Das Wolkenhotel - Oliver Fehn - E-Book

Das Wolkenhotel E-Book

Oliver Fehn

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Beschreibung

In dem aufwühlend erzählten Roman "Das Wolkenhotel" schildert Oliver Fehn die Odyssee der beiden Teenager Sparrow und Wolfi in das verruchte "Wolkenhotel", einen in den Wäldern versteckten Umschlagplatz für die unheilvolle Droge Cloud 13, die Menschen in eine Welt versetzt, in der sie alles wiederfinden können, was sie je verloren haben. Unter dem Einfluss von Cloud 13 trifft Sparrow seine geliebte Mutter wieder, die sich selbst das Leben nahm. Zu spät erkennt er, dass der Flug auf Wolke dreizehn auch der Weg ins nackte Grauen ist.

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Oliver Fehn

Das Wolkenhotel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitung

Teil 1

Teil 2

Der Selbstversuch

Teil 3

Coda

Impressum neobooks

Einleitung

Kein Baum kann in den Himmel wachsen,

der nicht zugleich tief in der Hölle verwurzelt ist.

Teil 1

In unserer Gegend kam der Sommer rasch; manchmal übersprang er sogar das Frühjahr.

Dann standen schon im Mai alle Felder in voller Rapsblüte: ein Gelb wie auf den Bildern Renoirs, wo die Farben wie Dunst über der Leinwand zu schweben scheinen. Normalerweise lagen Wolfi und ich an solchen Tagen am See, doch in dem Jahr, in dem unsere Geschichte spielt, fühlten wir uns im Freibad besser aufgehoben: Ein Feuer hatte gewütet, vermutlich das Werk eines Brandstifters, zwei Kilometer vor der Stadt, und es mussten eine Menge Tiere ums Leben gekommen sein, denn die Luft roch böse und verdorben. Während eines Erkundungsgangs hatten Wolfi und ich sogar einen verbrannten Hund entdeckt, steif und pechschwarz, wie ein schlecht gemachtes Plüschimitat, und am Katzelsbach trieben tote Fische ans Ufer, von denen der schwachsinnige Butch uns erzählte, sie seien im Wasser verkocht, und man könne sie eigentlich so servieren, mit Buttersoße und Kartoffeln. Aber die Fische rochen wie alter Lebertran, und wer davon gegessen hätte, wäre sicher an einer Seuche krepiert, die das Blut und die Nerven vergiftet, und so etwas riskierten nicht einmal die Hunde.

In der Nacht, als der Wald lichterloh brannte, lernte Wolfi Alisha kennen, die inzwischen seine Freundin war; sie stand verloren unter den Schaulustigen, an einen Jägerzaun gelehnt, und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Wolfi war in solchen Fällen immer ganz Gentleman, also fragte er: „Ich hoffe doch, du hast bei dem Brand niemanden verloren?“

Sie sah ihn an, wie man eine Engelserscheinung betrachtet. Sie hatte nussbraunes Haar, lang und seidig: ein Mädchen, das Wert auf sein Äußeres legte, und bestimmt keine, die hier nur ihr Mitgefühl zur Schau stellen wollte.

„Flammen machen mich immer traurig.“, sagte sie. „Als ich ein Kind war, wäre ich einmal fast verbrannt. Und jetzt denke ich an die vielen Tiere, die da leiden müssen. Es muss schlimm sein, zu wissen, dass man verbrennt.“

„Na ja.“ Wolfi fuhr sich mit den Fingern durch das möhrenfarbene Haar. „Schön ist’s bestimmt nicht. Soll ich uns eine Tüte Hamburger mit Pommes spendieren?“

„Du bist so herrlich unromantisch.“ Sie schlug die Augen nieder. „Das brauche ich grad irgendwie.“

„Äh … mit Ketchup?“

Und an jenem Tag geschah, wovor ich immer ein wenig Angst gehabt hatte: Mein langjähriger Kumpel – der Junge, der meinem Herzen nahestand wie kein zweiter – nahm ein fremdes Mädchen bei der Hand und bestieg mit ihr zusammen den Bus nach Bruderstadt, und zum ersten Mal im Leben fragte er mich nicht, ob ich mitkommen wolle.

