Über uns der Himmel - Kristin Harmel - E-Book
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Über uns der Himmel E-Book

Kristin Harmel

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Beschreibung

Als die Welt zerbrach, blieb ihre Liebe …

Die junge Kate Waithman lebt mit ihrer großen Liebe Patrick in Manhattan. Eines Morgens geht sie am Hudson River joggen, als plötzlich ein Flugzeug den Himmel durchbricht. Momente später ist das World Trade Center in Rauch gehüllt. Es ist das Gebäude, in dem Patrick arbeitet ...

Dreizehn Jahre später fühlt sich Kate endlich bereit, ihr Herz wieder zu öffnen. Doch dann hat sie einen Traum, der realer scheint als alles, was sie umgibt – von dem Leben, das sie mit Patrick gehabt haben könnte. Während sie versucht, an der Vergangenheit festzuhalten, beginnt Kate zu ahnen, dass es für sie einen zweiten Weg zum Glück geben könnte ...

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KRISTIN HARMEL

Über uns der Himmel

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Life Intended« bei Gallery Books, New York.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Kristin Harmel

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Redaktion: Ivana Marinović

ES · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14383-1V003

www.penguin.de

Für all jene, die jemanden geliebt und verloren haben.Und für Jason, die Liebe meines Lebens. Ich kann mir eine Welt ohne dich nicht vorstellen.

»Musik ist der Raum zwischen den Noten.«

CLAUDE DEBUSSY, französischer Komponist (1862–1918)

110. September 2001

Es war 23:04 Uhr, als Patrick an jenem Abend zur Tür unserer Wohnung hereinkam.

Ich erinnere mich an jeden Augenblick dieser letzten vierundzwanzig Stunden so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen.

Ich erinnere mich an die Ziffern, die rot und wütend auf der Digitaluhr neben unserem Bett glühten, an das Geräusch seines Schlüssels, der sich im Schloss drehte. Ich erinnere mich an seine verlegene Miene, die Art, wie er sich mit einer Hand durch den dichten, dunklen Haarschopf fuhr, die Art, wie er meinen Namen aussprach, Kate, als wäre es eine Entschuldigung und ein Gruß zugleich.

Ich hatte Fortress gehört, mein Lieblingsalbum einer Band namens Sister Hazel. »Champagne High«, der vierte Song auf der CD, lief, und ich dachte über den Text nach, an »die eine Million Stunden, die wir waren«, und was für eine schöne Art das war, um ein gemeinsames Leben zu beschreiben.

Patrick und ich waren damals erst seit vier Monaten verheiratet. Ich weiß noch, dass ich, kurz bevor er nach Hause kam, dachte, dass eine Million Stunden nicht so klang, als wäre es genug. Vielleicht werden wir das Glück haben, mehr Zeit zu bekommen. Vielleicht wird man, bis wir alt geworden sind, eine Möglichkeit gefunden haben, unsere Leben zu verlängern. Ich konnte mir keinen Tag vorstellen, an dem ich nicht mehr mit ihm zusammen sein würde.

Die Zeit war mir nie genug, immer wollte ich noch mehr. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass wir erst einen winzigen Bruchteil der Augenblicke, die wir im Laufe unseres Lebens zusammen verbringen würden, aufgebraucht hatten. Ich war damals siebenundzwanzig, Patrick achtundzwanzig. Die Jahre schienen sich zu einem endlosen Horizont vor uns auszudehnen. Ich wusste nicht, dass uns die letzten Augenblicke unserer gemeinsamen Zeit durch die Finger rannen wie Sand.

Wenn ich nervös war, neigte ich dazu, Musik zu Tode zu analysieren, was wohl der Grund war, weshalb ich mir an jenem Abend eine CD anhörte, die ich schon hundertmal gehört hatte. Ich zergliederte den Text und die Akkorde, während ich darauf wartete, dass Patrick zur Tür hereinkam. Das ist etwas, was ich noch heute tue, wenn ich Ablenkung brauche. Ich verliere mich in den Noten, den Melodien und Harmonien, den Vokal- und Instrumentalpartien – und darin, wie sich manchmal, im glücklichsten Fall, alles perfekt zusammenfügt.

So wie Patrick und ich. Wir waren Harmonie und Melodie, Yin und Yang, wie eine uralte Fünftonleiter, gepaart mit einem modernen Percussion-Rhythmus. Wir passten mühelos zusammen von dem Augenblick an, in dem wir uns begegneten, neunzehn Monate und zehn Tage zuvor, am Silvesterabend 1999, wenige Augenblicke, bevor das neue Jahrtausend anbrach. Ich hatte nie geahnt, dass es möglich wäre, sich so vollkommen, so im Einklang, so erfüllt von einem anderen Menschen zu fühlen.

Letztendlich besteht die Musik aus Zahlen.

Genau wie das Leben.

Ich zählte sie später zusammen, in jenen letzten zerbrochenen Augenblicken des Jahres 2001.

Die Zahl, die uns, Patrick und mich, letztendlich definierte, war 14098.

Das war die Zahl der Stunden, in denen wir wussten, dass wir unseren Seelenverwandten gefunden hatten. Die Zahl der Stunden, in denen wir glaubten, dass wir nie wieder allein sein würden. Die Zahl der Stunden, in denen wir das Gefühl hatten, alles zu haben – bevor am Morgen des 11. September 2001, um 8:46 Uhr, ein tiefer Riss durch unser beider Leben ging.

14098 ist nicht einmal annähernd eine Million, oder?

Ich habe mir dieses Lied nie wieder angehört, auch wenn mich seine Melodie mitunter noch immer heimsucht.

»Schatz, es tut mir schrecklich leid.« Patrick entschuldigte sich in einem fort, während er durch den dunklen Flur ins Schlafzimmer tappte, wo ich, die Knie an die Brust gezogen, auf dem Bett saß und betont auf meine Armbanduhr sah. Die Erleichterung darüber, dass er sicher zu Hause war, wich rasch dem Ärger darüber, dass er mir solche Sorgen bereitet hatte.

»Du hast nicht angerufen.« Ich wusste, dass ich beleidigt klang, aber das war mir in dem Moment egal. Im Jahr zuvor, nachdem mein Onkel bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, hatten wir uns versprochen, immer zu versuchen, dem anderen Bescheid zu geben, wenn wir uns verspäten würden. Meine Tante hatte damals fast zwanzig Stunden in seliger Unwissenheit über den Tod ihres Ehemanns verbracht, eine Vorstellung, die Patrick und mich zutiefst entsetzt hatte.

»Es ist etwas dazwischengekommen«, sagte Patrick, wobei er meinem Blick auswich. Sein Bartschatten war dunkel, sein Haar zerzaust, und seine grünen Augen blickten tief bekümmert, als er mich schließlich ansah.

Ich sah auf das Telefon auf unserem Nachttisch, das Telefon, das den ganzen Abend geschwiegen hatte. »Du wurdest im Büro aufgehalten?«, fragte ich. Es wäre nicht das erste Mal. Patrick arbeitete als Risikomanagement-Consultant bei Marsh & McLennan. Er war jung und ehrgeizig, einer dieser Menschen, die immer einsprangen, wenn es etwas zu erledigen gab. Und auch dafür liebte ich ihn.

»Nein, Katielee«, redete er mich mit dem liebevollen Kosenamen an, den er seit dem Abend verwendete, an dem wir uns kennenlernten. Er hatte meinen Mädchennamen, Kate Beale, falsch verstanden, als ich ihn über den Lärm der Menge hinweg brüllte. »Meine wunderschöne Katielee«, murmelte er jetzt, während er das Schlafzimmer durchquerte und sich neben mir aufs Bett setzte. Sein rechter Handrücken streifte meine Waden, und ich streckte langsam die Beine aus und schmolz an seiner Seite dahin. Er rutschte näher an mich heran und schlang die Arme um meine Schultern. Er roch nach Eau de Cologne und Rauch. »Ich habe mich mit Candice getroffen«, flüsterte er mir ins Haar. »Sie hatte mir etwas Wichtiges zu sagen.«

Ich wich von ihm zurück und kletterte hastig aus dem Bett. »Wie bitte, Candice? Du hast dich mit Candice getroffen? Bis elf?«

Candice Belazar war das Mädchen, mit dem er unmittelbar vor mir zusammen gewesen war, und seit ich Patrick kannte, war sie wie ein Stachel in meinem Fleisch. Er hatte mir oft beteuert, es sei eher eine kurze Liebelei gewesen als eine Beziehung, und sie hätten sich zwei Monate, bevor er mir begegnete, getrennt. »Es war rein körperlich«, versuchte er, es zu erklären, als er sie zum ersten Mal erwähnte. »Ich hatte das Gefühl, in einer Tretmühle zu stecken. Und sie war da. Ich habe die Sache beendet, sobald mir klar wurde, dass wir beide überhaupt nicht zusammenpassten.« Aber das war mir kein großer Trost.

