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Lotte Hammer

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Beschreibung

Unfall oder Mord? Ein einfacher Fall soll es sein, mit dem Kommissar Simonson nach einem Herzinfarkt die Wiedereingliederung beginnt. Wie der Treppensturz von Jørgen Kramer Nielsen. Dies wäre aber kein Krimi des dänischen Geschwisterpaares Hammer, wenn die Frage so simpel wäre. Wenn der Versuch, sie zu beantworten, nicht ganz andere, viel schwerwiegendere Fragen aufwerfen würde. So wird Simonson in ein Geflecht miteinander verwobener Schicksale verwickelt, durch das Lotte und Søren Hammer ihre Leser mit geübter Hand in die Vergangenheit führen, ins Jahr 1969, wo sechs Abiturienten den Klub der einsamen Herzen gründen. Außenseiter sind sie und wollen doch nur dazugehören. Als sie der Ausreißerin Lucy begegnen, scheint plötzlich alles möglich – nur um sich dann auf gefährliche Weise ins Gegenteil zu verkehren.

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Ähnliche


Lotte & Søren Hammer

Einsame Herzen

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Unfall oder Mord? Ein einfacher Fall soll es sein, mit dem Kommissar Simonson nach einem Herzinfarkt die Wiedereingliederung beginnt. Wie der Treppensturz von Jørgen Kramer Nielsen. Dies wäre aber kein Krimi des dänischen Geschwisterpaares Hammer, wenn die Frage so simpel wäre. Wenn der Versuch, sie zu beantworten, nicht ganz andere, viel schwerwiegendere Fragen aufwerfen würde. So wird Simonson in ein Geflecht miteinander verwobener Schicksale verwickelt, durch das Lotte und Søren Hammer ihre Leser mit geübter Hand in die Vergangenheit führen, ins Jahr 1969, wo sechs Abiturienten den Klub der einsamen Herzen gründen. Außenseiter sind sie und wollen doch nur dazugehören. Als sie der Ausreißerin Lucy begegnen, scheint plötzlich alles möglich – nur um sich dann auf gefährliche Weise ins Gegenteil zu verkehren.

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Für Merete Borre

… eine wunderbare Frau und eine ausgezeichnete Lektorin

1

Der 13. August war ein grauer, windiger Tag. In der Innenstadt war die Nacht verhältnismäßig friedlich verlaufen: ein paar Kneipenschlägereien, eine harmlose Messerstecherei, eine Handvoll Besoffener und eine Drogentote, die an einer Überdosis gestorben war – nichts Außergewöhnliches.

Außer vielleicht dem Besoffenen, der sich am frühen Morgen mit zwei Streifenwagen eine Verfolgungsjagd geliefert hatte und tatsächlich entkommen war. Mit quietschenden Reifen und mehr als hundert Stundenkilometern war er von der Sydhavnsgade in den Sluseholmen geschleudert, wo er nach rechts in die schmale Gasse Ved Stigbordene abgebogen war und das Gaspedal ganz durchgedrückt hatte. Mit triumphierendem Blick in den Rückspiegel war er dann mit Vollgas ins Hafenbecken gerauscht. Die Taucher suchten noch immer nach ihm, aber dank der starken Strömung schien er tatsächlich entkommen zu sein. Auf jeden Fall konnte es lange dauern, bis sie ihn fanden. Alle hofften, dass er es noch rechtzeitig aus dem Auto geschafft und sich an Land gerettet hatte, aber sicher waren sie nicht.

Über den Platz vor dem Polizeipräsidium lief ein Junge. Er hatte ziemliches Übergewicht. Am Zebrastreifen vor dem Haupteingang sah er sorgsam in beide Richtungen, bis er mühsam und langsam die Straße überquerte. Auf der anderen Seite blieb er stehen und wischte sich mit einem Taschentuch, das er aus seiner Hosentasche zog, über das Gesicht. Dann ging er weiter in Richtung Niels Brocks Gade. Seine Füße schmerzten, aber bis zu seiner Schule war es noch ein ganzes Stück. Die Menschen, die ihm entgegenkamen, sahen ihn betroffen und vielleicht etwas mitleidig an, als sie an ihm vorbeihasteten, oder sie ignorierten ihn einfach.

Die Kleidung des Jungen war ebenso trist wie er selbst. Dabei fehlte es seinen Eltern nicht an Geld. Das war seine Art, aufzubegehren und seinen Protest zu zeigen. Er trug alte, ausgelatschte Joggingschuhe, verwaschene Jeans, die so tief saßen, dass sein Bauch darüber hervorquoll, und eine beige Windjacke, deren Reißverschluss halb geöffnet war. Er hatte einen Arm wie in eine Schlinge hineingeschoben. Er schwitzte. Bei seiner natürlichen Polsterung hätte er keine Jacke tragen müssen, da es nicht wirklich kalt war. Aber er brauchte sie, denn die Hand in der Jacke umklammerte eine Maschinenpistole.

Es war 8.16 Uhr, Mittwochmorgen.

* * *

Wäre Hauptkommissar Konrad Simonsen von seinem Stuhl aufgestanden und ans Fenster getreten, hätte er den Jungen unten vorbeigehen sehen. Aber er blieb sitzen und musterte die telefonierende Polizeipräsidentin. Die Frau war bekannt für ihre geschmacklose, meist ziemlich ausgefallene Kleidung, und auch das heutige Outfit bildete keine Ausnahme. Sie trug eine figurbetonte, blau-grün karierte Jacke und eine gestreifte Hose in ähnlichen, aber eben nur ähnlichen Farben. Es fehlt eigentlich nur noch ein totes Tier um ihren Hals, um das Grauen perfekt zu machen, dachte Konrad Simonsen.

Es war sein erster Arbeitstag nach acht Wochen Rekonvaleszenz, und zu seinem eigenen Erstaunen war er am Morgen nervös gewesen. Inzwischen war die Nervosität verflogen. Er starrte auf das Porträt der Königin an der Wand und versuchte, seine Verärgerung herunterzuschlucken. Dann zwinkerte er der Majestät zu, als hätte er in ihr eine Alliierte, und richtete seinen Blick auf die dünne Fallakte, die auf dem Schreibtisch lag.

Endlich beendete die Polizeipräsidentin ihr Telefonat und lächelte ihn freundlich an. Es sah fast so aus, als käme es von Herzen. Sie begann ihr Gespräch, indem sie ihm umständlich von den vielen Kollegen erzählte, die sich bei ihr nach seinem Befinden erkundigt hatten.

»Einige haben mich sogar privat angerufen.«

»Nein, wirklich … erstaunlich. Damit hätte ich nicht gerechnet.«

»Ja, sehen Sie, Sie dürfen sich ruhig freuen, dass Ihre Kollegen sich um Sie sorgen.«

Gleich darauf wechselte sie das Thema: »Ich habe mich dazu entschieden, Ihren offiziellen Status nicht zu ändern. Sie sind noch immer der Leiter des Morddezernats, in der Praxis macht diese Arbeit jetzt aber Arne Petersen …«

»Arne Pedersen. Er heißt Pedersen, nicht Petersen.«

Arne Pedersen war einer von Konrad Simonsens engsten Mitarbeitern, ein Mann Ende dreißig, kompetent und mit schneller Auffassungsgabe. Es hatte immer in der Luft gelegen, dass er Konrad irgendwann als Leiter der Mordkommission beerben würde, so dass es nur folgerichtig war, dass er ihn in den letzten Monaten vertreten hatte.

»Tut mir leid, ich werde versuchen, mir das zu merken«, entschuldigte sich die Polizeipräsidentin. »Er wird jedenfalls die Abteilung de facto weiter leiten, bis ich das Gefühl habe, dass Sie wieder fit genug sind. Jetzt am Anfang werden Sie nur drei, maximal vier Stunden pro Tag arbeiten. Haben Sie das verstanden?«

Er nickte. Sie wiederholte ihre Anweisung langsam, Silbe für Silbe: »Drei, maximal vier Stunden pro Tag«, und betonte, dass alle in seinem Team verpflichtet seien, ihr direkt Bericht zu erstatten, sollte er sich nicht an diese zeitliche Befristung halten.

»Wenn Sie zu erschöpft sind, bleiben Sie zu Hause. Vergessen Sie nicht, die Friedhöfe sind voll von unentbehrlichen Menschen.«

»Natürlich. Darf ich selber entscheiden, wann ich meine vier Stunden absolviere, oder haben Sie da auch konkrete Vorstellungen?«

Die Ironie war vergebens, sie antwortete ihm voller Ernst.

»Zu Beginn dürfen Sie das gerne selbst entscheiden, später sehen wir dann, ob wir damit zurechtkommen.«

»Danke, bekomme ich jetzt meinen Fall?«

Sie überhörte seine Frage.

»Wir haben Ihr Büro während Ihrer Krankheit umgebaut. Sie haben jetzt einen Extraraum mit Sofa, falls Sie sich ein wenig ausruhen müssen«, erklärte sie ihm voller Stolz.

Er bedankte sich halbherzig und fühlte sich plötzlich alt. Dann endlich öffnete sie die Akte, die vor ihr lag.

Ihr Blick flackerte, als sie sagte: »Also, ein richtiger Fall ist das nicht. Es ist aber mein ausdrücklicher Wunsch, dass diese Angelegenheit ordnungsgemäß abgeschlossen wird.«

Sie tippte mit den Fingern auf die Papiere und erläuterte ihm den Inhalt. Er sah sie verwundert an, das war wirklich kein Fall.