Spät nach Mitternacht wartete ich auf den letzten Bus. Als Wolfi mich sah, wirkte er genervt.

„Ihr geht jetzt zusammen?“ fragte ich.

„Na ja, erst mal gucken, ob es was taugt.“

„Ich drück dir die Daumen.“

Und es taugte, zumindest was mich betraf. Die folgenden Wochen lieferten den Beweis. Man sah die beiden kaum zusammen. Egal, ob Wolfi ins Kino ging oder ins Freibad, Alisha blieb immer zu Hause. Irgendetwas war seltsam an ihr.

„So, wie an dem Abend, als ich sie trösten wollte, hab ich sie eigentlich nicht mehr erlebt“, sagte Wolfi, während die Sonne unseren Rücken und unsere Beine versengte und die Welt um uns nur aus Gelächter und Kindergeschrei bestand. „Ich hab sie gefragt, ob sie eine Woche mit mir ans Meer fahren wolle. Jedes andere Mädchen hätte einen Luftsprung gemacht. Aber sie sagte nur, das Meer interessiere sie nicht. Ein paar Tage später habe ich’s mit Paris probiert. Aber Paris hat sie auch nicht interessiert.“

„Das Meer? Paris?“ Ich runzelte die Stirn. „Vielleicht solltest du mich mal fragen.“

„Na hör mal, meinst du vielleicht, ich hab die Kohle? Ich hab sie doch nur gefragt, um ein bisschen anzugeben; hätte sie ja gesagt, wäre eben in letzter Minute was dazwischengekommen.“

So war mein Freund Wolfi. Und dafür liebte ich ihn.

Geld hatten wir beide nicht, ich am allerwenigsten. Dieser Umstand wurde mir wieder einmal bewusst, als ich Janno den Ungarn über die Liegewiese auf uns zuschlendern sah. Wir schuldeten ihm noch eine ganze Stange Geld, und wenn man Janno Geld schuldete, konnte man nie so richtig glücklich sein. Er war drei Jahre älter als wir, sehr schlank, aber durchtrainiert bis in die Fingerspitzen. Bei ihm kauften wir seit letzten Sommer ab und zu etwas Dope, und sein Trick war, dass er kein Geld nahm, sondern meist sagte, immer mit der Ruhe, das hat Zeit, und ausgerechnet wenn man blank war, brauchte er es auf einmal ganz dringend. Er machte dann so kleine, schmale Augen, wie ein Hund, der einen Beißangriff erwägt, und genau diese Augen machte er jetzt auch, als er sich neben uns auf sein Handtuch plumpsen ließ.

„Wie sieht’s denn portmoneemäßig so bei euch aus?“

„Nicht so toll“, sagte Wolfi. „Wir sinnieren schon den ganzen Tag über unsere Geldsorgen.“

Janno streckte sich aus und schob seine Badetasche unter den Nacken. „Bisschen Mühe hättet ihr euch schon geben können. Ihr wusstet lange genug Bescheid.“

„Wir wollten es dir ja auch schon paar Mal geben“, sagte ich. „Aber …“

„Erzähl keinen Mist. Wenn jemand mir Geld schuldet, hat er es mir zurückzugeben, wenn ich es will, nicht wenn er es will. Aber vielleicht fällt uns ja gemeinsam eine Lösung ein. Vorher lasse ich euch jedenfalls nicht nach Hause.“

Jeder wusste, dass Janno in solchen Fällen die Schuldenhöhe einfach verdoppelte. Er war unglaublich geschäftstüchtig, und sein Drogenhandel florierte in sämtlichen Käffern ringsum. Nur was er mit dem vielen Geld machte, wusste keiner.

Janno kam aus Szeged in Ungarn, wo seine Eltern noch immer lebten, während er in unserem Dorf bei seinem Großvater, einem Herrn Lajos, aufgewachsen war. Und mal abgesehen davon, dass er uns an Lebensweisheit einiges voraus hatte und uns das auch spüren ließ, konnte er sogar ein netter Typ sein, jedenfalls keiner, der einem jeden Witz krummnimmt. Warum er zu seinem Großvater gezogen war, wusste keiner.Vielleicht lag es daran, dass der alte Lajos krank war und schon seit drei Jahren auf eine Spenderniere wartete. Angeblich wusch Janno ihn, machte ihm sein Essen, führte ihn aufs Klo, brachte ihn zu Bett. Aber ihn danach zu fragen, war sinnlos; er wurde dann nur wütend und sagte, man solle sich um seinen eigenen Dreck kümmern.

