19,99 €
Was verbirgt sich in einer Wolke? Wie entstehen Jetstreams und Hurrikans? Wie konnten polynesische Entdecker gen Osten fahren, wenn die Passatwinde Schiffe seit Jahrhunderten gen Westen treiben, und was genau ist El Niño? Nach 30 Jahren an Bord verschiedenster Schiffe teilt Elliot Rappaport mit uns sein Wissen über das Wetter. Er nimmt uns mit auf Segelreisen von der mexikanischen Küste bis ins Herz der Tropen, von den eisigen Gewässern Grönlands bis in die Roaring Forties. Ausgehend von seinen Erlebnissen auf See erklärt Rappaport packend und anschaulich Phänomene wie Gewitter, Eisbildung oder Vulkanismus und bringt uns die Großkreisnavigation oder die Funktionsweise des Radars nahe. Nicht zuletzt schlägt er den Bogen zu größeren Zusammenhängen wie der Klimaentwicklung und versteht es so, persönliche Erfahrung mit Wissenschaft zu verbinden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 507
Elliot Rappaport
Wie Wolken, Wind
und Wellen unser Leben
bestimmen
Aus dem
amerikanischen Englisch
von Rudolf Mast
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
Reading the Glass: A Captain’s View of Weather, Water, and Life on Ships
bei Dutton, einem Imprint von Random House LLC.
Copyright © 2023 by Elliot Rappaport
Der Übersetzer dankt Reinhard Budich für
freundschaftlich erteilten fachlichen Rat.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich
geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text-
und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
© 2024 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag
Illustrationen Matthew Twombly
Coverabbildung Terence Pieters
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-843-4
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-677-5
www.mare.de
Für Karen
Vorwort Davisstraße
1 Im Stundentakt
2 Grundregeln
3 Der Wolkenwald
4 Die gewundene Schlange
5 Das Dach Gottes
6 Das Mutterschiff
7 Volta do Mar
8 Zur Sicherheit
9 Ein Fluss aus Wind
10 Muscheln aus grauer Vorzeit
11 Vorstoß ins Eis
12 HTHH
13 Traumberuf
14 Im Monat Färz
Quellen
Literatur
Dank
Wo ist dein alter Mut! Du sagtest oft:
Es sei das Unglück Prüfstein der Gemüter,
Gemeine Not trag ein gemeiner Mensch.
Es segl’ auf stiller See mit gleicher Kunst
Ein jedes Boot …
William Shakespeare,
Coriolanus, 3. Aufzug, 4. Szene
1994
Nächte kennt der arktische Sommer nicht, sondern nur ein diffuses, kaltes Leuchten, das sich mühselig über den Horizont hervorkämpft und dort langsam mit dem Himmel verschmilzt. Die pechschwarze Meeresoberfläche ist mit einem feinen Dunst überzogen, der an die Ausdünstungen einer Gefriertruhe erinnert. Um 0215 kommt der Dritte Offizier, der wie für einen Weltraumspaziergang gekleidet ist, mit einer aktuellen Wettermeldung unter Deck. Als ich in die Koje ging, zogen wir flink wie eine Möwe unsere Bahn. Jetzt flaut der Wind, der seit vierundzwanzig Stunden aus Südwest weht, ab und beginnt zu drehen. Der Luftdruck ist laut Barometer von 1016 auf 994 Millibar gesunken und scheint sich seinem Tiefststand zu nähern. Plötzlich spricht viel dafür, den Moment zu nutzen, um die Segelfläche zu verringern. Als die Freiwache zur Wachablösung erscheint, ergreifen wir die Initiative und bergen die Hälfte der Segel, bis nur noch ein Klüver, die Fock und statt des Großsegels das Trysegel bleiben.
Mit einem letzten Seufzer schläft der Wind ein, und die Luft wird schneidend kalt. Die Besatzungsmitglieder, deren Wache zu Ende geht, verabschieden sich feixend und verschwinden in den Kojen. Eine leichte Brise aus Nord setzt ein. Eine Stunde später wütet ein Sturm. Wir bergen die Fock. Der Wind reißt die Kausch am Schothorn des Trysegels heraus. Das Tuch schlägt wütend über dem Achterdeck hin und her und gibt erst Ruhe, als wir es ebenfalls geborgen haben. Pünktlich zum Frühstück erreichen die Böen Windstärke zehn – schwerer Sturm –, eisige Gischt peitscht wie Vogelschrot über das offene Deck.
