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Schottland, 1395: Lord Blake Sherwell trägt den Spitznamen "Engel"? Pure Ironie, findet die heißblütige Seonaid Dunbar. Schließlich weiß jeder, dass alle Engländer Teufel sind. Und ausgerechnet diesen Teufel in Engelsgestalt soll die schöne Schottin auf Wunsch von König Richard II. heiraten? Niemals! Lieber flieht sie - wenn es sein muss, bis ans Ende der Welt! Doch Blake ist ihr bereits auf den Fersen, entschlossen, seine kampflustige Braut zu erobern. Mit List und Tücke, süßen Worten oder sinnlicher Leidenschaft: In Krieg und Liebe ist schließlich alles erlaubt. Eine Jagd quer durch die Highlands beginnt …
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Seitenzahl: 476
IMPRESSUM
HISTORICAL VICTORIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, in der Reihe HISTORICAL VICTORIA, Band 52
© 2004 by Linsay Sands Originaltitel: „The Chase“ erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A. Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg, in der Reihe HISTORICAL GOLD, Band 258 Übersetzung: Nina Hawranke
Abbildungen: ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images, FedevPhoto_Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 10/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733749590
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Seonaid lachte übermütig, als sie durch das Tor von Dunbar Castle und quer über den Burghof galoppierte. Vor dem Wohnturm zügelte sie ihr Pferd, schwang sich aus dem Sattel und wandte sich um. Ihr Cousin und ihre Cousine kamen ebenfalls in den Hof geritten, und Seonaid lächelte ihnen triumphierend entgegen.
„Sieh an, wie zufrieden sie dreinschaut“, meinte Allistair, als er abstieg. „Ich hatte gehofft, dass es dir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, wenn ich dich gewinnen lasse. Schön zu sehen, dass es geklappt hat.“
„Mich gewinnen lassen?“, wandte Seonaid empört ein. „Von wegen! Ich habe ehrenhaft gewonnen, und das weißt du genau, Allistair Dunbar!“
„Wenn du es sagst, Teuerste“, versicherte er rasch.
Aus schmalen Augen musterte sie ihn. Welch selbstgefälliges Lächeln er zur Schau trägt, stellte sie gereizt fest. Ihr war klar, dass er nur versuchte, sie aufzustacheln. Und es gelang ihm.
Als er an ihr vorbeischritt, sprang sie ihn mit einem kehligen Knurren von hinten an. Zum Glück trug sie Hosen aus Plaidtuch. Sie schlang ihm die Beine um die Hüften, umklammerte mit einem Arm seine Schultern und hieb mit der freien Hand auf seinen Blondschopf ein.
Seonaid war eine hochgewachsene Frau, und viele Männer wären bei einem solchen Übergriff in die Knie gegangen. Aber Allistair war aus demselben Holz wie sie geschnitzt, überragte sie gar noch und besaß den Körperbau eines Bullen. Leise lachend packte er ihre Beine, damit sie ihm nicht entgleiten konnte, und drehte sich zu seiner Schwester um, die ebenfalls abgesessen war.
„Ihr zwei seid mir vielleicht ein Paar“, sagte Aeldra amüsiert. „Aber dass Seonaid nur deshalb strahlt, weil du sie vermeintlich hast gewinnen lassen, nimmt dir nun wirklich keiner ab, Allie. Sie strahlt ja schon, seit wir einen Weg gefunden haben, sie vor Sherwell zu bewahren.“
„Aye, na also!“ Seonaid zupfte Allistair an der langen Mähne.
„Jetzt zieht sie mir auch noch an den Haaren.“ Er schnaubte und ließ sie auf seinen Rücken hüpfen. „So etwas kann doch nur einer Frau einfallen.“ Von jenseits des Tors, das sie soeben passiert hatten, erschallte ein Ruf. Allistair hielt inne und schaute auf.
Seonaid folgte seinem Blick. Ihre Augen wurden groß, als ein Wagen und etwa zwanzig Reiter in langsamem Tempo in den Burghof einzogen.
Als sie sah, dass ihr Vater die Gruppe anführte, runzelte sie die Stirn. Auch ihren Bruder erspähte sie, der seine junge Gemahlin Iliana vor sich im Sattel hielt. Das Paar ritt ebenfalls vor dem offenen Gefährt her. Auf dem Wagen musste eine Gestalt liegen, denn Seonaid konnte einen Kopf erkennen, mehr jedoch nicht.
„Was ist da los?“, fragte Aeldra.
Seonaid hatte ihre Fußgelenke vor Allistairs Bauch verschränkt und löste sie nun, wobei sie ihm auf den Arm klopfte, damit er sie hinunterließ. Als er ihre Beine freigab und sie wieder sicheren Boden unter sich hatte, trat sie neben ihn und musterte die Reiter. „Keine Ahnung. Ich wusste gar nicht, dass sie die Burg verlassen hatten.“
„Wo sie wohl waren?“, murmelte Aeldra.
Seonaid zuckte die Schultern. „Weit fort können sie nicht gewesen sein. Schließlich waren wir nicht lange unterwegs, und als wir aufgebrochen sind, waren sie noch da.“
Eine Magd rannte die Treppe vor dem Wohnturm herab und lief auf sie zu. „Sie haben Lady Wildwood geholt“, verkündete sie atemlos. Janna war ihr Name, meinte Seonaid sich zu erinnern. Sie war eine der Frauen aus dem Dorf, die Iliana jüngst eingestellt hatte.
„Lady Wildwood?“
„Lady Ilianas Mutter“, erklärte Janna mit besorgter Miene. „Sie ist vor diesem Greenweld davongelaufen, der sie in die Ehe gezwungen hat. Auf dem Weg hierher muss sie krank geworden sein, denn weiter als bis zur Grenze von Dunbar hat sie es nicht geschafft. Sie hat einen Bediensteten hergeschickt, einen Wagen zu holen. Lady Iliana und Duncan sind sofort mit Lord Angus und zwanzig Männern aufgebrochen, um sie herzubringen.“
Seonaid nickte nur, ehe sie sich wieder der kleinen Truppe zuwandte, die vor ihnen anhielt. Schweigend beobachtete sie, wie ihr Bruder seine Frau vom Pferd hob. Sobald Iliana unten war, lief sie zum hinteren Ende des Wagens. Duncan folgte ihr, stieg auf den Wagen stieg und bückte sich, um etwas aufzuheben. Zunächst hielt Seonaid es für ein schweres Kleiderbündel, erst, als Duncan wieder unten war und auf sie zukam, erkannte sie, dass das Bündel ein Mensch war – offenbar die Person, die sie gerade schon bemerkt hatte. Nur das Haar, das sich in langen, von Grau durchsetzten Locken über Duncans Arm ergoss, ließ darauf schließen, dass es sich um eine Frau handelte. Das verschandelte Gesicht gab nichts dergleichen preis.
Falls Lady Wildwood auch nur etwas von dem Liebreiz ihrer Tochter besaß, so war jetzt nichts davon zu entdecken. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die Haut mit blauen Flecken übersät und die Unterlippe aufgeplatzt. Ihre Nase war so stark geschwollen, dass Seonaid mutmaßte, sie sei gebrochen. Bei jedem vorsichtig gesetzten Schritt Duncans wimmerte die Frau und zuckte zusammen, was davon kündete, dass es um ihren Leib nicht besser bestellt war. Die Reise musste die Hölle für sie gewesen sein.
Seonaids Blick ging von dem übel zugerichteten Gesicht der Dame zu Duncan, und sie schluckte sämtliche Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Ihr Bruder schäumte vor Wut. Trotzdem konnte Seonaid ihre Neugier nicht lange bezwingen und hielt ihren Vater, der Duncan gerade die Treppe hinauffolgen wollte, am Arm fest. „Ist das Ilianas Mutter?“, fragte sie nach einem Moment des Zögerns. „Janna sagte, sie sei es.“
„Aye“, beschied er schroff, offenbar vom selben Zorn gepackt wie Duncan.
„Was ist mit ihr geschehen?“
„Greenweld“, stieß ihr Vater angewidert hervor. „Hat sie misshandelt, dieser englische Hund. Sie ist geflohen, weil sie um ihr Leben gebangt hat.“
„Und sie hat den weiten Weg hierher auf sich genommen?“ Seonaid war erstaunt. Gewiss hätte es in England einen Ort gegeben, an dem sie hätte Zuflucht suchen können. Wieso war sie bis nach Schottland gekommen?
„Durch Iliana ist sie eine der Unseren“, beschied er grimmig. „Sie weiß, dass wir sie vor diesem Bastard von Gemahl schützen und sie niemals aushändigen werden, sollte er sie zurückfordern.“ Er wandte sich ab und folgte den anderen hinauf in den Wohnturm.
Nachdem sich das Portal geschlossen hatte, kam Seonaid der Burghof ungewöhnlich still vor.
„Vielleicht solltet ihr beiden heute schon aufbrechen“, sagte Allistair leise, und Seonaid schaute vom geschlossenen Portal zu ihm.
