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In einem Vorort von Kopenhagen entdecken zwei Schulkinder in der Turnhalle fünf grausam ermordete Männer. Die Toten wurden mit mathematischer Präzision an der Decke aufgehängt. Trotz der bestialischen Inszenierung finden sich keine Blutspuren auf dem Hallenboden. Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen und sein Team um Nathalie von Rosen verdächtigen den Hausmeister der Schule: Per Clausen, ein gescheitertes Mathegenie, das die Polizei mit kryptischen Falschaussagen irritiert. Aber kein Mann allein kann diese Tat vollbracht haben! Die Identität der Toten scheint der Schlüssel zu den Tätern zu sein. Doch plötzlich wird in den Medien das Gerücht verbreitet, dass es sich bei den Mördern um Missbrauchsopfer handelt, die sich an ihren Peinigern von einst gerächt haben. Immer mehr Menschen aus der Bevölkerung sympathisieren mit dem angeblichen Racheakt. Konrad Simonsen muss die üblichen Ermittlungswege verlassen, bevor eine Lynchjustiz Dänemark regiert … Schweinehunde von Lotte Hammer · Søren Hammer: Spannung pur im eBook!
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Seitenzahl: 598
Lotte & Søren HAMMER
Schweinehunde
Roman
Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob
Knaur e-books
Der Mann auf dem Feld warf das letzte Spaltholz an seinen Platz. Danach richtete er sich auf, presste sich die Handrücken ins Kreuz und beugte sich ein paarmal nach hinten, um seinen empfindlichen Rücken zu entlasten. Er war körperliche Arbeit gewohnt, so dass ihm die paar Stunden, die er gebraucht hatte, um die Grube zu füllen, nicht sonderlich viel ausgemacht hatten. Außerdem stand das leichte Ziehen der Muskeln in keinem Verhältnis zu dem, was er im Laufe dieses Tages vollbracht hatte. Es verwunderte ihn lediglich.
Etwas schwerfällig nahm er den letzten Kanister Petroleum und kippte den Inhalt über die Meterscheite, deren oberste Lage mit dem Erdboden abschloss. Ungefähr fünfzehn Raummeter trockenes Buchenholz, vermischt mit Ulme, Kastanie und Birke, samt einigen wenigen schweren Pflaumenholzstücken, die er an der rotbraunen Rinde erkannt hatte, die diese Bäume auf der Sonnenseite bekamen. Des Weiteren einunddreißig Sack Kohle, die Anzahl hatte er sich vor Beginn der Arbeit genau eingeprägt und Sack für Sack abgezählt, als er sie hierher getragen hatte. Auf diese Weise war ihm die Arbeit weniger monoton vorgekommen. Er blickte auf seine Uhr und bemerkte, dass das Zifferblatt mit Blut verklebt war und er keinen der Zeiger erkennen konnte. Wie beim letzten Mal, als er einen Blick darauf geworfen hatte. Irritiert nahm er sie ab und warf sie auf das Holz, bevor er seinen Blick auf den immer dunkler werdenden Himmel richtete. Die niedrige Wolkendecke im Westen wurde von der untergehenden Sonne dunkelrot angestrahlt, während der See, der unterhalb des Feldes lag, nur grau und undeutlich zu erkennen war. Ein Unwetter war im Anmarsch.
Er holte frische Kleider und eine Packung feuchte Tücher aus seinem Rucksack und entblößte seinen durchtrainierten Oberkörper. Obgleich ihm schnell kalt wurde, genoss er die Feuchtigkeit auf seiner Haut, als er sich methodisch zu waschen begann. Besonders gründlich war er mit dem Kopf und den Händen, auf denen der Kohlenstaub seine Spuren hinterlassen hatte, wodurch er in der Öffentlichkeit aufgefallen wäre. Ihm kam in den Sinn, dass er an einen Spiegel hätte denken sollen, bevor er lächelnd in die Dämmerung blickte. Normalerweise kümmerte er sich nicht um sein eigenes Spiegelbild, aber dieser Tag war kein normaler Tag. Vielleicht hätte er gerade heute, auf diesem gottverlassenen Acker auf Seeland, mit einem gewissen Stolz auf sich selbst schauen und möglicherweise sogar seinen bescheuerten Spitznamen ablegen können. Alle nannten ihn Kletterer. Nur wenige, wenn überhaupt jemand, kannten seinen richtigen Namen; ein Name, der noch aus einer Zeit stammte, in der sich Menschen um ihn gekümmert und er etwas für andere empfunden hatte. Bis … bis es dann nicht mehr so gewesen war.
Der Gedanke an seine Kindheit blieb nicht ungestraft: Die Schmerzen in seinem Rücken strahlten plötzlich wie ein scharfes Ziehen in seine Hoden und über die Rückseite seiner Schenkel aus. Er ignorierte sie und konzentrierte sich darauf, die frischen Kleider anzuziehen, während er die alten aufs Holz warf. Als er fertig war, spürte er, wie ihn die Süße der Rache berauschte. Abgesehen von einer einzigen nicht vorhergesehenen Situation, die er für sich behalten hatte und später auf eigene Faust hatte lösen müssen, hatte er seinen Job ordnungsgemäß erledigt. Jetzt waren die anderen der Gruppe an der Reihe.
Er holte das Feuerzeug hervor, kniete sich hin und zündete das Holz an. Das Petroleum brannte sofort, und die Flammen schlugen ihm entgegen, so dass er erschrocken ein paar Schritte nach hinten zurückwich. Einen kurzen Moment lang wärmte er sich an den Flammen, doch die tiefe Abneigung, die er für Feuer empfand, gewann schnell die Oberhand.
Ein Blitz zerriss die Dämmerung, und er drehte sich ruhig um und betrachtete den Himmel. Das Unwetter war schneller gekommen, als er es erwartet hatte. Über den Hang links von ihm, dort wo der Wald steil zum Wasser hin abfiel, trieben zwei scharf umgrenzte schwarze Regenwände auf ihn zu, als hätte die Erde sich geöffnet und die dunklen Kräfte der Unterwelt freigegeben. Wieder ein Blitz, und eine dritte Wasserwand raste über den Hang auf ihn zu. Dann war der Regen da. Große, aggressive Tropfen, Tausende scharfer Pfeile, die vom Boden zurückgeworfen wurden und Erdpartikel bis über die steifen Stoppeln herausrissen. Machtvoll, reinigend, voller Gerechtigkeit.
Einen Augenblick lang sah er besorgt auf die Flammen, aber das Wasser konnte das Feuer nicht löschen, sondern nur in Schach halten. Dann drehte er sich um und ging entschlossen auf den Wald zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bald darauf wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
Am Montagmorgen wälzte sich der Nebel wie weiße Wattewellen über das Land. Die beiden Kinder sahen kaum die Hand vor den Augen, als sie über den Schulhof gingen. Sie orientierten sich aus dem Gedächtnis, doch schon bald wurden ihre Schritte vorsichtig und tastend. Der Junge blieb ein Stück hinter dem Mädchen und hielt seine Tasche umklammert. Plötzlich blieb er stehen und sagte ängstlich: »Du darfst mir aber nicht weglaufen.«
Auch das Mädchen hielt inne. Der Nebel kondensierte in ihren Haaren, und sie wischte sich die Tropfen von der Stirn, während sie geduldig auf ihren Bruder wartete, der den Ranzen auf seinen Rücken zu setzen versuchte. Er hatte Türkisch gesprochen, was er nur selten tat und eigentlich nie mit ihr. Er rang mit den Schultergurten, und sie ging einen Schritt auf ihn zu, half ihm aber nicht. Als er endlich fertig war, nahm er ihre Hand. Sie blickte sich um und sah nichts außer Nebel und Dunkelheit. Sie sagte: »Jetzt guck doch, was du getan hast.«
»Was habe ich denn getan?«
Er umklammerte ihre Hand und hörte sich kleinlaut an.
Sie entschied sich aufs Geratewohl für eine Richtung, trat mutig ein paar Schritte ins Nichts und blieb wieder stehen. Der Junge drückte sich an sie.
»Sind wir verloren?«
»Idiot.«
»Bei Mama war es hell.«
»Gleich ist es auch hier hell.«
»Was bedeutet verloren?«
Sie antwortete ihm nicht, sondern versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Der Schulhof war nicht groß, sie mussten bloß weitergehen.
»Wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen. Egal, was geschieht, wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen, oder?«
Seine Stimme klang weinerlich, und sie zog ihn ein paar unentschlossene Schritte hinter sich her, bis sie plötzlich vor sich einen dunklen Umriss wahrnahm und darauf zuging.
Der Junge ließ ihre Hand los, als sie den Haupteingang erreichten, und stürmte vor ihr her ins Gebäude. Er hatte schon vergessen, dass er eben noch den Tränen nahe gewesen war.
Kurz darauf trafen sie sich auf dem Gang vor der Turnhalle. Das Mädchen saß lesend auf einer Bank, als der Junge mit einem Ball angerannt kam.
»Spielst du mit mir Fußball? Du kannst das so gut!«
»Hast du deine Sachen ordentlich aufgehängt und die Tasche an ihren Platz vor dem Klassenzimmer gestellt?«
Er riss die Augen weit auf und nickte bestätigend, wie die Glaubwürdigkeit selbst.
