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Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen ist mit seinen Kräften am Ende, als ein spektakulärer Mordfall auf Grönland seine komplette Aufmerksamkeit fordert. Erst vor kurzem ist bei ihm Diabetes diagnostiziert worden. Besorgt sehen Simonsens Team und seine Lebensgefährtin Nathalie von Rosen mit an, wie er völlig erschöpft die Ermittlungen aufnimmt. Zudem erschüttert der Fall die Polizisten zutiefst: Ein perfider Killer hat vor vielen Jahren sein Opfer im Inlandeis vergraben. Die Klimaerwärmung hat nun die Leiche zutage gebracht. Schnell wird klar, dass der Fund auf Grönland mit einer Mordserie in Dänemark zusammenhängt. Als Simonsen erkennt, dass er vor Jahren einen fatalen Ermittlungsfehler begangen hat, der seine Kollegin Pauline nun in die Gewalt des Serienkillers führt, greift der geniale Ermittler zu drastischen Mitteln …
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Seitenzahl: 650
Lotte Hammer / Søren Hammer
Das weiße Grab
Kriminalroman
Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob
Knaur e-books
Vom Flugzeug aus wird eine Leiche im schmelzenden Inlandeis auf Grönland entdeckt. Es handelt sich um Maryann Nygaard, die vor 25 Jahren auf einer Radarstation in Grönland arbeitete und von dort spurlos verschwand. Zurück in Dänemark stellen Kommissar Konrad Simonsen und sein Team auffällige Gemeinsamkeiten zwischen der Ermordung von Maryann und Catherine Thomsen fest: Beiden Opfern wurden die Fingernägel geschnitten, die Lippen rot angemalt, und sie wurden mit einer Plastiktüte über dem Kopf erwürgt. Das Werk eines Serienkillers?
Alles hat seinen Preis.
Und vielleicht war es jetzt an der Zeit, den Preis für den Raubbau an der Natur zu bezahlen, der über die Jahrhunderte in der Diskobucht auf Grönland stattgefunden hatte – auch wenn dieser Preis sicher nur als eine kleine Anzahlung zu verstehen war, bevor die wirklich großen Raten fällig wurden, dachte die Kanzlerin, als sie über den Fjord blickte.
Die dänische Umweltministerin und der Journalist, der sie interviewte, folgten unwillkürlich ihrem Blick. Die Aussicht war grandios, Eisberge aller Größen trieben auf dem türkisblauen Wasser, und dahinter thronte der Gletscher wie eine zerklüftete weiße Mauer, die die Sommersonne spiegelte und ihre Betrachter zwang, die Augen zusammenzukneifen. Hin und wieder kalbte der Eisberg und gebar mit einem tiefen Grummeln, das die klare Luft der Bucht zerschnitt, einen neuen Eisberg.
Nach einer Weile räusperte der Journalist sich. Seine letzte Frage war unbeantwortet geblieben, und er versuchte diskret, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Die Kanzlerin reagierte aber auch dieses Mal nicht, so dass er die Frage schließlich, etwas abgeändert und auf Englisch, an die dänische Ministerin stellte.
»Warum muss man bis nach Grönland reisen, um die globale Erwärmung zu verstehen? Was können die Entscheidungsträger der Welt hier lernen, was sie nicht auch bei sich zu Hause lernen können?«
Die Ministerin lächelte entgegenkommend, während sie nachdachte. Es war klar, dass mit den Entscheidungsträgern der Welt nicht sie, sondern ausschließlich ihr Gast gemeint war, was ihr einen kleinen Stich versetzte. Dabei war die Frage nicht neu für sie. Nachdem sie vor ein paar Monaten mit ein paar amerikanischen Senatoren nach Grönland gereist war, hatte ihr die dänische Opposition den Vorwurf gemacht, Klimatourismus zu betreiben, und in gewisser Weise entsprach das auch der Wahrheit.
Die deutsche Kanzlerin brauchte nicht 4000 Kilometer von Berlin nach Ilulissat zu reisen, um zu erkennen, dass das Polareis schmolz. Das sah man schon, wenn man die Satellitenfotos des Nordpols von heute mit denen von vor zehn Jahren verglich. Oder die des Südpols, das war egal. Entscheidend war nur die Frage, was man tun konnte, um den Prozess umzukehren – oder eher, die dadurch entstehenden Schäden zu begrenzen –, doch darüber gaben weder der Gletscher noch die Satelliten Auskunft.
Die Kanzlerin drehte den Kopf und sah sie verschmitzt an. Anscheinend war sie ebenso gespannt auf die Antwort wie der Journalist.
Plötzlich kam ihr der paranoide Gedanke, das Ganze könne ein abgekartetes Spiel der beiden Deutschen sein. Ihr wurde warm, und sie zog ihre Windjacke aus, um das Gefühl zu überspielen, an einem Prüfungstisch zu sitzen. Abgesehen davon, dass ihr Gast 83 Millionen Deutsche repräsentierte, hatte diese Frau schließlich auch noch einen Doktortitel in Quantenchemie.
Der Reißverschluss verklemmte sich, was sie dankbar nutzte, um ihre Antwort noch ein paar Sekunden zu überdenken. Dann sagte sie ehrlich: »Nichts.«
»Und warum sind wir dann hier?«
Einen Moment lang erwog sie, über die viertausend grönländischen Jäger zu sprechen, denen der Temperaturanstieg, der hier doppelt so schnell vor sich ging wie im Rest der Welt, ihre uralte Lebensgrundlage geraubt hatte. Aber das wäre ein Fehler. Die anberaumte Klimakonferenz war global, so dass dieses Argument ein falsches Signal geben würde.
Stattdessen sagte sie: »Weil Politiker auch Menschen sind, und diese Szenerie hier vergisst niemand so schnell.«
Der Journalist schien ihr zuzustimmen, und auch das breite Lächeln der Kanzlerin zeigte, dass sie mit ihrer Antwort zufrieden war. Als sie zu den wartenden Helikoptern gingen, dachte die Ministerin, dass die veränderte Stimmung ihr vielleicht die Möglichkeit gab, mit der Kanzlerin auch die drängenden politischen Fragen zu erörtern. Die deutsche Regierungschefin wäre eine wichtige Stütze bei der Klimakonferenz in zwei Jahren in Kopenhagen. Bis jetzt hatte die Deutsche sich aber so sehr für die Landschaft und die ungewohnte Umgebung interessiert, dass das Thema Politik kaum zur Sprache gekommen war. Am meisten hatte die Kanzlerin mit einem Glaziologen aus ihrer eigenen Delegation gesprochen, und der dänische Klimaminister hatte kaum Gelegenheit gehabt, zu Wort zu kommen.
Die Hoffnung auf politische Diskussionen erfüllte sich aber nicht, denn auch im Helikopter sprach die Kanzlerin ausschließlich mit dem Wissenschaftler. Sie sorgte sogar dafür, dass er an ihrer Seite saß, als die Maschine über das Inlandeis flog, und war bald darauf tief in ein wissenschaftliches Gespräch mit ihm verstrickt, dem die Ministerin mit ihrem Schuldeutsch kaum noch folgen konnte. Sie spürte die Müdigkeit und musste sich in den Arm kneifen, um nicht einzuschlafen. Unter ihnen war nur eintöniges Eis, und auch der Sekretär neben ihr war bereits eingeschlafen und stieß hin und wieder leise Grunzlaute aus. Sie fragte sich, ob sie ihn anstoßen sollte, gab den Gedanken aber auf und holte ein Magazin aus der Tasche, um sich damit wach zu halten. Doch nachdem sie einige Minuten uninspiriert darin geblättert hatte, schlief auch sie ein.
Gut eine Stunde später wurde die Ministerin abrupt geweckt. Der Glaziologe rief etwas und deutete wild gestikulierend aus dem Fenster. Auch die Kanzlerin hatte sich aus ihrem Sitz erhoben, zeigte energisch nach draußen und befahl dem Helikopterpiloten zurückzufliegen.
Der leitende Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen blinzelte in die Polarsonne, die tief über dem langgestreckten Horizont stand. Ganz hinten, dort, wo Himmel und Eis miteinander verschmolzen, leuchtete die Welt in klaren Pastellfarben grün und blau, als wollte die Natur zum Ausdruck bringen, dass es weit dort hinten eine freundlichere Welt gab als diejenige, in der sie sich befanden. Was für ein verrückter Ort, um sein Leben auszuhauchen! An einer solchen Stelle ermordet zu werden kam ihm vollkommen verrückt und deplaziert vor. Er versuchte den Gedanken beiseitezuschieben – er war sinnlos und dumm –, denn diese Frage konnte dem Opfer egal sein. Eine Zeitlang betrachtete er seinen langgezogenen Schatten vor sich auf dem Eis. Er streckte den Arm aus und fuhr mit dem Schatten ein paar dünne Spalten im Eis ab, bis sein Arm müde wurde und er ihn wieder sinken ließ. Dann blickte er in die fahle Sonne, die eher Kälte als Wärme auszustrahlen schien. Irgendwie war ihm unwohl. Die Sonne sollte auf- und untergehen und nicht monoton am Himmel kreisen und Tag und Nacht vermischen. In einem vergeblichen Versuch, die Müdigkeit zu verdrängen, riss er die Augen auf und drehte sich in den Wind. Alles zusammengerechnet, hatte er in den letzten zwei Tagen nicht viel mehr als drei Stunden geschlafen, und es kam ihm vollkommen widersinnig vor, dass schon wieder ein neuer Tag angebrochen war. Er rieb sich langsam über das Gesicht und genoss für einen Augenblick die Dunkelheit. Ob sie an Frühlingsblumen gedacht hatte, an warme, weiße Sandstrände oder vielleicht an das Sonnwendfeuer, bevor es aus gewesen war? Wohl kaum. Trotzdem empfand er es fast als demütigend, hier draußen im Nichts sterben zu müssen, an einem Platz, an dem die Welt viel zu groß war und kein lebendes Wesen etwas verloren hatte. In gewisser Weise hatte ihr Mörder sie damit gleich doppelt geschändet.
