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Ein Dorf, in dem es scheinbar nicht mit rechten Dingen zugeht – und ein 15-jähriger Junge der dort bei seiner verschrobenen Tante Lissi wohnt und nur eins will: Hinaus in die Welt der Städte. Um seiner Langeweile beizukommen, hat er die Gabe entwickelt, sämtliche Dorfbewohner an der "Musik" zu identifizieren, die ihre Füße auf der Klavierbrücke spielen – einem morschen Holzsteg, der direkt an Lissis Haus vorbeiführt. Als eines Nachts ein Mord geschieht, erkennt er den flüchtenden Täter an seinen Schritten – doch keiner will ihm glauben. Als dann noch sein bester Freund, der freche Rotschopf Wolfi, in Verdacht gerät, spitzen die Dinge sich zu.
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Seitenzahl: 178
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Oliver Fehn
Die Klavierbrücke
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Danksagung
Widmung
Einleitendes Zitat
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Impressum neobooks
Speziellen Dank an meine lieben Freundinnen Michaela Müller-Gropengießer, Regina Mengel, Marion L. Becker und Maria Magdalena Lacroix sowie das gesamte Letterratten-Team für ihre Unterstützung und ihre stets aufmunternden Worte.
Vielen Dank auch an Martina Michel vom Stadtarchiv Münchberg, die mir ihren reichhaltigen Fundus an historischen Fotos zur Verfügung stellte und mich geduldig beriet.
Das Umschlagfoto ist eine Originalaufnahme der „Klavierbrücke“ am Münchberger Anger aus den sechziger Jahren. Die Brücke gibt es in dieser Form heute nicht mehr, wohl aber die Legende, die mich zu diesem Buch inspirierte.
Gewidmet meiner Mutter,
die mir alles über die Klavierbrücke erzählte
„Ihr Leute mit Herz habt etwas, das euch leitet,
deshalb braucht ihr nie etwas Böses zu tun.
Wer aber ohne Herz lebt,
muss auf der Hut sein.“
aus: Der Zauberer von Oz
Gestern, in meinem Hotelbett, als der Schlaf nicht kommen wollte, konnte ich wieder die Klavierbrücke hören.
Bitte nicht heute, dachte ich, nicht nach diesem coolen Abend im Benjamin, wo ich so verliebt und schläfrig bin. Dann tat ich dasselbe wie immer – holte mir einen Cognac aus der Mini-Bar, tastete nach den sommerblauen Pillen auf meinem Nachttisch, spülte drei davon mit Alkohol runter und warf mich zurück auf die Matratze.
Eins-zwei-drei, schon ist der Spuk vorbei.
Ist ja gut, Mom.
Ich weiß, ich bin in Manhattan, nicht in Oz, und vor der Tür ist überall Licht und Leben. Ich weiß auch noch, was der Psychiater gesagt hat: Stimmen an der Schwelle zum Schlaf, das sei völlig normal. Auch wenn ich mir die Stimmen nur ausgedacht hatte. Einem Mann mit Doktortitel kann man schließlich nichts von der Klavierbrücke erzählen.
Wobei Stimmen gar nicht mal so übel wären, denke ich grinsend, während der Alkohol in meinem Nervensystem ankommt. Seit Jahren warte ich auf eine Botschaft aus dem Jenseits. Ich wüsste so gern, ob sie alle noch irgendwo existieren: Die gute Lissi, bei der ich in jenem verrückten Sommer wohnte, ihre Freundin Burga, Wolfi, Mom, und das Mädchen mit dem Neonblick, das den Fehler beging, freiwillig an einen verwunschenen Ort zu reisen. Bis heute hat sich keiner bei mir gemeldet.
Nur die Klavierbrücke war immer da. Ihr konnte ich nicht entfliehen. Ich war in Rom, Paris und Amsterdam; ich war auf der ganzen Welt, und überall gab es Flüsse, und über jeden Fluss führten Brücken, und immer kam eine Nacht, in der eine davon sich in jene Brücke verwandelte, die, als ich noch ein Kind war, über den Katzelsbach führte und bei uns im Dorf nur die Klavierbrücke genannt wurde.
Mein Zimmer lag an der Hauptstraße, die parallel zum Katzelsbach verlief, und wenn es Abend wurde und Lissi und ich am Kohleofen saßen, hob sie oft, wenn jemand über die Brücke lief, den knorrigen Zeigefinger.
„Horch. Da spielt jemand eine Serenade für uns.“
Dann war ich dran. Dann war es mein Job, in die Rolle des Wunderkindes zu schlüpfen.