„Aye“, pflichtete Aeldra ihm bei. „Alle sind so sehr durch Ilianas Mutter abgelenkt, dass sie es gar nicht merken würden, wenn wir uns davonmachten.“
Versonnen nickte Seonaid, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nay, wir halten uns an den Plan und reiten morgen. Vermutlich fällt ihnen unsere Abwesenheit auch morgen nicht auf. Dass Lady Wildwood von Greenweld derart misshandelt wurde, wird alle einige Tage lang beschäftigen.“
„Hm.“ Finster starrte Allistair das geschlossene Portal an und schüttelte den Kopf. „Verfluchtes Pack, diese Engländer. Was für feige Hunde sie sind, auf Frauen einzuschlagen.“ Er sah Seonaid durchdringend an, in seinen Augen loderte es. „Sollte Sherwell je …“
„Wird er nicht“, unterbrach sie ihn fest.
„Genau.“ Aeldra knuffte ihren Bruder, um ihn aus seiner plötzlich so düsteren Stimmung zu reißen. „Er wird Seonaid gar nichts antun können, da sie nicht hier sein wird. Dafür wollen wir ja sorgen, falls du dich erinnerst.“
„Aye.“ Seonaid rang sich ein Lächeln ab. „Er hat zu lange gezaudert, und ich werde nicht Däumchen drehend auf ihn warten.“
Das schien Allistair umso mehr aufzubringen. „Verdammter Dummkopf! Wenn er dich erst einmal zu Gesicht bekommen hat und sieht, wen er da so lange gezögert hat zu holen, wird er seine Saumseligkeit bereuen. Dann wird er dir den Hof machen, wirst schon sehen.“
„Oh, natürlich“, entgegnete Seonaid spöttisch und wollte sich in Richtung Übungsplatz aufmachen. „Eine schottische Amazone – welcher Engländer wünscht sich nicht eine solche zum Weibe.“
Allistair packte sie am Arm und drehte sie unsanft zu sich herum, die Miene wie versteinert. Zorn glomm in seinen Augen. „Er hätte dich vor mindestens sechs Jahren holen sollen. Und das wäre auch geschehen, wenn er sich nur ein Mal hierherbequemt und gesehen hätte, wie schön du bist.“
Sie schüttelte leicht den Kopf und wollte sich abwenden, aber er fasste sie am Kinn und zwang sie so, seinem Blick zu begegnen. „Denn du bist schön, Seonaid. Ich weiß, es schmerzt dich, dass er dich verschmäht hat. Es kränkt dich. Du glaubst, etwas stimme nicht mit dir und aus diesem Grund habe er gezaudert. Ich habe dich beobachtet und gesehen, dass es dir zusetzt.“
Peinlich berührt senkte sie den Blick. Der Schmerz und die Scham, von denen Allistair gesprochen hatte, drohten sie zu überwältigen. Sie war Sherwell als Kind versprochen worden, und Allistair hatte recht: Er hätte sie bereits vor Jahren holen sollen. Doch das hatte er nicht, und mit jedem Jahr, das ins Land gezogen war, fühlte sie sich stärker gedemütigt, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Sie hatte so getan, als schere es sie keinen Deut. Und wer war schon erpicht darauf zu heiraten? Eine Ehe hätte sie nur der Freiheit beraubt, die sie genoss. Sie hätte Gewänder tragen müssen anstelle der Hosen, in denen sie und Aeldra herumliefen. Und zweifellos hätte Sherwell sie nicht mit Bogen und Schwert üben und an der Seite der Männer Schlachten schlagen lassen. Verächtlich hatte sie jedem, der es hören wollte, beschieden, wie wenig sie vom Heiraten hielt. Aber Allistair und gewiss auch Aeldra hatten sich nicht narren lassen. Sie sahen, wie sehr Sherwells Gleichgültigkeit sie bedrückte und verunsicherte. Auch hatten sie durchschaut, dass Seonaid sich den Kopf darüber zerbrach. So fragte sie sich beispielsweise, ob ihm etwas Nachteiliges über sie zu Ohren gekommen sein mochte. Oder hatte er sie ohne ihr Wissen aus der Ferne gesehen? Fand er sie abstoßend, war er deshalb nicht gekommen?
Aye, hinter ihrer selbstsicheren Maske schwärten Schmerz, Demütigung und Unsicherheit. Und nun hatte sie erfahren, dass Sherwell sie schlussendlich doch holen und ehelichen wollte – weil der König es so verfügt hatte. Aus Schmerz und Demütigung war Wut erwachsen. Sherwell kam also, weil der König es so verfügt hatte? Zum Teufel mit ihm! Sie wollte keinen Mann, der seinerseits sie nicht wollte; sie wollte keinen Mann, den der König ihr gleichsam mit vorgehaltenem Schwert in die Arme treiben musste.
Sie wollte verdammt sein, wenn sie hier herumsitzen und auf Sherwell warten würde wie ein braver, kleiner Schafskopf.
Seonaid zog tief die Luft ein, hielt den Atem an und ließ ihn langsam wieder aus, ehe sie ein Lächeln aufsetzte. „Gut, vielleicht war es so, aber das hat sich geändert. Zudem werde ich, wie gesagt, gar nicht hier sein, wenn er kommt, um mich zu holen. Gleich morgen früh brechen Aeldra und ich auf.“
Allistair rührte sich nicht und starrte sie nach wie vor grimmig an.
Sie legte den Kopf schräg und lächelte breiter. „Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?“
Kurz fürchtete sie, es werde ihr nicht glücken, den Schatten von ihm zu nehmen, doch endlich ließ er ihren Arm los. Allistair entspannte sich, wenngleich ihn dies sichtlich Kraft kostete, und es gelang ihm sogar, den Anflug eines Lächelns zu zeigen.
„Zum Kloster? Oh, aye“, meinte er trocken und schüttelte den Kopf. „Der Gedanke, der einzige Mann inmitten einer Frauenschar zu sein, hat seinen Reiz – aber mich dafür wie eine Nonne zu gewanden, dazu bringen mich keine zehn Pferde.“ Sein Lächeln wuchs sich zu einem Grinsen aus, als Seonaid und Aeldra bei dieser Vorstellung losprusteten. „Nay, ich werde hierbleiben müssen, sosehr es mich auch schmerzt, dass du gehst.“
„Es schmerzt dich? Wer’s glaubt“, neckte Seonaid. „Du wirst froh sein, endlich deine Ruhe vor mir zu haben.“
„Nay, keineswegs“, erwiderte er ernst. „Ich werde dich vermissen, das kannst du mir glauben.“
Seonaid lächelte, als Allistair ihr einen Arm um die Schultern legte und sie an sich zog. Ihr Lächeln wurde breiter, da er Aeldra den anderen Arm umlegte, sie ebenfalls an sich zog und hinzufügte: „Dich hingegen, Schwesterherz, werde ich kein bisschen vermissen.“
„Aye, ich dich auch nicht, Bruderherz“, konterte sie.
„Hm“, machte er nur und führte sie beide zum Übungsgrund. „Passt aufeinander auf, und bringt euch nicht in Schwierigkeiten.“
„In welche Art von Schwierigkeiten sollten wir hinter Klostermauern schon geraten?“, fragte Seonaid amüsiert. „Um dich mache ich mir weit größere Sorgen. Denn wenn wir nicht hier sind, um ein Auge auf dich zu haben, sind dem Ungemach, in das du geraten kannst, praktisch keine Grenzen gesetzt.“
Wie sieht sie aus?“
Rolfe gab vor, die Frage nicht gehört zu haben. Als sie die Hügelkuppe erreichten und Dunbar Castle in Sicht kam, atmete er erleichtert auf. Die Burg stand für das Ende der vermaledeiten Aufgabe, die ihm aufgebürdet worden war – ein Ende, dem er regelrecht entgegenfieberte. Er war seinem König treu ergeben, aber allmählich hegte er den Verdacht, dass es mit der geistigen Gesundheit von Richard II. bergab ging. Rolfe Kenwick, Baron of Kenwickshire, betrachtete sich nicht gerade als Amor. Und doch hatte er bereits – gegen seinen Willen – zwei Ehen gestiftet, bahnte soeben eine dritte an und würde ohne Zweifel eine vierte in die Wege leiten müssen, sobald er an den königlichen Hof zurückkehrte. Falls ich dorthin zurückkehre, dachte er verdrießlich. Es würde Richard ganz recht geschehen, wenn er es nicht täte. Rolfe wusste wahrlich Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als Ehen zu arrangieren und unwilligen Bräutigamen nachzusetzen. Dieser Bräutigam hier war jedenfalls alles andere als erpicht auf sein Los.
Es wäre klüger gewesen, wenn der König einfach einen Boten zu Blake Sherwell geschickt und ihm kurzerhand befohlen hätte, sich nach Dunbar zu begeben. Leichter wäre es allemal gewesen. Dann hätte Rolfe sich nicht Sherwells unablässige Proteste anhören und seine Verzögerungstaktik erdulden müssen. Auch wäre ihm erspart geblieben, Sherwells immer wiederkehrende Fragen nach der Schönheit und Wesensart seiner Braut beantworten zu müssen – beziehungsweise ihn mit Lügen abzuspeisen.
