren Kind verbringen muss. Ich nehme an, du bist zu irgendetwas Großem bestimmt, aber bei dem Tempo, das du an den Tag legst, werde ich längst tot sein, bevor du erfüllst, was immer für ein Schicksal das sein mag.«
Jonas Kopf pochte vor Verwirrung und Verletztheit. »Aber wenn du mir etwas darüber sagen könntest, woher ich gekommen bin …«
»Herrgott noch mal, nun hör schon auf!« Schließlich schnellte Jerusza herum, um Jona wütend anzufunkeln. Sie kaute einen langen Moment auf ihrer herabhängenden Lippe, bevor sie hinzufügte: »Du stellst die falschen Fragen, Kind. Vergiss nie, dass die Wahrheit immer in dir selbst liegt. Und wenn du sie nicht finden kannst, dann hat sich der Wald in dir vielleicht getäuscht. Vielleicht bist du letztendlich doch nicht mehr als ein gewöhnliches Mädchen.«
Bis das Jahr 1942 eiskalt und leer anbrach, hatte sich Jona daran gewöhnt, mit sich allein zu sein, denn Jerusza, inzwischen einhundertundzwei Jahre alt, sprach kaum noch ein Wort. Jona war jetzt fast zweiundzwanzig, und sie wusste alles, was es über die Erde unter ihren Füßen und die Dinge, die aus ihr entsprangen, zu wissen gab, aber annähernd nichts über das Wesen der Menschheit. Sie hatte seit fast drei Jahren keinen anderen Menschen gesehen, abgesehen von einem gelegentlichen kurzen Blick auf die bösen Männer von den Tiefen der Bäume aus. Sie hielt Zwiesprache mit roten Eichhörnchen und Schneehasen. Sie kochte, sie putzte, sie sprach zu einem Gott, den sie nicht verstand. Aber es war zu gefährlich geworden, sich aus dem Wald hinauszuwagen, selbst für Jerusza. Je tiefer sie in den Nalibocka eindrangen, desto mehr verschwand die Außenwelt.
Bevor sie sichs versah, war es März, und die Kälte sickerte in den Boden zurück, der Schnee schmolz, und der Frost lockerte seinen Griff. Eines Tages, als die Sonne an einem kalten, wolkenlosen Himmel über den Baumwipfeln aufging, rief Jerusza, die sich nicht von ihrem Schilfbett erhoben hatte, Jona zu sich.
»Heute«, erklärte Jerusza mit kratziger, atemloser Stimme, »ist der Tag, an dem ich sterben werde.«
Jonas Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte gewusst, dass der Zeitpunkt nahte, denn Jeruszas Körper war immer langsamer, immer kälter geworden. Die Vögel, die wieder zum Vorschein kamen, um nach Anzeichen des Frühlings Ausschau zu halten, hatten sich von ihnen ferngehalten wie noch nie, und Jona hatte gespürt, wie sich ein Schatten über ihr Zuhause legte, das sie in die Erde gegraben hatten. Sie lebten seit November dort, länger, als sie je zuvor an irgendeinem Ort geblieben waren.
»Was kann ich tun?«, fragte Jona, trat an ihre Seite und kniete sich neben sie.
»Bereite mir einen Lindentee.« Die alte Frau tat einen zitternden Atemzug.
Jona blinzelte Tränen zurück und machte sich hastig daran, Jeruszas Wunsch nachzukommen, kochte ein starkes Gebräu aus den getrockneten Lindenblüten, die sie und Jerusza im vergangenen Sommer gesammelt hatten. Es würde Jeruszas Fieber senken und ihr gegen die Schmerzen helfen, aber es würde ihren Übergang ins Jenseits nicht hinauszögern. Während sie die Blüten ziehen ließ, versuchte Jona, sich darauf zu konzentrieren, wie sie es Jerusza möglichst behaglich machen könnte, aber düstere Gedanken schlichen sich immer wieder am Rande ihres Bewusstseins ein; was würde aus ihr werden, wenn Jerusza nicht mehr war?
Als sie sich ein paar Minuten später wieder neben Jerusza kniete, einen dampfenden Becher in den Händen, ging der Atem der alten Frau merklich flacher, aber sie sprach dennoch das Widduj, das Gebet des Bekenntnisses, bevor sie den Becher in ihre zitternden Hände nahm.
»Jerusza, was werde ich …«, begann Jona zu fragen, aber Jerusza schnitt ihr das Wort ab.
»Es gibt ein paar Dinge, die ich dir sagen muss.« Jerusza nahm einen langen Schluck von ihrem Tee. Sie blinzelte ein paarmal, und als sie ihren trüben Blick wieder auf Jona richtete, sah sie kräftiger und wacher aus, als Jona sie seit Monaten gesehen hatte.
»Ich bin hier.« Jona beugte sich vor und legte ihre Hände auf Jeruszas, ein Ausdruck der Solidarität, aber Jerusza schüttelte sie ab.
»Erstens, du darfst dich nie aus dem Wald hinauswagen. Nicht, solange die Welt im Krieg ist. Das musst du mir versprechen, Jona.«
Es war die Abmachung, die sie hatten, seit zweieinhalb Jahre zuvor die ersten Bomben gefallen waren, und Jona hatte ihren Teil davon eingehalten. Aber wenn Jerusza starb, würde sie ganz allein in der Dunkelheit sein. Was, wenn sie sich von Zeit zu Zeit nach menschlichem Kontakt sehnte? »Aber wenn ich Essen brauche …«
»Der Wald wird für dich sorgen, Kind!« Jerusza stieß ein tiefes, keuchendes Husten aus, das ihren ganzen Körper erschütterte. »Der Wald wird immer für dich sorgen. Du musst mir dein Wort geben.«
Es wäre so leicht gewesen, ihr einfach beizupflichten, aber Jerusza hatte Jona vor langer Zeit beigebracht, niemals zu lügen, es sei denn, ihr Leben wäre in Gefahr und eine Unwahrheit der einzige Ausweg. »Das kann ich nicht tun«, flüsterte sie.