»Geh hoch und tu, was ich dir gesagt habe.«
Ohne Widerspruch zog er ab, kam aber gleich darauf wieder und brachte seine Bitte erneut vor.
»Ich muss erst noch etwas lesen. Geh schon mal rüber, ich komme dann.«
Skeptisch blickte er auf das Buch. Es war dick.
»Kommst du auch wirklich bald?«
»Wenn ich mit dem Kapitel fertig bin. Es dauert nicht lange.«
Er verschwand in der Halle. Kurz darauf hörte sie das Klatschen und Abprallen des Balles. Sie las weiter, ließ sich von der Lektüre forttragen, schloss mitunter die Augen und träumte, selbst eine Figur in dieser Geschichte zu sein.
Der Junge riss sie aus ihren Träumen.
»Es ist nicht genug Platz zum Spielen«, rief er ihr aus der Halle zu.
»Warum nicht?«
»Weil da Männer hängen.«
»Dann spiel um sie herum.«
Plötzlich stand er vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
»Ich mag diese Männer nicht.«
Das Mädchen schnupperte prüfend in die Luft.
»Hast du gepupst?«
»Nein, aber ich mag keine toten Männer. Die sind aufgeschnitten.«
Sie stand verwirrt auf und ging zur Tür der Turnhalle. Ihr Bruder folgte ihr.
Fünf Männer hingen an Seilen von der Decke herab. Sie waren nackt und starrten sie an.
»Die sind doch eklig, oder? Das stimmt doch, oder?«
»Ja«, antwortete sie und schloss die Tür.
Dann legte sie ihren Arm um den Jungen.
»Können wir jetzt Fußball spielen?«
»Nein, das können wir jetzt nicht. Wir müssen einen Erwachsenen finden.«
Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen genoss seine Ferien. Er saß oben im Panoramazimmer des Sommerhäuschens, rauchte seine vierte Zigarette zu seiner vierten Tasse Kaffee, während er durch das überdimensionale Fenster auf die heraneilenden Stratuswolken schaute und an nichts dachte.
Die athletische junge Frau, die nach ihrer morgendlichen Joggingrunde ins Zimmer kam, hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen, so dass er sie nicht hörte und entsprechend erschrak, als sie ihn ansprach. Außerdem war er es gewohnt, allein zu sein.
»Puh, Papa, du könntest wenigstens ein bisschen lüften.«
Die heftige Äußerung bezog sich auf den Qualm der Zigaretten, der schwer im Raum hing. Sie riss die Terrassentür auf, und eine steife Meeresbrise wehte ins Zimmer und spielte wild mit ihren blonden Locken, bis sie das Gefühl hatte, dass der schlimmste Gestank verflogen war, und sie die Tür wieder schloss. Danach ließ sie sich ihm gegenüber auf den Sessel fallen, ohne sich darum zu kümmern, dass dabei die Zeitung, die aus dem Bund ihrer Jogginghose ragte, vollkommen zerknitterte.
Er sagte: »Guten Morgen, bist du bis nach Blokhus gelaufen? Das ist ganz schön weit!«
»Na ja, Morgen, es ist bald Mittag, du Langschläfer. Ja, ich war bis Blokhus, aber so weit ist das auch wieder nicht.«
Er zeigte neugierig auf die Zeitung.
»Ist die für mich?«
Sie antwortete ihm in einem ironischen Tonfall, klang aber dennoch freundlich: »Und danke, liebe Tochter, dass du Kaffee gekocht hast.«
»Und danke, liebe Anna Mia, dass du Kaffee für mich gekocht hast.«
Sie zog die Zeitung aus dem Hosenbund, erblickte dann aber den Aschenbecher, und ihr harter Blick verriet ihm, was jetzt kommen würde. Mit anklagender Miene deutete sie auf die Kippen, und plötzlich war auch ihr Bornholmer Dialekt wieder da.
»Vier Zigaretten vor dem Frühstück?«
»Also, ich habe schließlich Ferien, da ist doch alles ein bisschen anders als normal.«
Diese Lüge hätte er sich sparen können.
»Du rauchst viel zu viel, du trinkst zu viel, du isst ungesund, und dich übergewichtig zu nennen ist bald nur noch eine höfliche Untertreibung.«
Halbherzig versuchte er, sich zu verteidigen:
»Auf der Arbeit rauche ich fast gar nicht mehr und abends nur ganz wenig, dann darf ich in den Ferien die Zügel doch wohl ein bisschen schleifen lassen.«
»Tja, sieht man mal davon ab, dass du lügst, klingt das beinahe vernünftig.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und blickte auf die Zeitung, die ihm plötzlich unerreichbar erschien. Der Ernst in ihrer Stimme nahm noch zu:
»Du weißt ganz genau, dass du mir fünfzehn Jahre schuldest, Papa?«
Die Zahl brannte ihm auf der Seele, und das wohlbekannte Gefühl, ein schlechter Vater zu sein, meldete sich sofort wieder. Es hatte sich jetzt drei Jahre still verhalten. Seit diesem friedlichen Maiabend, an dem sie plötzlich auf seiner Türschwelle gestanden und ihm erklärt hatte, dass sie eine Woche in Kopenhagen und es doch am praktischsten sei, wenn sie bei ihm wohne. Außerdem könne sie so Geld sparen. Aus ihrem Munde hatte das damals wie das Natürlichste der Welt geklungen. Und dann war sie in seine Wohnung marschiert und in sein Leben – ein unbekanntes, sechzehnjähriges Mädchen, süß, temperamentvoll und höchst lebendig … seine Tochter.
Er hatte kaum eine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten und auf Gnade zu hoffen, aber die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen. Er hatte keine Lust, sich zu entschuldigen, das kam ihm dumm vor, und ihr Buße und Besserung zu geloben und ein gesünderes Leben in Aussicht zu stellen war leichter gesagt als getan. Außerdem war er von Natur aus zurückhaltend, wenn es darum ging, andere in seine Gefühle einzuweihen. Er versuchte sich an ein paar halbherzigen Versprechen, bis sie plötzlich den Ernst über Bord warf und das Thema wechselte.
»Lass uns ein anderes Mal darauf zurückkommen, Papa. Sag mir lieber, ob du dich inzwischen an das Ambiente hier gewöhnt hast? Das ist doch wirklich ein mondänes Ferienhaus, das Nathalie hier hochgezogen hat.«
Auch dieses Thema war brandheiß, wenngleich nicht so persönlich, und wüsste er es nicht besser, hätte er sie verdächtigt, es absichtlich jetzt anzusprechen, da er in der Defensive war. Aber so war sie nicht. Nur er sah in jedem Gespräch ein strategisches Spiel mit Siegern und Verlierern – eine schlechte Angewohnheit, die er etwas zu leicht als Berufskrankheit abtat, als eine Folge zu vieler Verhöre. Er versuchte, sich nicht provozieren zu lassen.
»Ja, es ist schön hier.«
»Und warum bist du dann vorgestern, als wir hierher gekommen sind, so ausgerastet?«
»Weil die Comtesse meine Untergebene ist, das Ganze hat mich einfach umgehauen.«
»Aber du wusstest doch, dass es ihres ist?«
»Ja, mein liebes Mädchen, das war mir klar, aber ich hatte doch keine Ahnung, was für eine noble Bude die hier hat. Noch die exklusivsten Ferienhausvermieter würden sich nach diesem Luxusding die Finger lecken, und das mit Dollarzeichen in den Augen. Dass wir dieses Haus für einen Appel und ein Ei gemietet haben, ist unethisch und bestimmt auch irgendwie illegal.«
»Sie ist reich, na und? Und das liebe Mädchen kannst du dir an den Hut stecken!«
»Außerdem quillt der Kühlschrank vor Essen nur so über, wir könnten hier überwintern.«
»Wir wollen aber nicht überwintern, sondern bloß vierzehn Tage hierbleiben, im Übrigen brauchst du ja nichts zu essen. Es schadet dir bestimmt nicht, ein bisschen von deinen Reserven zu leben.«
»Kein Essen, kein Trinken, keine Zigaretten. Was kommt als Nächstes?«
Sie überhörte ihn und stichelte weiter:
»Wusstest du, dass die italienischen Terrakottafliesen auf der Terrasse handgemalt sind und dass der Marmor im Eingangsbereich Ølandsbrud heißt?«
»Woher weißt du denn das?«
»Von Nathalie natürlich.«
Niemand sonst nannte die Comtesse Nathalie, und in seinen Ohren klang das höchst merkwürdig. Nathalie von Rosen war zwar ihr Geburtsname, aber jeder nannte sie nur Comtesse, sie selbst eingeschlossen.
»Bist du früher schon mal hier gewesen?«
»Ja, klar.«
»Das wird ja immer schlimmer.«
»Dann flippst du gleich bestimmt total aus, denn ich habe noch ein Geschenk für dich.«
»Ein Geschenk? Von wem?«
»Von Nathalie, aber ich dachte, dass ich damit lieber ein paar Tage warte.«
Sein verwirrter Gesichtsausdruck war keineswegs gespielt.