Wir waren Candice einmal zufällig über den Weg gelaufen, in einem Restaurant in Little Italy, und ein Gesicht mit dem Namen verbinden zu müssen, machte alles nur noch schlimmer. Sie war ein gutes Stück größer als ich, mit riesigen, offenkundig künstlichen Brüsten, gesträhntem, blondiertem Haar und hohlen Augen. Sie grinste herablassend, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte, und ich hörte, wie sie ihrer Freundin betont laut zuflüsterte, Patrick würde mit einer richtigen Frau offenbar nicht klarkommen.

»Kate, Schatz, es ist nichts passiert«, beeilte sich Patrick zu sagen, während er zur Bettkante vorrutschte und die Arme nach mir ausstreckte. »Ich würde niemals irgendetwas tun, was dich verletzt.«

»Warum hast du denn nicht angerufen?«, fragte ich spitz. Ich hasste den Klang meiner Stimme, schrill und vorwurfsvoll. Seitdem wünschte ich mir jeden Tag, ich könnte meine Worte zurücknehmen … all diese Wut zwischen uns am Schluss.

»Kate, es tut mir so leid.« Er fuhr sich seufzend mit den Fingern durch seinen dunklen Haarschopf. »Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber ich würde dich niemals betrügen. Nie im Leben. Das weißt du.« Seine Stimme stockte am Satzende, aber seine Augen blickten so unschuldig wie eh und je. Ich spürte, wie sich meine Schultern ein wenig entspannten, während sich ein Teil meiner Empörung legte.

»Egal«, schnaubte ich, denn mir fiel keine bessere Reaktion ein. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, aber der Stachel des Schmerzes, zu Hause auf ihn warten zu müssen, während er mit seiner Exfreundin in einer verrauchten Bar saß, steckte noch immer tief. Ich würde ihm nicht sagen, dass es in Ordnung sei, denn das war es nicht.

»Hör zu.« Er hob die Hände wie zu einem Schuldeingeständnis. »Ich weiß, ich befinde mich hier völlig im Unrecht. Aber es war ein schweres Gespräch, und ich hatte nicht das Gefühl, kurz weggehen zu können, um zu telefonieren.«

»Ja, bloß nicht Candice kränken«, murmelte ich.

»Kate …« Patricks Stimme verlor sich.

Ich wusste, dass ich einlenken sollte, dass ich zu ihm gehen und ihm sagen sollte, dass alles in Ordnung sei. Aber ich konnte es nicht. Stattdessen sagte ich: »Ich gehe ins Bett.«

»Wollen wir nicht darüber reden?«

»Nein.«

Patrick seufzte. »Kate, ich werde dir morgen alles erklären.«

Ich verdrehte die Augen, stürmte ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu. Ich sah blinzelnd auf mein Spiegelbild, während ich mich fragte, wie es Candice über zwei Jahre, nachdem die beiden sich getrennt hatten, noch immer schaffte, eine gewisse Macht über meinen Ehemann auszuüben. Ich wartete, bis ich seine Schritte hörte, die das Schlafzimmer verließen.

Als ich zehn Minuten später ins Bett kroch, konnte ich spüren, wie ich ein wenig auftaute. Schließlich hatte Patrick mir sofort gesagt, wo er gewesen war. Ich wusste, dass er ehrlich war. Außerdem hatte er sich für mich entschieden, und tief in mir wusste ich auch, dass er sich für den Rest unseres Lebens jeden Tag für mich entscheiden würde. Während ich die Decke über mich zog, flaute meine Wut in langsamen, gleichmäßigen Wellen ab.

Ich war bereits halb eingeschlafen, als Patrick zu mir ins Bett kam. Ich wandte mich von ihm ab, mit dem Gesicht zur Wand, und einen Augenblick später spürte ich, wie er die Arme um mich legte. Er rutschte näher an mich heran, schmiegte sich an meinen Rücken und schlang seine Beine um meine.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich ihm entziehen sollte, aber es war Patrick, mein Patrick. Ich wusste, dass er mir am nächsten Morgen sagen würde, was passiert war, und ich würde es verstehen. Und so entspannte ich mich bald in seiner Wärme.

»Du weißt, dass ich dich niemals verletzen würde, Katielee«, murmelte er, während er mich näher an sich zog. »Niemals. Nicht in einer Million Jahren. Es ist nichts passiert.«

Ich schloss die Augen und atmete aus. »Ich weiß.«

Patrick küsste die Vertiefung unter meinem linken Ohr, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief. »Ich wusste, schon bevor ich dir begegnete …«, murmelte er, als ich eben wieder in den Schlaf zu sinken begann.

Ich lächelte. Das war die Art, auf die wir immer Ich liebe dich zueinander sagten, in unserer ganz eigenen Sprache.

»… dass ich für dich bestimmt war«, erwiderte ich. Das war die Antwort, die immer Ich liebe dich auch bedeutete. Ich wusste, dass ich so für den Rest unseres Lebens empfinden würde.

211. September 2001

Sonnenlicht strömte zusammen mit dem Geruch von Kaffee und Speck ins Schlafzimmer, als ich am nächsten Morgen erwachte. Ich blinzelte und rollte mich herum, um auf die Uhr zu sehen. Es war 6:47 Uhr, und Patrick war bereits auf und machte mir Frühstück. Ich wusste, dass das seine Art war, sich zu entschuldigen, aber im Grunde hatte ich ihm bereits verziehen.

Ich schlüpfte aus dem Bett, putzte mir die Zähne, wusch das Gesicht und zog den grau melierten Frotteemorgenmantel über, der an der Badezimmertür hing.

»Morgen«, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen, als ich in die Küche trat. Patrick wandte sich vom Herd um. Er hatte einen Spatel in der Hand, und ich brach in Lachen aus. Er trug eine gelbe Küss-den-Koch-Schürze über seinen I-Love-NY-Boxershorts und einem weißen T-Shirt. Er war barfuß und sein dunkles Haar vom Schlaf verwuschelt.

»Le Küchenchef stäht Ihnen zu Dienstön«, verkündete er mit einem übertriebenen französischen Akzent, bei dem ich prompt wieder lachen musste. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte er und wies mit dem Spatel auf unseren winzigen Küchentisch. »Das Frühstück wird sofort serviert, Madame.«

Er eilte mit zwei Tellern mit Rühreiern, extra knusprigem Speck und Toast mit Erdbeermarmelade herbei. Einen Augenblick später stellte er zwei dampfende Tassen Kaffee, bereits mit Sahne und Zucker abgemildert, auf den Tisch und setzte sich zu mir.

»Du hättest doch kein warmes Frühstück machen müssen, Schatz«, sagte ich lächelnd.

Er gab mir einen Kuss auf die Wange. »Nur das Beste für mein Mädchen.«

Ich nahm einen Happen von dem Rührei und sah ihn an. Er beobachtete mich noch immer und ließ den Blick nicht von mir. »Was denn?«, fragte ich mit vollem Mund.

»Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich gestern Abend nicht angerufen habe«, sagte er. Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. »Ich fühle mich fürchterlich. Ich wollte dir keine Sorgen bereiten.«

Ich nahm einen Schluck Kaffee, dann holte ich tief Luft. »Schon gut«, sagte ich.

Erleichterung breitete sich auf seinen Zügen aus wie ein Sonnenaufgang. »Du verzeihst mir?«

»Ich hätte nicht so kindisch reagieren sollen. Tut mir leid, dass ich mich aufgeregt habe.«

»Hast du nicht«, beeilte er sich zu sagen. Er nahm einen Bissen von seinem Speck, und ich sah zu, wie sein kräftiger Kiefer arbeitete, während er kaute. »Hör zu, es gibt da etwas, worüber ich wirklich gern mit dir reden würde«, sagte er. Er blinzelte mehrmals, und bei seiner Miene wurde mir auf einmal mulmig zumute. Er schien fast nervös. »Kann ich für heute Abend irgendwo einen Tisch reservieren und dich zum Essen einladen? Das Restaurant im Sherry-Netherland vielleicht? Ich weiß, dass du dieses Lokal liebst.«

»Klingt toll.« Ich lächelte.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragte Patrick einen Augenblick später, während ich an einem Stück Speck knusperte.

Ich sah auf. »Was denn?«

Er strich seine Schürze glatt und schob die Brust vor. »Da steht Küss den Koch.« Er grinste schelmisch, und als ich seinen Blick erwiderte, zwinkerte er mir zu. »Und es ist nur höflich, Schürzenanweisungen Folge zu leisten.«

Ich lachte. »Ist das so?«

»Ich bin mir sicher, es ist eines der Grundgesetze aller Küchenokratien weltweit.«

»Küchenokratien?«

»Natürlich. Souveräne Küchennationen. Wie diese hier.«

»Verstehe«, erwiderte ich völlig ernst. »Nun ja, ich will keinesfalls gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, Sir.«

»Dann ist es vermutlich in Ihrem besten Interesse, sich einfach an sie zu halten.« Er grinste mich an, stand auf und breitete die Arme aus. »Also?«

Ich kicherte und erhob mich ebenfalls von meinem Platz. Er neigte den Kopf, ich stellte mich auf die Zehenspitzen, und unsere Lippen trafen sich.