Unter diesen Bedingungen Fahrt voraus zu machen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wir werfen die Maschine an und lassen sie langsam mitlaufen, um nicht allzu weit in die Richtung versetzt zu werden, aus der wir kommen. Ich gebe dem Steuermann Anweisung anzuluven. Dank der entgegengesetzt wirkenden Kraft, die das letzte Segel ausübt, und dem leichten Vortrieb durch den Propeller liegt unser Schoner so stabil im Wind wie ein Seevogel, nur dass er von den Wellen, die sich vor dem Bug aufbauen, in einem stetigen Rhythmus zehn Meter in die Höhe gehoben und wieder hinabgeworfen wird. Weil sich in der Bewölkung eine kleine Lücke auftut, ändert sich die Farbe des Wassers von Schwarz zu Grau, sofern es nicht gerade vom Sturm in weiße Streifen zerrissen wird. Die Lufttemperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, das Wasser ist nur geringfügig wärmer. Der Wind heult. Die Augen offen zu halten ist schmerzhaft, und ich sehne mir eine Schwimmbrille herbei.
Da der Wind gegen die See steht, hat sich eine steile Welle aufgebaut, große grüne Brecher ergießen sich über das Deck oder rollen unter dem Schiff hindurch, das sich aufbäumt und wieder hinabstürzt. Die nächste Welle erhebt sich parallel zum Schiff und steht wie die Scheibe eines Aquariums längsseits neben uns. Ich schaue hindurch und erblicke unvermittelt dunkle Schemen, die sich dahinter bewegen – eine Schule Grindwale, tiefschwarze, zwei Tonnen schwere Meeressäuger, die direkt auf mich zukommen. Ich gehe in die Hocke und suche Schutz. Das Schiff erklimmt den nächsten Wellenkamm, und die Tiere stoßen genau dort durch die Wasseroberfläche, wo wir uns noch vor wenigen Augenblicken befunden haben. Man könnte meinen, einer Vorstellung in SeaWorld beizuwohnen, denn wie auf Kommando segeln sie im Bogen durch die Luft, ehe sie unter dem Heck verschwinden.
Es wird Zeit für einen Kaffee. Damit niemand an die Reling herantreten muss, haben wir an Deck Strecktaue gespannt, die an die Begrenzungen eines Boxrings erinnern. Ich arbeite mich bis zur Luke vor, die in die Kombüse führt, und versuche mich dabei so zu bewegen, dass der Sturz in die Öffnung halbwegs grazil aussieht. Unter Deck ist es verblüffend still. Die Mitglieder der Freiwache liegen schlafend in ihren Kojen, wo sie sich mithilfe überzähliger Kleidungsstücke festgekeilt haben. Ein einzelner Mann steht aufrecht am Tisch, isst nachdenklich ein Snickers und starrt ins Leere. Bob ist unser Mediziner, ein ungemein beliebter Arzt, der in jener Stadt an der Küste Maines, in der auch ich lebe, eine Hausarztpraxis betreibt – wegen seines vorgerückten Alters nur noch stundenweise. Er sieht ein bisschen aus wie Burt Lancaster. Wie ich inzwischen weiß, hat er vor seinem Medizinstudium im Pazifik als Offizier auf einem Patrouillenboot gedient, seither aber kaum mehr Seeluft geschnuppert. Ich habe die strikte Anweisung, ihn lebend zurückzubringen.
Ich finde eine saubere Tasse, und während ich sie aus der Thermoskanne fülle, hänge ich der Frage nach, was mich in diese Situation gebracht hat. Gute Frage.
