Das wiedergeborene Kind - Martina Siems-Dahle - E-Book

Das wiedergeborene Kind E-Book

Martina Siems-Dahle

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Beschreibung

Religionen dienen nach Karl Jaspers als Angst-Quelle und Ursachen von Erkrankungen wie Psychosen, multiplen Persönlichkeitsstörungen (wie Schizophrenie) und Neurosen. Wie schwer sich Glaubensgemeinschaften und Kirchen damit tun, ihre Übergriffigkeit auf Körper und Seelen von Kindern zu verarbeiten und sich dafür zu entschuldigen, können wir ständig in den Medien mitverfolgen. Zum Inhalt: Freitag vor Pfingsten 2010 – Julia (55) widerfährt etwas Ungeheuerliches: Ein medizinischer Eingriff katapultiert sie zurück in ihre dunkelste Zeit und weckt die terrorisierende Stimme in ihrem Kopf, achtzehn Jahre, nachdem Julia die Psychiatrie als gesunder Mensch verlassen durfte. Die Stimme peinigt sie wieder mit quälenden Befehlen, beruft sich dabei auf die Wahrhaftigkeit der Bibel, wie einst Julias religiös fanatischer Vater. Ausgerechnet am Abend dieses Tages steht die fünfjährige Lucia in Julias Wohnung. Der Befehl der Stimme ist eindeutig.

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Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.

Bert Brecht

Und die Religionen sind von Menschen gemacht.

Martina Siems-Dahle

Inhaltsverzeichnis

Personen

Sünde

Julia

Agneta

Julia

Agneta

Julia

Ludovico David

Agneta

Benjamin Bender

Petra und Axel Kern

Hans-Herbert Schöller

Julia

Agneta

Hans-Herbert

Ludovico

Petra Kern

Agneta

Julia

Petra Kern

Hans-Herbert

Ludovico

Julia

Agneta

Ludovico

Agneta

Petra Kern

Benjamin Bender

Ludovico

Julia

Ludovico

Agneta

Benjamin

Lucia

Hans-Herbert und Natascha

Julia

Petra Kern

Julia

Kreuzweg

Agneta

Julia 1972 bis 1974

Julia bis 2000

Julia in ihrer Wohnung 2010

Benjamin Bender

Petra

Julia

Benjamin

Petra Kern

Wiedergeburt

Benjamin

Julia

Im Treppenhaus

Personen

Julia Bauer, 55, hat bis zu diesem Abend geglaubt, dass sie die Schizophrenie, unter der sie viele Jahre litt, überwunden hat. Das Schicksal will es anders.

Agneta von Simon, 38, vertraut für ein paar Stunden ihre fünfjährige Tochter Lucia dem Wohnungsnachbarn Ludovico David an, weil ihr Liebhaber Korbinian kommt.

Ludovico David, 45, ist ein exzentrischer, aber gleichfalls erfolgreicher Künstler, der zuweilen mit Unterstützung von Drogen und dem dystopischen Film A Clockwork Orange Schaffenskrisen überwindet. Er verspricht Agneta von Simon, auf Lucia aufzupassen.

Hans-Herbert Schöller, 74, ist Witwer. Um ihn und seinen Haushalt kümmert sich die Domina Natascha, wegen der er seine Enkelkinder nicht sehen darf. Er nimmt sich deswegen, wann immer es geht, Agnetas Tochter Lucia an.

Petra Kern, 47, hat drei Frauen zu Gast: Evamaria, Stella und Fariba. Sie genießen leckere Häppchen und reichlich Wein. Axel Kern, 43, ein Beau, hat keine gute Laune. Der Besuch nervt ihn.

Familie Bender, Zwischen dem achtzehnjährigen Benjamin und seinen Eltern, Hanno (55) und Anke (55), kommt es zu einem heftigen Streit. Die Eltern fühlen sich von ihm hintergangen.

Korbinian, 45, verheiratet, ist Film- und Fernsehproduzent und Agnetas Liebhaber.

Dieser psychologische Gesellschaftsroman ist fiktiv. Handlungen, Personen sowie Namen sind frei erfunden.

SÜNDE

JULIA

„Ich bitte dich, Julia. Du musst zum Arzt.“ Georgs warme Hände liegen auf ihren, die kalt und blass sind, obwohl sie eine Wärmflasche auf ihrem Bauch halten.

Sie stellt die Knie hoch und rutscht näher an die Rückenlehne des Sofas, um ihm mehr Platz zu machen. „Das wird schon vorübergehen.“

„Ich komme mit dir.“

„Nein, ich schaffe das.“ Sie presst ihre Zähne fest aufeinander.