»Wendet sich nun schon die Vizechefin der parlamentarischen Rechtskommission direkt an Sie, um sich in die Arbeit der Polizei einzumischen?«, fragte er zornig. »Das ist doch unerhört.«

»Ich weiß selbst, dass das nicht gut ist, Konrad. Aber können Sie nicht ein paar Zeugen befragen und … ja, sich ein bisschen mit der Sache vertraut machen. Und dann einen Bericht schreiben, den …«

Sie zögerte, und er vollendete ihren Satz.

»… den Sie ihr dann vorlegen können.«

Die Polizeipräsidentin nickte.

»Sie dürfen die Arbeit auch delegieren, ich mische mich auch nicht in Ihre Vorgehensweise ein, aber treten Sie nicht zu forsch auf. Ich glaube wirklich, dass dies hier für den Anfang der richtige Fall für Sie ist. Ich meine, um erst mal wieder in Gang zu kommen.«

Konrad Simonsen zog die Akte zu sich herüber.

»Das ist kein Fall.«

* * *

Der Junge mit der Maschinenpistole kam an seiner Schule in der Marmorgade an. Der längliche, vierstöckige Ziegelbau vom Anfang des letzten Jahrhunderts lag zwischen dem H.C. Andersens Boulevard und der Vester Voldgade. Der Schulhof grenzte an die Straße an und war nur durch eine niedrige Hecke vom Bürgersteig getrennt. Eine monströse Granittreppe führte zu dem überdimensionierten Haupteingang, dessen grüne Doppeltür ganz und gar nicht zur Architektur des übrigen Gebäudes passte. Auf dem Weg zu dieser Tür wurde der Junge durch ein Fenster von seiner Klassenlehrerin gesehen. Sie wollte ihn schon länger auf das Thema Pünktlichkeit ansprechen, mit der er schon vor den Sommerferien Probleme gehabt hatte, und dieser negative Trend hatte sich seit Schulbeginn fortgesetzt. Warum sollte sie das nicht gleich jetzt mit ihm bereden und sich so den Weg in den dritten Stock sparen. Sie öffnete das Fenster und rief seinen Namen, aber zu ihrer Verwunderung reagierte er nicht, obwohl er weniger als fünf Meter entfernt war. Sie seufzte. Das sah ihm gar nicht ähnlich, aber der Junge hatte es sicher auch nicht immer leicht.

Als der Junge die Treppen in den Gang seines Klassenzimmers erklommen hatte, setzte er sich auf eine Bank und atmete tief durch. Seine Verschnaufpause wurde länger als geplant, aber er war müde und nervös und musste sich erst einmal sammeln. Erst als er ein paar Minuten später seine Klassenlehrerin sah, die mit einem Stapel Papiere unter dem Arm und einem zielgerichteten Lächeln auf ihn zukam, stand er auf und ging ins Klassenzimmer.

Keiner seiner Klassenkameraden nahm Notiz von ihm, obwohl er durch ihr Blickfeld zu seinem Platz ging. Der Junge atmete noch einmal tief durch, setzte sich aber nicht. Er lehnte sich neben seinem Tisch an die Wand. Nicht einmal der Referendar, der an der Tafel stand und über unregelmäßige englische Verben redete, ließ sich von dem verspäteten Kommen des Jungen stören. Er drehte den Kopf und warf ihm einen kurzen, gleichgültigen Blick zu, bevor er mit dem Unterricht fortfuhr. Der Junge musterte ihn lange und intensiv und spürte, wie der aufbrodelnde Hass ihm Mut machte.

Der Referendar war ein blonder, leger gekleideter Mann Anfang dreißig mit einem gewinnenden Wesen und einem hübschen, klassischen Profil. Als ahnte er etwas, drehte der Referendar den Kopf und schaute über die Schulter nach hinten. Der kurze, schwarze Lauf der Waffe war direkt auf ihn gerichtet. Tunnelblick, Adrenalin. Er reagierte mit beeindruckender Geschwindigkeit und war mit drei schnellen Schritten an der Tür. Er schaffte es sogar noch, die Hand auf die Klinke zu legen, bevor die Maschinenpistole ihre Kugeln ausrotzte.

37 Schüsse in weniger als zwei Sekunden.

Später wurde jeder Schuss genau registriert: elf Kugeln hatten das Opfer in den Rücken getroffen, drei in den Kopf, eine einzelne in den linken Oberarm. Der Referendar war bereits tot, als er auf den Boden aufschlug. Die restlichen 22 Schüsse hatten allesamt die Klassentür durchschlagen, ziemlich weit oben, vermutlich, weil der Junge nicht mit dem Rückstoß der Waffe gerechnet hatte, der den Lauf nach oben verriss. Drei Kugeln jedoch hatten etwa in Brusthöhe die Tür durchdrungen, und eine davon hatte die Klassenlehrerin des Jungen getroffen, die just in der Sekunde auf der anderen Seite der Tür angekommen war. Der Schuss durchbohrte ihre Hand, während ein weiterer Schuss einen Splitter aus dem Holz der Tür riss, der in die rechte Augenhöhle der Frau drang und zwischen Augapfel und Wangenknocken stecken blieb, ohne größeren Schaden anzurichten.

Die Frau spürte keinen Schmerz, als sie getroffen wurde, nur Überraschung. Wie im Reflex fasste sie sich ans Auge und zog den Splitter heraus. Dann sah sie verwundert auf ihre Hand und wurde ohnmächtig. Sie konnte kein Blut sehen.

Im Klassenzimmer brach Panik aus. Die meisten Schüler schrien und versuchten, so weit wie möglich von dem Jungen wegzukommen. Einer sprang, ohne zu zögern, aus einem geöffneten Fenster im hinteren Teil des Klassenzimmers. Er hatte Wahnsinnsglück, da er nicht auf dem Asphalt des Schulhofs aufschlug, sondern auf dem Dach eines Lieferwagens, der gerade ausgeladen wurde. Er kam mit einem gebrochenen Handgelenk und tiefen Hautabschürfungen an der Wange davon. Ein Mädchen kroch in einen Schrank und schaffte es, die Tür hinter sich zuzuziehen. Sie kauerte sich zitternd in Embryonalstellung zusammen, panisch darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Der Rest der Klasse drängte sich in einer Ecke zusammen, einige pressten sich an die Wand, andere auf den Boden, als würde ihnen das helfen, falls weitere Schüsse fielen. Die Schreie verstummten, nur vereinzeltes Schluchzen war zu hören. Alle starrten voller Entsetzen auf den Mörder und verfolgten angsterfüllt jede Bewegung seiner Waffe. Der Junge setzte sich verwirrt und benebelt auf einen Stuhl. Auch er weinte.

* * *

Nach seinem Treffen mit der Polizeipräsidentin begab sich Konrad Simonsen mit der Akte unterm Arm in sein Büro. Auf dem Weg wurde ihm bewusst, dass es ihm eigentlich gar nicht unrecht war, ganz allmählich und langsam wieder in seinen Arbeitsalltag einzusteigen mit so einem unbedeutenden und sinnlosen Fall. Ein Gedanke, der ihn gleichermaßen verwunderte und beruhigte.

Wie seine Chefin gesagt hatte, war sein Büro während seiner Abwesenheit erweitert und mit dem Nebenraum verbunden worden. Vorher war dort ein Lager für Büromaterial und ausrangierte Computer und Bildschirme gewesen. Jetzt diente dieser Raum als privates Extrabüro für ihn. Das Zimmer war frisch gestrichen und mit einem großen Teppich, einem leicht ramponierten Ledersofa, einem Kühlschrank und einer Kaffeemaschine ausgestattet worden und dem 50-Zoll-Fernseher, den er von Poul Troulsen übernommen hatte, einem früheren Mitarbeiter, der in Rente gegangen war. Auf dem länglichen Couchtisch standen Kaffee, Brötchen und ein gewaltiger Blumenstrauß. Seine engsten Kollegen erwarteten ihn, darunter die Comtesse, seine Lebensgefährtin, mit der er seit gut einem Jahr in ihrem Haus in Søllerød wohnte, ohne seine Wohnung in Valby zu verkaufen und – wohl hauptsächlich wegen seiner Herzprobleme – eigenem Schlafzimmer im Erdgeschoss. Sie begrüßte ihn mit einem Kuss, eine Zärtlichkeit, die sie sich während der Arbeit nur selten erlaubten. Er sah sich um.

»Wie hast du es geschafft, das geheim zu halten!«

»Sonst wär’s ja keine Überraschung gewesen. Arne kommt gleich, er hat noch einen Anruf erhalten.«

Er begrüßte die Anwesenden und erblickte Pauline Berg, eine Endzwanzigerin, die zu seinen engsten Mitarbeiterinnen zählte. Früher, jedenfalls. Er hatte sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Im September vergangenen Jahres war sie im Zusammenhang mit einem Fall, den das Morddezernat bearbeitet hatte, selbst Opfer einer Entführung geworden. Ein geistig gestörter Mann hatte sie und eine andere Frau in einem Bunker in Hareskoven gefangen gehalten. Er hatte die andere Frau vor ihren Augen ermordet und Pauline dann ihrem Schicksal überlassen. Sie war im letzten Augenblick gefunden worden. Seit damals hatte er nur sporadisch von ihr gehört. Sie hatte ihr Haus in Reerslev verkauft und eine Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses in Rødovre erworben, wo sie allein wohnte. Noch lange, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie Angst, ihre Wohnung zu verlassen. Aber noch viele andere Dinge riefen bei ihr Angstzustände hervor, unter anderem Katzen und Keller. Außerdem litt sie unter extremen Stimmungsschwankungen und hatte Schwierigkeiten, sich mit fremden Menschen zu umgeben. Ein besonderes Problem hatte sie mit Männern, außer sie nahm selber Kontakt zu ihnen auf. Sie musste während seiner Auszeit wieder mit der Arbeit angefangen haben. Er hatte prompt ein schlechtes Gewissen, als er sie jetzt sah. Als ihr Chef hätte er sich mehr um sie kümmern müssen. Aber zwischenmenschliche Angelegenheiten waren nie seine Stärke gewesen.