Rolfe verzog das Gesicht und hob die Hand, um die beiden langen Reihen an Bewaffneten halten zu lassen. Umgehend wurde das königliche Banner höher gehalten, damit es für die Wachen auf der Wehrmauer besser zu erkennen war.
„Wie sieht sie aus?“, fragte Sherwell abermals und ließ den Blick beklommen über die ferne Burg schweifen.
Endlich wandte Rolfe sich zu dem starken, blonden Krieger an seiner Seite um. Blake Sherwell war der Erbe des Earl of Sherwell, der zu den reichsten Lords des Landes zählte. Von den Damen bei Hofe wurde Blake Sherwell „der Engel“ genannt. Und der Name passte zu ihm, denn er war mit dem Aussehen eines Engels gesegnet. Wobei er nicht den unschuldigen Liebreiz eines Cherubs besaß, sondern die markanten, edlen, makellosen Züge eines Himmelskriegers. Seine Augen waren so blau wie das Firmament, die Nase schmal und leicht geschwungen, sein Gesicht war scharf geschnitten, und sein Haar fiel ihm in glänzenden blonden Locken bis auf die Schultern. Er war gut sechs Fuß groß und hatte breite, kräftige Schultern und schmale Hüften. Seine langen, muskulösen Beine kündeten von vielen Jahren im Sattel. Selbst Rolfe musste zugeben, dass Sherwells Anblick einem den Atem verschlug. Leider Gottes besaß er zudem eine Zunge wie Sirup. Honigsüße Worte troffen ihm von den Lippen wie Tau von einem Rosenblatt – eine Gabe, die er bei den Damen zu seinem Vorteil einzusetzen wusste. Es hieß, er hätte selbst die heilige Agnes ins Bett locken können, hätte er zu ihrer Zeit gelebt. Aus diesem Grunde wurde er von den Männern „des Teufels Genosse“ genannt; nicht wenige unter ihnen hatten eine Gemahlin, die Sherwells Reizen erlegen war.
„Wie sieht sie denn nun aus?“
Die erneute Frage riss Rolfe aus seinen Gedanken. Gerade wollte er Sherwell anfahren, als er aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Miene des Riesen erhaschte, der hinter Sherwell ritt.
Ausgerechnet Little George – kleiner George – wurde der Hüne genannt. Er war ein Ritter Sherwells und zugleich dessen Freund und hatte beschlossen, ihn zu begleiten. Ein seltsameres Paar hätte man nirgends finden können, die beiden waren so gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Während Blake Sherwell blond und ansehnlich war, war Little George dunkel und mit grobschlächtigen Zügen geschlagen. Was ihm an gutem Aussehen fehlte, machte er allerdings durch Stärke wett. Der Kerl war unglaublich groß und massig. Weit über sechs Fuß hoch war er, und seine Schultern maßen gut dreieinhalb Fuß in der Breite. Er war ein wandelnder Fels – schweigsam, unerschütterlich, und für gewöhnlich trug er eine ausdruckslose Miene zur Schau. Umso komischer wirkte es, dass er nun die Augen verdrehte und den Kopf mit den feisten Wangen schüttelte. Auch er schien Sherwells Fragen nach dem Erscheinungsbild der Braut überdrüssig zu sein.
Rolfe mahnte sich zur Geduld und wandte sich wieder Sherwell zu. „Ihr habt die Frage gewiss an die dreißig Mal gestellt, seit wir Eberhardt Castle hinter uns gelassen haben, und ich habe sie ebenso oft beantwortet, Sherwell.“
„Nun stelle ich sie eben noch einmal“, erwiderte der Blonde missmutig.
Ein ungeduldiges Schnalzen lenkte Rolfes Blick zum Bischof hinüber, der an seiner anderen Seite ritt. Der König hatte den Prälaten, der sein Amt aus Altersgründen nicht länger versah, kürzlich für mehrere Vermählungen wieder auf seinen Posten beordert. Die Ehe zwischen Blake Sherwell und Seonaid Dunbar war die dritte in drei Monaten, der er den Segen erteilen würde. Falls es dazu kommen sollte, denn dessen war Rolfe nicht so sicher. Um dieses Verlöbnis hatte es von Anfang an nicht gut gestanden.
Es war vor etwa zwanzig Jahren geschlossen worden, doch niemandem schien an der Hochzeit gelegen.
Seonaids Bruder Duncan hatte den König zwar aufgefordert, dafür zu sorgen, dass dies endlich geschah, dabei hatte er allerdings durchblicken lassen, dass er es vorziehen würde, die Verlobung aufgehoben zu sehen, damit seine Schwester jemand anderen ehelichen konnte. Angus Dunbar, der Vater der Braut, war Rolfe tagelang aus dem Weg gegangen, bis er ihn endlich angehört hatte. Nachdem sich Rolfe den Mund fusselig geredet hatte, hatte Dunbar schließlich nachgegeben. Rolfe hatte umgehend einen Boten zum Earl of Sherwell geschickt, um ihn von der anstehenden Hochzeit zu unterrichten und ihn zu ersuchen, als Vater des Bräutigams bei den Feierlichkeiten anwesend zu sein. Anschließend war er aufgebrochen, um den jüngeren Sherwell zu holen. Auch dem Sohn hätte Rolfe einfach einen Boten schicken können, aber er war froh gewesen über die Gelegenheit, den Dunbars eine Weile entfliehen zu können.
Herr im Himmel, Rolfe hatte Blake Sherwell beinahe bedauert dafür, dass er in diesen übellaunigen Haufen einheiraten sollte – zumindest zu Beginn der Reise. Seither allerdings hatte Sherwell mit allen Mitteln versucht, ihr Vorankommen zu verzögern. Er setzte Rolfe zu, indem er ihn seit einer Woche mit Fragen nach Aussehen, Verstand und Wesen seiner Braut löcherte. Kurz gesagt: Rolfe hatte sie allesamt satt. Er konnte es kaum erwarten, die Sache zu beenden und allen Beteiligten den Rücken zu kehren.
„Nun?“, knurrte Sherwell und gemahnte Rolfe damit an die Frage.
Er seufzte ergeben. „Wie ich Euch bereits sagte – und zwar wenigstens fünfzig Mal seit Antritt unserer Reise –, ist die Dame recht hochgewachsen.“
„Wie groß ist sie?“
„Vielleicht einen Fingerbreit kleiner als ich.“
„Und?“
„Lady Seonaid ist wohlgestalt, hat langes tiefschwarzes Haar, große blaue Augen, eine gerade, edel geformte Nase, hohe Wangenknochen und helle, fast makellose Haut. Sie ist durchaus ansehnlich …“ Er brach ab und überlegte, ob es nicht vielleicht an der Zeit war, Sherwell davor zu warnen, dass ihm kein besonders herzliches Willkommen beschieden sein dürfte.
„Höre ich da ein Aber heraus?“, hakte Sherwell prompt nach.
„Aye“, räumte Rolfe ein, der zu dem Schluss gelangt war, dass er die Warnung jetzt oder nie aussprechen musste.
„Aber was?“, drängte Sherwell, die Augen argwöhnisch verengt.
„Ihre Art ist ein wenig … herb.“
„Herb?“ Er klang beunruhigt. „Was soll das heißen, sie ist ‚herb‘?“
„Nun …“ Hilfe suchend sah Rolfe zum Bischof hinüber.
Bischof Wykeham sann über die Frage nach und ließ dabei die buschigen schlohweißen Brauen über den gutmütigen grünen Augen tanzen. Er neigte sich vor und schaute an Rolfe vorbei den Bräutigam an. „Die Mutter starb früh, sodass Eure Verlobte von Vater und Bruder erzogen wurde. Ich fürchte, ihre feinen Manieren haben ein wenig darunter gelitten.“
Blake ließ sich nicht hinters Licht führen, denn er wusste, dass der Bischof ein Meister der Untertreibung war. Wenn er andeutete, dass es seiner Braut ein wenig an Manieren mangele, war sie höchstwahrscheinlich eine Barbarin. Anklagend wandte Blake sich an den rothaarigen Rolfe Kenwick. „Das habt Ihr verabsäumt zu erwähnen, Kenwick!“
„Nun, zugegeben“, gestand der widerstrebend. „Ich habe es nicht erwähnt, weil ich dachte, es könnte Euch verunsichern, und dazu sah ich keine Veranlassung.“
„Verflucht!“ Blake musterte Dunbar Castle finster. Die Burg, der sie entgegenritten, erschien ihm kalt und abweisend. Der Empfang der Schotten zeichnete sich, soweit ersichtlich, nicht gerade durch Herzlichkeit aus, aber das hatte er auch nicht erwartet. Schließlich war ihnen so wenig wie ihm an der Heirat gelegen.