Professionelle Segler ähneln gewerblichen Piloten – beide sind lizenzierte Akteure im Transportwesen, deren Qualifikation sich zu gleichen Teilen aus praktischer Erfahrung und theoretischer Ausbildung speist. Allerdings ist eine Laufbahn in der Seefahrt im Jet-Zeitalter seltener und weniger öffentlichkeitswirksam, auch und vor allem in den USA. Die meisten der Freunde, mit denen ich gemeinsam das College besucht habe, arbeiten heute als Juristen, Mediziner oder Dozenten an irgendeiner Hochschule. Weil mich all das nie interessiert hat, habe ich mich dem Segeln verschrieben, bis sich die Gelegenheit ergab, aus der Berufung einen Beruf zu machen. Deshalb war ich nun in der Situation, in der ich mich befand; deshalb war ich verantwortlich für ein altes Holzschiff und sechzehn Menschenleben, während der eisige Regen waagerecht fiel und sich das Meer in steile graue Wasserwände verwandelte, die ringsumher aufragten.
Wieder einmal erweist sich, dass man nirgends so sehr Anlass hat, sich mit dem Wetter zu beschäftigen, wie auf einem Segelschiff. Motorschiffe sind nicht auf den Wind angewiesen, um dorthin zu kommen, wo sie hinwollen, auch wenn ihre Besatzungen natürlich dann und wann einsehen müssen, dass extremes Wetter einen Strich durch ihre Rechnung machen kann. All jenen aber, die sich für die deutlich angestaubtere Fortbewegung per Windkraft entscheiden, bedeutet das Wetter alles. Sich damit auszukennen ist gleichbedeutend damit, sicher an sein Ziel zu gelangen beziehungsweise zu wissen, wann man es lieber gar nicht erst versucht. Und nicht zuletzt versöhnt das Wissen um das Wetter mit jenen trübseligen Tagen, die man unter widrigen Bedingungen verbringt und doch nicht ändern kann.
So komplex das Ergebnis auch sein mag, sind es letztlich nur wenige wissenschaftliche Prinzipien, von denen das Wetter angetrieben wird. Die Atmosphäre setzt sich aus verschiedenen Gasen zusammen, die nach dem physikalischen Prinzip, das Temperatur und Druck in Beziehung setzt, von der Sonne unterschiedlich stark erwärmt werden. Wetter ist letztlich nur atmosphärische Bewegung, ein dreidimensionaler Kreislauf, der Ungleichgewichte nivelliert, indem er Energie rund um den Globus umverteilt. Diese Vermischung wird von der Erdrotation in eine Drehbewegung versetzt und mit einem Wasserkreislauf verbunden, der Wärme und Feuchtigkeit pausenlos von einem Ort zum anderen trägt. Schon vor langer Zeit haben Wissenschaftler diesen Vorgang im Prinzip durchdrungen, aber die Veranschaulichung von Prozessen in der Atmosphäre in Echtzeit ist erst im Zeitalter der Datenerfassung, der Ära von Flugzeugen, Satelliten und Supercomputern, möglich.
Wer eine Reise in einem Segelboot plant, versucht, für jede Etappe die zu erwartenden Bedingungen von Wind und Wellen zu erfassen. Ändern sich die Bedingungen, ändert sich der Plan. Der Tagesablauf ist davon bestimmt, dass fortwährend neue Informationen empfangen und verarbeitet werden. Was sehen wir? Was sagt die Vorhersage? Welche Bedingungen herrschten auf der letzten Reise? Durch die Akkumulation von Erfahrung wird ein Anfänger zum Experten. Segler lieben es, lange Geschichten über das Wetter zu erzählen, aber diese Gespräche dienen vor allem dem Zweck, sich Wissen anzueignen und es weiterzugeben, ein Wissen, das auf dem gemeinsamen Verständnis einer komplizierten und potenziell gefährlichen Umwelt gründet.
Wie Piloten, Dachdecker und Bergsteiger sind Seeleute von Haus aus stets und ständig mit dem Wetter befasst, das ein wesentlicher Bestandteil ihrer Tagesplanung ist. Schon seit Studententagen beschäftige ich mich intensiv mit dem Wetter. Aber den Sturm, um den es hier geht, habe ich in der Rückschau als eine entscheidende Wende erlebt, als Wasserscheide, die mich hat begreifen lassen, wie eng mein Beruf mit einem Prinzip verwoben ist, das seinem Wesen nach jedes Mal aufs Neue unterschiedlich auftritt. Ich fühlte mich mehr an eine Beziehung erinnert denn an das Studium – an den lebenslangen Versuch, Rubiks Würfel zu lösen, dessen eine Seite der Plan ist, den du verfolgst, während sich auf den fünf anderen Seiten das Meer und die Atmosphäre austoben.