„Julia“, Georg zieht langsam seine Hände weg. „Ich mache mir Sorgen. Wir haben ein langes Wochenende - wegen Pfingsten.“

Sie schiebt die Wärmflasche beiseite. „Es ist nicht so schlimm!“ Im selben Moment bohren sich Schmerzen durch den Unterleib. „Es geht bestimmt wieder vorbei. Ich will nicht dastehen wie ein Jammerlappen!“

„Es hat nichts mit Jammern zu tun, wenn du solche Schmerzen hast.“ Georg schüttelt den Kopf, zieht ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und reicht es ihr. Sie tupft sich über ihre Stirn. Kleinlaut ergänzt sie: „Du weißt doch, dass ich Angst habe. Die denken noch, ich bilde mir alles nur ein.“

Georg steht auf und geht ein paar Schritte um den Couchtisch. „Denk nicht gleich so negativ.“ Er dreht sich zu ihr um und schaut sie mit warmem Lächeln an. „Du hast so stark für deinen Erfolg gekämpft. Ich bewundere das.“

Julia richtet sich mühsam auf, die Beine immer noch angewinkelt, die Arme um ihre Knie gelegt. „Georg, ich weiß nicht, wovor ich mich mehr fürchte? Vielleicht sogar weniger vor einer ungünstigen Diagnose, als vor … dieser Entblößung. Vielleicht sind Unterleibsschmerzen das geringere Übel?“ Sie blickt zu ihm hoch, Tränen benetzen ihre Augen.

„Liebes, du hast mir so oft erzählt, wie erleichtert du dich fühlst, wenn du dich deinen Ängsten stellst.“

Sie nimmt nur am Rande wahr, wie er ihr das Taschentuch abnimmt und seine Hand reicht. Sie starrt auf einen unsichtbaren Punkt, irgendwo vor ihr.

„Herrje, Julia, so kann es nicht weitergehen!“ Georg fasst sie an den Armen, doch sie springt vom Sofa auf. Er schaut sie verblüfft an, während sie unruhig durch das Wohnzimmer läuft und dabei ihre Haare rauft. Abrupt bleibt sie stehen und fragt milde: „Meinst du wirklich, dass ich ein starker Mensch bin?“

Er macht wenige Schritte auf sie zu und nimmt sie in die Arme. Seine Nähe dämpft ihre Unruhe.

„Also gut“, sagt sie leise. „Meine Therapeutin hat mir eine Frauenärztin empfohlen. Ich rufe sie an.“

„Du machst das richtig“, er klingt spürbar erleichtert und drückt sie noch fester an sich. „Du bist so dünn geworden.“ Langsam löst er sich von ihr, die Hände auf ihren Schultern, betrachtet er sie. „Willst du dich noch etwas frisch machen? Dann fühlst du dich bestimmt gleich besser.“

„Natürlich. Entschuldige, ich bin in letzter Zeit irgendwie antriebslos.“ Sie klappt ihr Adressbuch auf, fährt mit einem Finger über das Register bis zum „P“ und schlägt die Seite auf. Dort hat sie unter dem Namen ihrer Psychotherapeutin, Amelie Weiß, den Namen der Frauenärztin notiert. Sie nimmt das Telefon, zögert, drückt endlich auf das grüne Hörersymbol, ich kann das nicht, ich will das nicht. Ihre Finger zittern, sie muss sich konzentrieren, um die Telefonnummer zu wählen, wann bin ich eigentlich das letzte Mal bei Amelie gewesen?, ich muss da jetzt durch, Georg hat Recht. Sie steckt das Telefon zurück in die Ladestation, angstfrei?, Frauenarzt, Horror, aber ich muss normal sein, wie andere Frauen, stark, ich kann das!

„Georg, könntest du für mich anrufen, während ich mich fertig mache?“

„Natürlich, ich rufe an.“

„Danke. Es geht auch ganz schnell!“

„Möchtest du, dass ich nicht zum Treffen meiner ehemaligen Kollegen gehe?“, ruft er ihr hinterher.

„Doch, natürlich triffst du sie.“ Julia huscht mit frischen Klamotten vom Schlafzimmer ins Bad. Flink zieht sie sich aus, wirft Jogginganzug, Slip und BH in die Wäschetruhe, würde sie die richtigen Worte finden, um der Ärztin die Schmerzen zu erklären? Kaum gedacht, fährt wieder ein Stich durch ihren Unterleib, der sie für den Bruchteil einer Sekunde in die dunkelste Zeit ihres Lebens katapultiert. Der Duft der Duschseife und das warme Wasser tun ihr gut.

„Es geht in Ordnung“, hört sie Georg durch die Badezimmertür rufen. „Du kannst gerne kommen, sagt die Sprechstundenhilfe.“

Was für ein Glück, dass sie vor dreizehn Jahren diesen lieben Mann kennenlernen durfte. Er ist für sie die Wiedergutmachung ihres Schicksals.

„Ich bin fertig.“ Angezogen, aber noch mit feuchten Haaren, betritt sie den Flur und nimmt Handtasche und Mantel.

„Komm doch später nach“, schlägt Georg beim Zuknöpfen seines Mantels vor.