„So schlimm ist es nicht, mein Sohn“, wandte der Bischof beruhigend ein. „Seonaid ist ein wenig schroff, aber eher auf die Weise wie auch Euer Freund Amaury. Ich würde gar behaupten, sie kommt einer weiblichen Ausprägung Eures Freundes so nahe wie eben möglich.“
Amaury de Aneford war seit ihrer gemeinsamen Knappenzeit Blakes bester Freund. Sie verstanden sich prächtig und hatten in so mancher Schlacht Seite an Seite gekämpft, bis Amaury kürzlich geheiratet hatte und zum Duke aufgestiegen war. Bedingt durch seinen neuen Stand, hatte er sich aus dem Kriegsgeschäft zurückziehen müssen. Bischof Wykeham war zweifellos überzeugt, Blakes Braut durch den Vergleich ein Lob ausgesprochen zu haben. Aber da lag er falsch.
„Grundgütiger“, murmelte Blake entgeistert. Vor seinem inneren Auge sah er sich den Schleier seiner Braut heben und eine große, schwarzhaarige Fassung seines besten Freundes küssen. Die Vorstellung hätte ihn beinahe vom Pferd gehauen.
Er verscheuchte den Gedanken und schaute Little George durchdringend an, der just losprustete – gewiss hatte er ein ähnliches Bild vor Augen. Als sein scharfer Blick keinerlei Wirkung zeigte, sank Blake im Sattel zusammen. Ihm war ganz elend zumute. Wie gern hätte er kehrtgemacht und wäre zurück nach England galoppiert. Diese Möglichkeit stand ihm allerdings nicht offen. Das vermaledeite Verlöbnis war geschlossen worden, als er ein zarter Knabe von zehn Jahren gewesen war. Lady Seonaid war gerade einmal vier gewesen. Sein Vater, der Earl, hatte die Entscheidung bereut, kaum dass die Tinte auf dem Pergament getrocknet war. Angus Dunbar war einst der beste Freund des alten Sherwell gewesen, doch zwei Wochen nach der Verlobung ihrer Kinder hatten die beiden sich überworfen und seitdem kein Wort mehr gewechselt. Das war nun ungefähr zwanzig Jahre her. Beide Väter hatten jeden Gedanken an den Vertrag verdrängt, aber keiner von ihnen war bereit gewesen, ihn zu lösen und damit die vereinbarten Schenkungen der jeweils anderen Partei zu verwirken. Stets hatte die Möglichkeit gedräut, dass der König die Ehe schlussendlich einfach verfügen würde, sofern er dies wünschte. Unglücklicherweise war dies nun der Fall.
Also konnte Blake nicht umdrehen und zurück nach England reiten. Seine Zukunft war besiegelt. Morgen Mittag würde er ein verheirateter Mann sein.
Aber das Leben war nun einmal eine einzige Prüfung und das bisschen Freiheit, das einem Mann vergönnt war, nur von sehr kurzer Dauer. Blake zwang sich, Haltung anzunehmen, als er sah, dass sie das Tor von Dunbar Castle fast erreicht hatten und gleich in den Burghof einreiten würden. Er würde sich vor diesen Leuten stark und selbstsicher geben. Das verlangte allein schon sein Stolz.
Blake hob den Kopf und begegnete dem stummen Blick der Wachen auf der Wehrmauer. Er hatte Mühe, eine ausdruckslose Miene zu wahren, als die Männer anfingen, sich lautstark über den Bräutigam auszutauschen.
„Welcher ist es, was meint ihr?“, rief einer.
„Ich wette, der arme blonde Wicht dort“, erwiderte ein älterer Krieger. „Kann seinem Vater nicht das Wasser reichen.“
Eine kurze Pause entstand, weil alle Blake eingehend musterten. „Schade“, meinte einer. „Dem dunklen Schönling da hätte ich gute Aussichten eingeräumt, aber dem Wicht gebe ich keinen Tag.“
„Ich geb ihm keinen halben Tag!“, grölte ein anderer.
„Um was wetten wir?“
Blakes Züge verhärteten sich, als die Kerle Wetten abschlossen. Er fühlte sich erniedrigt. Nie zuvor war er als „Wicht“ bezeichnet worden. Im Vergleich zu den meisten anderen Männern war er groß, wenn auch nicht so riesenhaft wie Little George. Jedenfalls war er ebenso groß wie Kenwick und somit auf keinen Fall klein. Auch dass diese Schotten ihm die Fähigkeit absprachen, mit einer einzelnen Frau – hochgewachsen oder nicht – fertigzuwerden, missfiel ihm sehr. Flüchtig schaute er zur Seite und sah, dass Kenwick und der Bischof betreten seinem Blick auswichen. Little George hingegen wirkte beklommen. Offenbar hatte er sich von den Burschen auf der Wehrmauer aus der Ruhe bringen lassen.
Nun, Blake würde sich nicht von ihnen verunsichern lassen. Er straffte die Schultern und lenkte sein Pferd zur Treppe, die hinauf zum Wohnturm führte. Seine Braut, die ihn eigentlich hätte willkommen heißen sollen, glänzte durch Abwesenheit – eine weitere Kränkung. Wenn er die Dame erst zu Gesicht bekam, würde er ihr in aller Deutlichkeit bescheiden, wie verdammt unhöflich das war. Kaum war er zu diesem Schluss gelangt, als alle im Burghof Anwesenden nicht länger vorgaben, beschäftigt zu sein, sondern zusammenliefen und die Ankömmlinge unverhohlen begafften. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen war schon zermürbend genug, aber schier unerträglich waren das spöttische Grinsen und das Gelächter.
Daher war Blake erleichtert, als einer der beiden Türflügel des gewaltigen Portals knarrend aufschwang und die Menge ablenkte. Auf dem oberen Treppenabsatz tauchte ein Junge auf. Er wandte sich um und rief etwas über die Schulter, ehe er die Stufen heruntersprang.
„Dank dir, Bursche“, sagte Blake lächelnd, nachdem er aus dem Sattel geglitten war und der Junge ihm die Zügel seines Pferdes abgenommen hatte. Sein Lächeln verblasste allerdings, als der Knabe ihn mitleidig und gleichzeitig erheitert beäugte, bevor er sich abwandte und auch die Pferde von Kenwick, dem Bischof und Little George entgegennahm und fortbrachte.
Unbehaglich trat Blake von einem Bein aufs andere und schaute Kenwick mit fragend gehobener Braue an. Der zuckte nur vage mit den Schultern, aber in seinem Blick stand Besorgnis. Er drehte sich um und erteilte der bewaffneten Eskorte Anweisungen.
Finster dreinschauend wandte Blake sich der Treppe zu und starrte das nun wieder geschlossene Portal an. Das anstehende Treffen erschien ihm zunehmend bedrohlicher, deshalb nutzte er die Wartezeit, um sich innerlich zu wappnen, bevor ihm aufging, dass ihn die Begegnung mit einer Frau aus der Fassung zu bringen drohte.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Worüber, zum Teufel, machte er sich Sorgen? Er hatte ein Händchen für Frauen und galt in der Damenwelt als recht gut aussehend. Es sollte ihn nicht wundern, wenn seine Braut bei seinem bloßen Anblick dahinschmelzen und in Ohnmacht fallen würde. Ihre Dankbarkeit ob des Glücks, ihn ehelichen zu dürfen, würde schier grenzenlos sein. Sie würde nicht aufhören, ihn um Vergebung zu bitten, weil sie ihn bei seiner Ankunft nicht begrüßt hatte.
Da er „der Engel“ war, würde er ihr natürlich großzügig verzeihen. Sie würden heiraten, die Sache wäre erledigt, und er konnte nach Hause zurückkehren. Weder das Gesetz noch die Verlobungsurkunde verlangten von ihm, seine Braut mitzunehmen. Blake plante, sie hierzulassen und nur dann und wann mit einem Besuch zu beehren, bis er über eine eigene Burg verfügte, wo er sie unterbringen und vergessen konnte.
Nachdem er zu seiner alten Zuversicht zurückgefunden hatte, lächelte er dem verzagt dreinblickenden Little George zu und nahm unbeschwert die Stufen hinauf zum Portal. Schwungvoll öffnete er seinen Begleitern, die verhaltener ausschritten als er und weit weniger wohlgemut wirkten. Auch Blake wurde langsamer, als er die Schotten bemerkte, die an der aufgebockten Tafel in der Großen Halle saßen, gierig ihr Essen hinunterschlangen und dabei lärmend derbe Zoten zum Besten gaben. Falls Blake angenommen hatte, die etwa hundert Männer auf der Wehrmauer und im Hof seien die einzigen, über die Lord Angus Dunbar herrsche, so hatte er sich gründlich getäuscht. Mindestens noch einmal so viele gönnten sich im Innern des Wohnturms eine Ruhepause bei guten Speisen. Eine sehr beachtliche Anzahl an Kriegern für eine solch kleine Burg.