Unter Deck hebe ich derweil die Bodenbretter an, um nachzuschauen, ob wir schon sinken. Mir ist klar, dass ein anderes Crewmitglied die Aufgabe übernommen hat, aber jeder Kapitän eines Holzbootes hat bei schlechtem Wetter die tausend Einzelteile vor Augen, aus denen so ein Schiff zusammengesetzt ist, und schaut reflexartig von Zeit zu Zeit in die Bilge. Wir sinken nicht. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass das Schiff dieser Art von Misshandlung weitaus eher gewachsen sein dürfte als die Besatzung. Die Bowdoin, die sich auf ihrer achtundzwanzigsten Reise nach Grönland befindet, ist ein stabiles kleines Schiff, das für die Fahrten in die Arktis gebaut wurde, als das Gebiet noch eine weitestgehend unkartierte Ansammlung von Eis und Felsen war. In Booten, die diesem glichen und fast allen Problemen gewachsen waren, vor die ihre Crews sie stellten, gingen Fischer das ganze Jahr über auf der Neufundlandbank ihrer Arbeit nach. In Momenten wie diesem kann man wenig mehr machen als warten, die Langeweile aussitzen und hoffen, von Katastrophen verschont zu bleiben. Deshalb steht ein Ausguck an Deck. Deshalb schauen wir in die Bilge. Die meisten Besatzungsmitglieder schlafen. Am späten Nachmittag bittet mich ein Mitsegler in den Kartenraum.
»Der Wind flaut ab«, sagt er.
Am nächsten Morgen ist der Sturm einem sonnigen Tag und einer kabbeligen See gewichen, die sich allmählich beruhigt. Die Anzeige auf dem Barometer erhebt sich aus dem Grab und steigt im selben Maße, in dem der Wind sich legt. Die Route von Neufundland nach Grönland ist eine tausend Seemeilen lange, nach Norden weisende Gerade, die über einen Teil des Ozeans führt, der nicht sonderlich viel Beachtung findet. Informationen über das Wetter gab es nur hin und wieder über einen rauschenden Kurzwellensender und aus unscharfen Karten, den Rest mussten wir uns selbst zusammenreimen. Der Sturm hat uns deshalb nicht gänzlich unvorbereitet getroffen, aber unsere Maßnahmen waren eher eine Reaktion denn eine planvolle Vorbereitung. Ich vermisse das beruhigende Knacken der Vorhersagen des US-amerikanischen Wetterdienstes (National Oceanic and Atmospheric Administration, NOA A), den ich zu Hause empfange.
Als wir zwei Tage später Land sichten, ist das Wetter noch immer auf unserer Seite. Im Osten kommen die Konturen der grönländischen Küste in den Blick, ein Wall aus schwarzen Bergen, zwischen denen sich Gletscher und graue Wolken talwärts ergießen. Die arktische Sonne zieht seitwärts über den Himmel, um bei Tagesanbruch als greller Schein zwischen den Bergen aufzutauchen, als wäre dort unvermittelt die Tür eines Hochofens aufgegangen. In gefütterte Overalls gekleidet, die uns dick und unförmig wirken lassen, hat sich die komplette Besatzung versammelt und starrt gebannt auf die Szenerie. Plötzlich meldet sich durch die offene Luke zum Kartenraum das Funkgerät. Der aktuelle Wetterbericht für die Region wird durchgegeben.
Auf Dänisch.
»Buen viaje«, sagt der Taxifahrer.
Er steckt das Fahrgeld ein, beugt sich vor, um das Radio lauter zu drehen, und schaut im Rückspiegel nach dem Verkehr.
Das Schiff wartet nebenan am Kai, ein rahgetakelter Anachronismus, der inmitten der Palmen und Aluminiummasten leicht zu erkennen ist. Ich nicke Menschen zu, die ich zu kennen glaube, und trage mein Gepäck über die Gangway – eine Prozedur, die mir, seit ich zwanzig bin, zur Gewohnheit geworden ist. Doch bis heute stellt sich dazu stets ein leichtes Schwindelgefühl ein. Eine Reise beginnt.