„Mal sehen, ob mir dann nach Gesellschaft ist“, antwortet sie zögerlich.

Agneta

Agneta wirft ihren Blazer und das iPad auf die Rückbank des Mini Cabriolet. Sie lässt sich auf den Fahrersitz fallen, tritt die Kupplung, was für ein Tag!, zum Vergessen, dieser Fatzke, Axel Kern, von wegen geschäftliche Zusammenarbeit. Sie legt die Gangschaltung auf Leerlauf und dreht den Zündschlüssel um, lässt mich mein Konzept präsentieren und will nichts anderes, als mit mir …, ach, ich will’s mir gar nicht vorstellen, nun wohnt der auch noch mit seiner Frau im selben Haus, dem will ich nicht mehr begegnen!, aber warum eigentlich nicht?, ich habe mir nichts vorzuwerfen!

Ein kurzer Druck auf den Knopf über ihr lässt das Faltdach mit einem Summen zurückfahren. Agneta atmet tief durch, schließt die Augen und wartet, bis das Verdeck sich vollständig geöffnet hat, ich hätte meinem Instinkt folgen sollen.

In der Tiefgarage hatte sie ihn vor ein paar Wochen das erste Mal angetroffen. Zweifelsohne war er eine elegante Erscheinung: teurer Anzug, graumeliertes Haar, Unterlippenbärtchen. Er ging direkt auf sie zu, stellte sich vor und lud sie zur Wohnungseinweihung ein.

Agneta runzelte die Stirn, als sie am folgenden Tag vor der Kern’schen Wohnung auf Schuhe blickte: Highheels, Pumps, Stiefel im Schlangenlook, Budapester Herrenschuhe, Chucks mit und ohne Schaft standen dort fein säuberlich aufgereiht. Barfuß auf einem Empfang mit Champagnergläsern anstoßen? Das war ihr noch nicht passiert. Petra Kern, die Gastgeberin, musste Vertrauen in die Körperhygiene der Gäste haben. Agneta schlenderte an Frauengrüppchen vorbei und schaute unweigerlich auf nackte oder in Nylon eingekleidete Füße, manche mit gepflegten Nägeln, darunter aber auch gelbe, sogar schwarze; Schiefzehen, Beulen dick wie Tischtennisbälle, ein dicker Zeh schob sich sogar quer über den zweiten Zeh.

Agneta schüttelte es. Wie konnte jemand den Gästen diesen Anblick zumuten? Rockträgerinnen ohne Schuhe erscheinen ihr selten apart. Die bestrumpften Männer hatten es da besser und mussten sich keine Blöße geben.

Im marineblauen Stiftrock und hochgeschlossener weißer Bluse strahlte sie eine erotische Keuschheit aus. Sie spürte die Blicke der Männer, die ihre Gespräche unterbrachen. Frauen musterten sie aus den Augenwinkeln. Es war gar nicht lange her, als sie es genossen hatte, im Mittelpunkt zu stehen. Aber mittlerweile ödeten sie diese Gesellschaften an.

Eine junge Frau mit knöchellanger schwarzer Schürze bot ihr auf einem Tablett Getränke an. Agneta griff sich ein Glas Wasser. Auf dem Balkon standen Raucher. Sie verspürte die Lust der Sucht, die sie seit der Schwangerschaft mit Lucia erfolgreich bekämpft hatte. An einem Bistrotisch standen drei Frauen. Der Tisch war dekoriert mit einem zusammengerafften weißen Tischtuch. Darauf stand eine schmale Vase mit einer einzigen Lilie. Ein wandbreites Gemälde hinter dem hellbeigen Couchensemble gab dem Raum eine wuchtige Lebhaftigkeit. Mit einem kurzen Blick auf die geschwungene Signatur hatte sie die Handschrift ihres Wohnungsnachbarn Ludovico David erkannt.

Die Frauen unterbrachen kurz das Gespräch, nickten Agneta zu, plauderten aber so weiter, als ob sie nicht anwesend wäre. Sie bemühte sich, nicht zuzuhören, aber das war nahezu unmöglich. Auch wenn die Grazien leise, zueinander gebeugt, sprachen, verriet ihr das gekünstelte Auflachen oder eine heuchlerische Anteilnahme die Belanglosigkeit der Gespräche.

Sie wollte gehen, da ihr der Duft der Lilie Kopfschmerzen bereitete. Doch da kam Axel auf sie zu und stellte sich auf Tuchfühlung an sie heran.

„Freut mich sehr, dass Sie da sind“, er stellte sein Glas Champagner auf den Tisch und stützte sich auf den rechten Unterarm. „Meine Frau und ich fragen uns, ob Sie wohl allein mit ihrer Tochter leben?“

„Ja, das stimmt.“

„Ich finde das sehr beeindruckend. Was machen Sie denn beruflich?“ Das Gespräch der Tischdamen stoppte abrupt.