Er begrüßte sie freundlich und bemerkte ihre kurzen Haare und ihre nachlässige Kleidung. Sie richtete sich auf dem Sofa auf und lächelte ihn an, ein trauriges Lächeln, gefolgt von einem Schulterzucken, das ihm mehr als alle Worte sagte, wie sehr sie sich wünschte, dass alles ganz anders gelaufen wäre. Das traf wohl für sie beide zu, dachte er und sagte, an alle gerichtet: »Danke für diesen tollen Empfang und für die schönen Blumen.«

Mehr fiel ihm nicht ein. »Vielleicht sollten wir mit dem Frühstück anfangen, das sieht ja wirklich lecker aus.«

Im gleichen Moment wurde die Tür seines Büros aufgerissen, und Arne Pedersen stürmte mit weit aufgerissenen Augen in den Raum. Er nahm Konrad Simonsens Arm und rief: »Ihr müsst alle sofort kommen. Amoklauf in einer Schule. Gleich hier um die Ecke in der Marmorgade.«

Er wedelte mit seiner freien Hand herum und deutete in die der Schule entgegengesetzte Richtung.

»Ein Schüler mit Automatikgewehr. Das ist das reinste Massaker.«

* * *

Als Konrad Simonsen auf dem Schulhof in der Marmorgade ankam, herrschte heilloses Chaos. Niemand hatte einen Überblick über die Situation, und es war kaum herauszufinden, was konkret geschehen war. Schlimmer war allerdings die völlig unkoordinierte Räumung des Schulgeländes. Kinder und Erwachsene rannten durcheinander. Jemand hatte den Feueralarm der Schule ausgelöst, weshalb einige Lehrer von einer Brandschutzübung ausgingen und ihre Schüler – streng nach Vorschrift – auf dem Schulhof zu sammeln versuchten. Auf der Straße vor der Schule waren Schaulustige zusammengelaufen, die sich an der Hecke drängten, und im Haus gegenüber hingen die Leute aus den Fenstern, um ja nichts zu verpassen. Die Polizei war mit vielen Einsatzkräften zur Stelle, aber auch ihr Einsatz war unkoordiniert, die meisten standen nur wartend herum und starrten nach oben zu den Fenstern.

Nachdem er einige Lehrer befragt hatte, die nichts Konkretes wussten, hatte Konrad Simonsen endlich Glück. Eine Sekretärin hatte mit dem Schüler gesprochen, der aus dem Fenster gesprungen war, um sich aus seiner Klasse zu retten. Der Junge war mittlerweile ins Krankenhaus gebracht worden, aber sein Bericht half ihm weiter.

Es stand damit ziemlich sicher fest, dass ein Schüler der zehnten Klasse, Robert Steen Hertz, im Klassenzimmer geschossen und einen Lehrer getötet hatte, und dass er im Besitz einer automatischen Waffe war. Der Junge befand sich vermutlich noch in seinem Klassenzimmer im zweiten Stock und hatte seine Klassenkameraden als Geiseln genommen, wenn er sie nicht bereits erschossen hatte; das wusste niemand. Das Klassenzimmer hatte vier Fenster zum Schulhof, die die Sekretärin ihm zeigte. Sie befanden sich etwa in der Mitte des Gebäudes.

Konrad Simonsen kannte sich mit Amokläufen in Schulen nicht aus, aber ihm war klar, jeder Amokschütze geriet irgendwann in einen Blutrausch und hatte nur noch das eine Ziel, so viele Menschen wie nur möglich zu töten, um des Tötens willen. Er sah sich mit einem Schaudern auf dem Schulhof um. Wenn der Junge mit seinem Automatikgewehr aus dem Fenster im zweiten Stock feuerte, würde es unzählige Tote geben.

Jetzt kam es darauf an, den Schulhof schnellstmöglich zu räumen, dann die Schaulustigen von der Straße zu holen und dafür zu sorgen, dass die Bewohner des Hauses gegenüber von ihren Fenstern wegblieben.

Er schrie Arne Pedersen ins Ohr: »Lass den Schulhof räumen und sperr beide Seiten ab.« Dann schnappte er sich die Beamten, die in seiner Nähe standen, und einige Lehrer und wies sie eilig ein. Alle Schüler und Lehrer sollten den Schulhof umgehend verlassen, schnell, aber ohne zu rennen und vor allem ohne Protest. Er wiederholte seinen Befehl und verschwand in Richtung Schulhofmitte, wo er die nächste Gruppe instruierte. Ein Beamter reichte ihm ein Megafon. Seine Stimme hallte zwischen den Gebäuden wider.

»Gehen Sie alle zügig auf die Straße und weg von der Schule! Beeilen Sie sich, ohne zu laufen. Die Großen passen auf die Kleinen auf. Und halten Sie den Ausgang frei. Kein Gerenne, keine Proteste, sonst wird vom Pfefferspray oder den Schlagstöcken Gebrauch gemacht, der Ausgang muss frei bleiben.«

Die letzten Befehle richteten sich an die anwesenden Beamten, und auch wenn er für diese Durchsage keine Prämie für präzise Kommunikation erhalten würde, wurde er verstanden.

Seine Worte zeigten Wirkung. Der Schulhof leerte sich überraschend schnell, und bald darauf war auch die Straße vor dem Gebäude menschenleer. Konrad Simonsen ließ das Megafon fallen, das auf den Asphalt knallte und in einem Halbkreis hin- und herrollte. Er stand mitten auf dem Schulhof, doch erst jetzt kam ihm seine eigene Sicherheit in den Sinn.

»Wir müssen aus seinem Schussfeld heraus, Konrad!«

Hinter ihm stand die Comtesse. Sie trug eine kugelsichere Weste und hielt eine andere in der Hand. Ihr Blick war unverwandt auf die Fenster im zweiten Stock gerichtet, während sie mit ihm sprach.

»Wo bleibt denn das SEK?«, fragte Konrad. »Hast du irgendwas gehört? Das kann doch nicht so lange dauern, bis die alle zusammengetrommelt sind? Wenn man sie mal braucht…«

Sie unterbrach ihn, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Sie sind in fünf Minuten hier.«

Er sah auf seine Uhr und stellte überrascht fest, dass er selbst erst seit zehn Minuten vor Ort war.

»Es sind noch viele Schüler im Gebäude.«

»Die evakuieren wir durch den anderen Ausgang, komm.«

Sie zog ihn rasch hinter sich her.

»Hast du inzwischen einen Überblick, was genau passiert ist?«, fragte er sie im Laufen.

»Soweit ich weiß, haben wir mindestens zwei Tote, beide Lehrer. Der Flur des zweiten Stocks ist gesichert, aber den betreten wir nicht, das überlassen wir den Spezialisten. Die Klassenlehrerin liegt draußen vor der Klassentür. Sie hat einen Kopfschuss erlitten. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie tot.«

»Was ist mit den Kindern in der Klasse?«

»Das weiß niemand.«

»Wie viele sind da drin?«

»Um die fünfundzwanzig.«

Sie gingen in Deckung hinter einem Einsatzfahrzeug, das vor der Schule auf der Straße geparkt worden war. Die Comtesse gab Konrad Simonsen die kugelsichere Weste. Er zog sie an und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass sie ihm wie angegossen passte.

Um sie herum herrschte noch immer Chaos. Das SEK war mit zwei Wagen im Anmarsch, kam aber nicht an den Sperren auf der Vester Voldgade vorbei, weil zwei schlecht geparkte Rettungswagen und Schaulustige die Zufahrt blockierten. Konrad drehte überrascht den Kopf. Hinter ihm hatte eine Journalistin der Danmark News begonnen, aufgeregt vom Tatort zu berichten. Sie brüllte ins Mikro, dass hier jederzeit Kugeln fliegen konnten und niemand sicher war, solange der Amokläufer frei in der Schule herumlief. Auch sie suchte hinter dem Einsatzfahrzeug Schutz, während der Kameramann furchtlos hinter ihr stand und sie filmte.

Konrad Simonsen beauftragte einen Beamten über Funk, die Reporter an einen anderen Ort zu bringen. Dann fragte er die Comtesse: »Ist wirklich sicher, dass er eine automatische Waffe hat?«

»Nein, es deutet aber alles darauf hin.«

»Was für eine verdammte Scheiße!«

* * *

Der Junge weinte. Nach dem Mord an dem Referendar hatte er sich apathisch auf den Stuhl hinter dem Lehrerpult gesetzt und wusste nicht, was er nun tun sollte. So weit hatte er ganz einfach nicht gedacht. Zweimal war er aufgestanden, einmal, um nach unten auf den Schulhof zu blicken, wo alle panisch durcheinanderrannten, das andere Mal, um seinen Tisch umzuschmeißen – eine irrationale Handlung, die aber bewirkte, dass sich seine Klassenkameraden hinten in der Ecke noch enger zusammenkauerten. Die meisten hielten sich an den Händen, während sie mit angstgeweiteten Augen jede seiner Bewegungen verfolgten.

Er stand auf, ging durch den Raum und baute sich ein paar Meter vor ihnen auf. Viele zogen ihre Köpfe ein und senkten den Blick, andere begannen laut zu heulen. Er deutete mit seiner Waffe auf ein Mädchen.