Blake ließ den Blick kurz über die Anwesenden schweifen, um die Frau auszumachen, mit der er sich vermählen und den Rest seines Lebens verbringen würde, doch sie schien nicht da zu sein. Bis auf ein paar Mägde weilte nur Mannsvolk in der Großen Halle. Das macht nichts, sagte er sich. Er würde ihr noch früh genug begegnen.
Als er zur hohen Tafel schritt, erregte er zusehends Aufmerksamkeit. Ein Mann nach dem anderen schaute auf, knuffte seinen Nachbarn und wies auf Blake.
Ohne etwas auf das rüde Gebaren zu geben, trat er in die Mitte der Halle und blieb vor dem grauhaarigen alten Mann stehen, den er für Angus Dunbar, den Laird, hielt. Schweigen hatte sich über den Raum gesenkt. Blake spürte an die hundert Blicke auf sich, die ihn von allen Seiten zu durchbohren schienen – nur der Kerl vor ihm schenkte ihm keinerlei Beachtung. Blake fühlte sich zunehmend unangenehm berührt, bis endlich Rolfe Kenwick an seine Seite trat und sich räusperte.
„Seid gegrüßt, Lord Dunbar.“
Angus Dunbar war ein betagter, von den Härten des Lebens gebeugter Mann. Sein drahtiger Grauschopf stand in alle Richtungen ab. Seelenruhig nagte er an einem Hühnerbein, warf den Knochen schließlich über die Schulter und sah auf. Den Sprecher allerdings beachtete er nicht, sondern musterte stattdessen Blake. Umgehend verwarf dieser seinen ersten Eindruck. Hatte er den Mann tatsächlich für betagt gehalten? Für einen von den Härten des Lebens Gebeugten? Nay. Graues Haar mochte er haben, aber seine Augen sprühten vor Leben und kündeten von Scharfsinn. Blake war, als nagele Dunbar ihn regelrecht fest mit seinem Blick.
Überraschung huschte über die Miene des Laird, ehe er den Mund grimmig verzog und sich zurücklehnte. „Sieh an“, sagte er gedehnt. „Da habt Ihr also doch endlich hergefunden. Und Ihr seid Eures Vaters Balg, keine Frage.“
Er sprach mit einem breiten schottischen Akzent, daher brauchte Blake eine Weile, um den Worten Sinn abzuringen. Schließlich nickte er vorsichtig.
„Tja, nun, Ihr kommt zu spät.“ Dunbar machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihn das vergnügte, und in noch breiterem Schottisch fuhr er fort, vermutlich mit einer Erklärung.
Blake verstand kein Wort. Hilfe suchend sah er Kenwick an, der die Stirn in Falten legte.
„Die Brutzeit ist vorbei, das Mädchen ist ausgeflogen, der Hühnerstall ist leer, und Ihr werdet Euch trollen müssen“, übersetzte Kenwick ihm das Gesagte, ehe er sich verärgert an Dunbar wandte. „Was soll das heißen, das Mädchen sei ausgeflogen? Wo ist sie hin?“
Dunbar zuckte mit den Schultern. „Hat sie mir nicht verraten.“
„Und Ihr habt sie nicht gefragt?“
Er schüttelte den Kopf. „Ist nun fast zwei Wochen her. Sie ist am Tag nach Lady Wildwoods Ankunft verschwunden …“
„Lady Wildwood ist hier?“ Kenwick schien aufrichtig verblüfft. „Sie hätte doch darauf warten sollen, dass wir sie mit zurück an den Hof nehmen.“
„Aye, nun, Ihr habt Euch reichlich Zeit gelassen, nicht wahr? Wir haben Euch vor über einer Woche zurückerwartet.“
Kenwick bedachte Blake mit einem giftigen Blick. „Wir wurden aufgehalten“, murmelte er.
„Während Ihr ‚aufgehalten‘ wurdet, sah sich Lady Wildwood gezwungen, um ihr Leben zu laufen.“
„Ihr meint nicht zufällig Lady Margaret Wildwood?“, warf Blake ein und war erstaunt, als der Schotte nickte. Blake hatte Lord Wildwood und dessen Gemahlin mehrmals bei Hofe getroffen. Zu Lebzeiten der Königin hatte sich Lady Wildwood häufig dort aufgehalten. Nach dem zu urteilen, was er gesehen und gehört hatte, waren Lord und Lady Wildwood etwa zwanzig Jahre lang ein glückliches Paar gewesen. Lord Wildwood hätte seiner Frau niemals auch nur ein Haar gekrümmt und könnte es nun, da er tot war, erst recht nicht tun. Blake wusste, dass der Mann vor einigen Monaten in Irland sein Leben gelassen hatte. „Lord Wildwood ist tot“, sprach er seine Gedanken laut aus. „Wer sollte Lady Wildwood übelwollen?“
Nachdenklich runzelte Kenwick die Stirn und schien nach den passenden Worten zu suchen. Schließlich seufzte er. „Kennt Ihr Greenweld?“
Blake nickte. Greenweld war Wildwoods Nachbar, ein habgieriger, sittenloser Strolch, den niemand ausstehen konnte.
„Er hat Lady Wildwood in die Ehe gezwungen“, erklärte Kenwick. „Er hat ihre Tochter Iliana entführt und als Druckmittel verwendet, um zu verhindern, dass Lady Wildwood gegen die Heirat aufbegehrt.“
Diese Neuigkeit erschütterte Blake. „Greenweld kann nicht im Ernst geglaubt haben, dass er damit durchkommt.“
„Aber er ist damit durchgekommen“, entgegnete Kenwick. „Bis es Lady Wildwood gelungen ist, einen treuen Bediensteten mit einem Schreiben zum König zu schicken und ihn von ihrer Zwangslage zu unterrichten. Richard hat Iliana umgehend mit Duncan Dunbar verheiratet, Lord Dunbars Sohn.“ Er nickte in Richtung des Laird. „So hat er das Mädchen aus Greenwelds Klauen befreit. Derzeit bemüht sich der König, Greenwelds Ehe mit Lady Wildwood annullieren zu lassen.“
„Was ihr vermutlich die Tracht Prügel beschert hat“, warf Dunbar grimmig ein. „Lieber wollte er sie tot sehen, als Wildwoods Besitzungen wieder herzugeben.“
„Aye.“ Kenwick nickte. „So mag es gewesen sein, sollte er Wind von den Plänen des Königs bekommen haben.“ Kurz sann er nach, bevor er Dunbar anschaute. „Ich nehme an, sie hat hier Schutz gesucht? Weshalb ist sie nicht an den Hof geflohen? Der König hätte ihr Obdach gewährt.“
Abermals zuckte Dunbar mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Sie ist mit ihrer Kammerfrau und deren Sohn hergekommen, hat jedoch auf dem Weg zu fiebern begonnen. Seit sie hier ist, ruht sie, und ich habe noch nicht mit ihr sprechen können.“
„Verstehe“, murmelte Kenwick missmutig. „Ist sie ansonsten wohlauf?“
Dunbar schürzte die Lippen. „Sie lebt, wenn sie dem Tode auch nur knapp entronnen ist. Der Mistkerl hat ihr die Seele aus dem Leib geprügelt. Deshalb hat sie nicht darauf gewartet, dass Ihr sie endlich zu holen geruht, sondern suchte bei ihrer Verwandtschaft Zuflucht.“
Kenwick tauschte einen Blick mit dem Bischof. „Habt Ihr dem König ausrichten lassen, dass sie hier ist?“, wollte er wissen.
„Nay, ich dachte, ich warte auf Euch. Es ist besser, ihm alle Neuigkeiten aus einer Hand zu liefern. Und vielleicht wünscht er, dass Ihr sie zum Hof eskortiert, sobald sie genesen ist.“
Kenwick nickte. „Ihr seid ein kluger Mann, Angus Dunbar.“
Der Laird verzog die Lippen. „Und Ihr seid ein gewiefter Unterhändler, Jungchen. Deshalb schickt der König ja auch stets Euch, wenn es um ein aussichtsloses Unterfangen geht.“
„Hm“, machte Kenwick, und Blake sah deutlich, was er davon hielt, dass man ihm derlei Aufgaben aufhalste. „Wenden wir uns also dem Unterfangen zu, dessentwegen ich gekommen bin.“
Dunbar verzog das Gesicht. „Aye. Nun … die Sache hat, wie gesagt, einen Haken. Seonaid hat den Aufruhr um die Ankunft von Lady Wildwood genutzt und ist tags darauf verschwunden, als meine Männer und ich …“
Es folgte eine für Blake völlig unverständliche Schilderung in breitestem Schottisch, nach der er genauso klug war wie zuvor.
„Was?“, fragte er so verwirrt wie verzweifelt.
„Er sagte, Seonaid sei am Tag nach Lady Wildwoods Ankunft verschwunden und …“, setzte Kenwick an, aber Blake unterbrach ihn gereizt.