„Ich leite kein kleines Familienunternehmen“, antwortete Agneta in Anlehnung an eine TV-Werbung und wich einen Schritt zurück. „Ich bin Inhaberin einer Branding Agentur.“ Sie schaute in fragende Gesichter. Oft musste sie Branchenfremden erklären, dass das nichts mit Brandschutz zu tun hatte.

„Sehr, sehr interessant.“ Der Gastgeber nahm einen Schluck Champagner. „Da könnten wir vielleicht zusammenkommen? Ich bin Managing Direktor einer Firma für Naturkosmetik.“

Sie zögerte kurz, ob sie ihm die Agenturdienste anbieten sollte. Ihr rechtes Unterlid zitterte, ein instinktives Warnsignal, vorsichtig zu sein.

„Sprechen Sie mich an, Herr Kern, wenn Sie ein Produkt lancieren wollen“, hörte sie sich jedoch sagen.

„Darauf komme ich gern zurück, Agneta“, er zwinkerte ihr zu.

„Von Simon, Herr Kern. Sorry, dass ich da altmodisch bin.“ Sie spürte Petra Kerns misstrauischen Blick – die wie aus dem Nichts hinter Axel stand.

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und hob das Glas zu einem wortlosen „Prost“ an.

„Ich muss mich jetzt verabschieden.“ Agneta streckte Petra die Hand entgegen. „Danke für die Einladung.“

„War mir ein Vergnügen“, erwiderte Petra mit laschem Händedruck.

Agneta dreht den Rückspiegel und betrachtet ihr Spiegelbild, so viele Stunden habe ich in das Konzept investiert, alles für die Katz, und ich hatte es noch geahnt, sie dreht den Spiegel zurück, was schlechte Bilanzzahlen alles mit einem machen können, aber ich verkaufe mich nicht.

Sie wollte ursprünglich nicht selbständig werden; der Job als Senior Managerin einer Werbeagentur hatte ihr gereicht. Der damalige Chef ist Lucias Vater. Sie hatte ihn geliebt und sich über die Schwangerschaft gefreut. Aber eine Familie wurden sie nicht.

Bevor Agneta gänzlich zusammensackte, hatte sie nach zweijähriger On-Off-Beziehung beschlossen, sich für den sprichwörtlichen Spatz in der Hand zu entscheiden und beruflich und privat neu zu beginnen. Die Werbeszene stresste sie zunehmend. Sie hatte einst ein Bildnis gefunden, das die Wertigkeit des Einzelnen in dieser Branche ausdrückte: Er war wie ein Stern unter vielen; zusammen ergaben sie ein strahlendes Firmament, doch jeder blieb für sich allein. Wie gerne würde sie das Leben in ruhigere Bahnen lenken!

Agneta schaut auf die Uhr im Auto, Mist, ich komme schon wieder zu spät zum Kindergarten! So schnell es geht, jongliert sie das Auto durch den Feierabendverkehr.

Feierabend – was für ein warmes Wort und doch so fern. Wenn sie Zwiegespräche mit sich selbst hält, dann schimpft die emotionale Seite mit der vernünftigen: „Pass auf, dass du nicht mit Ende Dreißig eine alte Schrulle wirst.“ Gedanken an Korbinian drängen sich in den Vordergrund. Je öfter sie ihn trifft, umso ungeduldiger wird sie. Der Genuss des Hier und Jetzt weicht langsam der Sorge um das Morgen. Die Sehnsucht nach einem geregelten Familienleben wächst.

Mit einer halben Stunde Verspätung erreicht sie den Kindergarten. Lucia steht fix und fertig neben der grimmig dreinschauenden Erzieherin Ela.

„Danke für Ihre Geduld“, sagt Agneta, während sie um das Auto geht.

„Frau von Simon, auf ein Wort“, Ela nimmt Agneta zur Seite.

„Okay“, antwortet Agneta verwundert. „Lucia, steig‘ schon mal ins Auto.“

„Lucia hat schon wieder Maria gebissen. Sie spielen ganz friedlich miteinander und plötzlich greift sich Lucia einen Arm und beißt zu. Ich denke, dass Marias Eltern sich bei Ihnen melden werden.“

„Das tut mir sehr leid. Ja, manchmal, glaube ich, weiß sie nicht wohin mit ihrer Energie. Danke, dass sie mir das gesagt haben.“

„Ach, übrigens“, sagt Ela, während Agneta Lucia beim Anschnallen hilft. „Wir haben Läuse! Zu dumm, aber Sie sollten bei der Apotheke vorbeifahren. Schönen Abend noch!“ Sie steigt aufs Fahrrad und im Wegfahren ruft sie: „Aber wir haben ja ein langes Wochenende, da ist es gut, dass sie nicht mit anderen Kindern zusammenkommen muss.“

„Ach, herrje“, seufzt Agneta, Lucias‘ Lockenschopf bietet ein gemütliches Heim für die Biester, das war es wohl mit ihrem Wunsch nach einem ereignislosen Abend, gemütlich bei diesen milden Temperaturen auf der Dachterrasse sitzen, lesen, ein Glas Wein … und Lucias Übernachtung von Pfingstsonntag auf -montag bei einer Spielfreundin kann sie auch knicken.