»Verschwinde, Maja«, befahl er.

Das Mädchen verstand erst nicht, was er sagte, also wiederholte er den Befehl, dieses Mal mit lauter Stimme, fast verzweifelt.

»Hau ab, Maja. Du kannst gehen … Du kannst verdammt noch mal gehen.«

Er ging mühsam zurück zu seinem Platz an der Tafel und sah, wie sich das Mädchen langsam, mit flehendem Blick an der Wand entlang in Richtung Tür schob. Sie musste alle Kraft aufwenden, um die Tür, vor der der Referendar lag, so weit zu öffnen, dass sie sich nach draußen schieben konnte. Gleichzeitig rutschte sie in der Blutlache aus und wäre fast über die Klassenlehrerin gestolpert, die draußen vor der Tür lag. Auf dem Flur begann sie dann laut zu schreien. Drei andere Mädchen versuchten, ihr zu folgen, aber der Junge schoss über ihren Köpfen in die Wand. Die Mädchen schrien auf und hasteten zurück in die hintere Ecke des Klassenzimmers. Warum er sie nicht gehen ließ, wusste er nicht einmal selbst. Vielleicht, weil er ihre Flucht nicht genehmigt hatte, ein Zeichen mangelnder Kontrolle, vielleicht, weil er sie nicht mochte. Er feuerte eine kurze Salve in die Leiche des Referendars vor der Tür, empfand dabei aber keine Freude. Dann weinte er wieder und wünschte sich, das Ganze wäre vorbei.

* * *

Konrad Simonsen und die Comtesse nahmen das Mädchen in Empfang. Es hatte einen Schuh verloren und war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Die weiße Bluse ebenso wie die hautenge Jeans und ihre blonden Haare. Es dauerte eine Weile, bis die beiden Kriminalbeamten herausgefunden hatten, dass sie unverletzt war. Die Comtesse legte ihr eine Decke um die Schultern. Das Mädchen zitterte, und es war offensichtlich, dass sie betreut werden musste.

Sie standen hinter dem gepanzerten Mannschaftswagen des SEK, einem Mercedes Vitro, aber die Gefahr, dass aus den Fenstern geschossen wurde, bestand nicht mehr. Ein Scharfschütze hatte im Wohnhaus auf der anderen Straßenseite Stellung bezogen.

»Was ist passiert?«, fragte die Comtesse das Mädchen vorsichtig. »Wie konntest du entkommen?«

Die Antwort kam stoßweise, und die Comtesse dachte, dass sie kaum mehr als drei oder vier Fragen verantworten konnte.

»Er hat mich gehen lassen, aber die anderen, die mir folgen wollten, hat er erschossen.«

»Von deinen Klassenkameraden ist jemand erschossen worden?«

Sie presste sich ihre blutigen Hände auf die Ohren und senkte den Kopf.

»Er hat sie kaltblütig erschossen, dieser geisteskranke Psychopath. Sie hatten keine Chance. Nur weil sie auch wegwollten. Kaltblütig.«

Die Comtesse nahm sie vorsichtig in den Arm und schüttelte sie nach einer Weile leicht. Der Einsatzleiter und Konrad Simonsen, die neben ihr standen, warfen ihr vielsagende Blicke zu.

»Wie viele von deinen Klassenkameraden leben noch?«

»Ein paar, andere sind tot, wie viele, weiß ich nicht, aber der knallt alle ab. Wie die Kaninchen.«

»Hat er das gesagt?«

Sie hatte die Frage allem Anschein nach nicht verstanden, und die Comtesse wiederholte sie.

»Hat Robert Steen Hertz gesagt, dass er deine Klassenkameraden erschießen will?«

»Er hat gar nichts gesagt, der durchsiebt uns bloß mit seinen Kugeln, wenn ihm danach ist. Dieses fette Schwein. Warum tut denn keiner was? Könnt ihr den nicht einfach abknallen?«

Die Comtesse zog die Brauen hoch, und Arne Pedersen, der gerade zu ihnen gekommen war, murmelte: »Ihre Aussage hilft uns nicht weiter.«

»Bring sie zu einem Krankenwagen, Comtesse«, sagte Konrad Simonsen.

Der Einsatzleiter des SEK sah mit zusammengekniffenen Augen nach oben zu den Fenstern des Klassenzimmers. Er entschied, was weiter passieren würde.

Ob seine Männer den Raum stürmen und den Täter unschädlich machen sollten, ob Verhandlungen in Frage kamen und wie diese durchgeführt würden, oder ob der Scharfschütze den Befehl zum Feuern bekam, falls sich eine Gelegenheit bot. Die Aussage des Mädchens hatte ihn nicht überzeugt, sie stand unter Schock, und überdies hatte sie nicht in allen Punkten glaubwürdig geklungen. Eher wie in einem amerikanischen Film. Er hatte keine Lust, seinem Scharfschützen deshalb einen Schießbefehl zu geben. Andererseits könnte es weitere Tote geben, wenn sie das Klassenzimmer stürmten.

Wieder sah er nach oben zu den Fenstern, dann fasste er einen Entschluss: »Wir werfen eine Blendgranate und gehen rein, wenn uns die Zeit dazu reicht.«

Im gleichen Moment öffnete sich die grüne Doppeltür der Schule, und eine Frau kam langsam zum Vorschein. Schon von weitem war zu erkennen, dass ihre Kleider blutgetränkt waren. Sie taumelte die Stufen nach unten, anscheinend schwer verwundet. Eine unmittelbare Bestätigung der Aussage des Mädchens. Unten auf dem Schulhof brach sie nach wenigen Metern zusammen und sank leblos zu Boden. Der Einsatzleiter deutete auf zwei seiner Männer und dann auf die Frau im Hof, die er für eine Schülerin hielt. Die Männer rannten los, um sie zu holen. Dann klappte er seinen Kragen hoch und gab einen Befehl in das auf der Krageninnenseite befestigte Mikrofon.

»Lima hier. Wenn du freie Sicht hast, Palle, schalte ihn aus.« Danach rief er: »Ruft einen Krankenwagen.«

* * *

Der Scharfschütze hatte blitzschnell den geeigneten Platz ausgemacht, von dem er freie Sicht auf die Fenster im zweiten Stock der Schule hatte, hinter denen sich das Drama abspielte: die Wohnungen im dritten Stock des Hauses auf der anderen Straßenseite. Er konnte zwischen zwei Wohnungen wählen, aber da eine Tür nur angelehnt war, war ihm die Entscheidung leichtgefallen. Drinnen erklärte ein Beamter gerade den Bewohnern, dass sie sich von den Fenstern zur Straße fernhalten sollten. Der Beamte öffnete eines der Wohnzimmerfenster, hob es vorsichtig aus den Angeln und lehnte es drinnen gegen die Wand. Gemeinsam schoben sie den schweren Mahagoni-Esstisch vor das Fenster. Die Höhe des Tisches entsprach bis auf wenige Zentimeter der Höhe des Fensterrahmens. Der Scharfschütze legte sich auf den Tisch und bereitete sein Gewehr vor, eine Heckler & Koch PSG1A1, eine der besten Präzisionswaffen der Welt. Ein erfahrener Schütze traf damit sein Ziel auch noch aus 800 Metern Entfernung. Die Schule war gerade einmal 150 Meter entfernt – eine perfekte Ausgangslage. Er teilte seinem Einsatzleiter mit, dass er bereit war.

Dreimal sah er sein Ziel durch das Fernrohr, doch immer nur flüchtig. Beim ersten Mal hatte der Junge einen Tisch umgeworfen, beim zweiten und dritten Mal war er an der Fensterfront entlanggegangen, so schnell, dass er die Waffe nicht hatte erkennen können.

Sekunden später erhielt der Scharfschütze den Befehl, von dem er gehofft hatte, ihn nie zu erhalten. Er bat um Bestätigung und erhielt sie umgehend.

* * *

Im Klassenzimmer war der Junge endlich zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste sein würde, seine Kameraden gehen zu lassen und sich zu ergeben. Er war müde, hatte Angst, war hungrig und wollte einfach nur weg. Egal wohin, nur weg. Dann hörte er einen Krankenwagen und ging ans Fenster, das der Tafel am nächsten war. Er hielt sich die Hand über die Augen und sah nach unten auf die Straße, um zu sehen, was passiert war.

Das Projektil traf den Jungen über dem linken Auge in die Stirn, trat an der Unterseite des Hinterkopfes wieder heraus und setzte seinen Weg fort. Es streifte das Bein des umgestürzten Tisches, wurde nach unten abgelenkt, durchbohrte das Schloss des Klassenschranks, das Knie des Mädchens, das darin lag, schlug durch seinen Hals und seine Wirbelsäule, bevor es in der Wand dahinter stecken blieb. Beide Schüler waren auf der Stelle tot.

Draußen hallte der Schuss zwischen den Häusern wider. Konrad Simonsen blickte unwillkürlich nach oben und sah dann voller Ernst nach hinten zur Comtesse, ohne ein Wort zu sagen.

Der Einsatzleiter kam zu ihnen und sagte: »Es ist überstanden.«

* * *

Kurz vor zwölf war die Situation in der Marmorgade-Schule unter Kontrolle. Das SEK hatte den Tatort verlassen, die Kriminaltechniker untersuchten das Klassenzimmer, und Krisenpsychologen waren zu Hilfe gerufen worden. Alle waren bedrückt, und die Gespräche zwischen den Beamten beschränkten sich auf das Notwendigste.