Er sah auf seine Uhr: es war kurz nach halb acht, dänische Zeit. Wie spät es hier in Grönland war, konnte er nicht sagen. Er unterdrückte ein Gähnen und dachte, dass er eigentlich viel zu erschöpft zum Arbeiten war. Am Morgen hatte er vergessen, seine Pillen zu nehmen, oder genauer – warum sollte er sich selbst belügen –, er hatte zum wiederholten Male vergessen, seine Pillen zu nehmen. Und langsam begann er auch die Konsequenzen zu spüren. Er hätte unheimlich gern eine Zigarette geraucht oder wenigstens eine halbe, um die Müdigkeit für einen Moment zu verdrängen, auch wenn er wusste, dass er eigentlich nicht rauchen durfte. Routiniert klopfte er sich auf die Brust, um sich zu vergewissern, dass er eine Schachtel in der Hemdtasche hatte, entschloss sich dann aber, wenigstens noch ein paar Minuten standhaft zu bleiben und die Vorfreude auszukosten. Vor einem Jahr – oder waren es inzwischen zwei? – war Diabetes bei ihm diagnostiziert worden. Diese Krankheit und sein besorgtes privates Umfeld hatten ihn dazu gezwungen, sein Leben umzustellen oder wenigstens den Versuch dazu zu unternehmen.
Eine innere Unruhe ließ ihn noch einmal einen Blick auf die Uhr werfen, doch das Resultat war wie beim letzten Mal dasselbe und half ihm nicht, so dass er sich an seinen Nebenmann wandte und fragte: »Wissen Sie, wie spät es ist?«
Der grönländische Kommissar warf einen kurzen Blick auf die Sonne und antwortete: »Etwa drei.«
Er war ein Mann ohne überflüssige Worte, was ihm das Warten nicht gerade erleichterte. Sein Name war Trond Egede, aber das war auch schon das Einzige, was Konrad Simonsen über ihn wusste.
Er fragte sich, ob er sich noch einmal ins Flugzeug setzen sollte, um ein klein wenig zu schlafen, bis die Kriminaltechniker fertig waren. Die harten, unbequemen Sitze, die er auf dem Flug von Nuuk hierher noch verflucht hatte, erschienen ihm jetzt wie die reinste Verlockung. Ein bisschen Schlaf war besser als überhaupt kein Schlaf, und schließlich machte es ja keinen Sinn, neben einem stummen Kollegen zu stehen und auf vier Menschen zu starren, die deshalb auch nicht schneller arbeiteten. Andererseits konnte es seinen wortkargen Partner verletzen, wenn er ihn einfach stehen ließ, und das wollte er nicht, schließlich war es für die nächsten Wochen essenziell, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei in Nuuk gut und reibungslos vonstattenging. Oder sollte er sich entgegen den Vorschriften den Technikern anschließen? Die Gefahr, den Tatort zu verunreinigen, war sicher nicht groß. Andererseits riskierte er dann, abgewiesen zu werden, was nicht nur erniedrigend sein würde, sondern überdies ein unprofessionelles Signal aussandte. Nein, im Grunde hatte er nur eine Möglichkeit – er musste bleiben, wo er war, wie ernüchternd das auch sein mochte.
Also versuchte er noch einmal, ein Gespräch vom Zaun zu brechen.
»Wie können Sie eigentlich an der Sonne erkennen, dass es drei Uhr ist? Ich meine, Sie haben doch keinerlei Landmarken – oder wie man das nennt –, hier ist es doch so flach, dass sich der Horizont einmal um uns herumzieht.«
Umständlich zog der Mann einen Handschuh aus und schob den Ärmel seiner Windjacke über seine Armbanduhr. Erst als er den Handschuh wieder angezogen hatte, sagte er: »Es ist dreizehn Minuten nach drei.«
»Dann hatten Sie also recht.«
»Ja.«
»Nur anhand der Sonne. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt?«
»Ja.«
Konrad Simonsen gab es auf und konzentrierte sich darauf, seine eigene Uhr richtig zu stellen. So hatte er wenigstens für ein paar Sekunden etwas zu tun. Auf einmal kam ihm ein unangenehmer Verdacht, eine Skepsis, die an ihm nagte und ihn wie die Unruhe zuvor nicht mehr losließ.
»Also drei Uhr nachmittags?«
Er versuchte seine Frage möglichst beiläufig zu stellen. Trotzdem hörte er selbst, wie angespannt und schrill seine Stimme klang.
Der Grönländer drehte sich zu ihm um und musterte ihn, als er antwortete: »Ja, nachmittags. Haben Sie denn kein Zeitgefühl?«
»Eigentlich schon, aber …, doch Sie haben recht, einen Moment lang war ich verwirrt.«
»Das kann ziemlich unangenehm sein.«
Konrad Simonsen nickte und entspannte sich. Mühevoll kramte er seine Zigaretten hervor, verdrängte all die Warnungen und guten Ratschläge, zündete sich eine an und inhalierte begierig.
Dann fügte er sich der erneuten Stille. Als er zu Ende geraucht hatte, beugte er sich nach unten und drückte die Zigarette sorgsam auf dem Eis aus, bevor er sie in die Tasche steckte. Der Grönländer betrachtete ihn interessiert, und Simonsen versuchte sich erneut an einem Gespräch: »Sagen Sie mal, kommen Sie öfter hierher?«
Der Mann grinste, und sein Gesicht presste sich derart zusammen, dass er wie ein ungezogenes Trollbalg aussah. Konrad Simonsen musste unweigerlich lächeln.
»Das hat dieser Arne auch geglaubt, also Ihr Partner. Ich habe seinen Nachnamen vergessen.«
Er nickte in Richtung Flugzeug.
»Arne Pedersen, er heißt Arne Pedersen.«
»Stimmt, ja. Der dachte auch, dass ich regelmäßig hier aufs Inlandeis komme. Vierhundert Kilometer Anfahrt, um hier eine kleine Runde zu drehen und dann mit frischen roten Bäckchen wieder nach Hause zu kommen.«
Die Ironie des Mannes war nicht bissig, sondern hatte einen munteren Beiklang.
»Okay, ich habe verstanden, dann waren Sie auch noch nicht hier.«
»So ganz stimmt das nicht, ich war ja gestern schon mal hier, aber ansonsten ist das nicht gerade ein Ort, den ich häufiger aufsuche. Warum auch?«
Sie nickten beide, und für einen Augenblick fürchtete Konrad Simonsen, das Gespräch könne erneut versiegen. Dann sagte der Mann: »Arne Pedersen hat gesagt, dass Sie nicht über den Fall sprechen wollen, bevor Sie nicht einen Blick auf das Opfer geworfen haben; das sei so eine Art Prinzip von Ihnen.«
»Ein Prinzip würde ich das nicht gerade nennen, das geht vielleicht zu weit. Aber es stimmt, ich warte lieber, wenn das für Sie in Ordnung ist? Andererseits gibt es natürlich ein paar Punkte, die wir gerne jetzt schon ansprechen können. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich diesen Fall ziemlich abrupt und ohne jede Vorwarnung übernehmen musste.«
Der Mann unterbrach ihn lachend: »Ja, das habe ich gehört. Arne Pedersen sagte, Sie seien auf dem Weg in die Ferien gewesen? In südlichere Gefilde.«
Er lachte wieder.
Konrad Simonsen konnte ihn immer besser leiden.