»Also, Papa, manchmal bist du einfach zu kompliziert. So schwer ist das doch nicht zu verstehen. Wenn du mich fragst, mag sie dich sehr gern, und wenn du nur ein wenig auf dich achten und fünfzehn bis zwanzig Kilo abnehmen würdest, wärst du vermutlich eine richtig gute Partie.«
Das schnelle Klatschen nackter Füße auf dem pommerschen Kiefernboden erfüllte den Raum, und sie war weg, bevor er ihren absurden Gedanken auch nur kommentieren konnte.
Das Geschenk der Comtesse war genial. Wie ein neugieriger Papagei saß Anna Mia auf der Lehne seines Sessels und verpasste keine Sekunde, als er es auspackte. Aron Nimzowitsch, Mein System, die Originalausgabe aus dem Jahr 1925, mit einer Widmung des Meisters persönlich – ein kostbarer Schatz, der ihn für einen Augenblick beinahe in Ekstase versetzte. Anna Mia gelang es, einen Blick über seine Schulter zu werfen.
»Was meint sie mit ›Danke für die Hilfe‹?«
Er drehte die Karte um, aber zu spät.
»Sag mal, hast du keine Erziehung genossen? Man liest doch keine Post von anderen Leuten!«
»Ich schon. Womit hast du ihr geholfen?«
»Das geht dich nichts an!«
Sie blieben einen Moment schweigend sitzen. Sie auf seiner Armlehne, er im Sessel.
»Wie gut kennt ihr beiden euch eigentlich?«
»Wer? Nathalie und ich?« Ihre gespielte Gleichgültigkeit war fast mit den Händen zu greifen.
»Ja, natürlich!«
»Das geht dich nichts an!«
Womit sie wieder am gleichen Punkt angelangt waren.
Wenig später wurde sie redseliger: »Ich kenne Nathalie nicht sonderlich gut, und wir haben nichts hinter deinem Rücken unternommen. Auf jeden Fall nicht viel, und dass ich schon mal hier war, ist einem absoluten Zufall zu verdanken. Wir haben uns im Sommer in Skagen zufällig getroffen, und sie hat mich zum Lunch eingeladen. Außerdem weiß ich doch, wann du ihr geholfen hast. Das war während ihrer Scheidung, nicht wahr?«
Er schwieg.
»Wir haben uns ein wenig ausgetauscht.« Sie streichelte ihm zärtlich über die hohe Stirn bis zum Haaransatz. »Ich glaube, dass du dir dein Buch redlich verdient hast, Papa. Also tu mir ein für alle Mal den Gefallen und rede nicht mehr über den Preis, okay. Nathalie würde nie auf die Idee kommen, irgendwelche Gegenleistungen für ihre Geschenke zu verlangen. So ist sie nicht, und das weißt du ganz genau.«
»Nein, das würde sie nie tun. Aber es geht ums Prinzip.«
»Vielleicht sind manche deiner Prinzipien einfach fehl am Platz.«
Sie stand auf und trat ans Fenster, während er vorsichtig, fast andächtig eine Seite im Buch umblätterte.
»Ich nehme ein Bad. In der Zwischenzeit kannst du dir ja überlegen, was wir heute mit dem Tag anfangen sollen.«
»Ja, ja, ist in Ordnung.«
Er war so in sein Schachbuch versunken, dass sie ihn zweimal rufen musste, bevor er sie hörte, sich aufrichtete und zu ihr sah, und er bemerkte dabei nicht einmal, dass die Stimmung schon wieder umgeschlagen war.
»Ist dein Handy eingeschaltet?«
»Nein, wir hatten doch abgemacht, dass wir hier ganz für uns sein wollten, weißt du nicht mehr? Warum fragst du?«
Er stand mit einem letzten langen Blick auf die Schachfiguren im Buch auf, trat ans Fenster und sah zum Horizont. Die wellige Küstenlandschaft entfaltete sich unter ihm in Form von unregelmäßigen, windgepeitschten Anhöhen, manche hell im Licht der Sonne, andere dunkelgrau mit fast schwarzen Rücken, überwuchert von Heckenrose oder festgehalten von Strandhafer. Ganz hinten konnte er das Meer mit seinen glitzernden, weißen Wellenkämmen sehen, und hoch oben am Himmel flog eine Schar Graugänse in Richtung Süden an der Küste entlang. Auf einmal spürte er Anna Mias Arme um sich. Ihr Kopf lehnte sich schwer an seinen Rücken. Ein plötzliches Gefühl von Scham übermannte ihn, als wäre ihre Jugend ein Tabu. Trotzdem blieb er stehen, und nach mehreren nicht enden wollenden Sekunden sagte sie leise: »Du wirst abgeholt, Papa.«
Erst in diesem Moment sah er es. Ein ekelerregender Fremdkörper kroch langsam den kurvigen Kliffweg empor: ein Polizeiwagen.
Knapp vier Stunden später stand Konrad Simonsen in der Langebæk-Schule in Bagsværd und starrte in den trostlosen Regen. Im Gebüsch hinter dem Spielplatz war ein Hundeführer mit seinem Hund zugange. Er dirigierte das Tier durch Zeichen und Zurufe und lobte es zwischendurch immer wieder. Eine junge Frau, die sich notdürftig eine Plastiktüte um den Kopf gewickelt hatte, schloss sich dem Hundeführer an. Eine Weile beobachtete er die Gesten des Mannes, bis ein Windstoß den Regen gegen die Scheibe warf und ihm das Wasser die Aussicht verwehrte. Er sah den Flur hinunter. Die Wände waren schmutzig gelb, der Putz blätterte ab, und das löcherige Linoleum am Boden erinnerte an die Strecke eines Hindernislaufs. Vereinzelte mehr oder weniger gelungene künstlerische Kreationen schmückten die Wände, ihm am nächsten eine Konstruktion aus verdrehtem Stahldraht und staubigen Coladosen.
Resigniert sagte er: »Zum Teufel, Comtesse!«
Die Worte galten der hinter ihm telefonierenden Frau. Er hatte sie ohne Wut ausgesprochen, einfach um aufzuzeigen, wie absurd es war, dass er wie ein Eilpäckchen quer durch das Land hierher geholt worden war, nur um jetzt tatenlos in das triste Oktoberwetter zu starren. Ohne wirklich etwas über die Ermittlungen zu wissen, die er allem Anschein nach leiten sollte – ja, und ohne auch nur eine Idee zu haben, wo er anfangen konnte.
Die Frau reagierte auf seinen Ausbruch und legte die Hand auf das Telefon.
»Hallo, Konrad. Schade, das mit deinen Ferien, aber ein paar Tage hattet ihr ja. Ich hoffe, Anna Mia war nicht zu enttäuscht? Arne ist gleich hier, er setzt dich dann ins Bild.«
Sie lächelte und fuhr mit ihrem Telefonat fort, noch bevor er etwas sagen konnte. Er erwiderte ihr Lächeln zögerlich und dachte, dass sie schöne Zähne hatte. Dann entspannte er seine Bauchmuskeln wieder und blickte noch einmal aus dem Fenster. Es war nicht weniger ernüchternd als zuvor. Das Telefonat der Comtesse dauerte an, was er als ebenso untrüglichen wie unangenehmen Fingerzeig deutete, dass die Mordkommission, wenn es denn so weit war, auch ausgezeichnet ohne ihren derzeitigen Leiter auskommen würde.
Oder doch nicht? Mit halbem Ohr hatte Konrad das Telefonat belauscht – er nahm an, dass die Comtesse mit einem Kriminaltechniker sprach –, als er plötzlich gewahr wurde, dass da etwas nicht stimmte. Die leicht exaltierte Stimmlage und die Tatsache, dass es um Probleme ging, die viel zu detailliert für den derzeitigen Stand der Ermittlungen waren. Als sie eine Frage, die sie zuvor bereits einmal gestellt hatte, fast wortgetreu wiederholte, legte er seine Hand auf den Arm, der das Telefon hielt, und drückte ihn sanft nach unten. Abrupt beendete sie das Gespräch.
»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«
»Keine Ahnung, ist schon ’ne Weile her. Wie viel Uhr ist es?«
Er kannte diesen Zustand nur zu gut und wusste, dass er vorübergehend war. Jeder Ermittler wurde irgendwann einmal mit einem Fall konfrontiert, der ihm unter die Haut ging und mit dem er nicht klarkam. Dann setzten sich unangenehme, grausame Bilder im Hinterkopf fest, die man nicht verdrängen konnte. Genau so schien es ihr bei diesem Fall zu gehen. Er selbst hatte die größten Probleme, wenn es sich bei den Opfern um Kinder handelte, aber damit war er keine Ausnahme. Außerdem war er ja noch gar nicht in der Turnhalle gewesen. Er ließ den Gedanken fallen und konzentrierte sich auf das Wesentliche.
»Fahr in die Stadt und iss etwas. Es reicht, wenn du in einer Stunde wieder hier bist.«
»Ich habe aber keinen Hunger.«
»Das ist ein Befehl, Comtesse. Und mach dein Telefon aus.«
Sie nickte, als verstünde sie, doch in ihren Augen las er das Gegenteil. Normalerweise war sie die Stabilität in Person, diejenige, die sich nicht mitreißen ließ, wenn alle anderen aus der Bahn geworfen wurden. Als sie sich umdrehte und das Licht in einem anderen Winkel auf ihr Gesicht fiel, sah er, dass ihr Teint fast dem ihrer aschgrauen Haare glich.