»Reicht das?«, flüsterte ich einen Augenblick später, während er die Arme um mich schlang und mich festhielt.

»Nicht einmal annähernd«, murmelte er. Dann küsste er mich wieder, teilte meine Lippen sanft mit seiner Zunge. Ein leises Stöhnen entfuhr meiner Kehle, während mein Körper sich seinem hingab.

An jenem Morgen liebten wir uns rasch, eindringlich, berauscht voneinander. Dann räumte ich unser Frühstücksgeschirr ab, während er duschte und sich für die Arbeit anzog.

»Gut siehst du aus!« Ich pfiff bewundernd durch die Zähne, als er wieder in der Küche erschien, mit frisch gewaschenem Haar, einer anthrazitfarbenen Hose, einem makellosen blauen Hemd und einer grau gestreiften Krawatte.

»Ich dachte, die Schürze und die Boxershorts würden sich bei dem wichtigen Meeting, das ich heute Vormittag habe, nicht so gut machen«, sagte er, »auch wenn meine Beine – und ich will hier nicht prahlen – wirklich sexy sind.«

Ich lachte und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. »Viel Glück mit deinen Kunden.«

»Wer braucht schon Glück?«, fragte er mit einem schiefen Grübchenlächeln. »Ich habe die tollste Ehefrau der Welt. Das Leben ist schön.«

»Ja, das Leben ist schön«, pflichtete ich ihm bei. Ich küsste ihn noch einmal, und diesmal verharrten unsere Lippen etwas länger aufeinander. Diesmal war es Patrick, der sich zu früh löste.

Als ich die Augen aufschlug, hielt er einen Silberdollar aus der alten Sammlung seines Großvaters hoch. »Hör zu, könntest du den bis heute Abend für mich aufbewahren?«, fragte er.

Ich nickte und nahm ihn entgegen. »Wofür ist er?« Patrick hatte die Tradition, einen Silberdollar irgendwo hineinzuwerfen, wann immer ihm etwas Gutes widerfuhr. Man muss das Glück weitergeben, pflegte er zu sagen. Auf diese Weise kann sich jemand anders etwas wünschen. Wir warfen einen Silberdollar in den Central Park an dem Tag, an dem ich für mein Aufbaustudium zugelassen wurde, einen anderen in den Brunnen vor der City Hall, als Patrick im vergangenen Jahr eine große Beförderung bekam, und einen dritten in der Nähe seines Elternhauses auf Long Island ins Meer, nachdem wir im Frühjahr geheiratet hatten. »Muss ja etwas Wichtiges sein«, ergänzte ich.

»Das ist es«, versprach er. »Du wirst schon sehen. Ich erzähle es dir beim Essen. Wir können ihm danach in den Pulitzer-Brunnen werfen. Und, Katielee?«

»Ja?«

Er stand im Türrahmen und blickte mich einen langen Moment an. »Ich wusste, schon bevor ich dir begegnete …«, sagte er schließlich mit sanfter Stimme, während er mir gebannt in die Augen sah.

Mein Herz flatterte. »… dass ich für dich bestimmt war.«

Die Tür schloss sich um 7:58 Uhr hinter ihm.

Ich sah ihn nie wieder.

Ich war auf meiner morgendlichen Joggingrunde, als es passierte.

In diesem Semester begannen meine Vorlesungen erst am frühen Nachmittag, daher hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, auf dem begrünten Pfad am Hudson River joggen zu gehen, sobald Patrick zur Arbeit aufbrach. An diesem Morgen war ich in Gedanken über eine Vorlesung vertieft, die ich am Tag zuvor gehört hatte. Ich hatte, auf Patricks Drängen hin, eben erst mein Aufbaustudium in Musiktherapie begonnen, und bis zu meinem Master-Abschluss lagen noch vier Semester vor mir, aber ich war bestrebt, zügig fertig zu werden und in die wirkliche Welt hinauszukommen, um endlich anderen Leuten helfen zu können.

Auf dem College hatte ich BWL im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach studiert, aber meine Lieblingssprache war schon immer die Musik gewesen. Als Patrick und ich uns kennenlernten, arbeitete ich für eine Bank in Midtown – ein Job, für den ich mich überhaupt nicht begeistern konnte. Eines Abends, kurz nachdem wir uns verlobt hatten, gestand ich ihm, dass es schon immer mein Traum war, benachteiligten Kindern durch Musik zu helfen, meine Eltern sich aber geweigert hatten, mir ein Musiktherapiestudium zu bezahlen, da sie es für irgendeinen neumodischen esoterischen Quatsch hielten. Er meinte sofort, ich solle meinen Job an den Nagel hängen, wieder studieren und tun, was mein Herz mir sagte.

»Ich werde dich auf deinem Weg unterstützen«, sagte er. »Das Leben ist zu kurz, um seinen Träumen zum Glück nicht zu folgen.«

Und hier war ich nun, seit ein paar Wochen eingeschrieben für das Aufbaustudium, von dem ich jahrelang geträumt hatte, und seit ein paar Monaten verheiratet mit dem besten Mann, den ich mir vorstellen konnte. Ich wusste nicht, wie ich zu so viel Glück gekommen war, aber mein Herz war erfüllt davon.

Das war es, worüber ich nachdachte, als ich an jenem Morgen joggen ging – Patrick, das Schicksal, die Zukunft –, und als ich kehrtmachte, um zurück in Richtung Innenstadt zu laufen, sah ich lächelnd zum World Trade Center hoch, das in einiger Entfernung vor mir emporragte. Die Zwillings-Türme füllten auch das Küchenfenster unserer Wohnung aus, und wenn ich allein zu Hause war, stellte ich mir gern vor, ich könnte genau sehen, wo Patrick arbeitete. Ich wusste, dass er im zwölften Stockwerk von oben im Nordturm saß, von der nordwestlichen Ecke des Gebäudes aus im dritten Raum auf der Nordseite. Einmal hatte er mich mit einem Fernglas mit zu seinem Büro genommen, damit wir unsere Wohnung in der Chambers Street ausfindig machen konnten.

An jenem Tag neckte mich Patrick, ich sollte beim Duschen die Jalousien offen lassen, damit er sich von seinem Büro aus an einer kleinen Peepshow erfreuen könnte. Ich nannte ihn einen Perversling, und er kitzelte mich, bis ich so heftig lachen musste, dass ich kaum noch Luft bekam. »Das Kitzelmonster lässt sich nicht beschimpfen«, kicherte er.

»Kitzelmonster«, murmelte ich vor mich hin, während ich an jenem Morgen lief. Ich verdrehte die Augen bei dem Gedanken, was für einen Witzbold ich geheiratet hatte. Und das war der Moment, als der Frieden dieses Morgens jäh zerrissen wurde.

Ich hörte es, bevor ich es sah – ein alles erschütterndes, motorisiertes Vibrieren in der Luft, das mich an die Flugeinlagen von Kampfjets erinnerte, die ich als Kind bei Footballspielen mit meinem Dad gesehen hatte. Ich sah instinktiv auf und suchte den Himmel nach einer schnittigen F-16 ab.

Stattdessen, in einem solch flüchtigen Augenblick, dass ich kaum Zeit hatte zu begreifen, was ich da sah, füllte ein Passagierjet, der viel zu niedrig flog, den Himmel. Einen Sekundenbruchteil später sah ich in fassungslosem Entsetzen zu, wie er in die Nordseite des Nordturms krachte. Patricks Turm. Ein Donnergrollen erschütterte die Erde.

»Nein«, flüsterte ich. Mir stockte der Atem, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Eine fast cartoonartige graue Rauchwolke stieg aus dem Gebäude auf, gefolgt von einem wogenden Flammenmeer, das die Wolke orangerot verfärbte und die Rauchfahnen, die sich in den dunklen Himmel schlängelten, schwärzte. Ich taumelte und fiel auf die Knie, als sich die ersten Rauchwolken lichteten und den Blick auf eine gezackte, klaffende Wunde freigaben, wo Patricks Büro sein sollte. »Nein«, flüsterte ich noch einmal.

Mir war vage bewusst, dass rings um mich herum Leute schrien, Autos quietschend zum Stehen kamen, Sirenen heulten. Ich rappelte mich hoch und begann, so schnell wie möglich nach Süden zu laufen, auf unsere Wohnung zu, die zehn Blocks nördlich des brennenden Turms lag. Ich musste zum Telefon gelangen. Ich musste da sein, wenn Patrick anrief, um mir zu sagen, dass es ihm gut ging.