Konrad Simonsens Arbeitstag war zu Ende, und Arne Pedersen bestand darauf, ihn nach Hause zu fahren. Die Comtesse übernahm die Leitung, bis er in etwa einer Stunde zurück war.

Im Auto fragte Konrad Simonsen: »Hast du nichts Besseres zu tun, als mich nach Hause zu fahren?«

»Doch, aber ich würde mich gerne mit dir absprechen.«

»Eigentlich ist doch alles klar. Der Tatverlauf wird im Laufe des Tages rekonstruiert werden, dann fehlt dir nur noch das Motiv. Und natürlich die Frage, wie Robert Steen Hertz in den Besitz einer Maschinenpistole gekommen ist. Du musst sicher eine Pressekonferenz abhalten, aber ansonsten würde ich mich auf die Frage konzentrieren, ob der Junge allein gehandelt hat. Sollte er Kameraden mit ähnlichen Waffen und Absichten haben, musst du das schnellstmöglich herausfinden. Und dann noch etwas: Solltest du einen Engpass beim Budget haben, kannst du jetzt einen Zuschlag fordern.«

Sie diskutierten eine Weile, waren aber bald mit dem Thema durch.

»Und was ist mit dir?«, fragte Arne Pedersen. »Wie lief es bei der Polizeipräsidentin? Hast du einen Fall zugeteilt bekommen?«

Es war klar, dass er diese Frage nur aus Höflichkeit stellte. In Gedanken war er noch immer bei dem Amoklauf.

»So was Ähnliches wie einen Fall.«

Arne Pedersen antwortete nicht.

* * *

Konrad Simonsen war nach seinem Geschmack viel zu früh im Morddezernat, aber er war mit der Comtesse gefahren, die bis über beide Ohren mit dem Amoklauf in der Marmorgade-Schule beschäftigt war. Sie lächelte ihn munter an.

»So bist du auch schön früh wieder zu Hause, Konrad. Das ist doch auch nicht zu verachten«, sagte sie.

Natürlich hatte sie recht, aber früh nach Hause zu kommen, war so verlockend nun auch wieder nicht. Die Stunden allein in Søllerød konnten verdammt lang werden, da die Comtesse vermutlich erst spät am Abend nach Hause kam. Er tat sich selber schrecklich leid und ärgerte sich zugleich über sich selbst. Nach dem Infarkt hatte er es noch nicht wieder geschafft, sein Leben neu einzurichten, dachte er, und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Pauline Berg war auch schon da. Sie saß auf dem Sofa im Annex, wie der Raum gleich getauft worden war, und schaute Frühstücksfernsehen. Er stellte seine Mappe auf den Schreibtisch und ging zu ihr. Sie schaltete den Fernseher aus und begrüßte ihn ohne große Herzlichkeit. Er musterte sie eine Weile, ohne sich zu setzen, bis sie schließlich den Blick senkte. Dann setzte er sich neben sie aufs Sofa.

»Du siehst aus wie eine Obdachlose.«

Sie trug eine abgewetzte Jeans und ein graublaues Herrenhemd, das an den Ärmeln und am Kragen ausgerissen war. Ihre Sandalen waren ausgetreten und das Leder gebrochen.

»Wenn du mit mir arbeiten willst, müssen deine Kleider in Ordnung sein.«

»Ich glaub, ich hab ganz hinten im Schrank noch ein Paar Ufo-Pants. Die kann ich dann ja morgen anziehen.«

Als sie merkte, dass ihre Drohung an ihm abprallte, fauchte sie ihn an.

»Ich zieh an, was ich will.«

»Nein. Ab morgen trägst du anständige Klamotten, sonst kannst du gehen. Das ist deine Entscheidung.«

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, blieb aber sitzen. Er gab ihr die Akte, die er von der Polizeipräsidentin erhalten hatte.

»Jørgen Kramer Nielsen, geboren 1951 in Kopenhagen, ledig, Postbote. Wohnhaft in Hvidovre. Verstorben nach einem Sturz auf der Treppe in seinem Haus, etwa um den 20. Februar herum, also vor gut einem halben Jahr. Der exakte Todeszeitpunkt ist unklar, da er erst nach ein paar Tagen gefunden wurde.«

»Tja, so was passiert«, kommentierte sie gleichgültig.

Er sah sie etwas irritiert an und fuhr fort: »Am Nachmittag des 29. Februars, das war ein Freitag, hat der Nachbar Jørgen Kramer Nielsen auf der gemeinsamen Treppe gefunden. Der Mann war da schon eine Weile tot, und der Leichnam roch bereits. Der Mann rief die Sanitäter, die uns dann routinemäßig hinzugezogen haben. Ein Streifenwagen mit zwei Beamten kam zum Unfallort, und kurz darauf traf auch der Amtsarzt ein. Er schickte die Beamten weg, untersuchte die Umstände, die zum Tod des Mannes geführt hatten, und stellte den Totenschein aus. Aus diesem Dokument geht hervor, dass Jørgen Kramer Nielsen sich beim Sturz auf der Treppe das Genick gebrochen hat – ein Unfall. Also keine Kriminalpolizei, keine Spurensicherung, keine rechtsmedizinische Untersuchung. Er ist ohne Vorbehalte beerdigt worden.«

»Was für ein Idiot!«

»Ja, das kannst du laut sagen, aber es gibt eine Erklärung dafür. Der Arzt kam direkt von einem Frühschoppen, stank wie eine Schnapsfabrik und konnte kaum gerade gehen.«

»Betrunken?«

»Voll wie eine Haubitze, da sind sich alle einig. Nun ja, so weit, so gut, aber das ist leider noch nicht alles. Einer der Beamten, Hans Ulrik Gormsen …« Er sah sie fragend an, um zu sehen, ob der Name ihr etwas sagte. Sie schüttelte den Kopf. »… hatte schon am Unfallort den Verdacht, dass der Postbote ermordet worden sein könnte. Ja, das ist ein Zitat. Sein Verdacht beruhte auf der Position der Leiche und der Tatsache, dass die Treppe, auf der Jørgen Kramer Nielsen gestürzt war, nur sieben Stufen hatte. Er machte mit seinem Handy ein paar Fotos von der Leiche und der Treppe, maß die Treppe, so gut er konnte, aus und befragte den Nachbarn, dem er sogar mit einer Anzeige drohte. Dieser Nachbar ist übrigens Pfarrer. Mit dem Arzt hat er es sich auch verscherzt, was dazu beigetragen haben mag, dass der Fall auf diese ungewöhnliche Weise geschlossen wurde.«

»Verstanden, und an welcher Stelle kommen wir da ins Bild? Ich meine, die Umstände sind schon ziemlich bescheuert, aber Menschen, die mit gebrochenem Genick am Fuß einer Treppe gefunden werden, sind nur selten ermordet worden.«

»Stimmt, und es deutet auch wirklich nichts darauf hin, dass das bei Jørgen Kramer Nielsen anders war. Das wurde Hans Ulrik Gormsen auch deutlich gemacht, als er dem Staatsanwalt seine Bilder zeigte. Danach ist einen Monat lang nichts passiert, bis Hans Ulrik Gormsen einen neuen Job als Sicherheitschef einer privaten Firma bekommen hat. Da nahm er den Postbotenfall, wie er ihn nannte, wieder auf – dieses Mal gemeinsam mit seiner Schwiegermutter. Sie war deutlich leichter davon zu überzeugen, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Leider ist diese Schwiegermutter die Vizechefin der parlamentarischen Rechtskommission.«

»Gott im Himmel.«

»Das kannst du laut sagen. Fakt ist jedenfalls, dass jetzt von uns erwartet wird, dass wir ein paar Tage auf Jørgen Kramer Nielsens Tod verwenden und dann einen Bericht schreiben, aus dem deutlich hervorgeht, dass der Mann auf seiner Treppe gestürzt und eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Ein Bericht, den die Polizeipräsidentin dieser Schwiegermutter vorlegen kann?«, kombinierte Pauline Berg.

»Genau, du hast es erkannt. Bist du noch immer an dem Fall interessiert? Oder soll ich Arne sagen, dass du lieber gemeinsam mit den anderen den Amoklauf untersuchst?«

Sie wedelte ärgerlich mit den Armen in der Luft herum.

»Der fette Junge? Nein danke, das ist so deprimierend.«

»Pass auf deine Worte auf«, wies Konrad Simonsen sie zurecht.

Pauline starrte eine Weile vor sich hin.

Er wartete geduldig.

»Was wissen wir über den Postboten?«, fragte sie schließlich. »Hat er eine Akte?«

Konrad Simonsen schüttelte den Kopf.

»Wir wissen fast nichts, nur das hier.«

Er reichte ihr ein Blatt aus der Mappe.

Am 5. März 1996 war Jørgen Kramer Nielsen auf seiner Postrunde überfallen und verprügelt worden. Der Täter war ein vierzigjähriger Schmied aus Rødovre, der nie zuvor ins Blickfeld der Polizei geraten war. Jørgen Kramer Nielsen musste einiges einstecken, bis ein Streifenwagen kam und die Beamten der Prügelei ein Ende machten. Er wurde ins Krankenhaus von Hvidovre gebracht. Hinterher wollte keiner der beiden Männer eine Aussage machen, und der Postbote weigerte sich, Anzeige zu erstatten. Gegen den Schmied wurde Anklage erhoben, die später aber fallengelassen wurde.«

Pauline Berg las sich die Akte zweimal durch, bevor sie sie Konrad zurückgab.