»Es ist schrecklich, Konrad. Ich glaube, ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Nein, das hat vermutlich niemand von uns.«
»Arne und ich haben nur durch die Tür geschaut und … Puh, das war wirklich grausam.«
»Ja, das ist hart, aber jetzt geh endlich los, ich habe anderes zu tun, als mich um dich zu kümmern.«
Er sagte das mit einem Lächeln, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, aber sie schien es nicht zu bemerken und blieb stehen, so dass er sich fragte, ob er sie in den Arm nehmen oder ihr wenigstens die Hand auf die Schulter legen sollte. Aber er tat nichts dergleichen, er verstand sich nicht so gut auf so etwas. Schließlich sagte sie: »Ich bin gleich wieder okay.«
»Das weiß ich doch. Bis gleich.«
Dann ging sie.
Der Lesesaal der Schule war vorübergehend zur Schaltzentrale der Ermittlungen vor Ort geworden. Zwei Bücherregale, deren Inhalt auf den Fensterbänken aufgestapelt worden war, waren leer, und auf dem Tisch mitten im Raum lagen eine Packung Papier und eine Schachtel mit Bleistiften. Ein Whiteboard stand vor der grünen Tafel, so dass die Ermittlungsergebnisse und weiteren Schritte mit dicken Filzschreibern statt mit Kreide aufgezeichnet werden konnten. An der anderen Seite des Raumes hing ein Grundriss der Schule. Er war in aller Eile gezeichnet worden und sah dementsprechend schief aus.
Den Kopf leicht zur Seite geneigt, studierte Konrad Simonsen diesen Plan, während Arne Pedersen die Gelegenheit nutzte, die Sitzfläche seines Stuhls abzuwischen. Seine Hose hatte bereits zwei Flecken, und er wollte Schlimmeres vermeiden.
»Wie war der Flug?«
»Unangenehm.«
»Und das Ferienhaus? Kriegst du die Miete wieder?«
»Wohl kaum.«
Die Stühle, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, knackten bedrohlich, als die zwei Männer sich setzten. Konrad Simonsen stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und fragte ohne Umschweife: »Wie geht es dir?«
Arne Pedersen war nicht überrascht über die Frage, ein gutes Zeichen.
»Besser, aber anfangs war es echt übel. Ich habe mich zweimal übergeben, das ist mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Also … eigentlich noch nie.«
»Aber jetzt geht es dir wieder gut?«
»Sonst reagiere ich nur bei Kindern so, ach, du weißt schon.«
»Arne, beantworte meine Frage. Geht es dir gut?«
Arne Pedersen sah ihm in die Augen.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Gut, dann gib mir einen Einblick: Chronologie, Ressourcen, Status.«
Die Aufforderung klang schroffer und autoritärer, als er es beabsichtigt hatte, aber die Verärgerung über die Wartezeit steckte noch in ihm, und er wollte jetzt endlich die Fakten, ohne Wenn und Aber. Pedersen ging auch sofort auf seine Aufforderung ein. Nüchtern und präzise berichtete er ihm, was geschehen war. Er begann mit der türkischen Mutter, die ihre Kinder um 6.15 Uhr am Fahrradständer rechter Hand vor dem Eingang der Schule abgesetzt hatte. Er fuhr fort: »Heute ist ja der erste Schultag nach den Herbstferien, die Schule ist offen. Die Kinder gingen in ihre jeweiligen Klassenzimmer, hängten ihre Jacken auf und trafen sich danach vor der Turnhalle im B-Flügel, um Ball zu spielen. In der Halle entdeckten sie dann die fünf Leichen. Die große Schwester suchte vergeblich nach einem Erwachsenen und wählte schließlich vom Lehrerzimmer aus die Notrufnummer, wo man sie mit der Polizei in Gladsaxe verband. Der Anruf ging dort um 6.41 Uhr ein. Der Wachhabende … Moment, das war …« Er zögerte und dachte nach.
Konrad Simonsen sagte: »Der Name spielt keine Rolle, aber sag mal, diese zwei Kinder, die waren dann verdammt früh hier? Ich dachte, die Schule beginnt erst um acht Uhr?«
»Das ist auch so, ich habe mich auch darüber gewundert, und deshalb den Direktor gefragt. Er hat mir gesagt, dass eine Handvoll Kinder lange vor Schulbeginn kommen. Dieses Problem kennen scheinbar alle Schulen. Manchen Eltern geht es darum, das Geld für die Betreuung zu sparen, andere stehen einfach unter Stress …«
Konrad Simonsen unterbrach ihn. »Okay, okay, fahr fort.«
»Gut … wo war ich? … Ach ja, das Mädchen wurde vom Wachhabenden gebeten zu warten, bis ein Lehrer kommt. Anschließend rief er die Mutter der Kinder an ihrem Arbeitsplatz in Gentofte an. Die Mutter war nicht gleich zu finden, aber der Besitzer – ein Immigrant aus dem Libanon, der die Kinder flüchtig kennt – erklärte sich bereit, herzukommen. Kurz vor sieben Uhr war er an der Schule. Er holte acht Kinder aus der Sporthalle, sechs waren inzwischen zu den anderen dazugekommen, und rief seinerseits noch einmal in Gladsaxe bei der Polizei an. Um 7.38 Uhr kam der erste Streifenwagen hier an …«
Konrad Simonsen fiel ihm hart ins Wort.
»Um 7.38 Uhr?«
Arne Pedersen wich seinem Blick aus und rückte seinen Schlipsknoten zurecht, eine Bewegung, die sein Chef nur zu gut kannte.
»Rück mit dem Namen raus und sag mir, was geschehen ist.«
Weiteres Zögern war vergeblich, und der Name des Wachhabenden kam auf den Tisch. Samt einer Erklärung:
»Er hielt diese Anrufe nicht wirklich für wichtig, hat ihnen keine Priorität beigemessen … da ja – und das ist jetzt leider ein Zitat – bloß zwei Kanaken angerufen haben.«
Konrad Simonsen war sichtlich überrascht.
»Und warum deckst du so ein Arschloch? Kennst du den?«
Arne Pedersen hatte von Natur aus ein jugendliches Äußeres. Seinen vierzig Jahren zum Trotz sah er noch immer aus wie ein kleiner Junge, der jetzt vom Hals bis zur Stirn rot wurde, so dass seine Hautfarbe sich kaum mehr von seinen leuchtend roten Haaren unterschied.
»Wir waren zusammen auf der Polizeischule. Außerdem bilden wir eine Wettgemeinschaft.«
Konrad Simonsen zog die Stirn in Falten und kniff ein Auge zu, fragte aber nicht weiter. Arne Pedersen war ein tüchtiger Ermittler, er war sowohl kreativ als auch effektiv, und es war eigentlich klar, dass er einmal der neue Chef der Abteilung werden könnte, wenn da nur nicht seine Leidenschaft für das Glücksspiel wäre, über die immer mehr Leute Bescheid wussten. Er musste einmal mit ihm reden, aber nicht jetzt. Außerdem wollte er gar nicht wissen, ob Arne diesem Idioten womöglich Geld schuldete.
»Egal, erzähl weiter.«
»Die Beamten riefen Verstärkung, die Schule wurde gesperrt, und die Kinder wurden wieder nach Hause geschickt. Das Personal kam im Lehrerzimmer zusammen, und dann wurden wir alarmiert. Ich bin hier etwa gegen 9.00 Uhr angekommen und habe gleich nach dir schicken lassen. Danach habe ich den Polizeipräsidenten informiert und Troulsen, Pauline und die Comtesse zusammengetrommelt. Nach und nach haben wir dann die ganze Maschinerie angeworfen und jeden, der laufen kann, herzitiert: Ermittler, Kriminaltechnik, Rechtsmedizin und Hundepatrouille – ja, Elvang persönlich ist sogar gekommen.«
»Warum die Hunde? Wonach suchen wir?«
»Nach zehn Händen, unter anderem.«
»Oh, mein Gott.«
»Ja, das kannst du laut sagen.«
»Warst du in der Turnhalle?«
»Nein, ich habe bloß in der Tür gestanden. Dafür aber zweimal, weil mir beim ersten Mal ja schlecht geworden ist. Sie laufen in Raumanzügen da drinnen rum, sieht aus wie in einem Science-Fiction-Film, und obgleich ich höchstens geatmet habe, hat man mir gleich wieder einen Vortrag über Tatortkontaminierung gehalten. Du darfst dreimal raten, wer. Die sind total hysterisch.«
»Der Chef der Kriminaltechnik wird dafür bezahlt, bei solchen Sachen hysterisch zu sein. Was ist mit Elvang?«
»Was soll mit ihm sein? Der musste natürlich auch warten. Abgesehen davon hat er …«
Er suchte nach den richtigen Worten.