Schließlich musste es ihm gut gehen, oder? Er würde mich nicht verlassen. Wir waren füreinander bestimmt. Wir sagten es uns jeden Tag. Er hatte gesagt, dass er an diesem Morgen ein Meeting hatte. Vielleicht war er noch gar nicht im Gebäude. Es gab tausend Gründe, weshalb er irgendwo anders als in seinem Büro sein könnte, das jetzt nur noch ein Loch im Himmel war.

Ein paar Minuten später stürmte ich in unsere Wohnung, atemlos und verschwitzt. Meine Haut war bereits mit einem dünnen Film aus Asche und Ruß von dem einstürzenden Himmel bedeckt. Ich hastete auf den Anrufbeantworter auf unserem Küchentresen zu, und mir stockte das Herz, als ich sah, dass das rote Licht stetig leuchtete, ohne zu blinken.

Patrick hatte nicht angerufen.

Mein Magen verkrampfte sich, und ich wollte mich am liebsten übergeben, aber ich wusste nicht mehr, wie. Mein Körper zitterte so heftig, dass meine Beine mich nicht mehr trugen, und ich sackte halb zu Boden, während ich mich am Küchentresen festklammerte. Sei vernünftig, ermahnte ich mich. Er konnte nur noch nicht zu einem Telefon kommen. Das Mobilfunknetz ist vermutlich überlastet. Er wird aus dem Gebäude evakuiert. Er wird bald anrufen.

Ich glaube, ich wusste bereits, dass ich mir etwas vormachte. Ich hatte es in dem Moment gespürt, in dem das Flugzeug in den Turm raste. Ich hatte es gewusst, als ich mich neben dem Hudson auf die Knie fallen ließ. Ich konnte es nur nicht ertragen, wirklich zu glauben, dass mein Ehemann – mein warmherziger, liebenswerter, witziger Ehemann – nicht mehr war. Es war unmöglich. Noch vor einer Stunde hatte ich ihn in meinen Armen gehalten.

Ich wählte Patricks Handynummer, aber ich wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Ich legte auf und versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Ich versuchte es auch in seinem Büro, obwohl ich wusste, dass das sinnlos war. Mir wurde schwindelig, während ich mir vorstellte, wie das Telefon in dem klaffenden schwarzen Loch klingelte, wo eben noch sein Schreibtisch, sein Computer und unser gerahmtes Hochzeitsfoto standen.

Nach einer Weile, noch immer zu wackelig auf den Beinen, um ohne Halt zu stehen, schleppte ich mich ans Küchenfenster und starrte schweigend hinaus. Ich sah den Turm brennen, sah die schwarzen Rauchwolken in den hellblauen Himmel aufsteigen, sah die Ascheflocken aus der Bläue hinunterdriften. Es geht ihm gut, redete ich mir ein. Es muss ihm gut gehen. Ich drückte immer wieder auf die Wahlwiederholung, hörte, wie sich immer wieder Patricks Mailbox einschaltete, und lauschte den ersten Silben seiner Ansage.

Ich schaltete den Fernseher ein, wofür ich dreißig Sekunden benötigte, da meine Hände so unkontrolliert zitterten. Der CNN-Nachrichtenmoderator redete mit einem Augenzeugen, der mit ruhiger Stimme berichtete, wie er ein kleines Flugzeug in das Gebäude hatte fliegen sehen.

»Nein, es war ein Jet«, flüsterte ich ins Nichts. »Es war kein kleines Flugzeug. Es war ein Jet.«

Der Fernseher dröhnte im Hintergrund. Vor mir brannte die Welt.

Um 9:03 Uhr starrte ich noch immer wie gelähmt vor Entsetzen aus dem Fenster, als ein zweiter Jet von Westen heranschoss, tief und schwer, und mitten in den Südturm raste, ein Feuerball, der in den klaren blauen Morgen explodierte. Tod regnete überall herab.

Fast eine Stunde später, nachdem ich auf einen Anruf gewartet hatte, der nie kam, hielt ich den Silberdollar umklammert, den Patrick mir am Morgen gegeben hatte – ein Glücksbringer, sagte er immer –, während ich durch einen Ascheregen zum World Trade Center rannte. Ich werde ihn selbst finden, sagte ich mir verzweifelt. Ich werde Patrick finden und ihn nach Hause bringen. Ich hatte eben die Warren Street überquert, als der Südturm, der als Zweiter getroffen wurde, in einem unheilvollen Getöse aus Rauch, Stahl und Schutt in sich zusammenstürzte. Ich blieb wie angewurzelt stehen, verblüfft, dass ein solch gewaltiges Gebäude einfach vom Himmel fallen konnte. Aber als sich der Rauch lichtete, stand der Nordturm noch immer. Das hieß, dass Patrick noch immer eine Chance hatte.

»Patrick!«, schrie ich aus vollem Hals, während ich die rußverschmierten Gesichter der Leute, die mir entgegenliefen, nach ihm absuchte. Ich rannte wieder los, auf das Chaos zu. »Patrick!«

Ich schrie, bis ich heiser war, bis meine Stimme nur noch ein Krächzen war. Ich war wie ein Lachs, der sich flussaufwärts kämpfte, während mit Asche und Staub bedeckte Leute nach Norden strömten und hustend und weinend und blutend vor dem Wahnsinn flohen.

Ich schaffte es bis zu einer Barrikade ein paar Blocks vor dem World Trade Center, bevor mich ein milchgesichtiger Polizist mit ausgebreiteten Armen aufhielt und mir zurief, ich müsse umkehren.

»Aber mein Mann …«, keuchte ich. »Er ist im Nordturm. Ich muss ihn finden. Er braucht mich. Ich muss helfen.«

»Ich kann niemanden durchlassen«, sagte er. »Gehen Sie nach Hause, Ma’am.« Sein Gesicht, bemerkte ich auf einmal, war von Ruß bedeckt und von dicken Tränen verschmiert.

»Nein, das kann ich nicht!«, begann ich zu protestieren, aber dann gab es noch ein Donnern, eine tiefe Erschütterung in der Erde, und wir standen schweigend zusammen da, während der Nordturm in sich zusammenstürzte.

»Es tut mir leid«, sagte der Polizist mit erstickter Stimme. »Es tut mir so leid.«

»Nein. Nein. Meinem Mann geht es bestimmt gut«, flüsterte ich, während meine Augen brannten. »Er würde mich nicht verlassen. Das würde er nie tun.« Bevor der Polizist etwas erwidern konnte, wandte ich mich ab, um nach Hause zu gehen, den Silberdollar, den Patrick mir an diesem Morgen gegeben hatte, noch immer umklammernd.

Die Beisetzung fand an einem Samstag statt. Man nannte mich eine der glücklicheren Witwen – als ob es so etwas geben könnte –, da man Patricks Leichnam gefunden und identifiziert hatte. Viele seiner Kollegen wurden einfach vermisst. Ihre Leichen würden nie gefunden werden.

»Wenigstens können Sie abschließen«, sagte ein übermüdeter Mitarbeiter der Gerichtsmedizin mit angespannter Stimme, als er mir die Unterlagen überreichte, die Patricks Schicksal besiegelten. »Er ist schnell gestorben, Miss«, ergänzte der Mann leise. »Er wusste gar nicht, wie ihm geschah.«

Aber ich wusste es.

Und in einem Moment, der niemals ungeschehen gemacht werden konnte, hatte meine ganze Welt aufgehört zu existieren.

3Dreizehn Jahre später

»Heb die Hände hoch!«, singe ich fröhlich und zupfe dazu meine Gitarre, während ich Max, meinen Lieblingsklienten, anlächele.

»Und heb auch die Füße hoch«, fahre ich fort. »Und jetzt dreh dich, dreh dich im Kreis! Bück dich und berühr deine …«

»… Schuhe!«, ruft Max.

»Gut gemacht, Max!« Ich denke mir die Übung spontan aus, und Max, der an Autismus leidet, kichert wie von Sinnen, aber er spielt mit. In der Ecke meines Büros lacht seine Mutter, Joya, als Max sich von seiner Zehenberührung aufrichtet und auf und ab zu hüpfen beginnt.

»Mehr, Miss Kate!«, bettelt Max. »Mehr, mehr!«

»Okay«, sage ich ernst zu ihm. »Aber diesmal musst du mitsingen. Kannst du das?«

»Ja!«, ruft er und reißt in fröhlicher Ausgelassenheit die Hände in die Luft.

»Versprochen?«, frage ich.

»Ja!« Seine Begeisterung ist ansteckend, und ich muss unwillkürlich wieder lachen.