„Das habe ich selbst verstanden. Was, zum Henker, hat er danach gesagt?“
„Der Laird und seine Männer haben gezecht. Lady Seonaid hat gewartet, bis sie betrunken waren, und bei Einbruch der Dunkelheit hat sie sich davongestohlen aus dem …“
„Hühnerstall, aye, schon begriffen.“ Blake wandte sich dem Älteren zu, der ihn unverhohlen zufrieden betrachtete, und funkelte ihn an. Blake sah sich gern als eine Art Wortkünstler, denn er war gewandt im Umgang mit der Sprache und nutzte diese Gabe immer wieder mit Erfolg, um ans Ziel zu gelangen. Umso mehr brachte es ihn auf, dass er diesen Schotten nicht verstand, und er argwöhnte, dass Dunbar dies genau wusste und sich auf seine Kosten amüsierte. „Soll das etwa heißen, dass Ihr gegen die Abmachung verstoßt und somit auf die Morgengabe verzichtet?“
Als hätte ihn etwas gestochen, fuhr Dunbar von seinem Platz hoch. „Ich hör wohl nicht recht!“, stieß er aus, ehe er sich ebenso rasch wieder beruhigte und Blake anlächelte. „Mir will scheinen, dass vielmehr Ihr derjenige seid, der die Übereinkunft gebrochen hat. Schließlich habt Ihr verabsäumt, Eure Braut zu holen.“
„Nun bin ich aber hier.“ Kalt erwiderte Blake das Lächeln.
„Das Mädchen ist vierundzwanzig“, blaffte Dunbar. „Ihr hättet sie vor zehn Jahren holen sollen.“
Blake wollte etwas erwidern, doch Kenwick legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Das haben wir doch alles schon besprochen, Laird Angus, und zwar zur Genüge“, sagte er betont geduldig. „Ihr habt eingewilligt, dass die Hochzeit hier bei Euch stattfindet, und Blake Sherwell ist wie vereinbart erschienen, um seinen Teil des Abkommens zu erfüllen.“ Er runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht, weshalb Ihr abermals Schwierigkeiten macht, obwohl wir – Ihr, Duncan und ich – doch vor meinem Aufbruch übereingekommen waren. Nur Seonaid stand der Vermählung ablehnend gegenüber, und nun sträubt auch Ihr Euch wieder?“
Dunbar zuckte mit den Schultern und blickte nach wie vor erheitert drein. „Aye, ich habe zugestimmt, was aber nicht heißt, dass ich es dem Jungen da einfach machen werde. Für meinen Geschmack hat er etwas zu lange gezögert und damit einen jeden Dunbar beleidigt.“
Zustimmendes Gemurmel wurde laut, einige nickten. Rolfe seufzte. Wie es aussah, würde der Laird sich nicht sperren, ihnen aber auch keine Hilfe sein – was in Rolfes Augen nicht ausreichte. „Ich kann Euren Groll nachvollziehen, Mylord, aber ich fürchte, Sherwell hat recht. Indem Ihr Eurer Tochter zur Flucht verholfen habt, habt Ihr Vertragsbruch begangen und die Morgengabe verwirkt …“
Unwirsch winkte Laird Angus ab und brachte ihn damit zum Schweigen. „Ach, spart Euch Eure Drohungen. Ich würde das Mädchen lieber heute als morgen verheiraten, denn es wird höchste Zeit.“ Er sah Blake mürrisch an. „Außerdem hätte ich gern Enkelkinder, selbst wenn es halbe Engländer werden.“ Er nahm einen großzügigen Schluck von seinem Bier und knallte den Humpen auf den Tisch. „Sie ist nach St. Simmian’s geflohen.“
„St. Simmian’s?“
„Ein Kloster, zwei Tagesritte von hier“, erklärte er aufgeräumt. „Dort hat sie um Obdach gebeten, und man hat es ihr gewährt. Obwohl ich sie mir beim besten Willen nicht unter Betschwestern vorstellen kann.“
„Verdammt“, zischte Kenwick, ehe er den Schotten aus schmalen Augen musterte. „Ich dachte, Ihr wisst nicht, wo sie ist.“
„Ich sagte, dass sie es mir nicht verraten hat“, berichtigte Dunbar gelassen. „Habe ihr einen von meinen Männern hinterhergeschickt. Der ist ihrer Spur bis nach St. Simmian’s gefolgt, hatte aber kein Glück damit, Seonaid herauszulocken. Männern ist der Zutritt verwehrt, wisst Ihr.“
„Aye, weiß ich“, erwiderte Kenwick bissig.
Angus Dunbar richtete den Blick erneut auf Blake und verengte die Augen, vermutlich weil Blake seine Erleichterung nicht ganz verbergen konnte. „Also? Ihr wisst, wo sie ist, Junge. Was steht Ihr noch hier? Holt sie Euch. Womöglich kommt sie gar freiwillig heraus, denn inzwischen dürfte sie vor Langeweile eingehen.“
Blake schaute Kenwick an. Kaum hatte er frohlockt, weil er sich der Schlinge um seinen Hals ledig wähnte, als die Miene und die bereits schwiegerväterlich anmutenden Worte Dunbars ihm zeigten, dass er sich zu früh gefreut hatte. Man erwartete also von ihm, dass er seine Braut aus dem Kloster holte. Seiner Meinung nach hätte man ihn ebenso gut auffordern können, sein eigenes Grab zu schaufeln, aber offenbar hatte er in dieser Angelegenheit nichts zu vermelden.
Seufzend drehte er sich um und ging dem Bischof und Kenwick voran aus der Halle. An der Tür ließ er die anderen beiden vorbei und wandte sich noch einmal zu Dunbar um. „Zwei Tagesritte bis zum Kloster, sagt Ihr?“
„Aye, zwei Tagesritte.“
„Sind die Menschen in dem Gebiet, das wir durchqueren, Euch freundlich gesinnt?“
Angus Dunbar hob die Brauen. „Mir schon. Dem König von England hingegen nicht unbedingt“, fügte er vergnügt an. „Daher würde ich mit Eurem Banner nicht gar so sehr wedeln.“
Blake nickte. Das hatte er schon vermutet. Wenn er bei der Unternehmung starb, die Braut aufgrund seines Ablebens nicht heiraten konnte und somit die Besitzungen verwirkte, die sein Vater vertraglich zugesichert hatte, würden der Laird of Dunbar und dessen Tochter bis in alle Ewigkeit triumphieren. „In diesem Fall hätte ich gern Euer Plaid, Mylord“, sagte er boshaft grinsend und musterte die farbenfrohe Stoffbahn, die von den Schotten um die Hüften geschlungen und so gegürtet wurde, dass sie Falten warf. Das Ende der langen Decke wurde wie eine Schärpe über die Schulter gelegt.
Angus Dunbar blinzelte überrascht, ehe sich seine Miene verdüsterte. „Und wieso wohl wollt Ihr mein Plaid?“
„Da die Menschen auf dem Gebiet, das wir queren müssen, Euch wohlgesinnt sind, würde ich gern Eure Farben tragen, um zu zeigen, dass wir unter Eurem Schutz stehen.“
Totenstille senkte sich über die Halle, die Krieger an den Tischen blickten gar eine Spur ratlos drein. Ein Raunen erhob sich, etwas wurde von Mann zu Mann geflüstert und erreichte schließlich den Burschen zur Linken des Laird. Dunbars Verwirrung schwand, als er die Botschaft vernahm. Was immer gesagt worden war – Angus Dunbar schien sich köstlich darüber zu amüsieren. Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen, und alle übrigen Anwesenden taten es ihm gleich.
Noch immer prustend stand er auf, entledigte sich mit einer fließenden Bewegung seines Plaids und warf es Blake über die Tafel hinweg zu. Nun trug er nur noch ein Hemd, das ihm knapp bis zu den Knien reichte.
Sein Lachen verebbte, als Blake die Decke auffing, ob ihres strengen Geruchs das Gesicht verzog und sich abwenden wollte.
„Heda!“
Blake hielt inne und drehte sich um. „Aye?“
„Wollt Ihr mich etwa in nichts als meinem Hemd hier stehen lassen?“, fragte Laird Angus und wackelte mit den Brauen.
Verwirrt starrte Blake den Laird an. „Was wollt Ihr von mir?“
„Tunika, Wams und Beinkleider hätt’ ich gern.“
Verdrossen sah Blake an sich hinab und betrachtete die Kleidungsstücke aus golddurchwirktem Stoff, die er sich gerade erst zugelegt hatte. Vermutlich, so musste er sich eingestehen, hatte er seiner Braut mit dieser feinen Gewandung imponieren wollen. „Die Tunika ist funkelnagelneu“, wandte er ein. „Sie ist erst wenige Wochen alt.“
Angus Dunbar zuckte mit den Schultern. „Ein gerechter Tausch, wenn Ihr dafür meine Farben erhaltet.“ Wieder lachte er, und die anderen fielen mit ein.