»Hat er …?«
»… mich als Weichei bezeichnet, aber das ist ja nicht weiter relevant.«
»Nein, zeigt aber vielleicht, dass er noch nicht ganz senil ist.«
»Mach du nur deine Witze. Gleich bist du an der Reihe, er wartet auf dich, wenn wir hier fertig sind. Die Halle ist jetzt sicher freigegeben. Aber apropos Elvang, ich weiß inzwischen, weshalb er nicht pensioniert worden ist. Die neue Lebensgefährtin meines Bruders arbeitet im Bildungsministerium, dem ja das Reichshospital untersteht. Es ist also vermutlich mehr als bloß ein Gerücht, willst du es wissen?«
Konrad Simonsen stellte zufrieden fest, dass sein Untergebener nicht nur die Fakten des Falls im Kopf hatte, und antwortete lächelnd: »Sehr gerne, wenn wir Zeit haben. Wie sieht es mit den Ressourcen aus?«
»Noch nicht endgültig geklärt, aber es hört sich vielversprechend an. Es wird wohl eine Sonderkommission geben, aber sie wollen die gesamte Verwaltungsstruktur ändern.«
»Oje, wer sind die?«
»Das weiß ich nicht. Also, ich sage dir, Konrad, die erste Stunde war ein Zirkus, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Der Justizminister hat zweimal angerufen und darum gebeten, minutiös informiert zu werden.«
»Der Justizminister? Warum um alles in der Welt geht der denn nicht den Amtsweg und folgt der Hierarchie?«
»Keine Ahnung, das habe ich ihn nicht gefragt.«
»Minutiös? Hat er das gesagt?«
»Ja, das hat er. Wortwörtlich.«
»Ist ja verrückt.«
»Das kannst du laut sagen. Außerdem hat der Polizeipräsident ein paarmal angerufen. Um uns einzuschärfen, dass wir den Justizminister informieren sollen, und beim zweiten Mal hat er uns angedroht, selbst herzukommen, aber die Comtesse konnte ihn davon abbringen. Und dann hat auch noch der leitende Polizeidirektor angerufen, aber das ist ja ganz normal. Der Leiter des Präsidiums in Gladsaxe hat schließlich seinen Bürgermeister im Nacken. Den hatten wir also auch in regelmäßigen Abständen an der Strippe, nicht zu vergessen den Oberstaatsanwalt, natürlich.«
»Der Oberstaatsanwalt? Was hat der denn damit zu tun?«
»Ja, das habe ich mich auch gefragt. Er wollte sich nicht in die Ermittlungen einschalten. Das hat er jedenfalls gesagt, glaube ich. Der ist nicht leicht zu verstehen, und wer ihn wirklich in die Sache hineingezogen hat, habe ich nicht herausfinden können. Aber die Comtesse ist auch nicht verschont geblieben, die hatte mit dem Vorsitzenden des parlamentarischen Rechtsausschusses zu tun, und mit seinem Vize. Unter anderem.«
»Mein Gott, was ist das für ein Chaos.«
»Aber echt. Und das ist noch nicht alles. Schließlich habe ich einen Anruf von einem Staatssekretär im Staatsministerium bekommen, Helmer Hammer – ja, der heißt wirklich so –, direkt nach der zweiten Predigt des Justizministers, so langsam war ich von all diesen Unterbrechungen ziemlich genervt. Außerdem stand ich wohl noch reichlich unter Schock, aber das habe ich erst im Nachhinein realisiert. Jedenfalls habe ich ihm ziemlich direkt zu verstehen gegeben, dass wir keine Informationen liefern können, wenn man uns ständig von der Arbeit abhält, nicht mal wenn die Königin persönlich anrufen sollte. Danach habe ich einfach aufgelegt, oder wie man das bei einem Handy nennt.«
»Hm, ob das so klug war? Was ist dann passiert?«
»Tja, der hat gleich wieder zurückgerufen.«
»Ein kluger Zug. Und, musst du nun den Verkehr leiten?«
»Nein, der ist im Grunde ganz vernünftig. Er hat keine Ahnung von der Polizeiarbeit, was er zum Glück selbst gesagt hat, und er hat mir versprochen, dafür zu sorgen, dass wir nicht mehr gestört werden. Und das scheint er wirklich getan zu haben. Auf jeden Fall hat seither keiner der Chefs mehr angerufen.«
Arne Pedersen sah richtig erleichtert aus. Konrad Simonsen versuchte, das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken, ohne zu ungeduldig zu wirken.
»Klingt gut, aber sagt mir noch nichts über unsere Ressourcen.«
»Doch, denn er hat erklärt, dass du die Ermittlungen leiten sollst und …«
»Das tue ich doch bereits.«
»Ja, ja. Jetzt lass mich mal ausreden: Du sollst die Ermittlungen leiten und ausschließlich ihm Rechenschaft ablegen, niemandem sonst.«
»Die gewöhnlichen Dienstwege sind also außer Kraft gesetzt?«
»Warte, es kommt noch besser. Du darfst selbst dein Team zusammenstellen und hast keinerlei Begrenzungen, weder was die Anzahl der Leute noch die Finanzen angeht. Eventuelle bürokratische Hindernisse will er aus dem Weg räumen, damit du dich voll und ganz auf die Ermittlungen konzentrieren kannst.«
»Der hat sich ja ins Zeug gelegt!«
»Ja, der scheint gewisse Fähigkeiten zu haben. Er hat allerdings zu bedenken gegeben, dass dein offizielles Mandat noch nicht durch ist, er meinte, das sei aber nur eine Formsache. Du sollst ihn anrufen, wenn du Zeit hast, ich habe seine Nummer. Also, alles in allem scheinst du wirklich dein eigener Herr zu sein, Konrad.«
»Hat er das auch gesagt?«
»Nein, das ist meine Schlussfolgerung.«
»Hm, es gefällt mir nicht, die üblichen Dienstwege zu ignorieren.«
»Aber das ist besser, als von all den hohen Herren und Damen nach Belieben herumkommandiert zu werden.«
»Vielleicht, aber das werden wir dann sehen. Im Augenblick haben wir andere Sorgen.«
Plötzlich klingelte die Glocke laut und durchdringend. Niemand hatte daran gedacht, sie abzuschalten, nachdem die Kinder nach Hause geschickt worden waren. Konrad Simonsen zuckte zusammen, so dass sein Stuhl knirschte. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er auf seinen Tisch. Arne Pedersen, dessen Verhältnis zu Schulglocken weniger belastet war, wartete ruhig, bis der Lärm aufhörte, bevor er seinen Bericht abschloss.
»Augenblicklich haben wir uns folgendermaßen aufgeteilt: Paulines Gruppe durchsucht die nähere Umgebung, die Außenanlagen und befragt die Nachbarn. Die Comtesse kümmert sich um die einzelnen Schulzimmer. Troulsen leitet die Befragung der Angestellten, und ich war freigestellt, um auf dich zu warten. Unser größtes Problem ist, dass die Toten niemand kennt und dass der Hausmeister verschwunden ist. Sein Name ist Per Clausen, er muss heute Morgen die Schule aufgeschlossen haben, aber niemand hat ihn gesehen. Vielleicht ist er indisponiert, er scheint hin und wieder ein Alkoholproblem zu haben. Was die Identifikation der Leichen angeht, habe ich eine Reihe von erfahrenen Leuten abgestellt, die im Augenblick herauszufinden versuchen, ob die fünf Männer irgendwo vermisst werden. Bisher aber ohne Resultat.«
Konrad Simonsen dachte nach, dann stand er auf. Arne Pedersen folgte seinem Beispiel.
»Wir treffen uns in einer halben Stunde, sorge dafür, dass die anderen Bescheid wissen. Ihr könnt mich in der Turnhalle abholen, aber ich will erst allein mit Elvang sprechen. Sag Troulsen, dass niemand, nicht einmal ein Praktikant, das Schulgelände ohne meine Erlaubnis verlässt, und kümmere dich darum, dass Pauline ins Trockene kommt, die sieht ja schon aus wie ein begossener Pudel. Ich weiß überhaupt nicht, was die da draußen treibt, will sie etwa den Hunden helfen?«
»Mensch, Konrad, sie ist noch nicht so erfahren.«
»Dadurch, dass sie nass wird, kriegt sie auch nicht mehr Erfahrung. Besorg ihr einen anständigen Regenmantel. Hier in der Schule gibt es bestimmt irgendwo einen. Und noch etwas, es waren acht Schüler in der Turnhalle. Werden die psychologisch betreut? Und was ist mit den Eltern? Sind die informiert worden?«
»Oh, nein.«
Arne Pedersen schlug mit der Faust gegen den Türrahmen. Er hatte selbst zwei Kinder.
»Kümmere dich darum, aber bring mich erst zu Elvang. Unterwegs kannst du mir dann ja erzählen, was du mir über ihn sagen wolltest. Du hast das alles wirklich gut hingekriegt, Arne. Gute Arbeit.«
Das Lob klang irgendwie hohl. Wie auf irgendeinem Führungskurs erlernt.
Der Friedhof lag still und verlassen da, und der Mann mit dem Regenschirm ging langsam, fast demütig an den Grabsteinen vorbei, als spürte er, dass er nicht hierher gehörte. Bei jedem seiner Schritte knirschte der Kies und störte empfindlich die feuchte Stille. Vor einem schmucklosen Grab am Rand des Friedhofs blieb der Mann stehen und stellte einen Klappstuhl auf. Bevor er sich setzte, legte er vorsichtig einen Strauß Blumen auf das Grab. Der Regen gab den Blumen die Frische zurück, eine letzte Liebkosung der Natur, die der Mann, er hieß Erik Mørk, mit einem Lächeln quittierte.