»Okay, Max«, sage ich langsam. »Sing mit mir mit, okay?«

Ich arbeite jetzt seit fünf Jahren in einer privaten Praxis als Musiktherapeutin. Ich habe mich auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert, und Max war einer meiner allerersten Klienten. Joya brachte ihn mir auf Empfehlung seiner Sprachtherapeutin, als er fünf war, da er bei ihr keine Fortschritte machte und sich weigerte zu sprechen. In unseren wöchentlichen Treffen gelang es mir allmählich, ihm zunächst einsilbige Antworten, dann Sätze und schließlich ganze Gespräche zu entlocken. Jetzt sind unsere Sitzungen eine Zeit zum gemeinsamen Singen, Tanzen und Herumalbern. Oberflächlich betrachtet helfe ich ihm, seine verbalen und motorischen Fähigkeiten zu verbessern, aber es geht um mehr als das. Es geht darum, ihm zu helfen, gesellig zu sein, Leuten zu vertrauen, sich zu öffnen.

»Okay, Max, füll die Lücke aus«, beginne ich. Ich zupfe an meiner Gitarre und singe dazu. »Mein Name ist Max, und ich hab …«

»… braunes Haar!«, ruft Max glucksend. »Mein Name ist Max, und ich hab braunes Haar!«

Ich lache. »Gut gemacht!« Ich spiele noch einen Akkord und singe. »Ich seh so gut aus, dass alle Mädels mich anschaun«, singe ich, während ich ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue ansehe.

Max kann sich vor Kichern kaum noch halten. Ich warte, bis er sich wieder aufrichtet und sagt: »Miss Kate, das ist doch doof!«

»Doof?«, rufe ich in gespieltem Entsetzen. »Doof ist, wer doof tut, Mister. Also, singst du jetzt mit oder nicht?«

»Singen Sie es noch mal, singen Sie es noch mal!«, sagt Max.

Ich zwinkere ihm zu. »Ich seh so gut aus, dass alle Mädels mich anschaun«, wiederhole ich und spiele weiter.

Diesmal singt Max es nach, daher gehe ich zur nächsten Zeile über.

»Ich wurd grad erst zehn, ich werde so …«, singe ich.

»… alt!«, ruft er, reckt die Brust und hebt zehn Finger. »Ich werde alt!«

»Du sagst es, alter Mann!« Ich zupfe wieder die Gitarrensaiten und komme zum Ende meines improvisierten Verses. »Aber das Beste an mir«, singe ich, »ist mein Herz aus Gold.«

Ich höre auf zu spielen und lege mir eine Hand aufs Herz, während Max singt: »Das Beste an mir ist mein Herz aus Gold!« Er kichert wieder und fährt sich mit den Händen an den Mund. »Aber mein Herz ist nicht aus Gold gemacht!«, ruft er zwischen seinen Fingern. »Das ist schon wieder so doof!«

»Da hast du recht!«, sage ich zu ihm. »Aber eigentlich bedeutet es, dass ich finde, dass du ein sehr, sehr netter Mensch bist, Max.«

Er grinst übers ganze Gesicht und reißt die Hände in die Luft. »Sie sind auch nett, Miss Kate.«

Ich lege meine Gitarre beiseite, damit ich ihn umarmen kann. Heute habe ich ihn und seine fröhliche Unschuld mehr gebraucht als er mich. Aber ich will nicht, dass er das weiß. Bei diesen Sitzungen soll es nicht um mich gehen.

»Danke, Miss Kate!«, ruft Max, während er sich fest an meine Taille drückt und den Kopf an meine Schulter presst. »Ich hab Sie lieb!«

»Max, du bist etwas ganz Besonderes«, erwidere ich, verblüfft, dass ich Tränen in meinen Augen brennen spüre. »Und du wirst diese Woche ein braver Junge für deine Mom sein, okay?«

»Okay, Miss Kate!«, verspricht er fröhlich. Dann springt er davon, um Joya zu umarmen.

»Danke, Kate«, sagt sie fröhlich und erhebt sich von ihrem Stuhl, um die Umarmung ihres Sohns zu erwidern. »Max, gehst du schon mal hinaus zu Dina ins Wartezimmer? Ich muss nur noch kurz mit Miss Kate sprechen.«

»Okay«, erklärt sich Max einverstanden. »Wiedersehen, Miss Kate!«, ruft er, stürzt aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

Ich wende mich zu Joya um. »Alles in Ordnung?«

Sie lächelt. »Ich wollte Sie eben dasselbe fragen. Sie scheinen heute etwas neben der Spur zu sein.«

Ich schüttele den Kopf, schelte mich dafür, dass ich mein Privatleben nicht aus meinem beruflichen herausgehalten habe. »Nein, nein, es geht mir gut, Joya«, sage ich. »Danke.«

Sie tritt einen Schritt näher, und ich kann den Zweifel in ihren Augen sehen. »Läuft es mit Dan noch immer gut?«, fragt sie.

»Es läuft wunderbar«, beeile ich mich zu sagen. Joya und ich haben uns in den vergangenen fünf Jahren gut kennengelernt. Ich weiß zum Beispiel, dass sie als alleinerziehende Mutter nur mühsam über die Runden kommt und dass sie alles tun würde, um das Leben ihres Sohnes so normal und so leicht wie möglich zu gestalten. Sie weiß, dass ich noch immer mit der Trauer über Patricks Tod vor fast dreizehn Jahren zu kämpfen habe, dass ich aber endlich mit einem Mann zusammen bin, mit dem es mir ernst ist, jemandem, bei dem sich alle in meinem Leben einig sind, dass er wie geschaffen für mich ist.

»Dann ist es etwas anderes, oder?«, fragt sie sanft.

»Wirklich, es ist nichts«, antworte ich allzu rasch, allzu fröhlich. Ich sehe irgendetwas in ihren Augen flackern. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, ergänze ich mit so viel Selbstvertrauen, wie ich aufbringen kann. »Ich schaffe das schon.«

Aber nachdem Joya Max’ Hand genommen hat und mit zweifelnder Miene gegangen ist, lasse ich mich auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch sinken und stütze den Kopf in die Hände. Ich brauche noch einmal fünf Minuten, bevor ich mich dazu durchringen kann, den Aktenhefter aufzuschlagen, den mein Arzt mir heute mitgegeben hat – gespickt mit Ausdrücken wie chronische Anovulation und primäre Unfruchtbarkeit.

Zwei Stunden später bin ich mit den Notizen zu meinen heutigen Klienten fertig und fahre auf der Third Avenue in südlicher Richtung zum Zidle’s, dem gemütlichen Bistro an der Ecke Lexington und 48th, das im Laufe des letzten Jahres ein Stammlokal von Dan und mir geworden ist. Wir haben für sieben Uhr einen Tisch bestellt, und je näher ich komme, desto wilder hämmert mein Herz.

Ich muss Dan die Neuigkeit von meinem Arzt beibringen – die Tatsache, dass meine Eierstöcke im Wesentlichen dichtgemacht haben –, aber was, wenn das etwas an seiner Meinung darüber, ob er mit mir zusammen sein will, ändert? Er ist der erste Mann, mit dem es mir ernst ist, seit ich Patrick verloren habe. Ich habe – endlich – die Entscheidung getroffen, mein Leben mit dem eines anderen Menschen zu verbinden. Das kann ich nicht verlieren. Ich kann nicht wieder allein sein.

Du weißt doch gar nicht, was Dan sagen wird, halte ich mir vor Augen, als ich auf die 48th einbiege. Wir haben eigentlich nie über Kinder geredet, abgesehen von ein paar oberflächlichen Gesprächen, als wir anfingen, uns regelmäßig zu sehen. Ich war gerade achtunddreißig geworden, als wir uns kennenlernten, daher nehme ich an, dass meine biologische Uhr schon damals hätte ticken müssen, aber sie war seltsam still. Ich dachte – auch wenn mein Verstand mir sagte, dass es mit zunehmendem Alter immer schwieriger werden würde, schwanger zu werden –, ich hätte alle Zeit der Welt, um mich der Kinderfrage zu stellen. Ich hatte bestimmt nicht damit gerechnet, mit kaum vierzig gesagt zu bekommen, dass meine Chancen völlig verpufft waren. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich Mutter sein will, aber ich habe gemerkt, dass ich noch nicht bereit dafür bin, dass sich diese Tür schließt.

Was, wenn Dan es auch nicht ist?

Ich sehe auf meine Armbanduhr, als ich vor dem Eingang zum Zidle’s ankomme. Ich bin bereits zehn Minuten zu spät, aber ein Teil von mir will am liebsten umkehren und nach Hause fahren. Ich könnte Dan eine SMS mit einer Entschuldigung schicken, ihm sagen, dass ich mit einem Klienten aufgehalten wurde, und vorschlagen, etwas beim Asiaten zu bestellen. Damit könnte ich noch eine Stunde herausschlagen, in der die Dinge so bleiben, wie sie sind.

»Kate?«

Meine Absichten lösen sich in Luft auf, als Dan mit besorgt gerunzelter Stirn aus dem Restaurant auftaucht.

»Oh.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Hey.«

»Was stehst du denn hier draußen herum?« Er tritt einen Schritt näher und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich fühle mich prompt besser. Das hier ist Dan. Der perfekte blonde, braunäugige, mit allen befreundete Dan, der vernünftig und verständig ist und mich liebt. Es wird alles gut werden. Er wird mich nicht im Stich lassen, nur weil meine Eierstöcke es getan haben.