»Die anderen machen einen Bogen um mich, sogar die Comtesse hat Schwierigkeiten mit mir, sie wissen einfach nicht, was sie mit mir machen sollen. Sie behandeln mich wie eine Aussätzige, die keiner leiden, aber die man auch nicht einfach rausschmeißen kann. Ich hätte wahnsinnig gern einen eigenen Fall, aber den überträgt Arne mir nicht.«

»Hm.«

»Jeden Morgen beim Aufstehen habe ich das Gefühl, dass das der letzte Tag meines Lebens ist. Und die Klamotten … ich mag mein altes Zeug einfach nicht mehr, also die Kleidung, die ich hatte, bevor das passiert ist. Die Sachen machen mir Angst.«

»Dann zieh doch deine Uniform an. In dieser Montur da kann ich dich jedenfalls nicht gebrauchen.«

Plötzlich lächelte sie ihn warm, fast optimistisch an.

»Okay, sag mir, wo ich anfangen soll.«

* * *

Arne Pedersen hatte ein großes Team darangesetzt, die Hintergründe des Amoklaufs in der Marmorgade-Schule zu ermitteln, und die Resultate ließen nicht auf sich warten.

Der ermordete Referendar, Tobias Juul, stellte sich, wie Arne Pedersen es ausdrückte, als ziemliches Arschloch heraus. Er war zweiunddreißig Jahre alt und dealte nebenher, vorzugsweise für junge Mädchen, darunter sogar ein paar aus der Klasse, die er unterrichtete. Bei sich zu Hause hortete er ein größeres Sortiment an Drogen: Ecstasy, Amphetamine, Methamphetamine und Kokain, aber er hatte auch noch andere obskure Sachen am Laufen. Wenn seine Mädchen, wie er sie nannte, erst richtig abhängig vom Stoff waren und genug Schulden bei ihm angehäuft hatten, nutzte er sie sexuell aus. Erst für sich selbst und dann für andere.

Arne Pedersen informierte Konrad Simonsen. Nicht weil Konrad an den Ermittlungen beteiligt war oder diese gar leitete, sondern um eine Art geistigen Sparringspartner zu haben.

»Tobias Juul war kein großer Fisch«, ergänzte Pedersen.

»Und wie hängt das mit der Schießerei zusammen?«

»Wir gehen von einem banalen Eifersuchtsdrama aus. Robert Steen Hertz, also der Junge mit der Waffe, wollte vermutlich einem der Mädchen helfen, Maja Nørgaard, die wohl eine von Juuls Mädchen war. Vielleicht war Robert verliebt in Maja, aber bei seinem Aussehen hatte er bei ihr keine Chance. Vielleicht wollte er sie retten oder wie immer man das nennen will.«

»Klingt so, als hättest du ein Motiv. Was ist mit der Waffe, wo hatte er die her?«

»Gute Frage. Wie beschafft sich ein 16-jähriger, dänischer Junge eine 9-Millimeter-Army-Tocx-SA-5-Pistole? Ich weiß es nicht, noch nicht. Und dein Optimismus bezüglich des Motivs ist möglicherweise verfrüht. Diese beiden Mädchen, eine davon Maja Nørgaard, helfen uns nicht weiter. Beide leugnen, auch nur irgendetwas davon zu wissen … egal, was wir sie fragen. Da gibt es also noch einige Hürden. Und die Eltern unterstützen sie darin, allen voran Majas Mutter. Sie hat jetzt zu allem Überfluss auch noch einen Anwalt angeheuert. Ich sage dir, das ist eine echt üble Frau, beängstigend groß und höllisch arrogant. Ihre Tochter hat eine Scheißangst vor ihr, und das verstehe ich gut. Im Grunde blockiert die Mutter unsere Ermittlungen, aber ich kann kaum etwas daran ändern. Das bisschen, was wir wissen, müssen wir irgendwie über Umwege und Aussagen aus zweiter Hand zusammenstückeln.«

»Was sind die Beweggründe der Mutter?«

»Genau kann ich dir das nicht sagen, ich denke aber, dass sie es nicht verkraften würde, wenn an die Öffentlichkeit dringt, dass ihre süße Kleine in irgendeinen Scheiß verwickelt ist. Dass Maja tatsächlich Dreck am Stecken hat, scheint sie nicht zu interessieren. Aber sag mal, wie läuft denn dein Postbotenfall?«

Arne Pedersen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er die Frage stellte.

»Er schreitet voran.«

»Und wie läuft es mit Pauline? Hast du Probleme mit ihr?«

»Überhaupt nicht.«

* * *

Konrad Simonsen hatte mit dem Pfarrer angefangen, dem Nachbarn des verstorbenen Postboten Jørgen Kramer Nielsen. Zum einen wollte er einen Blick in das Haus werfen, in dem der Unfall passiert war, zum anderen mit dem Zeugen reden, der ihm vermutlich am meisten sagen konnte. Er brauchte Informationen für seinen Bericht.

Der Pfarrer stellte sich als ein freundlicher Mann Ende dreißig heraus, der Konrad Simonsens Gedanken las, als dieser verwundert auf seinen weißen Kragen schaute.

»Stimmt, ich bin Katholik. Es verunsichert die Menschen immer ein wenig, wenn sie das nicht vorher wissen, also lassen Sie mich Ihnen gleich versichern, dass ich nicht beiße.«

Er lachte herzlich. Konrad Simonsen erwiderte sein Lachen, und sie gaben sich die Hand.

Die Geschehnisse des 29. Februar waren rasch erzählt. Er war nach den Ferien nach Hause gekommen und hatte seinen über ihm wohnenden Nachbarn tot aufgefunden. Schon bald waren sie bei der zentralen Frage.

»Sie haben die Leiche nicht bewegt oder ihre Position verändert, bevor der Krankenwagen da war?«

»Nein, warum hätte ich das tun sollen? Jørgen war tot. Das war offensichtlich. Da konnte ich wirklich nichts mehr machen.«

»Verstehe. Und was ist mit den Polizisten? Hat einer von denen den Toten bewegt, nachdem sie ihn gefunden hatten?«

»Sie meinen, bevor er abtransportiert wurde?«

»Ja.«

Der Pfarrer dachte nach und antwortete etwas unsicher: »Der junge Kriminalbeamte hat eine Streichholzschachtel neben das Gesicht gelegt, bevor er mit seiner Handykamera Fotos gemacht hat, für einen Größenvergleich, denke ich. Aber bewegt hat er ihn nicht.«

»Da sind Sie sich sicher?«

»Ja, da bin ich mir sicher.«

»Er ist übrigens kein Kriminalbeamter.«

»Beruhigend, das zu wissen.«

»Das finde ich auch. Ist die Haustür normalerweise verschlossen?«

»Immer.«

»Wer hat die Schlüssel?«

»Ich natürlich, und die neuen Mieter, die jetzt oben wohnen. Jørgen hatte natürlich auch Schlüssel, vermutlich zwei.«

»Und sonst niemand? Putzhilfen oder so?«

»Nein, davon ist mir nichts bekannt.«

»Wo wir gerade beim Thema Putzen sind: Wie oft wird die Treppe gereinigt?«

»Vereinbarungsgemäß alle vierzehn Tage. Wir wechseln uns ab. Wenn Sie an technische Spuren oder so denken, seit Februar ist zweimal sehr gründlich geputzt worden. Zum einen habe ich sehr, sehr gründlich geputzt, sowohl mit Staubsauger als auch mit so einem Teppichreiniger, ich meine, Jørgen hat da ja eine ganze Weile gelegen.«

Er hielt betroffen inne.

»Und zum anderen?«, hakte Konrad Simonsen nach.

»Na ja, die neuen Mieter fanden, dass es noch immer roch. Obwohl, da muss ich mich korrigieren, nur die Frau nahm den Geruch wahr, aber erst, nachdem sie erfahren hatte, dass Jørgen im Treppenhaus gestorben ist. Ihr Mann und ich haben dann eine professionelle Reinigungsfirma beauftragt, die sich den Flur noch einmal gründlich vorgenommen hat. Des Hausfriedens wegen, wenn Sie verstehen?«

Konrad Simonsen seufzte.

»Daran ist nichts mehr zu ändern. Haben Sie etwas dagegen, dass ich mich draußen umsehe?«

»Nein. Natürlich nicht«, antwortete der Pfarrer.

Der Flur war wie die meisten Flure. Die Haustür führte in einen gefliesten Eingangsbereich, drei Stufen höher lag der erste Absatz mit dem Eingang zur Erdgeschosswohnung. Von hier aus führte die Treppe weiter nach oben zum nächsten Absatz. Dort hatte Jørgen Kramer Nielsen gelegen. Das letzte kurze Treppenstück endete am obersten Absatz mit der Tür der Dachgeschosswohnung und einem großen Kleiderschrank. Der Boden war bis auf den Eingangsbereich durchgängig mit Teppich ausgelegt, das Geländer glänzte frisch gestrichen, und an den sauberen, weißen Wänden hingen austauschbare, gerahmte Reproduktionen eines Malers, den er nicht kannte. Das große weiße Glaspendel, das von der Decke des Erdgeschosses herabhing, musste dringend entstaubt werden, und das Fenster in Bodenhöhe des ersten Treppenabsatzes durchbrach mit seinem bleigefassten, roten Glas die sichere, kleinbürgerliche Idylle.

Konrad Simonsen ging mit geschärften Sinnen ein paar Mal langsam auf und ab, ohne mehr zu spüren, als dass er langsam müde wurde.