»Vater, ich habe dir Blumen mitgebracht, denn heute ist ein ganz besonderer Tag, ein Tag, auf den ich so lange gewartet habe. Vielleicht schon seit ich Kind war, auch wenn das natürlich keinen Sinn ergibt. Im Radio kam eben die Meldung, dass die Hingerichteten gefunden worden sind, der Rest des Tages wird ohne Zweifel ein einziges Chaos werden.«
Er verstummte und blickte zu Boden, und es verging eine ganze Weile, bevor er fortfuhr. Dann lächelte er, ein Lächeln, das ein seltenes Mal wirklich von Herzen kam. Er liebte diesen sanften Frieden, genoss es, die Minuten weitab der Welt verstreichen zu lassen und am Grab seines Vaters über alles Mögliche zu reden. Bei seiner Arbeit war er aktiv und extrovertiert, was eigentlich gar nicht seinem Inneren entsprach, aber vielleicht war gerade das das Geheimnis seines wirtschaftlichen Erfolges. Ein Erfolg, der ihm im Grunde egal war und den er gegen alles eingetauscht hätte, wenn er dafür seine Kindheit noch einmal hätte erleben dürfen.
»Ich wäre fast verrückt geworden vor Spannung, dabei habe ich ja schon am Samstag den Brief vom Kletterer mit den Videos aus dem Kleinbus und der Turnhalle bekommen, so dass ich eigentlich Bescheid wusste, aber …« Er ließ den Satz unvollendet und sprang ohne Übergang zum nächsten Thema: »Heute Morgen war ich im Büro für eine Evaluierung mit einem Kunden. Die Kampagne läuft perfekt, und alle klopfen sich auf die Schulter. Sie verkaufen eine Unmenge nichtssagender Mädchenklamotten, und wir können einen weiteren Erfolg verbuchen und verdienen gemeinsam mit ihnen einen Haufen Geld. Aber keine Sau denkt an die acht kleinen Mädchen, die sich im Augenblick auf jeder Werbetafel und Litfaßsäule überall in der Stadt wie Bonbons feilbieten. Mein Gott, die sind kaum in der Pubertät, und … ja, ich weiß, es klingt heuchlerisch, denn wenn irgendwer für diese Kampagne verantwortlich ist, dann ich, aber ich habe das einfach nicht ausgehalten und mir für den Rest des Tages freigenommen.«
Der Regen wurde langsam schwächer. Er faltete seinen Regenschirm zusammen, schüttelte ihn aus und legte ihn neben den Stuhl, bevor er zögernd weitersprach.
»Das ist natürlich einer der Vorteile, sein eigener Chef zu sein. Man kann kommen und gehen, wann man will, und heute bin ich gegangen, ohne eigentlich zu wissen, warum. Wir haben schon so viele ähnliche Kampagnen gefahren, und die aktuelle ist wirklich nicht die schlimmste, so dass ich den Grund vermutlich bei mir suchen muss. Wahrscheinlich bin ich im Augenblick besonders sensibel.«
Die Kirchturmuhr schlug. Er stand auf, streckte die Beine, hockte sich neben dem Grabstein hin und entfernte ein paar nasse Blätter, die am Stein klebten. Danach folgten seine Finger mehrmals liebevoll der Inschrift. Arne Christian Mørk. 1934–1979. Während er sorgsam das bisschen Unkraut entfernte, das der Gärtner übersehen hatte, sprach er weiter mit dem Toten.
»Gestern hatte ich einen sehr bewegenden Abschied von Per, du weißt schon, Per Clausen, der Hausmeister, ich habe dir von ihm erzählt. Er ist ein phantastischer Mann, ich werde ihn vermissen. Zuerst haben wir gemeinsam gegessen und uns dann die Videosequenzen angeschaut, die ich zusammengeschnitten habe. Er hat mich sehr dafür gelobt, aber sie sind auch wirklich gut geworden. Besonders eine Szene aus dem Kleinbus ist phantastisch, eine kleine, satanische Perle, die die Menschen erschüttern und ihre Gemüter abhärten wird. Du wirst schon sehen, diese Szene wird noch eine entscheidende Rolle spielen. Es war Pers Idee, versteckte Kameras über jedem Sitz zu montieren, eine Wahnsinnsarbeit, die sich aber, wie sich jetzt gezeigt hat, wirklich gelohnt hat. Und dann haben wir über Gott und die Welt geredet, nicht nur über die kommenden Wochen, es war fast so, als wäre er zu einem ganz normalen Sonntagsbesuch bei mir gewesen. Ich kann mir kaum vorstellen, ihn nie mehr wiederzusehen.«
Ein Auto fuhr auf der Straße hinter dem Friedhof vorbei, und das dumpfe Dröhnen eines Basses störte für einen Moment die Grabesruhe. Er wartete, bis alles wieder still war.
»Als Per und ich uns verabschiedet haben, sagte er etwas, über das ich anschließend noch viel nachdenken musste. Mach’s gut, Schaumgummimann. Das waren seine letzten Worte an mich. Schaumgummimann. Er lächelte bei diesen Worten sein charakteristisches Lächeln. Natürlich spielte er darauf an, dass ich als Kind immer Schaumgummi gegessen habe, weil ich der Meinung war, dass dieses Zeug das Übel in mir aufsaugen könnte. Ich hatte fast vergessen, dass ich ihm erzählt hatte, wie ich mir überall kleine Schaumgummistückchen stibitzt hatte: Aus Polstern und Kissen, den Softbällen in der Turnhalle, dem Schweißriemen in meinem Reithelm, ja sogar aus Mamas Schulterpolstern habe ich Stückchen herausgeknibbelt. Wenn ich darüber rede, kommt mir auch wieder der Geschmack in den Sinn, dabei sollte man eigentlich gar nicht glauben, dass dieses Zeug überhaupt nach irgendetwas schmeckt. Aber das tut es, es schmeckt verkehrt, verkehrt und nach Schuld.«
Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu vertreiben, und fügte dann nachdenklich hinzu: »Die Erinnerung tut weh und … tja, Per trifft die Sache damit vielleicht ziemlich gut. Alles in allem betrachtet, bin ich vermutlich genau das – ein Schaumgummimann.«
Professor Dr.med. Arthur Elvang, Rechtsmediziner und öffentlich bestellter Sachverständiger, war kein umgänglicher Mann. Konrad Simonsen bereitete sich mental auf die Begegnung mit ihm vor und war fest entschlossen, Kurs zu halten und sich nicht von der scharfen Zunge des Professors aus der Bahn werfen zu lassen. Sie trafen sich vor der Turnhalle, wo Arthur Elvang auf dem gleichen Platz in eine Zeitung vertieft saß, auf dem gut sieben Stunden zuvor das türkische Mädchen gesessen hatte. Auch er hätte am liebsten weitergelesen, legte die Zeitung nach einer Ewigkeit dann aber doch zur Seite und musterte Konrad Simonsen kritisch von Kopf bis Fuß durch die dicken Brillengläser, die seine Augen ganz klein wirken ließen. Fast schien er Maß für einen Anzug nehmen zu wollen.
»Sie haben im Winter aber zugelegt, lieber Konrad. Schade, das mit Ihren Ferien. Wo waren Sie denn? Im Schlaraffenland?«
Er streckte ihm seine krallenförmige Hand entgegen, und Konrad Simonsen, der glaubte, Elvang wolle seine Unverschämtheit noch unterstreichen, indem er ihm mit dem Finger in den Bauch drückte, wich einen Schritt zurück.
»Kommen Sie, seien Sie nicht sauer, helfen Sie mir hoch.«
Konrad Simonsen half ihm vorsichtig auf die Beine.
»Ich bin nicht sauer. Meine Tochter kommentiert regelmäßig meinen Bauchumfang, was das angeht, bin ich abgehärtet, aber es ist verdammt lange her, dass mich jemand lieber Konrad genannt hat. Ich glaube, das letzte Mal war das bei Kasper Plancks Pensionierung.«
Kasper Planck war Konrad Simonsens Vorgänger als Leiter der Mordkommission gewesen.
»Ja, wie die Zeit vergeht. Haben Sie Ihrer Tochter auch von Ihrem Diabetes erzählt?«
Konrad Simonsen erstarrte.
»Woher, um alles in der Welt, wissen Sie denn …«
Er verstummte und riss sich zusammen. Die medizinischen Expertisen des Professors waren legendär. Trotzdem musste er in diesem Fall geraten haben, wobei Konrad sich durch seine Reaktion selbst entlarvt hatte. Schnell wechselte er das Thema.