Ich hole tief Luft. »Dan, ich muss dir etwas sagen.«

Irgendetwas huscht über sein Gesicht, aber dann schmunzelt er und schüttelt den Kopf. »Meinst du, wir könnten vielleicht erst mal hineingehen?«

»Na ja …«, beginne ich.

»Du kannst es mir erzählen, sobald wir an unserem Tisch sitzen, okay?« Er nimmt meine Hand und dreht sich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich seufze und lasse mich von ihm durch die Tür ziehen.

»Überraschung!« Ein Chor von Stimmen begrüßt uns, als wir eintreten. Ich schnappe nach Luft und weiche einen Schritt zurück, während sich meine Augen an das dämmrige Licht des Restaurants gewöhnen. Ich brauche einen Moment, um zu registrieren, dass sich im Eingangsbereich einige der Leute drängen, die ich am meisten liebe: meine Schwester Susan und ihr Mann Robert, ihre Kinder Sammie und Calvin, meine beste Freundin Gina und ihr Mann Wayne und ein Dutzend anderer Freunde und Bekannter aus den vergangenen Jahren. Auch Dans Bruder Will ist da, ebenso sein bester Freund Stephen und eine Handvoll Paare, mit denen wir hin und wieder ausgehen.

»Was ist denn hier los?«, wende ich mich in meiner Verwirrung an meine Schwester, die einzige Person, die es immer wieder schafft, das Chaos in mir zu entwirren, selbst wenn sie mich im Allgemeinen gleichzeitig dafür tadelt. Aber sie grinst nur verschmitzt und zeigt über meine Schulter.

In Zeitlupe drehe ich mich zur Tür um, wo ich zu meiner Verblüffung Dan auf einem Knie sehe. Ich starre ihn mit hämmerndem Herzen an. »Machst du mir etwa einen Antrag?«

Er lacht. »Sieht so aus.« Er zieht eine hellblaue Ringschatulle aus seiner Hosentasche, klappt sie auf und hält sie hoch. »Kate, willst du mich heiraten?«

Unsere Freunde brechen in Beifall aus, und ich habe das Gefühl, die Zeit steht still, während ich den perfekten Tiffany-Solitär anstarre. Für einen Sekundenbruchteil kann ich nur denken, dass er anders – zu anders – ist als der antike Verlobungsring, mit dem Patrick mir einen Antrag gemacht hat. Dann gehen meine Schuldgefühle mit mir durch. Ich sollte jetzt nicht an Patrick denken. Was ist mit mir los? Ich sollte darüber nachdenken, ob ich zu Dan Ja sagen kann, ohne ihm die Neuigkeit von meinem Arzt zu berichten. Andererseits kann ich vor all diesen Leuten auch nicht Nein sagen.

Natürlich will ich nicht Nein sagen, rufe ich mir in Erinnerung. Dan ist perfekt. Hält immer die Tür auf. Vergisst nie, bitte und danke zu sagen. Er ist die Art Mann, den sich jede Mutter für ihre Tochter wünscht. Um genau zu sein, lässt meine eigene Mutter keine Gelegenheit aus, um mich zu erinnern, wie glücklich ich mich schätzen kann, ihn gefunden zu haben. Ich hatte gar nicht ans Heiraten gedacht, aber das ist der nächste logische Schritt, oder? Es ist das, was zwei Leute tun, wenn sie sich lieben.

»Kate?« Dans Stimme reißt mich in die Wirklichkeit zurück.

Ich spüre, wie sich mein Mund zu einem Lächeln verzieht, während mein Puls rast. »Ja«, höre ich mich sagen. Und dann, weil ich weiß, dass es das Richtige ist – natürlich ist es das Richtige –, sage ich es noch einmal. »Ja, natürlich, ja.« So soll es sein, und als ich mir das sage, ist mein Herz davon erfüllt. »Ja, ich will dich heiraten, Dan«, sage ich und lächele ihn an.

Er jauchzt und springt auf, zieht mich in seine Arme und tanzt mit mir im Kreis, während unsere Freunde pfeifen und jubeln. »Kate Waithman«, sagt er, »ich werde dich zur glücklichsten Frau der Welt machen.«

Ich lasse mich von seinem Lachen anstecken, während er mir den Ring an den Finger steckt, wo er das Licht einfängt und in eine Million winziger Sterne zerstreut.

»Ich liebe dich, Kate«, murmelt er, während er mich fest an sich zieht. Aber über das Rauschen in meinen Ohren hinweg kann ich ihn kaum hören.

Im Verlauf der nächsten Stunde lächele und lache ich wie auf Knopfdruck, aber ich fühle mich wie im Taumel, während unsere Freunde um uns herumschwirren, Anekdoten zum Besten geben und uns das »perfekte Paar« nennen, Dan auf den Rücken klopfen und mich auf die Wange küssen. Mindestens ein halbes Dutzend Leute sagt mir, wie sehr sie sich freuen, dass ich nach vorn blicke; ein weiteres Dutzend sagt mir, was für eine tolle Partie Dan ist. Ich ertappe die Bedienung hinter dem Tresen ein paarmal dabei, wie sie ihn lüstern anstarrt, und ich bin froh, dass er es offenbar gar nicht bemerkt.

Susan ist damit beschäftigt, ihre beiden übermütigen Kinder zusammenzuscheuchen, daher ist es Gina, die dicht an meiner Seite bleibt, während Dan sich unter seine Freunde mischt. Ich weiß, dass sie die seltsame Achterbahn der Gefühle versteht, auf der ich mich in diesem Augenblick befinde. Ihr Mann Bill war Patricks engster Freund und ist mit ihm zusammen am elften September gestorben. Wir haben gemeinsam getrauert, gemeinsam unser Leben wiederaufgebaut. Vor sieben Jahren hat Gina wieder geheiratet, und ich weiß noch, wie sie zu mir sagte, sie hätte sich gefühlt, als würde ein Sturm in ihr toben, nachdem sie Ja gesagt hatte. Schuldgefühle, weil sie nach vorn blickte. Freude darüber, wieder Liebe gefunden zu haben. Ein verhaltener Optimismus angesichts des Beginns eines neuen Lebens. Bedauern darüber, das alte Leben endgültig hinter sich zu lassen.

»Geht es dir gut?«, fragt sie, während sie mir ein Glas Champagner bringt.

»Ja«, antworte ich lächelnd. »Danke.«

Sie umarmt mich kurz. »Ich kann nicht glauben, dass er dieses ganze Restaurant gemietet hat, nur um dir vor all euren Freunden einen Antrag machen zu können.« Sie grinst kopfschüttelnd. »Was für ein Typ, stimmt’s?«

»Gina?« Ich halte sie am Arm fest, als sie eben weggehen will. »Meinst du, Dan würde mich immer noch heiraten wollen, wenn ich keine Kinder bekommen könnte?«

»Was?« Sie bleibt stehen und sieht mich prüfend an. »Kate, was ist passiert?«

Meine Augen werden feucht. »Ich war heute beim Arzt.« Mit zitternder Stimme berichte ich ihr, was der Arzt zu mir gesagt hat. »Es ist okay, ich komme schon damit klar«, schiebe ich rasch hinterher, als ich sehe, wie bekümmert sie blickt. »Ich mache mir nur Sorgen wegen Dan.«

»Oh, Kate.« Sie umarmt mich schweigend. »Aber will er denn überhaupt Kinder?«, fragt sie kurz darauf.

Ich zucke mit den Schultern und löse mich von ihr. »Ich weiß nicht. Wir haben eigentlich nie darüber geredet.«

»Ihr habt nie darüber geredet?« Ihr Ton ist nicht vorwurfsvoll, aber ich habe trotzdem das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben.

»Der Zeitpunkt schien irgendwie nie richtig.« Es klingt dumm, als ich es laut ausspreche. »Außerdem hätte ich mit Patrick Kinder haben sollen«, ergänze ich flüsternd.

Ginas Augen füllen sich mit Verständnis. Sie nagt auf ihrer Unterlippe, und ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass tatsächlich etwas an ihr nagt, was sie sagen will. Was schließlich herauskommt, ist: »Willst du denn Kinder?«

»Ich weiß nicht. Aber ich bin noch nicht bereit dazu, mir sagen zu lassen, dass ich keine haben kann.« Ich wische mir über die Augen, bevor sie überlaufen können.

»Das sagt ja auch niemand«, erklärt sie entschieden. »Vielleicht könntet ihr es mit künstlicher Befruchtung versuchen. Oder ihr könntet eine Leihmutter engagieren, wenn du noch gesunde Eizellen übrig hast. Ihr könntet sogar adoptieren. Es gibt jede Menge Optionen. Red dir bloß nicht ein, dass all deine Chancen vorbei sind.«

»Danke.« Ich lächele matt.