Die Robert C. Seamans ist ein 42 Meter langes Schulschiff aus Stahl und dafür ausgelegt, 38 Besatzungsmitglieder über alle Ozeane dieser Welt zu tragen. Oberhalb der Wasserlinie ist sie weiß, die Spieren sind hellbraun, die Ausrüstung gepflegt, wenngleich mit einer Patina überzogen, die für Schiffe, auf denen gearbeitet wird, charakteristisch ist. Zu beiden Seiten des Bugs prangt auf sogenannten Trailboards ihr Name. Benannt ist sie nach Robert Seamans, einem der führenden Köpfe im goldenen Zeitalter der Luftfahrt, der zur Zeit des Apollo-Programms stellvertretender Leiter der NASA und später als Minister für die Air Force verantwortlich war. Als seine Familie eine Stiftung gründete, um ein Schiff bauen zu lassen, das der wissenschaftlichen Forschung und Ausbildung dienen sollte, soll er gesagt haben: »Gute Idee – aber bitte gebt ihm nicht meinen Namen.« Beim Präsidenten der Vereinigten Staaten mag seine Stimme Gewicht gehabt haben, in diesem Fall aber verpuffte sein Einwand.
Zusammen mit einem Schwesterschiff fährt die Seamans für die SEA Education Association, eine kleine Bildungseinrichtung in Woods Hole, Massachusetts, einem Zentrum der wissenschaftlichen Forschung. Dort habe ich ein winziges, unaufgeräumtes Büro. Man erreicht es über einen Flur, der von dem Eingangsbereich abzweigt, der wiederum voller Seekarten und Schiffsmodelle hängt. Von hier geht es auch zu den Hörsälen, in denen wir junge Menschen auf ihre ersten Schritte auf See vorbereiten – sofern das überhaupt möglich ist. Die SEA hat mich große Teile meines Seglerlebens lang auf Trab gehalten – eine zwar faszinierende Beschäftigung, aber keine sonderlich einträgliche. Im Laufe der Jahre bin ich mitsamt meinem riesigen Seesack ungezählte Meilen geflogen, um irgendwo auf der Welt dieses oder jenes Schiff zu erreichen und kurz nach meiner Ankunft Teil der immer gleichen Routine zu werden, nach der ein Schiff in See sticht.
»Wann geht’s wieder los?«, fragt meine Mutter. »Atlantik oder Pazifik?«
»Da muss ich auf mein Flugticket schauen.«
In Puerto Vallarta treffe ich zur schönsten Tageszeit ein – kurz vor dem Sonnenaufgang leuchten die Berge, die die Stadt umstehen, orange, während der Himmel selbst noch tiefblau ist. An der Einfahrt zum Hafen, hinter einer nur schemenhaft erkennbaren Vegetation, flimmert auf einer Videowand noch Werbung, als wäre dies hier eine in den Süden verfrachtete Miniatur des Times Square. Das Hafenbecken hat sich seit meinem letzten Besuch auf das Doppelte vergrößert. Als Preis für den faustischen Pakt, den die Stadt mit der Kreuzfahrtindustrie geschlossen hat, mussten die Mangroven weichen. Stattdessen gibt es nun drei riesige Liegeplätze, die von Flächen mit akkurat gestutztem Rasen und glattem Asphalt gesäumt werden. In der Nachbarschaft sind Einkaufstempel entstanden, in denen die Passagiere, die die Stadt für ein paar Stunden fluten, ihr Geld ausgeben können. Galerías Vallarta Mall. Hard Rock Café. Schnellrestaurants. Die Hafenbetreiber sind zuversichtlich, auf diese Weise Reeder dazu animieren zu können, Puerto Vallarta zum Standort für ihre Kreuzfahrtschiffe zu machen, um so weitere Schiffe anzulocken und dank dieser noch unbekannten Multiplikatoren die Einnahmen zu vergrößern. Mit einem flauen Gefühl im Magen sieht man ein neues Waikiki heranwachsen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu jenem traditionellen Mexiko, das es auch hier noch gibt. Mitten in der Stadt sind zwei staubige Viehtreiber hoch zu Ross zu sehen, die sich einen Weg durch den Trubel bahnen, ihre Pferde vor dem Lebensmittelladen anbinden und ihre Besorgungen erledigen, als hätte es all die Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht gegeben.