* * *

Pauline Berg hatte die Papiere und Dokumente gesichtet, die Jørgen Kramer Nielsen hinterlassen hatte. Ein nicht ganz unproblematisches Unterfangen, wie sie Konrad Simonsen berichtete. »Sein Nachlass wird in der Lagerhalle von Express Umzüge im Peter Adlers vej in Hvidovre aufbewahrt. Als ich dort ankam, wollte ein Aufkäufer gerade mit den Sachen fort. Ich musste alle möglichen Argumente aus dem Hut zaubern und schließlich im Eiltempo nach Glostrup fahren, um mir dort einen Bescheid zu holen, dass die Sachen wieder beschlagnahmt sind, obwohl sie gerade erst freigegeben worden waren. Ein wahnsinniger Bürokratieaufwand. Es ist gut möglich, dass du ein paar Klagen über mich bekommst, denn ich musste an einigen Stellen Klartext reden, um meinen Willen zu bekommen. Aber das ist der Fehler der Polizeipräsidentin. Die hätte längst Bescheid geben müssen.«

»Hast du ihr gegenüber auch Klartext geredet?«

»Ja, unter anderem. Aber auf dem Amt war es schlimmer, die sind unglaublich schwerfällig. Stell dir mal vor, ich habe sein Testament gefunden, oder besser gesagt, einen gelben Umschlag, auf dem Testament stand. Was sich darin befindet, weiß ich nicht, weil ich den Brief ungeöffnet liegen ließ, um den amtlichen Nachlassverwalter anzurufen und ihm von meinem Fund zu erzählen. Aber anstatt sich zu freuen oder betroffen über seine schlampige Arbeit zu sein, hat der die Frechheit, von mir zu verlangen, dass ich mit dem Umschlag nach Glostrup fahre. Natürlich habe ich ihm deutlich gesagt, dass er mich mal kreuzweise kann.«

»Wenn du mal nur das gesagt hast.«

Sie lächelte, als wollte sie sich für ihren Auftritt entschuldigen. »Ich hatte keinen guten Tag, das gebe ich ja zu, aber was hättest du denn gemacht?«

»Vermutlich hätte ich den Schlenker über Glostrup gemacht, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich kümmere mich darum, falls es Schwierigkeiten gibt. Schließlich trägst du ja wieder schicke Klamotten.«

Pauline Berg trug einen knielangen Rock und einen einfachen Rollkragenpullover, beide in Grau und passend für eine 60-jährige Bibliothekarin, nichtsdestotrotz eine deutliche Verbesserung gegenüber der Kleidung, die sie in der vergangenen Woche getragen hatte. Sie lächelte matt.

»Hast du denn was Interessantes gefunden?«, fragte er.

»Also, das waren natürlich viel zu viele Unterlagen, um sie minutiös durchzugehen. Ich habe die Papiere nur überfliegen können. Unter anderem hatte er eine Million Schulhefte mit irgendwelchen Rechnungen, ich glaube, das war sein Hobby. Er hat auch alle Quittungen aus dem Netto-Markt in seinem Viertel aufgehoben, gebündelt und beschriftet nach Jahren: elf Jahre insgesamt. Auf der Rückseite standen immer zwei Zahlen. Die eine war der Betrag, die andere habe ich nicht verstanden. Aber was wirklich Interessantes …? Nein, eigentlich nicht, aber darum ging es ja auch nicht, oder?«

Er gab ihr recht, das war nicht das Ziel gewesen.

»Aber irgendetwas verwundert einen ja immer«, fuhr sie fort. »So ist das wohl bei allen Menschen.«

So hatte der Postbote einen alten Fotoapparat und ein Belichtungsgerät zum Entwickeln der Fotos. Sie hatte aber keine Abzüge gefunden. Außerdem hatte sie seinen Rechnungen entnehmen können, dass er regelmäßig Prepaid-Karten kaufte. Ein Handyladegerät hatte sie gefunden, aber kein Handy. Ihre Schlussfolgerung lautete, dass der Pfarrer das Handy an sich genommen hatte. Konrad Simonsen zweifelte daran, sagte aber nichts.

»Sonst noch was?«

»Er hatte einen extrem hohen Verbrauch an Glasreiniger, das geht aus seinen Netto-Quittungen hervor. Ich habe keine Ahnung, wofür er den gebraucht hat. Man könnte meinen, er hätte ein Treibhaus, was er aber nicht hatte. Und er war ziemlich reich. Zum Zeitpunkt seines Todes waren 1,7 Millionen Kronen auf seinem Konto. Das Geld stammte von dem Verkauf des Hauses an den Pfarrer 1999. Seither wohnte er selbst als Mieter im ersten Stock. In den letzten fünf Jahren gab es kaum größere Kontobewegungen, abgesehen von 440 Kronen monatlich an seine katholische Gemeinde.«

»Dann war er Katholik?«

Sie nickte und sah auf ihre Uhr.

»Tut mir leid, aber ich muss in einer halben Stunde bei meinem Psychiater sein, und du wirst auch gleich abgeholt. Was soll ich Montag machen?«

Er hatte keine Ahnung und versprach ihr, bevor sie ging, sie anzurufen. Kurz darauf wurde er von einem jungen Beamten abgeholt und nicht, wie erhofft, von der Comtesse.

* * *

Den Montagvormittag vergeudete Konrad Simonsen mit der Vernehmung der zwei Rettungssanitäter, die Jørgen Kramer Nielsens Leichnam im Februar aus dem Treppenhaus abtransportiert hatten. Erst dauerte es ewig, sie aufzuspüren, und dann ergab ihre Zeugenaussage keine neuen Erkenntnisse. Genauso wenig wie der Anruf bei dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte. Er konnte sich bedauerlicherweise nicht mehr an den Fall erinnern, was Konrad Simonsen ihm voll und ganz abnahm. Hans Ulrik Gormsen war nicht zu erreichen, und mehr bekam er an diesem Tag nicht erledigt. Unglaublich, wie schnell vier Stunden vergangen waren.

Den folgenden Tag, ein schöner, sonniger Dienstag mit klarblauem Himmel, leitete er mit einem Gespräch mit Hans Ulrik Gormsens Kollegin ein. Die Polizistin steckte in einer tadellosen Uniform, die Dienstmütze überkorrekt unter den linken Arm geklemmt. Aufrecht wie ein Zinnsoldat stand sie mitten in seinem Büro und schwitzte Blut und Wasser, bis er sie aufforderte, sich zu setzen, was an ihrer steifen Haltung aber nichts änderte.

Konrad Simonsen befragte sie zu dem Hergang, ohne andere Informationen zu erwarten als die, die er bereits hatte. Aber sie erinnerte sich tatsächlich an ein Detail, das er selbst übersehen hatte. Und zwar das Blut, genauer gesagt das Fehlen von Blut.

»Der tote Postbote lag auf den Stufen im Treppenhaus, es war jedoch kein Tropfen Blut zu sehen.«

»Er hat nicht geblutet?«

»Nein, ich habe dezidiert kein Blut gesehen.«

»Dezidiert?«

»Ja, genau.«

Er hätte sie am liebsten geschüttelt, damit sie sich endlich entspannte. »Sie haben etwas gesehen, das wie Blut aussah, aber keins war?«

»Nein, da war gar nichts.«

»Schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in dem Treppenhaus. Sagen Sie mir, warum Sie sich bei einem Tod durch Genickbruch gewundert haben, dass da kein Blut war.«

Sie schloss die Augen.

»Die Leiche hatte eine Verletzung an der einen Hand, eine Hautabschürfung, die aber nicht geblutet hat. Vermutlich hat er sich die Verletzung durch den Sturz zugezogen. Die Hautabschürfung sollte auf den Fotos zu sehen sein, die Hans Ulrik mit seinem Handy gemacht hat.«

Konrad Simonsen zog einen Ringordner aus dem Regal hinter sich, nahm die Unterlagen mit den Fotos heraus und stellte fest, dass sie recht hatte. Die Verletzung an Jørgen Kramer Nielsens rechter Hand war ziemlich deutlich auf über der Hälfte der Fotos zu sehen.

»Kann ich die Augen wieder aufmachen?«

»Ja, verdammt, natürlich. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Bin ich fertig?«

Sie zitterte vor Nervosität, den Blick eingeschüchtert auf den Boden geheftet. Er faltete die Hände unter dem Kinn, betrachtete sie ein paar Sekunden und fragte sich, wieso sie so angespannt war.

»Ja, Sie sind fertig.«

Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da war sie auch schon aus seinem Büro geschlüpft. Er rief Pauline Berg an und erzählte ihr von der Hautabschürfung.

Pauline Berg kannte die Polizistin, sie hatte mit ihr zusammengearbeitet, bevor sie ihre Stelle im Morddezernat angetreten hatte.

»Merkwürdig«, sagte Pauline, »so angespannt hab ich sie nie erlebt, eher im Gegenteil.«

»Ärgerlich, dass du nicht dabei warst, so was ist mir echt noch nicht untergekommen. Und was hat Melsing gesagt?«

Er hatte Pauline Berg zur Kriminaltechnik geschickt, um den Abteilungsleiter Kurt Melsing zu bitten, sich die Handybilder des verstorbenen Postboten genauer anzusehen und ihnen seine spontane Reaktion darauf mitzuteilen.

»Er hat sich brummelnd die Bilder angesehen und meinte anschließend, dass man auf vielerlei Weise eine Treppe runterstürzen könne.«

»Das war alles?«

»Ungefähr. Für eine ordentliche Untersuchung muss er den Flur vermessen, dafür brauchte er allerdings die Originalfotos, und außerdem müssten wir uns ein halbes Jahr gedulden. Sie haben irgendein Programm aus den USA gekauft, das uns möglicherweise weiterhelfen könnte, aber bislang hatte noch keiner Zeit, sich einzuarbeiten. Du oder Arne sollen sich bei ihm melden, wenn wir eine offizielle Untersuchung wollen.«

Konrad Simonsen schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht nötig.