»Und was Dan betrifft, so musst du es ihm sagen«, fügt sie hinzu. »Aber das wird an seiner Meinung über dich nichts ändern. Er liebt dich. Zerbrich dir heute Abend nicht den Kopf darüber, okay? Genieß das hier einfach. Aber rede mit ihm, Kate. Du solltest mit dem Mann reden können, den du heiraten wirst.«

»Ich weiß. Das werde ich tun. Ich hätte nicht jetzt damit anfangen sollen. Mach dir keine Sorgen, okay?« Ich entferne mich mit einem angestrengten Lächeln, bevor sie noch ein Wort herausbringen kann.

Es ist der Anblick von Patricks Mutter, die zwanzig Minuten später zur Tür hereinkommt, der mir schließlich den Rest gibt.

»Kate!«, ruft sie und stürzt auf mich zu. Sie drückt mich in einer festen Umarmung an sich. Sie riecht so wie immer, nach Zimt und Mehl. »Gina hat mich eingeladen … Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich hier bin.«

»Aber natürlich!« Wir beide sind nach Patricks Tod in engem Kontakt geblieben, und wir stehen uns sogar noch näher, seit ihr Mann, Joe, vor neun Jahren starb. Patrick war ihr einziges Kind, und nachdem auch Joe nicht mehr ist, fühle ich mich in gewisser Weise für sie verantwortlich. Aber es ist eine Verantwortung, die ich gern übernehme, denn ich liebe sie wie eine zweite Mutter. »Ich freue mich ja so, dass du hier bist, Joan.«

»Ich wünschte nur, ich wäre pünktlich gekommen!« Sie verdreht die Augen. »Kannst du glauben, dass ich meinen Zug verpasst habe? Das hat meinen ganzen Zeitplan über den Haufen geworfen.«

Joan lebt in Glen Cove, einer Kleinstadt draußen auf Long Island, in demselben Haus, in dem Patrick aufgewachsen ist. Manchmal mache ich mir Sorgen, weil sie ganz allein dort lebt, umgeben von der Vergangenheit. Ich selbst musste drei Wochen nach Patricks Beisetzung aus meiner Wohnung in Manhattan ausziehen, weil ich die Leere in den Räumen, die wir geteilt hatten, nicht aushielt. Jedes Mal, wenn ich zur Tür hereinkam, rechnete ich halb damit, ihn dort stehen zu sehen. Außerdem begannen sich die Nachbarn zu beklagen, dass ich manchmal am helllichten Tag im Wohnzimmer stand und zu schreien anfing. Ich konnte nicht mehr aufhören. Der Vermieter entließ mich nur zu gern aus meinem Mietvertrag.

»Keine Sorge«, sage ich. »Jetzt bist du ja hier. Das ist das Einzige, was zählt.« Zu meiner Verblüffung spüre ich Tränen über meine Wangen laufen. »Hör zu, Joan, es tut mir leid.«

»Was?« Sie sieht mich verständnislos an.

»Ich … ich will nicht, dass du denkst, ich würde Patrick vergessen«, schniefe ich, während ich mir mit der Hand über das Gesicht wische. Ich weiche ihrem Blick für einen Moment aus, dann sehe ich auf.

»Liebes«, sagt sie sanft, »es ist dein gutes Recht, nach vorn zu blicken. Du sollst nach vorn blicken.« Sie legt einen Arm um mich. »Wollen wir vielleicht ein bisschen an die frische Luft gehen?« Sie führt mich aus dem Restaurant, und sobald wir um die Ecke gebogen sind, nimmt sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und reicht es mir. »Kate, Liebes, es ist fast dreizehn Jahre her. Patrick würde wollen, dass du glücklich bist. Ich weiß, dass er dort oben im Himmel ist und zu dir hinunterlächelt.«

Wir sehen beide gleichzeitig zum Himmel hoch, und ich frage mich, ob sie auch darüber nachdenkt, dass die Stadt heute Abend unter einem Baldachin aus Wolken liegt, der alle Sterne verhüllt. Der Himmel erscheint mir dadurch viel zu weit weg.

»Trägst du noch immer die Münze?«, fragt sie leise, als ich nichts sage.

Ich nicke und ziehe den Silberdollar unter meiner Bluse hervor. Er war das Letzte, was Patrick mir gegeben hat, und ein paar Monate nach seinem Tod fand ich einen Juwelier, der sich bereit erklärte, ein Loch durchzubohren und ihn für mich an einer langen Kette zu befestigen.

Sie lächelt sanft. »Patrick glaubte an alle möglichen guten Dinge im Universum, Kate«, sagt sie. Sie streckt eine Hand aus, um die Münze zu berühren. »Er glaubte an Liebe und Glück und Zufriedenheit, und er hätte gewollt, dass du das alles findest. Genau darum geht es bei diesen Münzen. Das musst du dir immer vor Augen halten. Er hätte sich die strahlendste Zukunft für dich gewünscht, mein Schatz.«

»Ich werde nie aufhören, ihn zu lieben, weißt du.«

»Ich weiß«, sagt Joan und zieht mich in einer erneuten warmherzigen Umarmung an sich. »Aber das heißt nicht, dass du nicht auch jemand anderen lieben kannst. Das Leben muss weitergehen. Du bist doch glücklich, Liebes, oder?«

Ich nicke.

»Nun, dann tust du das Richtige«, stellt sie fest. »Wollen wir wieder hineingehen zu eurer Party? Ich würde deinen Verlobten sehr gern kennenlernen.«

Nachdem ich Dan mit Joan bekannt gemacht und noch ein Glas Champagner geleert habe, legt irgendjemand Eric Claptons »Wonderful Tonight« auf der Jukebox auf. Dan streckt lächelnd eine Hand nach mir aus. »Lass uns tanzen, meine schöne zukünftige Braut.«

Er wirbelt mich theatralisch auf die improvisierte Tanzfläche, und wir fallen in einen leichten Rhythmus, wie wir es immer tun.

»Pats Mutter scheint nett zu sein«, murmelt er, während unsere Freunde nach und nach neben uns auftauchen und sich paarweise zu der Musik wiegen.

»Patrick«, korrigiere ich ihn. Dan hat die ärgerliche Angewohnheit, meinen Ehemann mit einem Spitznamen zu belegen, der nie seiner war. »Und ja, sie ist toll. Ich bin sehr froh, sie in meinem Leben zu haben.«

»Na klar«, erwidert er. Er schweigt einen Moment, bevor er hinzufügt: »Und, meinst du, du wirst mit ihr in Verbindung bleiben?«

Ich weiche ein Stück von ihm zurück und sehe ihn an. »Aber natürlich.« Als er nichts sagt, füge ich hinzu: »Warum denn nicht?« Ich klinge abwehrender als beabsichtigt, daher versuche ich, meine Worte mit einem kleinen Lächeln abzumildern.

Dan zieht mich wieder an sich. »Ich dachte nur, wenn wir beide erst einmal verheiratet sind, könntest du diesen Teil deiner Vergangenheit vielleicht loslassen. Aber ich habe nichts dagegen. Sie scheint eine nette Frau zu sein.«

»Sie ist Teil der Familie, Dan. Das wird sie immer bleiben.«

»Ist schon gut«, beeilt sich Dan zu sagen.

Aber es fühlt sich nicht gut an. Es fühlt sich an, als ob Dan denkt, dass ich irgendetwas falsch mache, und ich frage mich, ob ich das tue.

Sobald der Song zu Ende ist, kommt Gina mit noch einem Glas Champagner für mich angerauscht, und während wir die Tanzfläche verlassen, leere ich es mit zwei kräftigen Zügen. Sie mustert mich besorgt. »Willst du über irgendetwas reden?«, fragt sie, während sie mir mein leeres Glas abnimmt und einem Kellner ein Zeichen gibt, uns noch eines zu bringen.

»Nein«, antworte ich. Die Champagnerperlen steigen mir allmählich zu Kopfe.

»Ging es da eben um Joan?«, hakt sie nach. »Was auch immer Dan gesagt hat?«

Ich nicke und sehe hinüber zu Dan, der jetzt mit ein paar Kumpeln von seiner Arbeit zu »YMCA« tanzt. Irgendwie schafft er es, den Tanz sogar cool aussehen zu lassen. »Ja«, sage ich. Ich mache mir nicht die Mühe, es zu erklären, da ich weiß, dass Gina es versteht.

»Du machst nichts falsch, falls du dich das fragst«, fährt sie fort. Der Kellner kommt mit noch einem Glas Champagner, das ich langsamer schlürfe als das letzte. Mir dreht sich allmählich der Kopf.