»Herzlichen Dank für die Erinnerung, aber es stimmt, eigentlich sollte ich jetzt auf dem Weg nach Punta Cama sein – das ist in der Dominikanischen Republik, sollten Sie sich da unten nicht so gut auskennen. Ich wollte mit meiner Freundin am Strand liegen und unter den Palmen ausspannen, bis uns die Legend of the Seas von der Royal Caribbean Cruise Line abholt und … ach, an den Rest will ich gar nicht denken, das tut zu weh.«
»Gern geschehen, war mir eine Freude.«
»Ich weiß nicht, irgendwie hatte bislang niemand richtig Zeit, mir zu sagen, was gestern eigentlich passiert ist. Vielleicht wusste es ja auch keiner, aber ist die Tote wirklich von der deutschen Kanzlerin gefunden worden?«
»Nein, nicht ganz. Als Erster gesehen hat sie ein Gletscherexperte, ein Glaziologe, aber der hat die Kanzlerin dann auf die Leiche aufmerksam gemacht.«
»Waren Sie auch im Flugzeug, als das passiert ist?«
»Nein, aber ich kenne den Handlungsablauf von jemandem, der mit an Bord war. Im Übrigen war das ein Helikopter. Genauer gesagt, einer von drei großen Sikorsky S 61 der Air Greenland. Sie wissen schon, diese legendären roten Riesen, die man auch als Sea King bezeichnet.«
Konrad Simonsen hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete, log aber aus Höflichkeit: »Ja, die sind wirklich beeindruckend.«
»Genau meine Meinung. Also, da war eine Maschine mit der Kanzlerin, der dänischen Umweltministerin und den wichtigsten Delegationsteilnehmern, eine andere mit dem Sicherheitspersonal und den anderen Gästen und eine dritte mit Journalisten. Der Helikopter der Kanzlerin flog voran. Die Route führte in einem Bogen von Ilulissat an der Diskobucht über das Inlandeis bis nach Nuuk, von wo aus die Delegationen wieder zurück nach Kopenhagen respektive Berlin fliegen wollten. Die Kanzlerin hatte darauf bestanden, bis ganz zum Zentrum des Inlandeises zu fliegen, vielleicht war sie irrtümlich davon ausgegangen, die Abschmelzungen seien dort am größten. Aber da dieser Wunsch von ihr gekommen war, hatte niemand widersprochen.«
»Was gibt es denn da zu sehen?«
»Eigentlich nichts von Bedeutung. Wenn man die ersten Schmelzwasserteiche gesehen hat, und davon sieht man schon nach zwei Minuten Flug auf dem Ilulissatgletscher einige, kann man sich die restlichen eigentlich sparen. Außerdem werden die immer seltener, je weiter man auf das Inlandeis kommt, und wie Sie selber sehen, ist hier außer Eis nicht viel zu entdecken.«
Konrad Simonsen antwortete ihm diplomatisch: »Es ist faszinierend hier, wenn auch etwas eintönig.«
»Tja, das kann man ruhig sagen. Trotzdem fand die Kanzlerin den Flug äußerst interessant, und der Glaziologe natürlich auch. Er hat die ganze Zeit über neben ihr gesessen und eine Art Vorlesung für sie gehalten. Zum Missfallen unserer Umweltministerin.«
»Interessiert sie sich nicht für das Inlandeis?«
»Nee, die wollte über Politik reden. Es waren auch noch zwei andere Politiker dabei. Mit einem habe ich gesprochen, und der hat mir erzählt, dass sie sich im Stillen über sie amüsiert haben. Es hatte wirklich niemand damit gerechnet, dass die Kanzlerin derart in ihrer Rolle als Studentin aufgehen würde. Vor gar nicht langer Zeit hatte die Umweltministerin Besuch aus den USA. Ein paar Senatoren oder so, die mit der gleichen Absicht gekommen waren, doch damals war das komplett anders abgelaufen. Die Amerikaner sahen in der Exkursion eher so etwas wie einen Rundflug, und einer von ihnen hat sich sogar zu der Frage erdreistet, ob er nicht ein Ren schießen könnte. Vielleicht war das nur so dahergesagt, auf jeden Fall hat die lokale Presse wütend protestiert. Von denen wollte jedenfalls keiner länger über das Inlandeis fliegen als unbedingt nötig.«
Konrad Simonsen brachte ihn wieder auf die richtige Spur: »Die Kanzlerin wollte das aber.«
»Ja, wie gesagt. Der Helikopter ist so tief wie möglich geflogen, und natürlich waren alle mit Ferngläsern ausgerüstet. Nach einer halben Stunde haben davon aber nur noch der Glaziologe und die Kanzlerin Gebrauch gemacht. Laut meiner Quelle haben die Dänen geschlafen, während die anderen Deutschen mit ihren Computern beschäftigt waren.«
Er lächelte, und Konrad Simonsen warf ein: »Klingt nach perfekter Arbeitsteilung. Was ist dann passiert?«
»Eine ganze Weile überhaupt nichts. Ich weiß nicht, wie schnell so ein Helikopter fliegt, aber ein bis anderthalb Stunden kommt sicher hin. Die Kanzlerin hat ihre ausführliche Klimalektion bekommen, und die anderen haben sich um ihren Kram gekümmert. Bis sie und der Wissenschaftler plötzlich zu rufen begonnen haben, anfangs angeblich ziemlich unzusammenhängend und hektisch, aber das ist ja verständlich, wenn man eine Leiche entdeckt. Nach einigem Hin und Her hat der Pilot den Helikopter gewendet, und sie sind zurückgeflogen, um den Ort erneut zu lokalisieren, und das war dann also hier.«
»Sind sie gelandet?«
»Nein, sie hingen nur ein paar Minuten still in der Luft, während der Pilot die Koordinaten durchgab. Irgendjemand hat geistesgegenwärtig den Heli mit den Journalisten per Funk an einen anderen Ort dirigiert, bevor die Weltpresse Fotos machen konnte. Sonst hätte das die Klimathematik komplett von der Bildfläche verdrängt. Sie wissen ja, Mord ist ein wesentlich attraktiverer Zeitungsstoff als das Abschmelzen der Polkappen. Leider ist die Operation nicht vollständig gelungen. Die Geschichte ist nämlich relativ schnell an die Öffentlichkeit gedrungen, nachdem die Gesellschaft Nuuk erreicht hatte. Außerdem kursieren bereits ein paar Fotos, die jemand aus dem Helikopter der Sicherheitsleute geschossen hat. Das ist Titelseitenstoff für die ganze Welt. ›Kanzlerin spielt Sherlock Holmes‹ lautet der Aufmacher der Bild-Zeitung, und die Times titelt ›Kanzlerin findet ermordete Frau‹, um nur die beiden zu nennen, an die ich mich erinnern kann. Auch die dänischen Zeitungen machen da eine große Sache draus, und CNN hat den Vorfall gestern Abend als breaking news gebracht. Wollen Sie Details?«
»Nein, um Gottes willen, das reicht wirklich.«
»Ihr Partner hatte recht. Mist, jetzt habe ich schon wieder seinen Nachnamen vergessen – Namen sind echt nicht meine Stärke. Er meinte übrigens auch, dass Sie darüber nicht gerade begeistert sein würden. Mögen Sie die Presse nicht?«
»Doch, rein gesellschaftlich schon. Nur Kriminalreporter mag ich nicht sonderlich.«
»Aber die Presse hat Sie doch berühmt gemacht.«
»Berühmt? Was ist das denn für ein Unsinn? Ich bin doch nicht berühmt!«
»Na ja, aber bekannt.«
»Ich bin weder bekannt noch berühmt, hören Sie auf damit.«
Konrad Simonsen stampfte leicht auf dem Eis auf, um seine Worte zu unterstreichen, und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als sein Standbein wegrutschte.
»Okay, wenn Sie meinen, aber irgendwie müssen Sie sich in Deutschland unbeliebt gemacht haben, wenn die Kanzlerin Sie hierher in die Kühlbox geschickt hat, statt Ihnen Ihre Ferien unter der karibischen Sonne zu gönnen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich hören will.«
»Wie Sie wollen, wie Sie wollen, die Promis haben immer recht.«
Konrad Simonsen war selbst überrascht darüber, dass er es richtiggehend angenehm fand, von ihm aufgezogen zu werden. Vielleicht lag das an der Freundlichkeit, die der kleine Mann jetzt, da er ihn zum Sprechen gebracht hatte, ausstrahlte. Außerdem konnte er sich gegen einen gewissen Stolz nicht erwehren.
Sie standen schweigend da. Konrad Simonsen vermied es, den Mann anzusehen, wusste aber dennoch ganz genau, dass sein Grinsen vom einen Ohr zum anderen reichte. Ein leises Lachen entlarvte ihn.
»Wenn ich richtig informiert bin, konnten Sie schon einen Blick auf sie werfen?«
»Ja, gestern, wie gesagt. Wir mussten uns ja ein Bild machen, womit wir es hier zu tun haben. Ich habe sie mir aber nur kurz angesehen und den Fundort dann abgesperrt.«
Er nickte in Richtung der Kriminaltechniker, die umgeben waren von einem unregelmäßigen Kreis ins Eis gehämmerter Metallstangen, an denen das traditionelle rot-weiße Plastikband hing.
»Letzteres hat eine gute halbe Stunde gedauert. Das Eis ist hier steinhart. Eigentlich war das komplett überflüssig, aber ich hatte den klaren Befehl, den Fundort abzusperren.«
»Ist sie Grönländerin?«
Seine fröhliche Stimmung war plötzlich wie weggeblasen, und die Antwort klang scharf.
»Wieso? Macht das einen Unterschied?«
»Was den Ernst des Verbrechens angeht, spielt das keine Rolle, ansonsten ist es ein Riesenunterschied. Denken Sie nur an den Dienstweg und die Rechtslage. Außerdem frage ich mich, was für einen Beitrag ich leisten könnte, sollte eine Grönländerin ermordet worden sein, die aus einem Milieu stammt, das ich überhaupt nicht kenne.«
»Sie ist keine Grönländerin, sie ist Dänin. Und mit Blick auf die Rechtslage müssen Sie sich keine Gedanken machen. Sie können sich als Leiter der Ermittlungen betrachten, darauf läuft es ohnehin hinaus, da sind sich alle Seiten einig.«
»Alle Seiten? Gibt es denn mehr als zwei?«
»Drei. Wir haben hier drei Gruppen, aber die sind sich, wie gesagt, einig.«
»Die Amerikaner?«
»Ich dachte, Sie wollten warten, bis Sie sie gesehen haben.«
»Stimmt, aber mit etwas Glück ist es bald so weit. Es sieht so aus, als wären die da bald fertig.«
Konrad Simonsen holte wieder seine Zigaretten hervor, ohne das eigentlich zu wollen. Er dachte, dass er im Großen und Ganzen so lebte wie immer, da war nur dieses Selbstmitleid, das niemandem half. Er bekam ein schlechtes Gewissen und steckte die Packung wieder zurück in die Tasche. Kurz darauf kam eine Kriminaltechnikerin zu ihnen herüber. Sie war Dänin, ging unsicher und achtete auf jeden ihrer Schritte. Konrad Simonsen kannte sie nicht.