Agneta steigt ein, legt den rechten Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes, guckt über die Schulter und fährt rückwärts aus der Parklücke.

„Passen Sie doch auf!“, schimpft ein Mann am Rollator.

„Arschloch“, kontert sie, doch leise genug, dass er es nicht hören kann.

„Mama!“

„Pardon. Also, der Fahrplan lautet“, Agneta hebt eine Hand, um sich bei einem Fahrer, der sie vorlässt, zu bedanken, „Supermarkt, Apotheke und – ich hab‘ dich lieb!“

Stopp and Go. Sie trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad.

Den ganzen Tag nur Hektik.

Schon am Morgen war die Zeit knapp gewesen. Dennoch war es ihr wie stets gelungen, sich zwischen dem Zubereiten von Müslis und Butterbroten perfekt herzurichten.

„Wie findest du meinen neuen Hosenanzug?“, hatte sie Lucia gefragt und prüfend in den Garderobenspiegel geschaut. Sie seufzte.

„Bist du traurig, Mama?“ Lucia saß verträumt auf einem Barhocker, ließ die Beine baumeln, den Kopf auf eine Hand gestützt und schlürfte Müsli vom Löffel.

„Lucia, heb‘ deinen Arm, wenn du isst.“ Agneta band die sportlichen Schnürschuhe und ging zurück in den Wohnbereich. „Traurig? Weil ich geseufzt habe?“ Sie schwenkte den Schminkspiegel, der an der Dunstabzugshaube angebracht ist. „Nein, Liebes.“

Mit der jungen Jil Sander hatte man sie früher verglichen. Nun sah sie im Spiegel, dass die Haut gräulicher geworden und die Frische verschwunden war; feine senkrechte Fältchen über der Oberlippe hatten sich eingraviert. Wo ist das hanseatisch Aparte geblieben? Der stolze Ausdruck in den hellblauen Augen? Eine natürliche Schönheit, leicht unterkühlt, klar und zeitlos.

Geschickt ließ sie diese kleinen Makel unter getönter Tagescreme und Rouge verschwinden. „Und siehe da“, sagte sie zum Spiegelbild, während sie den Haaransatz näher betrachtete, „die ersten Grauen!“ Abermals musste sie seufzen. Dann setzte sie die Kontaktlinsen ein, zog Lidstriche und tuschte danach die Wimpern.

„Ich seh‘ dich, Lucia. Hör zu, du bist fast sechs Jahre und kommst bald in die Schule“, Agneta trug Lippenstift auf, „da kannst du dich doch bitte grade hinsetzen, die Locken hinter die Ohren stecken und wie ein vernünftiges Mädchen essen!“

Blitzschnell streckte Lucia die Zunge raus und warf ihr einen trotzigen Blick zu.

„Heute Abend geht’s sofort ins Bett, kleines Monster“, Agneta strich ihr welliges Haar mit Gel nach hinten – und schmunzelte. Auf dem Hocker saß ihr kleines Double, hellblonde Haare, in denen ein Hauch Kupferrot glänzte.

Agneta biss in ihr Butterbrot und blickte zur Wanduhr. „Schon wieder so spät! Komm, Schuhe anziehen!“ Sie stellte Kaffeebecher und Teller auf die Garderobenkommode, schnappte sich die Handtasche, Schlüsselbund und das iPad und beobachtete, wie sich Lucia die Schuhe anzog.

„Lucia, schau hin, wo du deinen linken und deinen rechten Fuß hast!“

„Man spricht nicht mit vollem Mund!“, konterte die Kleine.

Hoffentlich wird der Abend etwas ruhiger. Agneta sieht im Rückspiegel, dass Lucia kaum die Augen offenhalten kann und das Köpfchen zur Seite nickt. Agnetas Smartphone klingelt auf dem Beifahrersitz. Ein kurzer Blick auf das Display. Hektisch fummelt sie die Hörerstöpsel ins Ohr.

„Korbinian!“

„Servus, Spatzl. Hast‘ Zeit?“

Sie fühlt das Pulsieren ihrer Halsschlagader, schaut erneut in den Rückspiegel und trifft auf Lucias schläfrigen Blick.

„Korbinian. Schön. Du, ich fahre gerade mit Lucia nach Hause. Lass uns später miteinander telefonieren.“

„Aber nimm dir nicht zu viel Zeit. Turbulenzen kündigen sich bei mir an!“

Agneta schmunzelt. „Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren. Bis später!“

Julia

Julia hat im Sprechstundenzimmer auf einem Sofa mit geschwungener Rückenlehne Platz genommen. Sie fühlt sich eher wie in einem Museum als in einem Arztzimmer. An den Wänden hängen antiquarische Zeichnungen von der Anatomie der Frau. Eine zeigt eine aufgeklappte Bauchdecke, einen Fötus, die Eierstöcke und den Geburtskanal. In den Vitrinen und Regalen stehen alte, in Leder eingebundene Medizinbücher.