Heute begann er überraschenderweise von selbst mit dem Thema.

„Er hat schon seit ein paar Tagen Fieber und kann kaum stehen. Das heißt: Ich kann nicht von hier weg. Müsste ich aber ganz dringend. Weil ich Geschäfte zu erledigen habe. Und da hätten wir auch gleich die Lösung für unser Problem: Ihr erledigt meine Geschäfte, und ich erlasse euch eure Schulden. Ihr müsstet nur eine kleine Reise für mich antreten.“

„Eine Reise?“ Schon sah ich vor mir Palmen, das Meer, den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel. Aber bloß hier mal rauszukommen, reichte ja schon.

Die Zeit wäre günstig gewesen: Regelmäßig zu Ferienbeginn fuhr ein Bus durch unser Dorf und sammelte Leute für eine große Gruppenfahrt auf, die jedes Jahr irgendwo anders hinging, wenn auch nie sonderlich weit. Meine Großtante Lissi – sie war schon weit über siebzig – fuhr immer mit, und meist auch Wolfis Mutter und ein paar andere Frauen aus dem Dorf, die allein lebten. Wir hätten uns also bequem für ein paar Tage davonstehlen können.

Hätte Lissi doch einmal unvermutet angerufen und keiner hätte gehört, wäre uns schon eine Ausrede einfallen. Meist war sie der Meinung, vor der Abreise zu beten reiche völlig aus. „Wo der Herr nicht hütet, dort wachen die Wächter der Tore vergebens“, lautete ihr Motto, das sie aber nicht gelten ließ, wenn ich gelegentlich vergaß, die Haustür abzusperren.

„Wie lange soll es dauern?“, fragte Wolfi.

Janno puhlte sich ein paar Tabakkrümel aus dem Bauchnabel und betrachtete sie in seinem Handteller wie einen Schatz. „Wahrscheinlich nur einen Tag. Das werden Saminaund Sam für euch regeln.“

„Saminaund wer?“

„Die Leute, zu denen ich euch schicke.“ Er durchwühlte seinen Rucksack nach einem Stift und einem Schreibblock, dann zeichnete er die vereinfachte Skizze einer Straßenkarte; das Ziel war ein dicker Knubbel, ziemlich abseits vom letzten einer Reihe kleiner Dörfer, in der Nähe eines birnenförmigen Gebildes, das wohl ein See sein sollte. „Es ist ein ziemlich abgewirtschaftetes Haus, direkt zwischen zwei Wäldern. Früher war es mal ein Hotel. Jetzt wohnen dort nur noch Saminaund Sam. Ihr übergebt ihnen einfach ein Päckchen und sagt, der Prinz aus dem Morgenland hat euch geschickt. Es ist nichts Besonderes drin, nur Dope. Und macht in Zukunft keine Schulden mehr bei mir.“

Eine Zeit lang sagte keiner etwas, das Kindergeschrei wurde dumpfer, und man hörte ein Flugzeug, ferne Rasenmäher, die Motoren des Sommers. Dann, endlich, brach Wolfi das Schweigen: „Drogenkuriere? Du willst uns als Drogenkuriere anheuern?“

„Shit ist doch keine Droge.“ Janno grinste, wie man bei Insider-Sprüchen so grinst.

„Und wie sollen wir dort hinkommen?“.

„Das ist eure Sache. Und wie ihr dort wieder wegkommt, auch. Es fahren Züge. Oder ihr trampt. Ihr könnt auch laufen, wenn euch das lieber ist. Falls ihr eine Nacht bleiben wollt, es gibt dort genug Zimmer mit leeren Betten. Wichtig ist nur, dass ihr pünktlich dort auftaucht.“

„Und wann ist pünktlich?“

Er zog von seiner Kippe, seine Zehen rieben aneinander wie die Flügel eines mutwilligen Insekts. Das Sonnenöl auf seiner bronzefarbenen Haut schimmerte goldgelb wie zerlassene Butter.