Seufzend reichte Blake das Plaid an Little George weiter, der ihm zurück in die Halle gefolgt war, ehe er sich widerwillig daranmachte, seine Gewandung abzulegen. Zuerst zog er sich Tunika und Wams aus, sodass er mit nackter Brust dastand.
„Ist doch größer, als man zunächst meint, der Kerl“, bemerkte einer der Männer.
Es war der Ältere, der vorhin auf der Wehrmauer gestanden und seinen Kumpanen beschieden hatte, dass Blake seinem Vater nicht das Wasser reichen könne. Offenbar waren einige der Wachposten ihnen in den Wohnturm gefolgt, was Blake bislang nicht aufgefallen war.
„Hm“, machte Dunbar nur, nahm die Kleider entgegen und gab sie einem seiner Männer. Rasch zog er sich das nicht mehr taufrische Hemd über den Kopf und warf es seinem zukünftigen Schwiegersohn zu, während er selbst nach der guten Tunika griff.
Blake fing das Hemd auf und hätte ob des Gestanks beinahe aufgestöhnt. Vermutlich war es nicht gewaschen worden, seit der Laird es zum ersten Mal angelegt hatte. Was, wie Blake schätzte, vor mindestens drei Jahren geschehen war. Aber er riss sich zusammen und streifte sich das Ding über, ehe er seine Bruche und die bis zu dieser reichenden, eng anliegenden Beinlinge ablegte. Letztere waren mit Nestelbändern an der Bruche befestigt.
„Bisschen eng, aber ansonsten gar nicht übel.“
Blake schaute zu Dunbar hinüber, der sich soeben die Tunika über das Wams streifte, und riss erstaunt die Augen auf, denn sein zukünftiger Schwiegervater hatte nicht übertrieben – er war ebenso groß wie Blake.
„Hört auf zu gaffen, und reicht mir die Hosen, Junge. Ich will mir nicht den Hintern abfrieren.“
Erst jetzt ging Blake auf, dass er den Älteren angestarrt hatte. Rasch wandte er sich wieder seinen Beinkleidern zu und gab sie Dunbar. Danach nahm er das Plaid von Little George entgegen und wickelte es sich um die Hüften.
„Was, zum Teufel, tut Ihr da?“
Blake sah auf und begegnete Dunbars halb bestürztem, halb angewidertem Blick.
„So trägt man kein Plaid, Hornochse! Ihr beleidigt meine Farben ja allein schon durchs Tragen.“ Er hatte Bruche und Beinlinge angelegt, trat zu Blake und entzog ihm das Plaid, um es auf dem Boden auszubreiten, sich hinzuknien und den Stoff zu fälteln. Gebannt sah Blake zu, wie Dunbar das Plaid mit flinken Fingern in Falten legte. Blake bezweifelte, dass ihm das selbst je gelingen würde – und wenn doch, dann gewiss nicht derart geschwind.
„So!“ Dunbar richtete sich auf und sah Blake an. „Legt Euch nun darauf.“
„Ich soll mich auf das Plaid legen?“, fragte er verwirrt.
„Aye, legt Euch darauf.“
Mit großen Augen sah Blake ihn an. „Ihr scherzt, nicht wahr?“
„Jetzt legt Euch schon auf das verdammte Ding!“, fuhr Dunbar ihn an.
Blake murmelte etwas, das nicht für Dunbars Ohren bestimmt war, und tat wie geheißen. Dunbar zupfte und rückte den Stoff zurecht. Wenige Herzschläge später stand er auf und gab Blake durch einen Wink zu verstehen, sich ebenfalls zu erheben. Ein letztes Mal legte Dunbar Hand an und richtete das Plaid.
„Na, also.“ Er begutachtete sein Werk und schüttelte den Kopf. „Fürchte, Euch steht es nicht so gut wie mir“, verkündete er, woraufhin beipflichtendes Gemurmel laut wurde. „Ihr seht immer noch aus wie ein Sassenach, wie ein Engländer, wenn auch wie einer, der sich als Schotte verkleidet hat. Aber sei’s drum …“ Er zuckte mit den Achseln und schaute an sich hinab. „Ich wage zu behaupten, dass mir Eure Kleider hingegen vortrefflich stehen. Was meint ihr, Leute?“ Er breitete die Arme aus, drehte sich im Kreis und ließ sich bewundern. „Glaubt ihr, ich kann damit bei Lady Ilianas Mutter, der guten Lady Wildwood, Eindruck schinden?“
Die Männer bekundeten Zustimmung, und Angus Dunbar wandte sich wieder Blake zu, dem nicht eben fröhlich zumute war. „Grämt Euch nicht, Sassenach, Ihr habt ganz andere Sorgen. Geht, holt Eure Braut.“ Er grinste, wodurch seine Miene einiges an Grimmigkeit verlor. „Falls Ihr könnt.“
Blake versteifte sich und spürte, wie er rot wurde, als die Schotten um ihn herum bei den letzten drei Worten leise lachten. Er war es nicht gewohnt, dass man sich über ihn lustig machte, und es missfiel ihm. Da er im Moment jedoch nichts daran ändern konnte, machte er auf dem Absatz kehrt und schritt zur Tür. Little George folgte dicht hinter ihm.
Angus schürzte die Lippen und sah Blake Sherwell nach. Erst als die beiden Männer den Wohnturm verlassen hatten, setzte er sich wieder, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Humpen und musterte seine Männer. Er ließ den Blick auf Gavin ruhen, einem seiner besten und treuesten Krieger, und rief ihn zu sich.
„Aye, M’laird?“
„Nimm dir zwei Männer, und folge ihnen, mein Junge“, wies Angus ihn an. „Dieser Sherwell-Grünschnabel scheint mir dumm genug, sich meucheln zu lassen, und sein nichtsnutziger englischer Vater und dessen englischer König würden nur uns die Schuld zuschieben. Sorge also dafür, dass er den Weg findet, ohne sich zu verlaufen.“
Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr!“ Lady Elizabeth Worley, die Äbtissin von St. Simmian’s, hörte selbst, wie verzweifelt sie klang, als sie auf die gepolsterte Bank hinter ihrem prächtigen Schreibpult aus Eichenholz sank.
Schwester Blanche kaute beklommen auf ihrer Unterlippe, griff sich ein Pergament und fächelte der Mutter Oberin Luft zu. Fieberhaft suchte sie nach den passenden Worten, um die Dame zu besänftigen. Diese war bekannt dafür, schnell die Beherrschung zu verlieren und in dieser Gemütslage zu unbedachten Handlungen zu neigen. Besser war es, sie vorher zu beschwichtigen, sofern das möglich war.
„Übt Nachsicht, Ehrwürdige Mutter“, bat sie schließlich und fügte hoffnungsvoll an: „Gott hat es gefallen, uns zu prüfen, und er würde uns keine Bürde auferlegen, die wir nicht tragen könnten.“
„Papperlapapp!“ Elizabeth wischte das Gesagte mit einer gereizten Geste beiseite. Sie war Engländerin durch und durch und hatte vor mehr als zwanzig Jahren den Schleier genommen, um der Heirat mit einem besonders hassenswerten englischen Edelmann zu entgehen. Leider waren Klöster eine beliebte Zufluchtsstätte für Frauen, die nicht glücklich über ihre Heiratsaussichten waren, und sämtliche Positionen, die sie ehedem in englischen Klöstern hätte besetzen können, waren unter ihrer Würde gewesen. Daher war sie als englische Äbtissin in einem schottischen Kloster mitten im Nirgendwo gelandet. Immer noch besser, als in einem englischen Kloster als schlichte Nonne zu dienen – hatte sie zumindest damals gedacht. Heute sah sie das anders. Allein schon, wie diese Wilden hier sprachen, tat ihr in den Ohren weh. Elizabeth hatte die Gepflogenheiten und die Sprache dieser Barbaren von Herzen satt. Nachdem sie zwanzig Jahre lang hier hatte ausharren müssen, war sie nun mit ihrer Geduld am Ende. Ihr fehlte schlicht die Gelassenheit, um die Schottin zu ertragen, die vor Kurzem in diesem Kloster Zuflucht gesucht hatte. Und sie weigerte sich zu glauben, dass Gott ihr diese Gelassenheit abverlangte.
„Nicht Gottes Wille hat Seonaid Dunbar hergeführt.“ Sie schlug mit der flachen Hand aufs Schreibpult. „Es war der Leibhaftige!“
Schwester Blanche riss die Augen auf und schaute noch eine Spur besorgter drein. „Oh, aber nicht doch!“
„Und ob.“ Elizabeth nickte nachdrücklich. „Ich sag’s Euch, Schwester, sie ist die Ausgeburt der Hölle, gekommen, unsere Güte mit Füßen zu treten und uns in Versuchung zu führen.“
„In Versuchung?“ Schwester Blanche schien das in Zweifel zu ziehen.