„Was kann ich für Sie tun?“ Ein Frauenarzt betritt das Sprechstundenzimmer, in dem sie Platz genommen hat. Julia merkt, wie ihr die Kinnlade hinunterklappt, wieso ein Mann?, ich will eine Ärztin, so war es mir doch versprochen worden, das will ich nicht! Unvorstellbar!

Der Arzt reicht ihr die Hand, doch sie kann den Gruß nicht erwidern. Er knöpft den Arztkittel auf und setzt sich seitlich zum Sekretär.

„Entschuldigung“, sagt Julia leise, „ich … ich habe mit einer Ärztin gerechnet.“

„Wie ich Ihrer Kartei entnehme, waren Sie noch nie hier?“

Julia schüttelt kaum merklich den Kopf.

„Ich habe die Praxis vor zehn Jahren übernommen. Es steht Ihnen natürlich frei, wieder zu gehen. Aber sehen Sie“, er beugt sich zu ihr vor, „hier geht’s ja um Ihre Gesundheit.“

Sie erinnert sich an Georgs Worte, wie stolz er sei, dass sie immer wieder erfolgreich gegen ihre Ängste kämpft. „Ich habe seit vier Wochen ein Ziehen im Unterleib.“ Ihr Blick ist auf ihre gefalteten Hände gerichtet, die Beine sind ineinandergeschlungen, die Daumen drehen sich permanent umeinander. „Ich bin Fünfundfünfzig – sie wissen schon, was ich meine. Der Schmerz ist unerträglich geworden.“

„Dann lassen Sie uns ins Behandlungszimmer wechseln“, ordnet er an, ohne dabei den Blick vom Computerbildschirm zu nehmen. „Gehen Sie schon mal vor und machen Sie sich untenherum frei.“

Der Raum ist mit violettfarbenen Jalousien abgedunkelt. Er sitzt neben der Liege, auf der ein weißes Papier liegt, als sie hinter dem Paravent hervortritt. Sie eilt zur Liege, die lang geschnittene Bluse vor der Scham festhaltend, und legt sich hin. Er führt einen Ultraschallstab in die Vagina. Julia dreht den Kopf zur Wand und hört seinen Befund.

„Da scheint eine Blutung im Uterus vorzuliegen, die nicht abfließen kann. Mit einem kleinen Eingriff sollten wir das aber schnell wieder hinbekommen.“

„Jetzt gleich?“, fragt Julia entsetzt.

„Ja.“

„Bitte, geht das nicht unter Narkose, ich möchte nichts mitbekommen.“

„Keine Sorge“, unterbricht er sie, „eine örtliche Betäubung reicht bei diesem Eingriff völlig aus. Für eine Behandlung unter Narkose müsste ich Sie überweisen. Also, bitte, nehmen Sie dort auf dem Stuhl Platz.“

Julia zieht auf dem Weg dorthin die Bluse noch weiter über die Blöße. Auch beim umständlichen Hochklettern auf den Untersuchungsstuhl gelingt es ihr, das sie bedeckt bleibt.

„Bitte, machen Sie es sich bequem.“

Im Sitzen legt sie nacheinander die Beine in die jeweiligen Halter. Sie zögert. Langsam lässt sie sich zurückfallen.

„Frau Bauer, nehmen Sie bitte Ihre Hände weg. Ich gebe Ihnen jetzt die örtliche Betäubung.“

Die Spritze dringt in die Innenseiten der Schamlippen. Durch den Mundschutz informiert der Arzt:

„Ein paar Momente müssen wir warten.“

Julia hebt leicht den Kopf und blickt an sich hinunter. Sie sieht sich als vierbeinigen Käfer in trostloser Rückenlage. Ihr Körperzentrum wird angeleuchtet. Sie beobachtet die Arzthelferin, wie sie allerhand Instrumente auf einen Beistelltisch legt und Nierenschalen schwenkt.

„Bitte lockerlassen“, hört sie den Arzt sagen.

Julia starrt an die Zimmerdecke. Sie zuckt in dem Moment, als die Schamlippen mit einem kühlen Instrument auseinandergezogen werden und kneift die Augen zu. Helle Punkte hinter den Lidern sausen auf sie zu.

Es tut nicht weh, wenn du dich nicht wehrst, zischt ein Gedanke durch den Kopf.