»Ist die Halle freigegeben?«
»Ja, die Spurensicherung hat vor einer Viertelstunde das Feld geräumt, aber halten Sie sich noch von der Hintertür und den Umkleiden fern. Wie ich höre, haben Sie in diesem Fall freie Hand. Stimmt das?«
»Vermutlich.«
»Dann sollten Sie Planck einschalten, wenn er nicht schon zu senil ist. Gemeinsam erzielen Sie die besten Resultate, außerdem ist er begabter als Sie.«
»Er ist keineswegs senil. Gehen wir rein?«
»Ja, natürlich, gut gekontert, lieber Konrad.«
Mitten in der Halle hingen fünf nackte Männer, jeder mit einer aus einem dicken blauen Nylonseil gefertigten Galgenschlinge um den Hals. Die Seile waren an soliden Schaukelhaken befestigt, die in die etwa sieben Meter hohe Decke geschraubt worden waren. Die Füße der Toten hingen zirka einen halben Meter über dem Boden, und die Körper waren mit einem Abstand von gut zwei Metern nebeneinander so plaziert, dass die vier äußeren ein Quadrat beschrieben, dessen Seiten parallel zu den Wänden der Halle verliefen. Allen Leichen fehlten die Hände, während die Unterarme vom Ellenbogen bis zum Handgelenk intakt waren. Ihre Gesichter waren zerfleischt, keine menschlichen Züge waren mehr zu erkennen, und auch ihre Geschlechtsorgane fehlten oder waren verstümmelt worden. Durch den Tod und die Verletzungen glichen sich die Männer auf seltsame Weise, als wären ihre physischen Unterschiede nicht mehr von Bedeutung. Konrad Simonsen kannte dieses Phänomen und wusste, dass die Individualität der Toten wieder Form annehmen würde, wenn er sie nur lang genug betrachtete.
»Motorsäge?«
Arthur Elvang nickte. Das war einer seiner Vorzüge. Er schreckte nicht davor zurück, seine unmittelbaren Vermutungen mitzuteilen, und unterschied sich damit von den meisten anderen Pathologen, die Konrad Simonsen kannte. Nicht wenige äußerten sich kaum über das Geschlecht einer Leiche, bevor sie kein CT gemacht hatten. Und die Amtsärzte waren noch schlimmer.
»Während sie am Leben waren?«
»Nein.«
Die Antwort erleichterte ihn, das Ganze war so schon grausam genug, obgleich er zu seiner Überraschung nicht physisch reagierte. Vielleicht, weil inzwischen gelüftet worden war oder er Zeit genug gehabt hatte, sich auf diesen Anblick vorzubereiten. Wenn er nach alldem, was er in seinem Leben bereits gesehen hatte, nicht einfach psychisch abgestumpft war. Er wusste nicht, welche Erklärung zutraf, aber war das überhaupt von irgendeinem Interesse? Für ihn selbst auf jeden Fall nicht.
Er ging weiter langsam um die Männer herum.
Jeder von ihnen musste stark geblutet haben, aber trotzdem war erstaunlich wenig Blut zu sehen. Unter jedem Toten war nur ein kleiner, trockener Fleck von der Größe eines Tennisballs. Nicht nur die Hälse, die Brust und die Schenkel waren blutverschmiert, sondern auch ihre Haare starrten vor Blut. Ansonsten gab es keine Blutspuren, sah man einmal von dem süßlichen Geruch ab, der sich mit dem Gestank der Körperflüssigkeiten und des Kots vermischte. Die niedrigen Temperaturen und die drei geöffneten Fenster taten aber das ihre und machten die üblen Ausdünstungen erträglich. Die gelblich weiße, aufgedunsene Haut der Leichen ließ ihn an aufgehängte Schweinehälften in einem Schlachthof denken, eine respektlose Assoziation, die er zu seiner eigenen Verärgerung aber nicht abschütteln konnte.
Er konzentrierte sich auf die Köpfe der Männer, während er ohne Eile zwischen den Körpern hindurchging und jeden einzelnen genau musterte. Die Schnitte unterschieden sich von Person zu Person, dreien hatte man das Gesicht komplett weggesägt, indem man mit der Sägekette parallel zum Torso von der Stirn zum Kinn gefahren war, so dass das Gehirn, die Kieferhöhlen und der Rachen freigelegt waren. Bei den beiden anderen war das Gesicht kreuz und quer zersägt worden, wobei die Sägekette senkrecht in ihre Gesichter eingedrungen war. Zwei hatten noch ihre Zungen und einige wenige Zähne, und einem war sogar ein fast unverletztes Auge geblieben.
Ebenso schonungslos war mit den Geschlechtsorganen verfahren worden. Zwei Männern fehlten sowohl Penis als auch Hoden, zweien nur der Penis, und beim letzten war der Schnitt so tief geführt worden, dass die Blase aus dem Leib gerutscht war und über die Leiste hing, während seinem Glied nur die Eichel fehlte. Der Mann, der in der Mitte hing, hatte seinen Darm entleert, trockener, schwarzer Kot klebte zwischen seinen Pobacken und an der Rückseite seiner Schenkel. Eine Handvoll Fliegen hatte sich bereits eingefunden. Die Schnitte an den Handgelenken waren sauber und präzise, Konrad Simonsen konnte das Mark der zwei Unterarmknochen erkennen, wobei ihm plötzlich in den Sinn kam, dass der eine Ulna und der andere Radius hieß. Welcher davon aber der große und welcher der kleine war, wusste er nicht mehr.
Er begann noch einmal von vorn und schritt erneut die Leichen ab. Dieses Mal achtete er auf besondere Kennzeichen. Eine unqualifizierte Schätzung sagte ihm, dass die Männer zwischen vierzig und siebzig waren. Einer trug einen goldenen Ring im linken Ohr und hatte eine verblichene Adlertätowierung auf der rechten Schulter. Zwei hatten Narben einer Blinddarm- oder Leistenbruchoperation. Eine Leiche war kahl und hatte eine unnatürlich braune Hautfarbe, vermutlich Solarienbräune. Die Leiche in der hintersten rechten Ecke hatte lange, ungeschnittene Zehennägel, die von Nagelpilz infiziert waren und wie Speckschwarten aussahen. Im rechten Gehörgang steckte ein Zahn mit einer Goldplombe.
Bei seinem letzten Rundgang widmete Simonsen seine Aufmerksamkeit den Seilen, die mit mathematischer Präzision parallel zu den Seiten der Halle aufgehängt worden waren. Stellte er sich in die Flucht und kniff ein Auge zu, war das hintere Seil nicht zu erkennen, und das galt für beide Richtungen. Wer immer die Haken in die Decke geschraubt hatte, hatte sich viel Mühe gemacht.
Konrad Simonsen schloss seinen Rundgang ab und ging zu Arthur Elvang, der den Leichen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte und sich zu langweilen schien.
»Ihr erster Eindruck?«
Der Professor zögerte nicht.
»Sie wurden hier am Mittwoch oder Donnerstag aufgehängt. Vermutlich handelt es sich bei den Toten um Dänen. Aber fragen Sie mich nicht, wie die aufgehängt worden sind oder warum hier so wenig Blut ist.«
»Wann können Sie mir den genauen Zeitpunkt sagen?«
Der Mann seufzte, er war nicht mehr jung, und der Gedanke an die ihm bevorstehende Nachtarbeit behagte ihm nicht.
»Ich werde Verstärkung rufen müssen. Zum Überstundentarif, den Sie bezahlen.«
»Klar. Holen Sie sich so viele Leute, wie Sie brauchen.«
»Rufen Sie mich nach Mitternacht an.«
»Das werde ich tun.«
Konrad Simonsen hatte nur noch eine Frage, die es dafür aber in sich hatte und den Kompetenzbereich des Professors streng genommen überstieg. Andererseits hatte dieser Mann so viel Erfahrung und häufig das richtige Gespür für eine Situation, dass es Simonsen plausibel erschien, diese Frage zu stellen.
»Terrorismus?«
Es dauerte einen Moment, bis Arthur Elvang den Sinn der Frage erfasste, doch dann drehte er richtig auf. Er hob beide Hände an die Ohren, winkte wild und rief sarkastisch mit hysterisch kindlicher Stimme: »Uha, uha, uha, die Trolle kommen. Und kommen sie nicht aus dem Wald, so entsteigen sie dem Meer.«
Konrad Simonsen ignorierte sein auffälliges Benehmen und sagte kalt: »Elfter September, Bali, Beslan, Madrid, London. War das auch Paranoia, verehrter Herr Professor?«
Sie sahen sich einen Moment in die Augen, dann seufzte der Alte.