Jerusza versuchte angestrengt, sich aufzusetzen. Ihre Augen loderten, selbst während das Leben langsam aus ihr wich. »Dann bist du eine Närrin, und du wirst dich in große Gefahr bringen.«
»Aber vielleicht ist große Gefahr der einzige Weg zu einem besseren Leben«, erwiderte Jona. »Ist es nicht das, was du mir über unsere Existenz erzählt hast? Das Leben in einem Dorf wäre leichter, aber wir nehmen die Gefahr auf uns, im Wald zu leben, weil es uns ein größeres Leben bietet, hier unter den Sternen.«
Jeruszas Oberlippe kräuselte sich. »Es scheint, dass die Schülerin letztendlich die Lehrerin geworden ist.« Ihre Stimme klang krächzend und wurde noch schwächer. »Nun, ich denke, es gibt noch etwas anderes, das du auch wissen solltest. Dir ist natürlich bereits klar, dass ich nicht deine richtige Mutter bin.«
»Natürlich.« Ein plötzlicher Schmerz der Einsamkeit durchzuckte Jona. Sie hatte im Laufe der Jahre immer wieder versucht, danach zu fragen, woher sie gekommen war, aber Jerusza war jedes Mal davongestürmt und hatte Jona eine undankbare Kreatur genannt. Mit den Jahren war Jona zu der Überzeugung gelangt, dass sie von herzlosen Eltern im Wald ausgesetzt worden sein musste und dass die alte Frau ihr das Leben gerettet hatte.
»Ich habe dich gestohlen«, fuhr Jerusza in einem gleichmütigen Ton fort. »Ich hatte keine Wahl, weißt du.«
Jona kauerte sich auf die Fersen, überzeugt, dass sie Jerusza falsch verstanden hatte. »Du hast mich gestohlen?«
»Ja. Aus einer Wohnung in Berlin. Von einer Frau und einem Mann, zu denen du nicht gehören solltest.« Sie teilte den Schlag so seelenruhig aus, als würde sie eine Bemerkung übers Wetter machen.
»Was?« Jona sprang unvermittelt auf, hielt sich zitternd auf den Beinen, und Fassungslosigkeit mischte sich mit einer Ahnung, einem Gefühl, dass es einen kleinen Teil von ihr gab, der die Geschichte bereits kannte. Berlin.
»Setz dich, Kind. Jetzt ist keine Zeit für dein Theater.«
Jona schnappte ein paarmal nach Luft, und ihr Körper spannte sich an, um in den Wald zu flüchten, wo sie den Schmerz über das, was Jerusza im Begriff war zu sagen, was immer das war, nicht würde hinunterschlucken müssen. Aber das konnte sie nicht tun. Sie wusste, dass sie es nicht tun konnte, denn die alte Frau würde tot sein, bevor Jona wiederkam, und dann würde sie die Dinge, die sie wissen musste, niemals zu hören bekommen. »Was hast du getan, Jerusza?«, flüsterte sie, während sie sich wieder auf den Boden sinken ließ.
»Was ich getan habe? Ich habe dich gerettet, Kind.« Schweiß perlte jetzt auf Jeruszas Stirn, und ihr Atem wurde gequälter, eine Reihe stakkatoartiger Schluck- und Zischgeräusche. »Deine Eltern waren schlechte Menschen, weißt du.«
»Wie konntest du das denn wissen?«
»So, wie ich alles weiß.« Jeruszas Worte brannten wie ein Peitschenhieb. »Der Wald hat es mir erzählt. Der Wald und der Himmel.«
»Aber …«
»Ihre Namen waren Siegfried und Alwine Jüttner«, redete Jerusza einfach über Jonas schmerzerfüllten Einwand hinweg. »Sie lebten in einer Wohnung in der Behaimstraße 72 in Berlin.«
Die Wohnung mit dem hölzernen Bett und den warmen Decken, die Jona in ihren Träumen heimsuchte. Jona schluckte ein paarmal schwer, während eintausend Fragen in ihr brodelten. Aber die eine, die an die Oberfläche drängte, war: »Soll ich jetzt zu ihnen zurückkehren? Ist das der Grund, weshalb du mir das erzählst?«
»Nein!« Die Augen der alten Frau blitzten, und sie setzte sich auf. Ihr Oberkörper schwankte unsicher, wie ein Weizenhalm im Wind, und Jona widerstand dem Drang, eine Hand auszustrecken, um sie zu stützen. Das hatte sie nicht verdient. »Nein!«, rief Jerusza noch einmal, ihre Stimme so laut und scharf, dass Jona hören konnte, wie eine erschrockene Schar Krähen draußen mit einem empörten Kreischen aufflog. »Das darfst du nicht tun.«
»Warum erzählst du es mir denn dann überhaupt? Und warum jetzt?«
»Weil es …« Jerusza brach ab, ihre Worte gingen in einem nassen Husten unter, der ihren Körper erschütterte. »… Wissen ist, das dir – oder jemand anders – eines Tages das Leben retten könnte.«