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, sagt sie entschieden. »Joan ist ein Teil deines Lebens. Das wird sie immer sein. Daran ist absolut nichts falsch.«

»Okay.«

In den nächsten Stunden leere ich ein Glas Champagner nach dem anderen, während sich die Party bis in die Nacht hinzieht. Ich tanze eine alberne Version von »Call Me Maybe« mit Sammie und Calvin, bevor Susan sie nach Hause bringt, um sie ins Bett zu stecken. Gegen zehn umarme ich Joan zum Abschied und setze sie in ein Taxi, mit der Anweisung, mich anzurufen, sobald sie sicher zu Hause angekommen ist. Und ich tanze mit Dan, der mich fest an sich zieht und mir sagt, dass er der glücklichste Mann der Welt ist.

Gegen Mitternacht legt Dans Freund Stephen »Sweet Child O’ Mine« von Guns N’Roses auf und zieht ihn auf die Tanzfläche, um mit den anderen abzurocken. Ich schlendere zurück zu einem Platz an der Bar, während ich dem Song zuhöre, und obwohl ich sehr wohl weiß, dass es dabei nicht wirklich um ein Kind geht, muss ich bei dem Refrain unwillkürlich an Kinder denken.

Vielleicht liegt es an dem Champagner oder an der Tatsache, dass sich die Welt ein bisschen wie ein wirbelndes Karussell anfühlt, aber als ich den Kopf sinken lasse, frage ich mich auf einmal, was passiert wäre, wenn Patrick und ich versucht hätten, ein Kind zu bekommen, gleich nachdem wir geheiratet hatten. Was, wenn ich schwanger geworden wäre, bevor er starb, lange bevor meine Eierstöcke aufgaben? Dann hätte ich jetzt ein elfjähriges Kind. Ich hätte einen Teil von Patrick für immer bei mir. Bedauern steigt in mir auf und schnürt mir die Kehle zu.

Als das Lied endet und ein Rolling-Stones-Song folgt, kommt Dan herübergeschlendert und legt einen Arm um mich. »Ich bin auch glücklich«, flüstert er, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass ich weine und dass er die Tränen meines Verlusts fälschlicherweise für Tränen der Freude gehalten hat.

Ich belasse ihn in seinem Irrtum, denn ich bin glücklich. So glücklich. So viele Leute bekommen nie eine zweite Chance. Und so küsse ich ihn innig, bis Stephen und noch ein paar seiner Freunde vom anderen Ende der Bar pfeifen und johlen. Ich weiche ein Stück zurück und sehe ihm in die Augen.

»Danke«, sage ich ernst.

»Wofür?« Er zwinkert und küsst mich auf die Stirn.

»Dafür, dass du mich liebst«, sage ich zu ihm. »Dafür, dass du mir das Gefühl gibst, etwas Besonderes zu sein, und dass du mich heiratest und versuchst, mich zu verstehen, und dass du …« Meine Stimme verliert sich, denn ich habe vergessen, was ich eigentlich sagen wollte.

Dan lacht. »Sieht aus, als ob hier jemand ein bisschen zu viel Champagner hatte.« Er hilft mir hoch, und mir wird bewusst, dass er recht hat, als ich ein wenig schwanke. »Was hältst du davon, wenn ich meine schöne Braut nach Hause bringe und ins Bett stecke?«

»Aber ich bin noch keine Braut«, protestiere ich. Ich wundere mich über mein Lallen, wie meine Worte aneinanderkleben, als wären sie aus Sirup. »Aber okay, ja. Bett.«

Er lacht wieder, rafft mich hoch in seine Arme, und nachdem wir unseren Freunden zum Abschied zugewinkt haben, trägt er mich nach Hause, während ich an seiner starken Brust einschlafe.

4

Als ich am nächsten Morgen ins Sonnenlicht blinzele, habe ich das vage Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist viel zu hell für unser Schlafzimmer, das nach Westen geht. Dan hat Verdunkelungsjalousien angebracht, als er vor einem halben Jahr hier eingezogen ist, daher dämmert der Morgen im Allgemeinen in fast völliger Finsternis.

Wo bin ich? Mein Kopf dröhnt von etwas, was zweifellos ein schwerer Champagnerkater ist. Ich setze mich auf und sehe mich verwirrt um, während sich meine Augen an das Licht gewöhnen und das Zimmer allmählich scharfe Konturen annimmt. Und wirklich, es ist nicht unsere Wohnung. Die Vorhänge an den Fenstern sind weiß und durchscheinend, das Bett ist ein Queensize-Bett aus Teakholz, kein schwarz lackiertes Kingsize-Bett, und die Laken und Bettdecken sind hellblau und weich anstatt grau und glänzend. Aber das Zimmer erscheint mir seltsam vertraut.

Hat Dan mich gestern Abend aus irgendeinem Grund in der Wohnung eines Freundes ins Bett gebracht? Ich versuche angestrengt, mich zu erinnern, aber das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich in seinen Armen eingeschlafen bin, kurz nachdem wir das Bistro verließen.

»Dan?«, rufe ich zögernd.

Ich höre Schritte in der Diele, und dann das Geräusch von jemandem, der leise pfeift. Wieder verspüre ich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit, aber es beunruhigt mich nur. Dan pfeift nie. Tatsächlich hat er mir bei unserem allerersten Date erzählt, dass er die Tatsache, nicht pfeifen zu können, für eine seiner größten Unzulänglichkeiten überhaupt hielt. Es war das erste Mal, dass er mich zum Lachen brachte.

»Schatz?«, rufe ich jetzt etwas unsicherer.

Und dann kommt die Person, die da pfeift, um die Ecke ins Schlafzimmer, und mir bleibt fast das Herz stehen, denn es ist gar nicht Dan, der dort steht.

Es ist Patrick. Mein Mann Patrick.

Der vor dreizehn Jahren gestorben ist.

»Morgen«, sagt er lächelnd, und der Klang seiner schmerzhaft vertrauten, tiefen Stimme ist wie ein Schlag in die Magengrube. Ich war mir so sicher, dass ich sie nie wieder hören würde. Das ist unmöglich.

Während ich ihn anstarre, fällt mir auf, dass er nicht ganz so aussieht wie früher. Sein dunkles Haar ist an den Schläfen ein bisschen dünner geworden, seine Lachfalten sind tiefer, und er ist etwas fülliger, als er früher war. Genau so habe ich mir immer vorgestellt, dass er vielleicht ausgesehen hätte, wenn er lange genug gelebt hätte, um mit mir zusammen älter zu werden. Aber seine Augen sind so strahlend und grün und warm, wie ich sie in Erinnerung habe, und für einen langen Moment vergesse ich zu atmen.

»Was ist los?«, flüstere ich schließlich, doch meine Stimme ist kaum hörbar. Erschrocken stelle ich fest, dass eine Art Dunstschleier über dem Zimmer liegt, der das Licht weicher erscheinen lässt, wie wenn Sonnenstrahlen auf genau die richtige Weise auf Staubkörnchen fallen. In solchen hauchzarten Augenblicken muss ich immer an Feenstaub denken und an Wünsche, die in Erfüllung gehen. Ich frage mich, ob es das ist, was im Moment passiert – irgendetwas Magisches und Unwirkliches.

Aber noch während ich Patrick anstarre, geschieht etwas Seltsames: Meine Orientierungslosigkeit beginnt zu schwinden. Ich sehe mich um, und ich begreife erschrocken, dass ich irgendwie wusste, dass ein schmaler Dyson-Staubsauger schief in der Ecke stehen würde; ich wusste, dass ein Wort-des-Tages-Kalender auf dem Nachttisch stehen würde; ich wusste, dass ein kleiner Strauß gelber Rosen in einer blauen Vase auf der Kommode stehen würde. Tatsächlich habe ich auf irgendeine seltsame Weise das Gefühl, dass ich selbst sie dorthin gestellt habe.

Das hier ist unsere alte Wohnung, begreife ich erschrocken, die in der Chambers Street, die, in der wir lebten, als Patrick starb. Die Möbel sind fast alle neu, aber ich erkenne die Raumaufteilung, die Parkettböden, die ich einst so liebte, die Wände, gegen die ich hämmerte, während ich aus vollem Hals schrie und eine Antwort darauf verlangte, wie Gott mir meinen Mann wegnehmen konnte. Ich verstehe nicht, was los ist.

»Katielee? Geht es dir gut?«, unterbricht Patrick besorgt meine verworrenen Gedankengänge und holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück.

Ich kann spüren, wie mir Tränen über die Wangen kullern, während ich angestrengt versuche, etwas zu erwidern, aber das Einzige, was mir über die Lippen kommt, ist eine bedeutungslose Kette von Vokalen. Ein Teil von mir fragt sich, ob das alles nur ein Traum ist, aber je länger ich hier bin, desto überzeugter bin ich, dass es keiner ist. Schließlich habe ich noch nie so lebhaft und detailgenau geträumt. Andererseits, wenn ich nicht träume, was gibt es dann für eine Erklärung?

Patrick setzt sich zu mir aufs Bett. »Du musst ja eine wildere Nacht hinter dir haben, als ich dachte, Schatz«, sagt er kichernd.