„Anfang nächster Woche.“

***

„Vergiss es“, sagte Wolfi, als wir am Abend mit dem Bus in die Stadt fuhren. „So eine Scheiße kann er mit mir nicht abziehen. Was ist, wenn wir erwischt werden? Meinst du vielleicht, der sagt zu den Bullen, wartet mal, eigentlich bin ich es, der in den Knast gehört?“

„Mit dem Zug ist es zu riskant“, sagte ich. „Aber trampen dürfte eigentlich sicher sein.“

„Und wenn ein pensionierter Bulle oder so uns aufliest? – Na, was haben wir denn in dem Päckchen? – Ach, nur unsere Wurstbrote. – Ach ja? Sind aber komisch geschnittene Wurstbrote. Darf ich mal aufmachen? Na, hab ich mir’s doch gedacht. Sind mir ja schöne Wurstbrote. Ihr kommt beide auf den elektrischen Stuhl.“

Wir blickten aus dem Fenster und wünschten uns, der Bus würde einfach weiterfahren, so weit weg von Janno, dass es ihn dort praktisch gar nicht mehr gab. In den Straßen herrschte sommerliche Öde, viele Ladentüren standen offen, aber niemand kaufte ein. Nur in den Biergärten schien einiges los zu sein.

„Warum kommt eigentlich Alisha nie mit?“, fragte ich. „Sitzt sie den ganzen Tag bloß zu Hause?“

„Sie schläft viel. Frag mich nicht, warum.“

Das Silver Lining war unsere Stammdisco, in der wir tanzten und feierten und einfach zwei Jungs unter vielen waren: oberflächlich, nicht immer sehr geistreich, aber zumindest nicht unansehnlich. Vor allem Wolfi schien genau das zu sein, was Mädchen wünschten: Ein knuddeliger Rotschopf, frech und waghalsig, mit dem man eine Nacht lang knuddelig über Gott und die Welt quatschen konnte, um sich dann im knuddeligen Morgenlicht ein knuddeliges Adieu zu sagen. Aber seit er mit Alisha ging, war er ziemlich unknuddelig geworden. Und ich war noch immer auf der Suche.

Heute war Donnerstag, eigentlich nicht unser Silver-Tag. Aber donnerstags jobbte Janno dort als Türsteher , und bis 22 Uhr wollte er wissen, ob wir den Job übernehmen würden oder nicht. Ihr könnt Nein sagen, aber dann rate ich euch, das Geld mitzubringen, hatte er gesagt. Das Geld hatten wir nicht dabei, aber Nein sagen wollten wir trotzdem. Drogenkuriere, das war einfach nicht unser Ding.

Unterwegs überlegte ich mir, ob wir vielleicht eine Chance hätten, falls Janno handgreiflich werden würde. Übermenschlich war er schließlich auch nicht, und Wolfi und ich waren keine kleinen Kinder mehr. Ich malte mir aus, wie er Janno von hinten festhielt, während ich von vorne auf ihn eindrosch. Aber das würde sowieso nie passieren. Zwei gegen einen, das war nicht unser Stil.

Das Silver Lining war der teuerste Schuppen in der Stadt, zumindest für Jugendliche. Beim Eintreten schlug einem sofort eine Mischung aus Menthol und künstlichem Kirscharoma entgegen, und die Gewächse und das Licht hatten Farben, deren Namen erst noch erfunden werden mussten, vor allem total verrückte Grün- und Pinktöne.

Als wir die Treppe hochliefen, hörten wir Jannos Stimme:

„Nein, euch drei nicht. Ihr geht besser zur nächsten CVJM-Party.“ Er sprach es wie C-Vimm aus. Daraufhin schlurften drei Landeier die Treppe hinab, sichtlich frustriert und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt.