»Ich bin gleich so weit. Wenn Sie wollen, können Sie Arne Pedersen wecken. Und passen Sie da drüben auf, es ist sehr glatt.«
Sie zeigte zum Tatort hinüber. Trond Egede nickte freundlich, er würde schon vorsichtig sein. Konrad Simonsen dachte, dass es hier doch überall glatt war, und ignorierte sie.
Die Frau im Eis kniete wie in einer Badewanne. Sie war halbnackt, trug nur einen Slip und ein dünnes Unterhemd, das vorne zerrissen und unter ihre nackten Brüste gezogen worden war. Ihre Knöchel waren mit Klebeband gefesselt, ihre Arme an den Handgelenken mit dem gleichen Band an ihre Oberschenkel geklebt. Ihre langen, schwarzen Haare hingen lose herab und reichten ihr bis zur Mitte des Rückens. Eine Plastiktüte war über den Kopf gezogen und am Hals zugeknotet worden. Der grotesk aufgerissene, lippenstiftrote Mund und die weit geöffneten Augen, die durch das Plastik zu erkennen waren, zeugten von einem grausamen Tod. Die Frau war athletisch gebaut und sicher nicht älter als fünfundzwanzig Jahre. In ihrem kalten Grab war Schmelzwasser zusammengelaufen, und nur ihre Knie und Füße waren noch am Eis festgefroren. Rechts neben ihr lagen ihre Kleider: Hose, Windjacke und eine kunstfertig gestrickte Wollmütze in blauen, violetten und grünen Farbtönen.
Konrad Simonsen fühlte sich unwohl. Die drei Männer nahmen sich viel Zeit. Arne Pedersen und Konrad Simonsen bewegten sich langsam, den Blick auf die Tote gerichtet, deren Gesicht sich etwa in Höhe ihrer Füße befand. Der grönländische Kommissar blieb stehen. Es schien, als wollte keiner von ihnen die Stille stören, um die Konzentration des anderen nicht zu beeinträchtigen. Die Kriminaltechnikerin, die sich an Simonsen gewendet hatte, war wieder zurück, während ihre Kollegen sich im Flugzeug aufwärmten. Sie stand fröstelnd ein paar Schritte neben ihnen, bis sie ungeduldig wurde und fragte: »Brauchen Sie mich? Sonst würde ich gerne ins Flugzeug gehen und einen Kaffee trinken, bevor wir die Tote rausholen.«
Die Frage richtete sich an Konrad Simonsen, aber er wirkte so abwesend, dass schließlich Arne Pedersen für ihn antwortete: »Dieses Grab, in dem sie hockt, ist das auf natürliche Art und Weise entstanden?«
»Meine grönländischen Kollegen halten das für sehr unwahrscheinlich.«
»Dann ist das also von einem Menschen ins Eis geschlagen worden?«
»Davon gehen meine Kollegen aus, ja.«
»Und warum ist das Grab geschmolzen?«
Die Frau wurde unsicher.
»Das weiß ich nicht, vielleicht die Klimaerwärmung?«
»Aber warum hier, ausgerechnet hier, wo sie liegt?«
Sie zuckte mit den Schultern, und Trond Egede antwortete für sie: »In der Gegend gibt es noch ein paar andere Schmelzwasserpfützen, auch wenn die sonst hier nicht so häufig sind. Die Eisdicke nimmt hier sogar wieder zu, während sie an den Küsten abnimmt. Es gibt keine eindeutige Erklärung dafür, warum sie in einer Schmelzwasserpfütze hockt, vielleicht ist das wirklich ein Zufall. Und was das ins Eis gehackte Grab angeht, so können Sie ruhig davon ausgehen, dass Ihr Kollege recht hat. Ich kenne den Mann, und wenn sich jemand mit Eis auskennt, dann er.«
Die Kriminaltechnikerin nickte bestätigend: »Das stimmt.«
Konrad Simonsen schickte sie zurück ins Flugzeug und ignorierte Arne Pedersens überraschten Blick ebenso wie seine nachfolgende Frage: »Warum warst du so abweisend zu ihr, Konrad? Außerdem war ich noch gar nicht fertig.«
Als Arne Pedersen erkannte, dass er keine Antwort bekommen würde, richtete er seinen Blick auf die Leiche und sagte: »Wirklich eine abscheuliche Sache, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir die Sache angehen sollen. Allein schon die Frage, wie sie hierhergekommen ist, übersteigt meine Fantasie. Ich meine, es sind mehrere hundert Kilometer bis zur nächsten Siedlung, sie liegt hier mitten im Nirgendwo. Das erinnert mich an das klassische Rätsel mit dem geschlossenen Raum, nur eben umgekehrt – ich meine, ein viel zu offener Raum.«
»Ich weiß, wer sie ist und wie sie hierhin gekommen ist.«
Arne Pedersen wandte sich überrascht Trond Egede zu.
»Und das sagen Sie erst jetzt?«
»Ich dachte, Sie wollten keine Informationen, bevor Sie sich nicht selbst ein Bild gemacht haben.«
»Dieses Prinzip befolgt nur mein Chef. Ich persönlich ziehe es vor, so schnell wie möglich alle nur zur Verfügung stehenden Fakten zu bekommen, aber das konnten Sie ja nicht wissen. Also, lassen Sie hören.«
Konrad Simonsen hob die Hand und stoppte sie.
»Gleich, ich brauche noch einen Moment.«
Arne Pedersen konnte seine Sorge nicht länger verbergen: »Stimmt was nicht, Konrad?«
»Ich sage doch nur, dass ich noch eine Minute brauche. Ist das denn so schwer zu verstehen?«
Die meisten anderen wären vermutlich ausgerastet, nicht aber Arne Pedersen. Er ignorierte den Tonfall und erwiderte entschieden: »Nein, das ist nicht schwer zu verstehen. Aber es ist doch wohl auch nicht schwer zu verstehen, dass ich mich dafür interessiere, ob mit dir alles in Ordnung ist, oder? Und – ist wirklich alles okay?«
Konrad Simonsen musste der Wahrheit ins Auge blicken und endlich einsehen, dass die Comtesse oder seine Tochter Anna Mia oder sogar beide hinter seinem Rücken über seinen Gesundheitszustand gesprochen hatten. Die Comtesse war eine seiner engsten Mitarbeiterinnen. Eigentlich hieß sie Nathalie von Rosen, aber alle nannten sie nur Comtesse. Alle, außer seiner Tochter, die darauf bestand, sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Vielleicht war die Comtesse nicht nur seine Mitarbeiterin, sondern auch seine Geliebte, aber diese Frage wusste er nicht zu beantworten, oder besser, sie beide schienen darauf noch keine Antwort zu wissen.
Im Grunde sollte es ihn nicht verwundern, dass seine Nächsten die anderen über seinen Gesundheitszustand informiert hatten. Sein Arzt hatte bei seinen letzten Besuchen ja wirklich nicht vor Optimismus gesprüht, und besonders der letzte Behandlungstermin in der vergangenen Woche war äußerst deprimierend gewesen.
Er sagte: »Stimmt, es geht mir nicht gut, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das hier hat nichts mit meiner Gesundheit zu tun.«
Dann drehte er sich um, aber er kam nur einen Schritt weit, weil Arne Pedersen ihm den Weg versperrte und ihm in die Augen sah. Es kam Konrad Simonsen wie eine Ewigkeit vor, bis sein Kollege schließlich zur Seite trat und ihn gehen ließ.
Als Konrad sich nach einiger Zeit gesammelt hatte, holte der grönländische Kommissar ein Notizbuch aus der Innentasche seiner Jacke und zog einen Handschuh aus, damit er in seinen Aufzeichnungen blättern konnte.