„Aye, sie will uns dazu bringen, gegen eines der Zehn Gebote zu verstoßen.“
„Gegen welches der Zehn Gebote, Ehrwürdige Mutter?“
„Du sollst nicht töten.“
Schwester Blanche blieb der Mund offen stehen, und die Augen drohten ihr aus den Höhlen zu treten. „Oh, ihr Heiligen! So solltet Ihr nicht sprechen, Mutter!“
„Aber es ist die Wahrheit.“ Elizabeth lächelte grimmig, als sie sah, wie sich Furcht und Unbehagen in der Miene der Schwester spiegelten. „Denn ich würde ihr mit Freuden den Hals umdrehen.“
„Ehrwürdige Mutter!“
„Aye, nun …“ Elizabeth seufzte. „Hoffen wir, dass Seonaids Engländer sich rasch einfindet und mich von meinen sündigen Gedanken erlöst.“ Sie griff in das Fach unter dem Pult und tastete nach ihrem Whiskyschlauch. „Bevor ich zur Tat schreite“, fügte sie murmelnd an.
Missbilligend beäugte Schwester Blanche den Schlauch mit dem starken Getränk. „Seonaid Dunbar wird kaum freiwillig zu ihrem Verlobten gehen. Deshalb ist sie ja hier.“
„Stimmt, aber er kann sie holen.“
„Sie holen? Wie das? Dies ist ein Haus Gottes, und Männer dürfen es nicht betreten.“
Elizabeth nahm einen großzügigen Schluck Whisky und verschloss den Schlauch wieder. „Männer tun immerfort Dinge, die sie eigentlich nicht tun dürfen“, bemerkte sie trocken.
„Aye, aber die Pforte ist eisenbeschlagen und stets verriegelt. Und die Mauer … Er kann doch unmöglich …“
„Ihr werdet die Pforte aufsperren.“
„W…wie bitte?“, stotterte die Schwester.
„Sobald die Engländer gesichtet werden, werdet Ihr die Pforte entriegeln.“
„Ich? Aber …“ Fassungslos starrte Blanche die Mutter Oberin an. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Aber Ihr habt Lady Seonaid Obdach gewährt. Die Summe, die sie gezahlt hat, war …“
„Nicht annähernd hoch genug“, beendete die Ehrwürdige Mutter den Satz. „Die Münzen decken gerade einmal das ab, was sie am ersten Tag hier zerstört hat, mehr nicht.“
„Ist das nicht ein wenig übertrieben, Mutter?“, wandte Blanche hastig ein. „Es stimmt, sie hat das eine oder andere zerbrochen, aber nur, weil sie es im Vorbeigehen mit dem Schwert umgestoßen hat. Seit Ihr Lady Seonaid die Waffe abgenommen habt, hat sie kaum etwas zertrümmert.“
„Ich würde Schwester Merediths Fuß nicht als ‚kaum etwas‘ bezeichnen.“
Blanche verzog das Gesicht, als die Mutter Oberin sie an den Fuß der armen Schwester Meredith gemahnte. „Oh, aye, aber das hat sie nicht absichtlich getan. Es war ein Unfall.“
„Bei Lady Seonaid ist alles ein Unfall.“ Die Klostervorsteherin blickte missmutig drein.
Unglücklicherweise hatte sie recht. Lady Seonaid schien in der Tat anfällig für Missgeschicke zu sein, weshalb Blanche es lieber mit einem anderen Einwand versuchte. „Sie hat ein gutes Herz, Mutter. Es ist doch nur, weil sie so furchtbar groß ist und sich deshalb in ihrer Haut nicht wohlfühlt. Zudem ist sie von Vater und Bruder erzogen worden und daher unsicher inmitten von Frauen.“
„Ich schwöre bei meinem Glauben an den Allmächtigen, Blanche, dass Ihr auch noch ein gutes Wort und einen Tropfen Mitgefühl für eine Natter aufbringen würdet“, murmelte die Mutter Oberin und sah Blanche durchdringend an. „Ihr habt meine Anordnung vernommen, Schwester. Wenn der Engländer sich nähert, werdet Ihr die Arbeiterinnen aus dem Garten abziehen, und sobald alle im Gebäude sind, entriegelt Ihr die Pforte.“
„Aber …“
„Kein Aber, Schwester Blanche! Ihr leistet meiner Weisung Folge, oder ich schicke Euch in Schande zurück nach England.“
Das brachte Blanche zum Schweigen. Auch sie war Engländerin, wenngleich sie aus Berufung ins Kloster eingetreten war und nicht, um einer unliebsamen Ehe zu entgehen. Als Tochter eines unbedeutenden Barons hatte es ihr nicht freigestanden, sich einen Konvent auszusuchen. Sie war nach Schottland entsandt worden, weil sie hier gebraucht wurde, und diente dem Herrn und den Menschen hier so gut, wie es ihr möglich war. Anders als die Äbtissin hielt sie die Schotten für einen lebhaften, mutigen Menschenschlag und hatte unter den zumeist schottischen Schwestern hier viele Freundinnen gefunden. Ihr lag wahrlich nichts daran, in Schande zu ihrer Familie nach England zurückzukehren. Andererseits wollte sie Lady Seonaid aber auch nicht verraten. Blanche mochte die Frau, auch wenn diese ein wenig ruppig und ungeschickt war. In ihren Augen umgab Seonaid Dunbar etwas Wagemutiges, aber auch Ehrenhaftes, und das faszinierte Blanche. Lady Seonaid besaß einen rauen Charme und zudem viel Humor.
Vielleicht gab es ja einen Weg, die Weisung der Oberin zu erfüllen, ohne Lady Seonaid zu hintergehen.
„Hörst du das?“ Aeldra verstummte und legte den Kopf schief. „Da weint jemand.“
„Hm.“ Seonaid folgte dem leisen Schluchzen bis zur Kapellentür. Kurz hielt sie inne, da sie nicht stören wollte, aber angesichts der herzzerreißenden Laute konnte sie sich auch nicht einfach abwenden. Seufzend öffnete sie die Tür.
In der Kapelle fanden sich alle Nonnen und Laienschwestern für Frühmette und Laudes ein, an denen auch Seonaid seit zwei Wochen gehorsam teilnahm. Das bedeutete täglich fünf Stunden an Gebeten in diesem höhlenartigen Gemäuer, das nur von Kerzen auf dem Altar und entlang der Seitenwände erhellt wurde. Die vielen Kerzen hätten ein jedes Gemach taghell erleuchtet, die Kapelle allerdings tauchten sie lediglich in schummriges Licht.
Was vermutlich von Vorteil ist, dachte Seonaid und vermied es geflissentlich, die Wände zu betrachten. Das tat sie, seit sie erstmals im Zwielicht einen Blick darauf geworfen hatte. Ihre flüchtige Musterung hatte sie zu dem Schluss geführt, dass es sie nicht nach einer besseren Ausleuchtung der Kapelle verlangte, um die Wandbehänge eingehender studieren zu können. Die Motive waren allesamt religiöser Natur und zeigten Jesus Christus sowie verschiedene Heilige. Leider waren vorrangig die grausameren Szenen aus dem Leben der Figuren verewigt worden – oder genauer gesagt ihr Tod. Zu sehen waren die Kreuzigung Christi, die Enthauptung der heiligen Barbara, die Ermordung der heiligen Ursula mitsamt ihres aus elftausend Jungfrauen bestehenden Gefolges sowie die heilige Katharina, die aufs Rad gespannt wurde.
Wann immer die Schwestern nicht in ihre Gebete vertieft waren, fertigten sie Wandteppiche an. Seonaid wusste, dass sie derzeit an einem werkelten, der die Steinigung des heiligen Stephanus darstellte. Da sie die schaurigsten Martyrien der weiblichen Heiligen bereits porträtiert hatten, machten sie nun offenbar mit den männlichen Heiligen weiter.
Nun denn, das war nicht ihre Angelegenheit. Als sie endlich die Frau erspähte, die vor dem Altar kniete, zog sie überrascht die Brauen hoch. Sie hatte erwartet, eine der Schwestern vorzufinden, die von der Mutter Oberin bestraft worden war und deshalb Tränen vergoss. Stattdessen war es die einzige andere Frau außer ihr und Aeldra, die gegenwärtig hier Zuflucht gesucht hatte – Lady Helen. Sie war Engländerin und erst am Vorabend angekommen. Seonaid wusste wenig über sie. Niemand hatte ihr erzählt, weshalb Lady Helen hier war, aber sie argwöhnte, dass es etwas mit einem widerlichen, anmaßenden Ehemann oder dergleichen zu tun hatte. Wäre es schlicht um eine unzumutbare Ehe gegangen, hätte die Frau gewiss in einem englischen Kloster um Obdach gebeten, anstatt bis ins tiefste Schottland zu flüchten.
Als Aeldra sie nun von hinten anstupste, wurde Seonaid bewusst, dass sie für ihre ungeduldige Cousine schon zu lange verharrte, denn Aeldra wollte endlich wissen, was hier vor sich ging. Also betrat Seonaid die Kapelle und schritt, gefolgt von Aeldra, den Mittelgang entlang zum Altar und der knienden Frau.