„Darf ich mal, ihr zwei Hübschen?“ Ein Mädchen drängte sich zwischen uns, um so rasch wie möglich die Treppe hinaufzukommen. Sie hatte langes, blondes Haar, das in ihrem Nacken in ganz feinen Flaum überging. Bei dem Wort hübschen hatte sie die zweite Silbe betont – und so etwas, das wusste ich, taten vor allem Franzosen.

„Wow, die war aber süß“, sagte Wolfi. „Und ‘nen geilen Duft hat sie auch an sich. Nicht so ‘ne Puffschmiere.“

„Die würde ich auch nehmen, ja.“

Ein Grinsen erschien auf Jannos Gesicht; unser Gespräch und unsere verwirrten Gesichter waren ihm nicht entgangen. Dann winkte er das Mädchen durch.

„Schnapp sie dir doch.“ Wolfi puffte mich an.

Sie entschwebte hinter der Tür, die in den Tanzsaal führte. Es war mir klar gewesen, dass Janno eine wie sie nicht abweisen würde. Aber jetzt waren wir dran, und uns wies er ab.

„Außerdem habe ich noch kein Wort darüber gehört, wie ihr euch entschieden habt. Muss man euch die einfachsten Anstandsregeln beibringen?“

Wolfi und ich sahen uns an. Wir hatten diese Abfuhr den ganzen Nachmittag lang geprobt, die verschiedensten Szenarien: Was Janno sagen könnte, was andere Gäste sagen könnten, die es gar nichts anging, und was wir ihnen antworten würden, tausend solche Sachen. Nur an eine Variante mit einem geilen französischen Mädchen hatten wir nicht gedacht.

„Wir machen es“, sagte ich, „wenn du uns reinlässt.“

Janno schien sich nicht sicher zu sein, wer diese Runde nun gewonnen hatte: Der allmächtige Türsteher oder die Jungs, die es wagten, Bedingungen zu stellen. Ich musste ihm wenigstens kurz das Gefühl geben, dass er der Sieger war.

„Du lässt uns ja keine andere Wahl.“ Dafür erntete ich einen langen, teilnahmsvollen Blick.

„Okay, ihr brecht am Samstag auf. Vor Sonnenuntergang.“

„Echte Western-Romantik. Müssen wir reiten?“

Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, er wolle in seinen Ärmel grinsen, dann aber sah er mich todernst an und sagte, indem er uns den Weg freimachte:

„Gib dir ein bisschen Mühe. Die gibt sich nicht mit jedem ab.“ Dann hielt er mich am Ärmel zurück. „Kleiner Tipp: Sie heißt Claire.“

Ich grinste. „Gewöhn dir mal ein eleganteres Französisch an. Bei dir klingt das wie Klärgrube.“

Claire und ich tanzten, erst hektisch und distanziert, dann immer enger, dann tuschelte sie mit einem anderen Mädchen, und anscheinend wurde ich für tauglich befunden. Als Wolfi und ich später zurück in unser Dorf fuhren, umarmte ich sie zum Abschied.

Sie war klein, auf französische Weise kokett, und ihre Lippen schmeckten nach Spekulatius: ein Hauch von Winternacht in diesen quälenden Hundstagen.

Neben mir im Bus malte Wolfi kryptische Bildchen an die Fensterscheibe.

„Jetzt haben wir beide eine Freundin, der wir erklären müssen, dass wir ein paar Tage weg sein werden.“

„Na ja, meinst du, das schaffen wir nicht?“

„Ich weiß nicht … ich habe Angst, Alisha könnte irgendwie was Dummes anstellen.“

***

„Sparrow.“ Wolfi lachte. „Gefällt mir immer besser.“

Seit jenem Sommer hatte ich die Ehre eines neuen Spitznamens. Es begann damit, dass Wolfi in der Schule das englische Wort „eagle“ mit „Igel“ übersetzt hatte: „Es gibt eine alte amerikanische Münze, die man den Goldigel nennt.“ Ich hatte bis zum Schluss der Stunde mit Kichern nicht mehr aufhören können, und am Abend schenkte ich ihm eine Münze, die ich mit einem Comic-Igel überklebt und mit dem Goldstift aus Lissis Schreibset ein wenig nachgetönt hatte. Dann waren wir auf amerikanische Vogelnamen zu sprechen gekommen.