»Sie heißt Maryann Nygaard. War ausgebildete Krankenschwester und arbeitete in der inzwischen geschlossenen amerikanischen Militärbasis in Søndre Strømfjord. Sie wurde über die dänische Firma Greenland Contractors vermittelt, die sich darauf spezialisiert hat, dänische Arbeitskräfte für das amerikanische Militär in Grönland zu beschaffen. Soweit ich weiß, ist über einen Staatsvertrag zwischen den USA und Dänemark geregelt, dass alle Zivilpersonen, die auf den Basen in Thule und Søndre Strømfjord arbeiten, Dänen sein müssen. Das dürfen Sie jedoch nicht so eng sehen, es kann gut sein, dass es da Ausnahmen gibt, von denen ich nichts weiß. Auf jeden Fall arbeitete Maryann Nygaard vom Januar 1982 bis zu ihrem Verschwinden am 13. September 1983 dort als Krankenschwester.«
Konrad Simonsen hatte sich wieder unter Kontrolle: »1983? Dann liegt sie hier seit fünfundzwanzig Jahren?«
Nur Arne Pedersen, der ihn gut kannte, hörte heraus, dass irgendetwas seinem Chef schwer zusetzte. Ihr grönländischer Kollege beantwortete die Frage: »Ja, und ohne den Klimawandel hätte sie vielleicht noch Jahrtausende hier gelegen, bis sie irgendwann mit einem Eisberg in den Fjord gestürzt wäre.«
Konrad Simonsen fuhr fort: »Wissen Sie, wie alt sie ist?«
»Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie getötet wurde, aber das ist auch schon alles, was ich über sie weiß. Ich habe mit dem Oberst gesprochen, der auf der Airbase Thule das Kommando hat – übrigens ein Mann, den ich gut kenne und mit dem ich schon oft zusammengearbeitet habe. Er hat mir versprochen, mir so schnell wie möglich weitere Informationen zu liefern. In der Regel geht das schnell, besonders wenn er versucht, die herostratisch berüchtigte Bürokratie bei den Streitkräften der USA so weit wie möglich zu umgehen. Denn sonst kann der Amtsweg Jahre dauern, das wird aber in unserem Fall nicht so sein.«
»Sie meinen, weil keine amerikanischen Soldaten involviert sind?«
»Genau, und danach sieht es ja nicht aus.«
»Wie weit war diese Søndre-Strømfjord-Basis entfernt?«, warf Arne Pedersen ein.
»Etwa dreihundert Kilometer, Richtung Südwesten. Die Basis ist noch intakt, nur die Amerikaner sind weg.«
»Warum ist sie dann hier?«
»Auch dafür gibt es eine gute Erklärung, aber vielleicht wollen Sie erst ein paar Bilder von ihr sehen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, entfaltete er einen A4-Zettel, der hinten in seinem Notizbuch steckte.
»Der Oberst hat mir heute Nacht die Bilder aus Thule geschickt, ich weiß nicht, ob die Fotos aus den USA stammen oder aus seinem eigenen Archiv. Die Aufnahmen wurden gespeichert, um sie zu identifizieren, sollte sie jemals wieder auftauchen; das ist eine Standardprozedur, wenn jemand vermisst wird.«
Wieder war es Arne Pedersen, der ihn unterbrach: »Kommt es denn oft vor, dass Leute verschwinden?«
»Ja, das ist leider nichts Ungewöhnliches, besonders im Winter. Grönland ist ein großes Land, und in gewissen Situationen sollte man sich nicht weit von den Siedlungen entfernen. Manchmal findet man nicht mehr zurück, und dann ist es mehr als fraglich, dass man jemals wieder entdeckt wird.«
Sie rückten näher zusammen und betrachteten die Fotografien. Die oberste zeigte das Porträt einer süß lächelnden jungen Frau. Abgesehen von den langen, schwarzen Haaren, war keine Ähnlichkeit mit dem verzerrten Gesicht in der Plastiktüte vor ihnen zu erkennen. Auf dem nächsten Foto sah man die Frau an einem Sommertag. Sie streckte dem Fotografen stolz eine Forelle entgegen, die sie mit beiden Händen festhielt. Die Positur war betont witzig, da der Fisch nicht so groß war, dass man für ihn zwei Hände gebraucht hätte. Der Sommerwind hatte eine Locke aus ihrer Frisur gelöst.
Konrad Simonsen studierte das unterste Bild eingehend. Als er fertig war, nickte er traurig und fragte: »Was hat sie hierhergeführt?«
»Ihre Arbeit. Haben Sie jemals von den DYE-Stationen gehört?«
Beide Männer schüttelten den Kopf.
»Das waren Radar-Vorposten der Basis in Søndre Strømfjord. Damals existierten fünf solcher Stationen, der Einfachheit halber durchnumeriert von DYE-1 bis DYE-5. Drei dieser DYE-Stationen gehörten zu den isoliertesten Orten der Welt, sie waren mehrere hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Alle fünf wurden Anfang der sechziger Jahre gebaut, sie gehörten zum amerikanischen Atom-Frühwarnsystem und waren Teil einer Reihe von Radarstationen, die sich von Alaska über Kanada bis nach Island erstreckte. Ziel war es, russische Bomber und später die Interkontinentalraketen so schnell wie möglich zu erkennen. Die vier ersten DYEs liegen auf einer Linie, die im weitesten Sinne dem nördlichen Polarkreis folgt, beginnend mit DYE-1 an der Westküste bei Sisimiut, gefolgt von DYE-2 und DYE-3 im Inlandeis und DYE-4 an der Ostküste bei Ammassalik. DYE-5 hingegen fällt aus dem Rahmen. Schließlich befinden wir uns hier deutlich nördlich der anderen DYEs und wie gesagt mehr als dreihundert Kilometer von der Basis in Søndre Strømfjord entfernt. Ich habe keine Ahnung, warum DYE-5 nicht auf einer Linie mit den anderen gebaut worden ist. Vielleicht gibt es eine vernünftige Erklärung dafür, wenn man Radaringenieur ist, vielleicht ist das aber auch ein militärisches Geheimnis, wer weiß?«
Konrad Simonsen fragte: »Wie groß war die Station?«
»Nicht sonderlich groß, was die Fläche angeht, aber ziemlich hoch, ich kann Ihnen ein paar Bilder zeigen, wenn wir wieder in Nuuk sind. Schön war sie nicht.«
»Wofür steht DYE?«
»Soweit ich weiß, leitet sich das von der kanadischen Stadt Cape Dyer an der Ostküste von Baffin Island an der Davis Strait ab. Auch Cape Dyer war ein Teil des Radarsystems, aber was diese sprachliche Verbindung angeht, bin ich mir nicht ganz sicher. Auf jeden Fall wurden alle fünf DYE-Stationen Ende der achtziger Jahre außer Betrieb genommen. Die Technologie war zu diesem Zeitpunkt veraltet, da die russischen Raketen jetzt viel leichter per Satellit aufzuspüren waren. Die erste, die geschlossen wurde, war DYE-5 – also die hier, wo wir jetzt stehen –, und im Gegensatz zu den vier anderen wurde diese Station komplett abgebaut. Dieser Beschluss wurde an irgendeinem Schreibtisch in Kopenhagen gefällt, um die grönländische Natur nicht zu verunreinigen. Die Amerikaner sollten hinter sich aufräumen, was sie ziemlich effektiv gemacht haben, wie Sie sehen – oder eben nicht sehen. Später wurde dieser Beschluss dann wieder gekippt, so dass die anderen DYEs mehr oder minder noch stehen. Zwei davon werden heute mitunter von Klimaforschern als Übernachtungsmöglichkeit genutzt.
»Waren auf diesen Stationen nur Dänen stationiert?«
»Nein, aber ein paar Dänen schon, entsprechend dem Basis-Abkommen zwischen Washington und Kopenhagen. Aber der DYE-Leiter und die Radartechniker waren Amerikaner.«
»Mussten die Dänen sich einer Sicherheitskontrolle unterziehen?«
»Ja, ich denke schon, aber sonderlich gründlich war die sicher nicht. Aber das ist nur eine Annahme, basierend auf all den Geschichten, die ich im Laufe der Zeit über die Personen gehört habe, die auf diesen DYE-Stationen gearbeitet haben. Zweifellos waren einige von ihnen ziemlich seltsam. Normalerweise nicht gerade Leute, die man an einem solch geheimen Ort vermuten würde. Andererseits hatten sie ja keinen Zugang zu sensiblen Daten. Man kann dem amerikanischen Militär einige merkwürdige Dinge vorwerfen, aber nicht, dass sie die nationale Sicherheit gefährdet haben. Und sicher nicht mitten im Kalten Krieg.«
Konrad Simonsen stimmte ihm zu, ohne wirklich zu wissen, wovon Egede redete. Dann fragte er: »Wie viele waren hier? Ich meine die Anzahl der Mitarbeiter auf diesen Stationen.«
»Das war von DYE zu DYE unterschiedlich. Auf DYE-5 waren zwölf Dänen, die jeweils sechs Monate am Stück Dienst taten. Dann mussten sie abgelöst werden, häufig wechselten sie dann aber direkt zu einer anderen DYE. Das war einer der Gründe dafür, warum einige von ihnen wirklich seltsam wurden. Viele von denen waren über Jahre hier draußen im Eis. Sie haben dafür natürlich auch einen wirklich anständigen Lohn kassiert, ohne überhaupt eine Chance gehabt zu haben, dieses Geld auszugeben. Wenn sie dann wieder in die Zivilisation zurückkehrten, drehten sie häufig total durch.«
»Und Maryann Nygaard war eine von ihnen?«
Arne Pedersen klang skeptisch. Es war nicht leicht, sich eine hübsche, junge Frau sechs Monate lang isoliert mit elf Männern vorzustellen.