»Wenn Sie an heilige Krieger mit Krummsäbeln und dem Glauben an ein Kalifat denken, sehe ich nichts, was darauf hindeuten würde. Aber ich weiß auch nicht wirklich, nach was ich suchen müsste. Ihre Frage ist unqualifiziert.«
»Mag sein, aber man wird sie mir den Rest des Tages stellen.«
Arthur Elvang antwortete nicht. Er sah ein letztes Mal zu den Leichen hinüber und schüttelte langsam den Kopf. Mit seiner von Leberflecken übersäten hohen Stirn, den schütteren, zerzausten Haaren und der eingefallenen Brust erinnerte er irgendwie an ein Vogeljunges. Dann sagte er: »Ich war 1995 in Ruanda.«
»Ich dachte, Sie würden nicht fliegen.«
»Nur bei Völkermord. Vier Monate lang fuhr ich buchstäblich von einem Massengrab zum nächsten. Dort sind so unfassbar viele Menschen ermordet worden. Das spottete jeder Beschreibung, ich habe da Ausschreitungen und Erniedrigungen erlebt, die Sie sich nicht in Ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können. Unbeschreiblich beängstigend, aber das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war, nach Hause zu kommen und zu erleben, dass das hier niemanden interessierte. Die Opfer hatten ganz einfach die verkehrte Hautfarbe für die Nachrichten, es galt damals fast als ein Zeichen des schlechten Geschmacks, an diese Kata-strophe zu erinnern, also verzeihen Sie mir, wenn ich ein etwas zynisches Verhältnis zu dem Begriff Terrorismus habe.«
Konrad Simonsen fühlte sich leer.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Dafür gibt es auch keine passenden Worte. Vergessen Sie’s, das tun die anderen auch alle. Aber sagen Sie mir, woher Sie wissen, dass ich nicht gerne fliege.«
»Das ist mir zu Ohren gekommen.«
»Doch wohl nicht wegen dieses Gerüchts, dass die Hotelbranche bestrebt ist, mein Leben zu verlängern, weil dank meiner Flugangst immer mehr internationale Kongresse in Kopenhagen abgehalten werden?«
Konrad Simonsen spürte eine leichte Wärme auf seinen Wangen.
»Doch, so etwas in der Art kann das gewesen sein.«
Die Tür am Ende der Turnhalle wurde geöffnet. Arne Pedersen, die Comtesse und Pauline Berg traten ein, gefolgt von Poul Troulsen.
»Sie sind doch ein Trottel, erstaunlich, dass unser Land einen Chefermittler bezahlt, der an einen solchen Blödsinn glaubt. Das ist wirklich erschreckend. Schämen Sie sich und holen Sie einen Eimer.«
»Was wollen Sie denn mit einem Eimer?«
»Ihr Küken da scheint noch nicht gelernt zu haben, seine menschlichen Reaktionen im Zaum zu halten.«
Die Warnung kam zu spät. Gleich darauf klappte Pauline Berg zusammen und erbrach sich auf den Hallenboden, ohne die Plastiktüte zu benutzen, die sie für alle Fälle in der Hand hielt. Arne Pedersen blickte auf seine vollgespritzten Schuhe und zog ein Taschentuch aus seiner Tasche, es war aus weißer Naturseide und sicher teuer. Er kam gerade noch dazu, seinen Fuß zu heben, als die Comtesse ihm das Tuch aus der Hand schnappte und es Pauline Berg reichte, die dankbar zu ihm aufsah, bevor sie sich erneut übergab.
Die Leichen waren aus der Turnhalle verschwunden, und alle Fenster standen offen, doch trotzdem fand Pauline Berg, dass es stank, als sie durch die Tür trat. Vermutlich spielten ihre Sinne ihr einen Streich, doch heute gelang es ihr, sie unter Kontrolle zu bringen. In der Mitte der Halle saß Konrad Simonsen auf dem Boden und starrte an die Decke. Er erinnerte sie an einen Mönch in einer Pagode, und sie hatte keine Ahnung, was er dort trieb.
»Arne sagte, du wolltest mit mir sprechen?«
Sie hörte selbst, dass sie wie ein unsicherer Prüfling klang. Normalerweise kam sie mit Männern gut zurecht, meist wurde sie für hübsch und begabt gehalten, aber ihr Chef war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Abgesehen davon, dass er ihr manchmal einen tadelnden puritanischen Blick zuwarf, was ihre Kleidung anging, schien er sie die meiste Zeit zu ignorieren. Auf jeden Fall, was die persönliche Ebene betraf. Sie folgte seiner Handbewegung und setzte sich neben ihn.
»Hast du die Toten noch gesehen?«
»Ja, der nette alte Doktor, ich habe seinen Namen vergessen, hat mich anschließend noch herumgeführt und mir alles erklärt, dadurch war es nicht so schlimm.«
»Der nette alte Doktor heißt Arthur Elvang, und uns ist allen schon einmal schlecht geworden. Du bist mit Sicherheit nicht die Einzige, die sich heute übergeben hat. Mit der Zeit härtet man ein bisschen ab, wobei ich nicht weiß, ob das wirklich gut oder eher ein schlechtes Zeichen ist.«
»Auf jeden Fall ist es praktischer.«
Sie versuchte sich an einem Lächeln, ohne dafür aber belohnt zu werden. Die ganze Situation kam ihr komisch vor, und sie rutschte auf ihrem Platz hin und her. Vielleicht bemerkte er ihre Unruhe, oder er las ihre Gedanken, auf jeden Fall sagte er: »Es gibt einen Grund, weshalb wir hier sitzen, ich komme später noch darauf zu sprechen. Erzähl mir, wie der Hausmeister reagiert hat, als du ihn gefunden hast.«
»Eigentlich hat ihn ja einer der Hundeführer gefunden, oder, besser gesagt, der Hund. Er war unten am Fußballplatz in einem Geräteschuppen und hat vorgegeben, gerade erst wach geworden zu sein. Ich weiß nicht … es gibt da eigentlich nicht viel zu erzählen. Er hat mich fast übersehen, sieht man mal davon ab, dass er gesagt hat, er wolle meinen Klassenlehrer darüber informieren, dass ich mir dieses Regencape genommen habe. Arne war so nett …«
»Ja, ich weiß, nett von Arne, zurück zum Hausmeister.«
»Mit dem Regencape wollte er mich natürlich nur aufziehen, aber ansonsten war er ganz umgänglich. Wir haben ihn dann bei der Comtesse abgeliefert. Er hatte Angst vor dem Hund, deshalb hat der Hundeführer seinem Tier den Befehl gegeben, auf dem Sportplatz zu bleiben, mitten im Regen.«
»Was hast du für einen Eindruck von ihm?«
»Spontan wirkt er ziemlich heruntergekommen, er stinkt nach Bier und braucht ein Bad, andererseits … ist er auch … das ist schwer zu beschreiben.«
»Nimm dir Zeit, ich habe Geduld.«
Sie dachte nach, während Konrad Simonsen wieder zur Decke blickte.
»Der ist nicht wirklich so fertig, da bin ich mir ziemlich sicher. Und er ist irgendwie … aufmerksam.«
»Präsent?«
»Ja, nein. Nein, nicht wirklich präsent, es ist nur so, als wüsste er die ganze Zeit, was vor sich geht, obgleich seine Antworten total daneben sind.«
»Warst du dabei, als er befragt wurde?«
»Nur am Anfang. Troulsen und die Comtesse haben ihn verhört, und es war irgendwie klar, dass ich nur zuhören sollte, aber ich habe den Rest gelesen. Das Band wurde ins HS geschickt, und nach einer Stunde hatten wir schon die Abschrift, dieses Mal stehen uns wirklich Ressourcen zur Verfügung, so etwas habe ich noch nie erlebt.«
Konrad Simonsen bemerkte, dass sie das Präsidium als HS bezeichnete, bisher hatte sie das noch nicht getan. »HS« für »Head Square«, wie sie in der Mordkommission schon seit einiger Zeit zu sagen pflegten. Er antwortete: »Ich auch nicht, du warst also nur am Anfang mit dabei?«
»Ja, dann haben sie mich weggeschickt, um einen Fernseher aufzutreiben. Wir wollten doch deine Pressekonferenz verfolgen.«
»Um mitzukriegen, ob ich einen Fehler mache?«
»Das war ja nicht meine Idee.«
Sie zögerte und sagte dann vorsichtig: »Sie meinten, diese Auftritte vor der Presse gehörten nicht gerade zu deinen Spitzenkompetenzen.«
»So, so, haben sie das gesagt. Und was meinst du? Habe ich mich lächerlich gemacht?«
Er war schwer zu durchschauen, aber sie versuchte trotzdem, einigermaßen ehrlich zu antworten.
»Nein, das finde ich nicht. Eigentlich hast du ja gar nichts gesagt, die meiste Zeit haben die anderen geredet, aber diese Platinblonde vom Dagbladet, die magst du nicht, oder?«
»Sie heißt Anni Staal und ist ein Fehltritt in der Entwicklung der Menschheit, aber persönlich habe ich nichts gegen sie, obwohl man sie des Landes verweisen sollte. War das im Fernsehen so deutlich zu erkennen?«
»Nein, das glaube ich nicht. Nur wenn man dich kennt.«
»Wie du?«
Für einen kurzen Moment war alles wieder wie bei einer Prüfung, dann tätschelte Konrad Simonsen väterlich ihr Knie, um seinen Worten die Spitze zu nehmen.
»Genug davon. Sag mir, wie du dich gefühlt hast, als Per Clausen dich mit deinem Alter aufgezogen hat.«
Pauline Berg war verwirrt.
»Ja, wie sah es in dir aus? Was hast du gefühlt?«
»Ist das wichtig?«
»Vielleicht, vielleicht nicht? Versuch mir eine Antwort zu geben.«
Sie schloss die Augen, um sich die Situation in Erinnerung zu rufen, und sah somit nicht das anerkennende Nicken ihres Chefs.
»Das war nicht böse gemeint. Er hat mich angesehen, fast als wären wir Freunde. Der war nicht aufdringlich, oder so, wenn du verstehst.«
»Ja, das verstehe ich, sonst noch etwas?«