So, das kann jetzt ein bisschen wehtun, der innere Muttermund ist verklebt, den muss ich öffnen.“

Julias Hände wollen die Armlehnen zerquetschen, sie fühlt die Halsschlagadern anschwellen, der Schmerz katapultiert sich ins Gehirn. Sie vergisst zu atmen, der Kehlkopf verkrampft, sie will schreien, nein, das darf ich nicht, was soll man denn von mir denken?, was macht der da?, was ist das?, ein Spieß in mir?, warum lass` ich das zu?, warum bin hier?

„Wie lange noch?“

„Entspannen Sie sich, dann tut es nicht weh.“ Vorwurfsvoll blickt er über den Mundschutz.

Du bist es selbst schuld.

„Wie bitte?“, fragt Julia empört.

Nochmals schaut er zu ihr, hinweg über ihre Blöße, die senkrechte Stirnfalte bedeutet ihr, dass er nicht verstanden hat. „Also, gut, ich gebe Ihnen nochmals eine örtliche Betäubung.“

Da liegt sie mit gespreizten Beinen, wie gefesselt und geknebelt. In Julias Gehörgängen rauscht es.

„Ich setze die zweite Spritze an.“

Halt still, halt still, halt still – oder fahr zur Hölle, rattert es in ihrem Kopf, ein Pfeifen wie von einem Zug schrillt in den Ohren.

Sie fühlt die Schamlippen kribbeln. Wieder dringt er mit diesem Spanferkelspieß tief in sie hinein. Die Betäubung wirkt nicht.

„Entspannen Sie sich doch. Dann tut es nicht so weh.“

Es tut nicht weh.

Sie kneift die Augen zu. Ein Vorhang tut sich auf, bruchstückhaft springen Bilder auf die Bühne der Schmerzen; es brennt in ihr, ihr Hals wird zugedrückt, der Kehlkopf gequetscht, sie atmet nicht mehr, es hört nicht auf, ein Stich, ein Schwert stößt vor bis zum Brustbein. „Hören Sie auf!“

Der Mann im weißen Kittel zieht erschrocken am Instrument und scheint ihren Unterleib aufzuschlitzen. „Gut“, er steht auf, zieht den Mundschutz unter das Kinn und zieht die OP-Handschuhe aus, „ich kann jetzt wohl nicht weitermachen. Ein weiteres Blutsäckchen hätte ich sonst noch geöffnet, damit alles abfließen kann. Aber dann muss das wohl reichen“, der Deckel eines Abfalleimers klirrt, er schmeißt Handschuhe hinein.

„Wir sind fertig.“ Er scheint beleidigt zu sein.

Sie japst wie ein Fisch an Land, die Augen aufgerissen, um Hilfe flehend, Formaldehydgeruch beißt sich ins Hirn.

„Bringen Sie sie in den Ruheraum“, weist er die Helferin an.

Bringen Sie es weg!

Auf dem Weg mit dem Taxi nach Hause gleiten die Häuser und Menschen – Schattenwesen gleich – an ihr vorbei. Zu Hause angekommen, sieht Julia die Rückleuchten eines Autos im Dunkel der Tiefgarage verschwinden. Sie wartet darauf, vom Taxifahrer das Wechselgeld zurückzubekommen.

Nach vielen Jahren Rastlosigkeit hat sie in diesem Sechsparteienhaus zusammen mit Georg ihre Heimat gefunden. Es steht an einer Allee in einem gutbürgerlichen Wohnviertel. Ein grauer Plattenweg führt schnurgerade zum gläsernen Eingangsbereich, der Einblick in das Treppenhaus gewährt und von einem Glasdach geschützt wird. Buchsbäumchen, zu Quadern geschnitten, säumen den Weg. Daneben verläuft die Mauer zur Tiefgarage, in die als Beleuchtung viereckige Strahler eingelassen sind. Ein geometrisches Fleckchen Erde, das Ruhe ausstrahlt. Sie fühlt sich hier geborgen und ist Georg unendlich dankbar, dass er dieses Reich nach ihren Wünschen eingerichtet hat. Die Wohnung, bunt, harmonisch in den Farbkompositionen, sodass sich Leichtigkeit ins Herz einnisten kann. Unterputzstrahler, die farbenfroh wie eine Sommerblumenwiese leuchten.

Julia wirft einen Blick gen Himmel und sieht Schatten über das Haus fliegen. An diesem frühen Abend im Juni bauschen sich Gewitterwolken über der Stadt auf. Sie hetzt Richtung Hauseingang, vernimmt das Rascheln der verdorrten Blätter der Buchenhecke, die ihren Gartenanteil vom Weg abgrenzt. Mit tränengefüllten Augen sieht sie durch den verglasten Hauseingang die Konturen einer Frau, die vom Fahrstuhl aus ins Treppenhaus geht.

Agneta

Die Fahrstuhltür öffnet sich. Agneta von Simon stellt eine Einkaufstasche vor die Lichtschranke.