„Die Meise heißt tit“, sagte ich. „Genauso wie die Weibertitte. Und dann gibt es zum Beispiel noch die nightingale – was könnte das sein?“

„Der Neuntöter?“

„Die Nachtigall, du Sülzkopf. Und der Spatz heißt sparrow.“

Ein mutwilliges Grinsen trat in sein Gesicht. „Passt irgendwie zu dir“, sagte er. „Ich meine, Spatzen überhaupt. Klein und laut. So werde ich dich künftig nennen.“

Und seitdem hieß ich Sparrow, mein richtiger Name war für ihn Vergangenheit. Besonders am Anfang verwendete er ihn unglaublich oft. Es war, als hätte ich nicht nur einen neuen Namen, sondern er auch einen neuen Freund. Oder einen alten Freund in neuem Glanz.

Wir kamen gerade von einem Treffen mit Janno, der uns letzte Anweisungen erteilt hatte. Seltsame Anweisungen. Zum Beispiel hatten wir erwartet, dass wir uns von der großen Platte Shit, die er uns mitgab, wenigstens eine kleine Portion abschneiden durften. Aber er blickte sehr gereizt, als wir danach fragten. „Rührt das Zeug nicht an“, sagte er. „Es ist abgewogen. Wenn ihr was wollt, kriegt ihr es von mir.“ Dann beschrieb er uns noch einmal den Weg und fragte wie nebenher, ob wir Angst vor großen Hunden hätten.

„Auf die Größe kommt es nicht an“, sagte ich. „Wir haben auch keinen Schiss vor großen Jungs. Bis auf ein paar Ausnahmen vielleicht.“

Und dann kam gleich der nächste Hit: „In Krimis habt ihr wahrscheinlich schon viele Mörder gesehen. Aber morgen werdet ihr jemanden kennenlernen, der echt ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. Ich werde euch nicht sagen, um wen es sich handelt, damit ihr nicht befangen seid. Ich will euch nur darauf vorbereiten, dass ihr keine besonders edlen Leute treffen werdet. Das Wolkenhotel ist nicht der Buckingham-Palast.“

„Wolkenhotel? Seltsamer Name. Haben dort etwa alle den Kopf in den Wolken?“

„Ihr beide habt den Kopf doch sowieso immer in den Wolken. Jetzt verschwindet!“

Wir hatten Claire und Alisha, um ihnen unsere Pläne bekanntzugeben, für den späten Nachmittag zu mir eingeladen; genauer gesagt, in das Haus, das meiner Tante Lissi gehörte und in dem ich seit zwei Jahren in regelmäßigen Abständen wohnte. Wegen Claire musste ich mir keine Gedanken machen: Wir kannten uns ja noch nicht mal richtig. Wir hatten uns zwar in der Zwischenzeit noch einmal getroffen, waren zusammen in die Stadt gefahren, Händchen haltend natürlich, damit jeder unsere Liebe sehen konnte, hatten vom gleichen Eis geschleckt, vom gleichen Glas getrunken, für einen Tag die Schuhe getauscht und uns bestimmt an die hundertmal geküsst. Aber eine feste Beziehung war das trotzdem noch nicht.

Das größere Problem war Alisha. Sie reagierte sofort allergisch, wenn Wolfi etwas unternahm, von dem sie nicht genau wusste, wo, wann, warum und wie lange. Und wir beide hatten beschlossen, unseren Freundinnen zwar zu erzählen, dass wir verreisen würden, aber nicht wohin. Das Wolkenhotel – so viel stand fest – musste ein Geheimnis bleiben. Nicht mal eine Ausrede hatten wir uns ausgedacht; wir waren Jungs, wir wollten frei sein, niemandem Rechenschaft schulden. Und so würden wir es ihnen auch verklickern.

Claire war pünktlich, was ihr einen weiteren Pluspunkt bei mir einbrachte. Auf Alisha mussten wir natürlich warten; sie spielte gern den Filmstar, zickte herum und bildete sich ein, Regeln würden für sie nicht gelten. Ich fragte mich wirklich, wie Wolfi es mit ihr aushielt.