»Nein, nein, das wäre nicht gegangen. Hier draußen waren nur Männer, aber im amerikanischen Militär gibt es eine ganze Reihe höchst seltsamer Bestimmungen, und jetzt zitiere ich den Oberst selbst, und der muss ja wissen, wovon er redet. Eine dieser Regeln lautete, dass das gesamte medizinische Gerät einmal pro Jahr von einem Arzt oder einer Krankenschwester durchgesehen werden musste, und diese Regel wurde tatsächlich strikt eingehalten. Anlässlich einer dieser medizinischen Inspektionen kam Maryann Nygaard am 13. September 1983 hierher. Die Arbeit selbst dauerte in der Regel nur ein paar Stunden und erforderte überdies keinerlei Kontakt zu den Männern, aber irgendwann war sie einfach verschwunden. Niemand konnte sie finden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, sosehr die Männer auch suchten. Zu guter Letzt musste der Helikopter ohne sie zurückfliegen.«
Konrad Simonsen unterbrach ihn.
»Wissen Sie auch, wann das passiert ist? Also die Tageszeit? Ich meine, war es dunkel?«
»Nein, die Tageszeit weiß ich nicht, aber ich denke, dass wir einen umfassenden Bericht über die Umstände des Verschwindens auf dem Schreibtisch liegen haben, wenn wir zurück nach Nuuk kommen. Ich habe Kollegen, die daran arbeiten, und in Thule wird man das wohl auch tun. Die Amerikaner haben mir eine Liste der Männer versprochen, die sich zu dem entsprechenden Zeitpunkt auf DYE-5 befanden.«
»Diese Liste würde ich gerne haben.«
»Die bekommen Sie auch. Tja, aber viel mehr gibt es darüber nicht zu erzählen. Am nächsten Tag schickte die Basis einen größeren Suchtrupp aus, um sie vielleicht doch noch zu finden. Aber sosehr sie die Umgebung auch durchkämmten, es blieb ergebnislos, was man jetzt ja nachvollziehen kann. Sie kann hundert Meter von der DYE entfernt begraben worden sein, ohne dass sie auch nur die Spur einer Chance gehabt hätten, sie zu finden. Ich gehe davon aus, dass sie irgendwann offiziell für tot erklärt worden ist, aber das habe ich noch nicht bestätigt bekommen.«
»Wie weit war die Station von hier weg?«
»Das weiß ich leider nicht. Wir haben gestern ein paar Stunden nach Spuren der Station gesucht, aber nichts gefunden. Die Amerikaner können unglaublich effektiv sein, es ist also nicht sicher, ob wir den genauen Ort überhaupt finden, aber ich will das morgen noch einmal versuchen, mit ein paar mehr Leuten – wenn das für Sie in Ordnung ist.«
Letzteres war an Konrad Simonsen gerichtet.
»Natürlich, und lassen Sie mich hinzufügen, dass die Polizei in Nuuk wirklich gute Arbeit geleistet hat. Es ist fantastisch, was Sie in der Kürze der Zeit alles herausgefunden haben.«
Trond Egede nahm das Lob lächelnd entgegen. Dann blickte er auf die junge Frau und sagte ernst: »Ich habe im Laufe der Zeit eine ganze Reihe Morde gesehen, aber dieser hier lässt mich schaudern und macht mir Angst. Ich denke, Ihnen geht es auch nicht anders, das war doch sicher der Grund, weshalb Sie eben ein bisschen Zeit brauchten.«
Konrad Simonsen antwortete schwermütig: »Nein, das hatte leider andere Gründe, aber es ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um sie uns ein bisschen genauer anzuschauen. Arne, du bist der Jüngste von uns, kletterst du mal runter zu ihr? Kannst du mal ihre Nägel untersuchen? Wie sind die geschnitten?«
Die zwei anderen blickten unwillkürlich auf die Hände der Frau, als ihre Nägel zur Sprache kamen, aber von dort, wo sie standen, war nichts zu erkennen. Der Grönländer und Konrad Simonsen hielten Arne Pedersens Arme und bildeten ein Gegengewicht, damit er nach unten in das Grab der Frau klettern konnte. Er legte seinen Kopf neben ihre Schenkel – erst auf der einen, dann auf der anderen Seite –, bevor er Bericht erstattete: »Die hat sie nicht selber geschnitten, eine Frau würde das niemals so machen. Es sieht fast so aus, als wären die mit einer normalen Schere geschnitten worden, unregelmäßig und hastig. Wie konntest du das wissen? … Oh nein, Konrad.«
Auch der grönländische Kommissar hatte verstanden. Er starrte traurig vor sich auf das Eis. Trotzdem antwortete Konrad Simonsen: »Weil es leider schon das zweite Mal ist, dass ich eine junge Frau sehe, der man etwas derart Widerwärtiges angetan hat.«
In Kopenhagen war das Wetter unbeständig. Kurze, heftige Sommerschauer wechselten sich ab mit sonnigen Momenten, wodurch die Straßen schnell wieder trockneten und die Menschen ins Freie gelockt wurden, bis der nächste Schauer sie wieder zurück in ihre Häuser trieb. Die Ferien gingen ihrem Ende entgegen, aber noch immer waren ein paar Touristen in der Stadt, die sich durch ihr zielloses Schlendern und ihre etwas zu legere Kleidung von der Menge abhoben.
Konrad Simonsen sah aus dem Fenster seines Büros im Kopenhagener Polizeipräsidium und fragte sich ernsthaft, ob er jetzt auch noch Anzeichen einer Depression bei sich ausmachen konnte.
Es war inzwischen zwei Tage her, dass er auf dem grönländischen Inlandeis gestanden und die Leiche von Maryann Nygaard betrachtet hatte, und in diesen zwei Tagen war er nicht mehr er selbst gewesen. Zum ersten Mal in seiner langen Karriere bedrückte ihn ein Mord so sehr, dass er sich kaum noch auf dessen Aufklärung konzentrieren konnte. Er wusste ganz genau, dass seine Gemütslage in einem traurigen Zusammenhang mit einem anderen Mord stand, dessen Umstände nun erneut analysiert werden mussten. Eine Erkenntnis, die ihm aber auch nicht weiterhalf. Mühsam versuchte er sich einzureden, seine Reaktion sei ein Beweis für seine mentale Gesundheit, zeigte sie doch, dass er gefühlsmäßig noch nicht abgestumpft war. Aber das alles half nicht über die Tatsache hinweg, dass er seinen Schmerz nur mit Mühe weit genug eindämmen konnte, um seine tägliche Arbeit zu erledigen. Dazu kam noch seine angeschlagene Gesundheit, die er immer schlechter ignorieren konnte. In den letzten Tagen hatten seine Beine gekribbelt und gebrannt, so dass er am liebsten zu Hause geblieben wäre. Trotz des Verbotes hatte er weiter geraucht. Lediglich seine Diät hatte er einigermaßen eingehalten.
In der letzten Nacht hatte er vor Unruhe und Wut auf sich selbst kaum schlafen können. Die Gedanken hatten sein Hirn zum Kochen gebracht, bis die ersten Vogelstimmen seine Schlaflosigkeit verhöhnten. Das Schlimmste war aber, dass seine Beine keine Ruhe fanden, was er auch anstellte. Im Laufe des Vormittages hatte er sich immer wieder hoch und heilig versprochen, sich einen Termin beim Polizeipsychologen geben zu lassen, aber auch daraus war nichts geworden. Wie aus so vielen seiner Vorsätze. Stattdessen hatte er am Nachmittag einen anderen Termin gemacht, um sich selbst mit seinen Schuldgefühlen zu konfrontieren. Was auch immer dabei herauskam.
»Soll ich unten anrufen und sagen, dass du dich verspätest?«
Die Comtesse, die hinter ihm saß und ihn mit besorgter Miene musterte, klang ruhig. Er roch ihr Parfüm, frisch, optimistisch und vernünftig wie sie selbst. Er fühlte sich wie ausgekotzt oder wie etwas, womit man Fische fütterte. Als er nicht antwortete, argumentierte sie weiter: »Wir können es um eine halbe Stunde verschieben, das macht doch keinen Unterschied. Wir sollten uns nicht so unter Druck setzen, die Sache ist so schon schlimm genug.«
»Lass sie doch warten, verdammt«, fauchte Konrad Simonsen.
»Ja, ein bisschen können wir sie noch warten lassen, das tut ihnen nur gut.«
»Warum muss das eigentlich wieder so ein Volksauflauf sein? Das ist doch vollkommen verrückt. Ursprünglich war das als interne Besprechung geplant. Als Informationsrunde. Wie soll ich denn arbeiten, wenn alle immer zu meinen Besprechungen rennen?«
»Genau, das ist wirklich nicht gut.«
»Hör auf, mir nach dem Mund zu reden, kannst du nicht selbst denken?«
Es folgte beklommene Stille.
Was sollte er mit all dieser Fürsorge von Fremden, die wie ein Echo seines eigenen Selbstmitleids über ihn schwappte? Die Wut über das endlose Verständnis und die boshafte Geduld seiner Umwelt kochte in ihm hoch, und er schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor er sich mit aller Kraft zusammenriss.
»Entschuldige, Comtesse, das habe ich nicht so gemeint.«
»Ich weiß. Ist schon in Ordnung, ich bin ja nicht aus Glas.«
Es war eine ihrer guten Eigenschaften, sich nicht so schnell provozieren zu lassen. Sonst wäre ihre Beziehung schon längst zu Ende gewesen. So aber dauerte sie fort; zart, vorsichtig, wie bei zwei Dreizehnjährigen, die sich langsam einander annäherten. Mit kleinen zaghaften Schritten.
»Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich mich in den letzten vier Tagen entschuldigt habe – ich entschuldige mich bald bei jedem, mit dem ich rede. Das muss für euch doch unerträglich sein«, sagte Konrad Simonsen traurig.
»Mach dir darüber keine Gedanken, Konrad. Konzentrier dich. Ich rufe jetzt unten an und sage, dass du dich verspäten wirst.«
Er ließ sie gewähren. Was sie tat, war angemessen und vernünftig. Als sie die Nachricht durchgegeben hatte, kam er wieder auf die ungebetenen Gäste zu sprechen, die sich für die Dienstbesprechung angekündigt hatten.
»Was ist das eigentlich für ein Typ, der da aus dem Außenministerium kommt?«
»Irgend so ein hohes Tier, ich glaube, ein Abteilungsleiter. Seinen Namen kenne ich nicht – das heißt, ich erinnere mich nicht daran. Es gibt aber Gerüchte, dass das Büro des Polizeipräsidenten vollkommen außer sich über seine Teilnahme ist. Sie empfinden seine Anwesenheit als eine ungebührliche Einmischung, aber irgendjemand muss sie überstimmt haben.«
»Wirklich seltsam, das Ganze. Und mit welcher Begründung? Wieder wegen dieser Kanzlerin? Das macht doch keinen Sinn, das passt doch nicht zusammen.«
»Die Deutschen, die Amerikaner, die Grönländer, es gibt nur Vermutungen, niemand weiß wirklich etwas.«
»Kannst du versuchen, das rauszukriegen, Comtesse? Ich würde gerne verstehen, was da hinter den Kulissen meiner eigenen Ermittlungen vor sich geht.«
»Ja, kann ich machen.«
Plötzlich ließ Konrad Simonsen sich zu dem ersten Lächeln des Tages hinreißen und sagte beinahe munter: »Darum habe ich dich doch schon gestern gebeten, oder?«
»Einen guten Befehl kann man nicht oft genug geben.«
Sie lächelten beide, und die Stimmung lockerte sich. Dann ließ Konrad Simonsen sich schwer auf seinen Stuhl fallen.
»Du bist dir schon im Klaren darüber, auf was das alles hinauslaufen wird?«
»Wir alle haben die Akten des Stevns-Mordes gelesen, und niemand zweifelt daran, wie unangenehm das für euch, die ihr damals daran gearbeitet habt, sein muss. Insbesondere für dich.«
»Ja, mehr als unangenehm.«
»Fehler passieren. Wir sind nur Menschen, keine Götter.«
»Sie hat mich als Hund bezeichnet, nicht mal als Köter.«
»Jetzt kann ich dir nicht folgen, und das macht mir Angst, Konrad. Arne oder ich können gerne übernehmen, wenn du das nicht schaffst.«
»Nein, nein, ich versuche das selber. Das ist bestimmt am besten so.«
»Mag sein.«
»In Wahrheit habe ich Angst davor, was geschehen könnte, wenn ich das Handtuch werfe.«
»Dein Leben ist kein Boxkampf, Konrad, du musst vorsichtig sein. Es gibt Dinge, die kann man nicht allein lösen, Dinge, für die man Hilfe braucht, professionelle Hilfe.«
»Das weiß ich doch. Sag mal, was machst du heute Nachmittag?«
»Kommt darauf an, was du mir aufträgst.«
»Machst du mit mir einen Ausflug? Besuchen wir eine Frau, deren Mann 1998 Selbstmord begangen hat?«
Die Comtesse antwortete nicht, und Konrad Simonsen setzte sie nicht unter Druck.
Nach einer Weile sagte sie: »Du willst ihr sagen, dass ihr euch geirrt habt?«
»Dass ich mich geirrt habe.«
»Dass du und viele andere sich geirrt haben?«
»Sie hat die ganze Zeit über an ihren Mann geglaubt und nicht ein einziges Mal an seiner Unschuld gezweifelt. Sie hat mich damals als Hund beschimpft, etwas Schlimmeres ist nicht über ihre Lippen gekommen, obgleich ich ihr Leben zerstört habe, die letzten Reste ihres Lebens, nachdem ihre Tochter geschändet und erstickt worden war.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Ich habe ziemlich viel darüber nachgedacht, und ja, ich denke, es ist richtig. Außerdem ist das wohl das mindeste, was ich tun kann, schließlich war ich schuld an dem Justizmord an ihrem Mann.«
»Er ist nie verurteilt worden.«
»Das wäre er aber, die Beweise waren erdrückend.«
»Er wurde es aber nicht.«
»Selbstmord ist auch nicht viel besser. Das muss eine unglaubliche Qual für ihn gewesen sein.«
»Ich komme mit dir. Hast du schon einen Termin gemacht?«
»Ja, wir sollen um vier Uhr in Haslev sein.«
»Aber wenn das nicht so läuft, wie du dir das vorstellst, schaff ich dich da weg – auch gegen deinen Willen. Nur damit du es weißt. Und glaub mir, ich krieg dich da weg, wenn es darauf ankommt.«
Er begnügte sich damit, leicht mit den Schultern zu zucken, und fragte: »Würdest du mir noch einen Gefallen tun? Ich habe nachher noch eine Verabredung in Høje Taastrup, mit … mit einer Frau. Dürfte ich dich bitten, sie anzurufen und den Termin abzusagen? Dann kann ich mich noch ein bisschen ausruhen.«
Sie nickte entgegenkommend. Er schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel und reichte ihn ihr.
»Danke, dann lass uns in fünf Minuten nach unten gehen.«
Er ging, und die Comtesse rief an. Sie wusste genau, um wen es ging. Konrad Simonsens Hang, seine Fälle hin und wieder mit einer Frau in Høje Taastrup zu besprechen, die als Hellseherin galt, war eines der am schlechtesten bewahrten Geheimnisse des Morddezernats, wenn auch alle Mitarbeiter klug genug waren, so zu tun, als wüssten sie nichts davon. Die Comtesse selbst war sich nicht sicher, was sie von den Fähigkeiten dieser Frau halten sollte, weshalb der Verlauf dieses Gesprächs sie beunruhigte und verwirrte: Halten Sie an Steen Hansen fest, Baronesse, lassen Sie ihn nicht gehen, was auch immer passiert. Hängen Sie sich an ihn wie eine Klette, Sie dürfen sich nicht abschütteln lassen. Es geht um Leben und Tod. Was auch passiert, Baronesse, was auch passiert, es gibt nichts Wichtigeres als das.
Die eindringliche Aufforderung war zusammenhanglos erfolgt, ohne jede Erklärung. Wie ein Notruf, zwei-, drei-, fünfmal. Sie wusste nicht, wie oft, und erinnerte sich nur an die trockene, etwas kratzige Stimme, die noch in ihrem Kopf nachhallte, nachdem sie ihr etwas verstört versprochen hatte, zu tun, um was sie sie gebeten hatte. Allein die Art der Anrede – Baronesse – war ihr im höchsten Maße unangenehm gewesen. Nachdenklich starrte sie eine Weile vor sich hin, bis sie zwei Entschlüsse fasste. Sie wollte Konrad Simonsen nichts von diesem Gespräch erzählen, er hatte so schon genug am Hals, und sich auch selbst noch ein bisschen frisch machen.
Auf dem Weg über den Flur zum Vortragssaal ging alles plötzlich ganz schnell. Vielleicht waren sie doch zu früh aufgebrochen, denn sie hatten noch so viel zu besprechen, dass es jetzt auf jede Sekunde ankam. Konrad Simonsen sagte vorsichtig: »Ich habe wirklich Angst, dass mir die Tränen kommen, wenn ich von der jungen Frau erzähle. Ein heulender Chefermittler wäre ja wohl eine tolle Sache.«
»Und was, wenn du nur die erste Hälfte machst und Arne den Rest überlässt? Du brauchst Ruhe, das sehe ich dir an.«
»Okay, das ist eine gute Idee.«
Die Antwort überrumpelte sie derart, dass sie sich räuspern musste, um nicht all die guten Argumente vorzubringen, die sie sich zurechtgelegt hatte.
Sie kamen an einer Putzfrau vorbei, die mit einem tivolifarbigen Staubwedel an einer langen Bambusstange die Spinnweben unter der Decke einsammelte. Als hätten sie es verabredet, schwiegen sie, als sie an ihr vorbeigingen. Die Frau lächelte ihnen flüchtig zu, während sie mit sparsamen Bewegungen und scharfem Blick mit ihrer Arbeit fortfuhr. Als sie außer Hörweite waren, fuhr die Comtesse fort: »Und ich denke, du solltest überlegen, für eine Woche zu mir zu ziehen, das würde dir bestimmt guttun.«
Der Vorschlag kam überraschend. So weit waren sie eigentlich noch nicht. Glaubten sie. Aber Konrad Simonsen wurde nicht einmal langsamer, als er antwortete: »Gerne.«
Manchmal war das Leben gar nicht so kompliziert. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und hielt ihn sanft zurück. Normalerweise küssten sie sich nie während der Arbeit, und auch privat passierte das nur selten. Jetzt geschah es. Würdevoll, mit passendem Abstand und Kussmund, wie die Figuren in einem Vaudeville.