»Das hab ich ihm auch gesagt. Ich fahre dich heute übrigens nach Hause, mach dich schon mal startklar.«

Während der Fahrt wurde nicht viel gesprochen, nur ein paar kurze Bemerkungen.

»Sie haben herausgefunden, wie der Fettkloß an die Maschinenpistole gekommen ist. Arne ruft dich später deswegen an.«

»Rede nicht so abfällig über den Jungen, wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Stille.

»Bist du sicher, dass sie gezittert hat? Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«

»Wenn ich sage, dass sie gezittert hat, dann hat sie auch gezittert.«

»Hast du was dagegen, wenn ich mit ihr spreche?«

Er sah sie von der Seite an.

»Jørgen Kramer Nielsens Mobiltelefon?«

»Ja!«

 

Arne Pedersen meldete sich, wie Pauline Berg es angekündigt hatte, am späteren Nachmittag bei Konrad Simonsen. Konrad war kurz eingedöst und antwortete benommen.

»Was machst du? Hast du geschlafen?«

»Ich hab gerade an ein Mädchen gedacht, das ich vor langer Zeit kannte.«

»Oh, tut mir leid«, sagte Arne Pedersen etwas verlegen wegen der unverblümten Antwort. Solche Dinge behielt Konrad Simonsen normalerweise für sich. »Also, zu der Waffe«, fuhr er fort, »Robert Steen Hertz, der Junge, der seinen Lehrer Tobias Juul in der Marmorgades-Schule erschossen hat, hatte einen guten Freund in den USA. Ein gewisser Russ Andrews aus Burlington in Vermont. Robert Steen Hertz hat ihn vor gut einem Jahr kennengelernt, als er mit der neunten Klasse die Partnerschule in den USA besuchte. Beide Jungen interessierten sich für Waffen oder, korrekter ausgedrückt, waren besessen von Waffen. Nachdem Robert Steen Hertz wieder zurück in Dänemark war, standen die beiden in regelmäßigem Mailkontakt und tauschten sich über Waffen aus. Im März ist Russ Andrews achtzehn geworden, alt genug, um in Vermont legal Waffen zu kaufen, da der Staat mit Arizona und Alaska die liberalste Waffengesetzgebung der USA hat. Und das hat er dann auch getan. Er hat so viele Waffen gekauft, wie sein Geldbeutel es zuließ, darunter eine Maschinenpistole für seinen Freund. Die Jungs haben die Waffe ziemlich intelligent nach Dänemark eingeschleust. Zuerst hat Robert Steen Hertz ein Paket, das in etwa so viel wog wie eine ArmyTocx SA-5 und vier Schachteln Munition, an eine nicht existierende Adresse in Burlington geschickt. Einen knappen Monat später ging das Päckchen mit der Begründung Adressat unbekannt zurück an Robert Steen Hertz. Am selben Tag schickte Robert Steen Hertz ein neues Paket, diesmal per Express. Dieses Paket enthielt die Verpackung mit sämtlichen Stempeln und Rücksendungsetiketten des alten Pakets und war an Russ Andrews adressiert. Der verpackte die Waffe und Munition in der alten Verpackung, die ein zweites Mal als Retoure nach Dänemark geschickt wurde, wobei Russ Andrews’ großer Bruder nachhalf, der bei der Privatfirma angestellt war, mit der die Stadtverwaltung Burlington für die Verteilung der städtischen Paketpost einen Vertrag geschlossen hatte. Wie die Jungen sich ausgerechnet hatten, umging die Rücksendung alle Sicherheitssysteme, da sie bereits einmal gescannt worden war. Robert Steen Hertz konnte so nach einem weiteren Monat Wartezeit seine Maschinenpistole in Empfang nehmen, dieses Mal mit einer Ermahnung des Paketzustellers, sich besser mit den Adressen abzusichern, wenn er das nächste Mal ein Paket in die USA schickte.

Der Rest war a piece of cake für Robert Steen Hertz. Mit Hilfe eines Inbusschlüssels, einer Metallfeile und einer Anleitung aus dem Internet machte er aus der halbautomatischen eine vollautomatische Waffe mit einer Schussfrequenz von circa zwanzig Schuss pro Sekunde.«

Konrad Simonsen brummte.

»Ich nehme mal an, dass das in den Zollämtern zu ein Paar roten Ohren geführt hat?«

»Sie sind dabei, ihre Prozeduren im Bereich Retouren zu aktualisieren, sowohl in Dänemark als auch in den USA.«

»Wie sieht es mit der Bezahlung aus, oder war die Pistole ein Geschenk?«

»Nein, bezahlt hat er sie mit der Kreditkarte des Vaters. Der ist Börsenmakler am obskuren Ende der Skala, offenbar ein profitables Geschäft, da ihm nicht aufgefallen ist, dass auf seinem Konto plötzlich ein paar Tausender fehlten. Mit so kleinen Beträgen beschäftigt er sich nicht. Genau das waren seine Worte.«

Konrad Simonsen bedankte sich für die Information und wartete geduldig, dass Arne Pedersen zum eigentlichen Anlass seines Anrufes kam. Es ging, wie er richtig vermutet hatte, um die Schülerin Maja Nørgaard, deren mangelnde Kooperationsbereitschaft sich inzwischen zu einem massiven Problem entwickelt hatte. Aber ohne ihre Mitwirkung würde Robert Steen Hertz’ Motiv kaum endgültig ergründet werden können. Arne Pedersen wusste nicht mehr, was er noch machen sollte. Konrad Simonsen stimmte einem Treffen am nächsten Tag zu, obwohl ihm nicht ganz klar war, was sein Beitrag sein sollte.

* * *

Eine knappe Woche nach Konrad Simonsens Rückkehr schloss er seinen Bericht für die Polizeipräsidentin über Jørgen Kramer Nielsens Tod ab. Darin kam er nicht sehr überraschend zu dem Ergebnis, dass der Tod des Postboten einem unglücklichen Sturz auf der Treppe geschuldet war und nicht einem Verbrechen. Konrad Simonsen druckte den Bericht aus, las ihn noch ein letztes Mal durch, korrigierte ein paar kleinere Punkte, druckte ihn erneut aus und nahm die Blätter mit zu seinem Treffen mit Arne Pedersen.

»Gibst du den Bericht weiter, immerhin leitest du im Augenblick ja den Laden?«

Arne Pedersen schüttelte den Kopf. »Nein danke. Je weniger ich mit ihr zu tun habe, desto besser.«

Mit ihr meinte er die Polizeipräsidentin.

Konrad Simonsen zog erstaunt die Augenbrauen hoch, verkniff sich aber einen Kommentar.

Kurz darauf trudelten die Sitzungsteilnehmer ein: vier Beamte, unter ihnen die Comtesse, die alle mit der Schießerei in der Schule befasst waren.

Arne Pedersen machte den Anfang, es ging um Maja Nørgaard, und seine Informationen waren primär an Konrad Simonsen gerichtet.

»Wir vermuten, dass Robert Steen Hertz’ Mordmotiv ganz banale Eifersucht war. Er war unglücklich in Maja Nørgaard verliebt, mit der er seit Kindergartentagen in dieselbe Klasse ging. Wegen ihr ist er auch nicht aufs Gymnasium gegangen, obwohl er das problemlos geschafft hätte. Er wusste ganz genau, dass er keine Chance bei ihr hatte, er war ja nicht dumm, also begnügte er sich damit, sie aus der Distanz zu lieben, um es mal so auszudrücken. Als sie dann in Tobias Juuls Klauen geriet, ist ihm eine Sicherung durchgebrannt, auch wenn es eine Weile gedauert hat, bis er wirklich wusste, was da lief. Er musste die Informationen Stück für Stück mühsam zusammenklauben, er …«

Arne Pedersen wurde jäh in seinem Vortrag unterbrochen, als Pauline Berg zur Tür hereinstürzte. Sie hatte ein Mobiltelefon in der Hand, das sie Konrad Simonsen unter die Nase hielt, ohne auf die empörten Blicke der übrigen Anwesenden Rücksicht zu nehmen.

»Das ist Jørgen Kramer Nielsens Handy.«

Konrad Simonsen beherrschte sich.

»Kann das nicht warten, Pauline?«

Sie antwortete nicht, sondern drückte ein paar Tasten, bis auf dem Display das Bild einer jungen, blonden, lächelnden Frau erschien. Auf dem nächsten Bild stand dieselbe junge Frau nackt in einem Wohnzimmer, hinter ihr waren ein Fernsehbildschirm und ein Kronleuchter zu sehen. Auf diesem Bild lächelte sie nicht.

»Maja Nørgaard?«, sagte Konrad Simonsen, halb fragend, halb konstatierend. Pauline Berg nickte nur.

»Auf Jørgen Kramer Nielsens Handy!«

Es war nicht das erste Mal, dass sich zwei scheinbar unabhängige Fälle überschnitten. Das kam immer mal wieder vor. Das Mobiltelefon wurde herumgereicht, während Pauline Berg berichtete.

»Tobias Juul hat die Bilder am 23. Januar dieses Jahres als MMS geschickt, ergänzt mit dem Text: Sonntag 10:00. Sonst nichts. Ich weiß noch nicht, wo sie aufgenommen wurden.«

»In Tobias Juuls Wohnzimmer. Ich erkenne den Kronleuchter wieder«, ergänzte die Comtesse. »Aber woher kennen sich Tobias Juul und Jørgen Kramer Nielsen?«

Arne Pedersen grinste breit.