Nach einiger Zeit brachte Lissi selbstgemachte Limonade in einer Karaffe. „Nanu? Einer der beiden Kavaliere ist ja noch allein?“ Doch just in diesem Moment läutete es, und nach ein paar Sekunden betrat auch Alisha mein Zimmer, das für sie wie alle Orte dieser Welt nur ein Teil der Bühne war, auf der sie glaubte, die Hauptrolle zu spielen. Sie setzte sich wortlos hin, kaute an ihren Lippen und ihren Haarsträhnen herum, den Hintern gar nicht richtig auf dem Stuhl, so als könnte sie es kaum erwarten, diesen Kinderkram hinter sich zu bringen. Ich kämpfte noch um die richtigen Worte, da hatte Wolfi die Dinge schon klargestellt: „Findet euch damit ab, oder lasst es bleiben. Fahren tun wir so oder so.“

Lissi huschte schon wieder durch mein Revier; das tat sie gern, wenn Besuch hier war. Weniger aus Neugier, sondern eher, weil sie fürchtete, ich könnte meine Gastgeberpflichten vernachlässigen.

„Diesmal habe ich rote Traube und Apfel genommen.“ Sie kam lächelnd näher, und wieder einmal stolperte sie mit ihrem bösen Bein, was ihr aber schon so oft passiert war, dass es inzwischen wie ein eleganter Tanzschritt wirkte. Wolfi sprang auf und führte sie bis zum Tisch.

„Schmeckt es euch?“

Alisha zog die Oberlippe hoch und starrte Lissi an. „Haben Sie noch nie etwas von Coca Cola gehört? Was für ein Getränk soll das eigentlich sein?“

Ein furchtbares Schweigen entstand. Für Lissi war das so schlimm, als wäre ihre teure alte Karaffe in Scherben zersprungen. Ihre Blicke irrten hilflos durch die Baumkronen, als suche sie dort für den Rest des Sommers nach einem Versteck.

Wolfi puffte Alisha an. „Probier doch erst mal. Wir haben das Zeug schon tausend Mal getrunken, es schmeckt echt geil.“

„Da ist ja nicht mal Kohlensäure drin.“ Ihr Gesicht verzog sich erneut, diesmal erinnerte es mich an einen hässlichen Zeh, der aus einer Sandale ragte.

Lissi ging hinaus und kam an diesem Nachmittag nicht wieder. In ihrem Zimmer hörte ich das Radio spielen. Operettenmusik – Lieder von lauschigen Abenden, Lindenbäumen und Tanz, aus einer Zeit, in der es noch keine Coca Cola gab und keine Mädchen wie Alisha.

Ich stand eine Zeit lang vor ihrer Tür und lauschte. Als ein leises Schniefen sich in die betonten Taktschläge mischte (wenn wir beim Musikhören weinen, nutzen wir immer die emotionalen Zählzeiten, um uns zu entladen), wandte ich mich ab. Als ich mich umdrehte, war Alisha gerade auf dem Weg zur Toilette. Sie sah mich prüfend an.

„Sag mal ganz ehrlich, ich meine, mir kannst du's ja sagen – hat Wolfi etwa 'ne andere? Bei dir interessiert's mich nicht, aber wenn Wolfi fremdgeht …“ Sie kniff wütend die Lippen zusammen.

„Du hast einen an der Waffel, das ist alles.“ Ich versuchte, mich an ihr vorbeizudrängen. „Die Sache ist ganz einfach: Ich bin seit ein paar Tagen mit Claire zusammen, da werde ich kaum ‘ne andere haben. Und wenn ich keine andere habe, hätte ich auch keinen Grund, mitzufahren, wenn Wolfi zu seiner anderen fahren würde. Aber da ist keine andere, und das weiß ich zufällig genau, weil Wolfi und ich noch nie Geheimnisse voreinander hatten. Auch damit wirst du dich abfinden müssen. Außerdem finde ich, du hast dich ziemlich beschissen zu Lissi benommen."

„Du meinst, wegen der Brühe?“ fragte sie.

In diesem Moment erschien Wolfi auf dem Flur, und sie huschte zu Claire ins Zimmer zurück. Wir sprachen ein paar Silben allein.