Die erste gemeinsame Dienstbesprechung des neuen Falls wurde in einem der großen Vortragssäle des Präsidiums abgehalten. Der Grund dafür war nicht die Anzahl der teilnehmenden Personen, sondern ein riesiger Touchscreen, der zwei Bilder auf einmal zeigen konnte, und deshalb bestens geeignet war für fotografische Gegenüberstellungen. Gerade die parallelen Bilder der zwei Frauenmorde machten die traurige Botschaft dieser morgendlichen Besprechung deutlich. Das weitere Vorgehen des Morddezernats konnte in dieser Sitzung nicht wie geplant besprochen werden, da sich sowohl Vertreter des Außenministeriums als auch des Büros des obersten Polizeichefs angekündigt hatten. Das mussten sie später im kleineren Kreis klären. Zu den anderen Anwesenden zählten Pauline Berg und Arne Pedersen, zwei der engsten Mitarbeiter von Konrad Simonsen im Morddezernat, und der Student Malte Brorup, der als Computergenie oben im ersten Stock im Vorführraum saß und die Bilder präsentierte, die er zusammengestellt hatte.
Konrad Simonsen nickte seinen Zuhörern kurz zu, als er zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit ankam. Alle hatten in der ersten oder zweiten Reihe Platz genommen, Pauline Berg und Arne Pedersen etwas abseits der anderen am Rand. Die Comtesse setzte sich auf einen freien Stuhl neben Arne Pedersen, stand aber gleich wieder auf, als sich der Vertreter des Außenministeriums auf Konrad stürzte, noch bevor dieser ein Wort sagen konnte.
»Lassen Sie mich das gleich klarstellen, Herr Kriminalhauptkommissar Simonsen, das ist das allerletzte Mal, dass Sie mich haben warten lassen. Haben Sie verstanden?«
Der Mann im mittleren Alter war relativ klein und wirkte auf den ersten Blick harmlos. In Anbetracht seiner beruflichen Tätigkeit saß sein Anzug seltsam unharmonisch, und auch seine Haare konnten durchaus einen Kamm vertragen. Seine Worte ließen aber keinen Zweifel daran, dass ihm nur selten widersprochen wurde. Nicht einmal seine seltsam hohe Stimme, die fast wie die eines Kindes klang, änderte etwas an dem Eindruck, dass er ein Machtmensch war, mit dem man sich nicht ungestraft anlegte. Die Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der er seine Rüge vorgetragen hatte, unterstützten seine Autorität.
Die Comtesse versuchte, die Schuld für die Verspätung auf sich zu nehmen. Man brauchte keine Hellseherin, um vorauszusehen, dass ein instabiler Ermittlungschef und ein aufgeblasener Bürokrat ein ungenießbarer Cocktail sein würden. Die Rettung kam aber von unerwarteter Seite und in Gestalt der Sekretärin aus dem Vorzimmer des obersten Polizeichefs, die sonst für ihre Freundlichkeit bekannt war. Ihre Stimme schnitt sich plötzlich aggressiv und für alle hörbar durch das Stimmengewirr und ließ keinen Zweifel daran, wem ihre Worte galten, obwohl sie nicht einmal aufgestanden war.
»Ich soll Grüße vom Polizeichef ausrichten und sagen, dass Sie hier Gast sind und – sollten Sie sich nicht anständig aufführen – abzischen sollen. Letzteres hat er wörtlich gesagt und mich explizit darum gebeten, es auch so wiederzugeben. Im Übrigen bittet er alle um Entschuldigung, dass er in der hohen Diplomatie nicht so geschult ist.«
Der Mann aus dem Außenministerium erhob sich würdevoll und verließ in angespanntem Schweigen den Raum, ohne sich von Albert Einstein, der ihm die Zunge rausstreckte, beeinflussen zu lassen. Malte Brorup hatte – geistesgegenwärtig, wie er war – dieses Bild aus dem Hut gezaubert und auf den Bildschirm projiziert. Gleich darauf ging auch die Sekretärin mit dem knappen Kommentar, dass ihre Anwesenheit jetzt ja nicht mehr erforderlich sei.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, sprach Arne Pedersen aus, was alle dachten: »Mann, war das klasse! Vielleicht können wir jetzt sogar arbeiten. Um das Nachspiel kümmern wir uns dann später, denn dass wir damit rechnen müssen, ist wohl klar. Dieser Gnom ist schließlich nicht irgendwer. Malte, dir drohen mindestens fünf Jahre Deportation.«
Konrad Simonsen, der während der ganzen Zeit nichts gesagt hatte, erwachte plötzlich und zeigte Tatendrang.
»Nutzen wir lieber die Zeit. Malte, zeig die ersten Bilder. Ergreift übrigens alle das Wort, wenn ihr etwas Vernünftiges zu sagen habt. Jetzt brauchen wir das Ganze ja nicht mehr so formell zu machen.«
Die Bilder der beiden ermordeten Frauen dämpften die neu gewonnene Munterkeit der Anwesenden schnell. Die Fotografien waren genau ausgewählt worden, so dass Kamerawinkel und Abstand möglichst übereinstimmten, was die Ähnlichkeit der beiden Fälle deutlich werden ließ. Konrad Simonsen ergänzte: »Die Frau auf dem linken Foto ist Maryann Nygaard. Sie wurde am 13. September 1983 in der DYE-5-Station auf dem grönländischen Inlandeis ermordet und vor gut einer Woche unter den euch allen bekannten Umständen gefunden. Die Frau rechts ist Catherine Thomsen. Sie wurde am 5. April 1997 am Nordstrand vor Stevns Klint ermordet. Ihre Leiche wurde gut acht Monate später von zwei Hobbyarchäologen entdeckt, die mit ihrem Metalldetektor ihr Armband gefunden hatten. Es gibt eine lange Liste von Übereinstimmungen zwischen den beiden Morden, so dass ich zu der Auffassung gekommen bin, dass wir es ohne Zweifel mit demselben Täter zu tun haben. Trotzdem möchte ich euch bitten, mit offenen Ohren und einer gesunden Portion Skepsis zuzuhören. Jeder und jede von euch weiß, wie fatal es wäre, sollten wir zu falschen Schlüssen kommen.«
Alle Anwesenden waren sich einig.
Konrad Simonsen fuhr fort: »Die Hände beider Frauen wurden vor ihrem Tod mit Klebeband über ihren Knien an den Schenkeln befestigt. Auch die Knöchel wurden mit Klebeband gefesselt. Beide Frauen trugen nur Slip und Unterhemd. Wie ihr sehen könnt, sind die Brüste in beiden Fällen entblößt oder wenigstens teilweise entblößt, da ihre Blusen vorne zerrissen wurden. Wir wissen, dass Catherine Thomsen einen BH trug, der muss also entfernt worden sein. Entsprechende Informationen haben wir über Maryann Nygaard zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Die Nägel beider Frauen wurden höchstwahrscheinlich vom Täter geschnitten. Beide sind unmittelbar nach ihrem Tod beerdigt worden – Maryann Nygaard im Eis und Catherine Thomsen im Kies, und zwar so dicht am Wasser, dass sie regelmäßig überspült und so einigermaßen konserviert wurde. Beiden Frauen wurden vor ihrem Tod die Lippen knallrot angemalt, und in den Mundhöhlen und Kehlen beider Opfer sowie an ihren Schenkeln fanden sich Textilfasern, vermutlich von einem Lappen, der ihnen in den Mund gepresst worden ist. Bei Catherine Thomsen können wir an einigen dieser Fasern definitiv mikroskopische Spuren von Lippenstift nachweisen, woraus die Kriminaltechniker geschlossen haben, dass der Täter ihr die Lippen geschminkt haben muss, während sie den Lappen im Mund hatte. Ob der Mörder auch bei Maryann Nygaard so vorgegangen ist, wissen wir erst nach dem definitiven Obduktionsbericht, und den kriegen wir erst in ein paar Tagen. Schließlich wurden beide Frauen mit einer durchsichtigen Plastiktüte erstickt, die er ihnen über den Kopf gestülpt und am Hals befestigt hat. Der Lappen muss vorher aus ihrem Mund entfernt worden sein.«
Konrad Simonsen machte eine kurze Pause. Keiner der Anwesenden sagte etwas, die Stimmung war gedrückt. Malte Brorup, der die Argumente seines Chefs mit den entsprechenden Nahaufnahmen illustriert hatte, zeigte wieder die ersten beiden Fotos. Dann ging es weiter: »Dazu kommt eine Reihe von Übereinstimmungen, die zufällig sein können. Urteilt selbst. Maryann Nygaard war bei ihrem Tod dreiundzwanzig Jahre alt, Catherine Thomsen zweiundzwanzig. Beide Frauen waren mittelgroß und schlank, mit einem beinahe athletischen Körperbau. Beide Frauen hatten schwarze, lockige Haare, die ihnen bis zum Rücken reichten, und in beiden Fällen waren die Haare offen, als man sie fand. Betrachtet man ihre Gesichter, finden sich auch dort viele Ähnlichkeiten. Beide waren hübsch, mit feinen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und braunen Augen. Natürlich gibt es auch Unterschiede, besonders im Bereich der Nasenpartie, aber ohne einen objektiven Beweis dafür zu haben, finde ich, dass sie sich ziemlich ähnlich sahen.«
Arne Pedersen nahm Pauline Bergs Hand. Sie missverstand ihn und wies ihn beim ersten Mal ärgerlich ab, bloß um gleich darauf zu erstarren und erschüttert nach seiner Hand zu greifen.