„Warte auf mich im Fahrstuhl“, sagt sie zu Lucia. Sie geht zum Eingang, öffnet ihren Briefkasten und zieht einen Stapel Briefe und Werbung heraus. Sie sieht die Nachbarin Julia Bauer draußen vor der Haustür stehen, wie sie in der Manteltasche nestelt. Agneta öffnet ihr die Tür.

„Guten Abend, Frau Bauer“, grüßt Agneta.

„Hallo, Julia“, ruft Lucia. „Kann ich bald mal wieder zu dir kommen?“

Julia hebt den Kopf Richtung Fahrstuhl, doch der Blick bleibt weit und leer. Agneta schaut über ihre Schulter, beobachtet, wie die zarte Frau wie ein gedemütigter Hund zur Wohnung geht. Agneta stopft die Post in die Schultertasche und dreht sich zu Julia hin.

„Geht’s Ihnen nicht gut? Sie zittern ja.“ Sie beobachtet, wie Julia vergeblich versucht, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken.

„Kann ich Ihnen helfen? Es ist wirklich schon erstaunlich dunkel.“ Agneta drückt den Lichtschalter.

Weit aufgerissene Augen starren sie an. Der Mensch dahinter scheint nichts wahrzunehmen. Agneta legt ihre Hand sanft über Julias, um ihr beim Umdrehen des Schlüssels zu helfen.

„Nein, danke“, sagt Julia kaum vernehmbar.

„Schon gut. Einen schönen Abend noch, Frau Bauer.“ Agneta geht zum Fahrstuhl und nimmt die Einkaufstasche. Die Tür schließt sich langsam.

Julia

Als Julia die Wohnungstür öffnet, fährt ein Stich durch ihren Unterleib, kurz, präzise wie ein Elektrostoß. Mit kleinen Schritten geht sie in die Diele, wirft Mantel und Handtasche auf die Kommode, tippelt weiter zum Gäste-WC, reißt die Tür auf und schnappt nach Luft. „Heeeee“, sie greift sich an den Hals, es ist, als ob ein Wattebausch den Rachen verstopft. „Heeeee“, er schwillt noch mehr an, sie röchelt. Durch die Nase ein, durch den Mund aus, befiehlt sie sich. Die Zunge liegt wie ein dumpfer Klumpen in der Mundhöhle, Julia würgt, fällt vor das WC-Becken. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Sie beugt sich vor. Wenn sie doch die Pein ausspucken könnte! Stattdessen sinkt sie weiter in sich zusammen und weint bitterlich. Ihre Hände zwischen die Oberschenkel gepresst, drängt sich, wie durch einen Nebelschleier, eine Erinnerung auf, als sie siebzehn gewesen war.

„Du musst pressen“, hörte sie eine Frau sagen.

Ihren Kopf angehoben, die Augen zusammengekniffen, fühlte Julia Schweiß über die Schläfen perlen. Haare klebten auf ihrer Stirn.

„So dauert es Stunden. Pressen! Gut! Zange“, sagte die Frau.

„Wie lange noch?“, stöhnte Julia.

„Das Köpfchen ist zu sehen.“

Etwas zerrte in der Tiefe, riss sie auf. Jemand hatte ein Laken zu einem Vorhang hochgezogen.

„Ein Mädchen“, flüsterte eine andere Frau. „Bringen Sie es weg!“ Es war die Stimme ihrer Mutter gewesen.

Julia konnte es schreien hören, bekam es jedoch nicht zu sehen. Der Formaldehydgeruch eines Desinfektionsmittels reizte die Nasenschleimhäute.

Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Langsam löst sich der verkrampfte Körper. Julia richtet sich auf und zieht sich an der Toilette hoch, reißt Toilettenpapier ab und wischt sich über den Mund. Im Rauschen der Spülung verschwindet die Erinnerung. Der Wasserstrudel zieht das grelle Licht des Kreißsaals in die Tiefe. Sie klappt den Toilettendeckel zu, zieht sich weiter empor und lässt sich auf den Sitz plumpsen. Gekrümmt, die Ellenbogen aufgestützt auf den Oberschenkeln, die Handballen auf die Ohren gepresst, taucht von irgendwoher, aus einer Unendlichkeit, in der es keine Seele gibt, keinen Stern, keinen Gott und keine Hoffnung, diese Stimme auf. Je mehr sie die Ohren zudrückt, umso lauter pulsiert das Blut, umso klarer pochen die Worte im Kopf.

Ju-li-a! Es fängt erst an! Der Sünder erntet das, was er gesät hat.

Das Pochen wird leiser, monotoner, sanfter, beruhigender.

Ju-li-a, ich grüße dich, ich grüße dich, ich grüße dich.

Schließlich ist die Stimme verschwunden. Julia atmet tief ein und aus, erhebt sich, dreht den Wasserhahn des Waschbeckens auf, hält die Hände unter den kalten Strahl, schlägt sich Wasser ins Gesicht, schaut auf und sieht ihren eigenen bösen Blick im Spiegel:

Wenn die Kinder artig sind,