„Muss der Leutholdsbauer sein“, sagte ich. „Der stampft immer so auf, dass sämtliche Forellen stocksteif werden vor Schreck. Und wenn er in den Katzelsbach spuckt, reicht das aus, um sie alle besoffen zu machen.“
Nun war es an Lissi, sich mühsam aufzurappeln, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, um gleich darauf ungläubig den Kopf zu schütteln.
„Wie machst das nur, Bub? Es ist tatsächlich der Leutholdsbauer. Und sturzbetrunken ist er auch.“
Oder ich sagte: „Das ist der Wolfi mit seiner Mutter. Waren wohl bei der Nähterin; dort ratschen sie immer bis in die späte Nacht. Das heißt, sie ratscht, und der arme Wolfi muss zuhören.“
Blick aus dem Fenster. Kopfschütteln.
„Unglaublich, mit was für einer Gabe der Herrgott dich gesegnet hat. Willst mir dein Geheimnis nit verraten?“
„Es gibt kein Geheimnis, Lissi. Diese alte Brücke knarrt und quietscht unter jedem Schritt, und jeder, der sie überquert, spielt seine eigene Musik. Wolfis Füße zum Beispiel rocken. Die seiner Mutter swingen. Kannst du den Unterschied nicht hören?“
Auch Pastor Cobolstein erkannte ich sofort an dem freudlosen Choral, den seine Schuhe sangen. Und der grimmige Falko mit seinen Angeber-Stiefeln hatte schon gar keine Chance, von mir unerkannt zu bleiben. Auch früh um vier nicht, wenn er aus dem Wirtshaus kam und keiner ihm so gern begegnete.
„Wir müssen das mal dem Herrn Riedelbauch erzählen“, sagte Lissi. „Der sorgt dafür, dass du ins Tagblatt kommst.“
Der Herr Riedelbauch konnte das sicher nicht; er kassierte nur die monatlichen Gebühren für das Abonnement. Doch selbst die Zeitungsredakteure in Bruderstadt hätten mich vermutlich nur ausgelacht. Ein fünfzehnjähriger Junge vom Land, der sich eine brotlose Kunst angeeignet hatte, nur weil in den vergangenen fünfzehn Jahren seines Lebens nicht viel Aufregendes passiert war. Aber was konnte man schon tun, wenn die Tage sich wie Spinnfäden zogen, während man am Fenster saß und auf den großen Showdown wartete?
Höchstens noch schreiben.
Seit meinem zehnten Geburtstag, zu dem ich auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin eine Schreibmaschine bekommen hatte, träumte ich nämlich davon, ein berühmter Schriftsteller zu werden, aber nicht, weil mir etwas am Berühmtsein lag, sondern weil ich mir die Welt ansehen wollte, und dazu brauchte man Geld.
Ein gar nicht so kleines Stück Welt hatte ich bereits gesehen: Vor vier Jahren, als meine Mom mich für einen Sommer mit nach New York City genommen hatte, wo ihre Eltern – deutsch-polnische Auswanderer – auf dem Marble Cemetery begraben liegen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Mom einen gutaussehenden deutschen Geschäftsmann kennen gelernt, dem sie verliebt in die Heimat ihrer Väter folgte, wo das junge Paar sich auf dem Hof von Lissi D?browski niederließ, der ledigen und etwas weltfremden Schwester meiner Großmutter.
Dort wurde Mom mit mir schwanger, doch meinen Vater lernte ich nie kennen. Als ich zur Welt kam, war seine Leidenschaft für Gin Tonic und schnelle Motorräder ihm bereits zum Verhängnis geworden.
„Wennst aber wirklich berühmt wirst“, spann Lissi ihren Faden weiter, „dann wird hier im Dorf nichts mehr so sein wie früher. Dann werden eine Menge Leut kommen, die dich kennen lernen wollen, und unser Friede ...“
„Lissi.“ Ich sah sie flehend an. „Wenn ich wirklich berühmt werde, bleibe ich doch nicht hier im Dorf.“
Sie schluckte.
„Aber die Klavierbrücke ist hier und nirgendwo anders. Woanders kannst es den Leuten nit vorführen.“
„Darum geht es mir auch nicht, Lissi. Ich möchte Bücher schreiben.“
Auf dieses Thema ging sie aus Prinzip nicht ein. Dafür prahlte sie im Dorf umso eifriger mit meiner seltsamen Begabung. Auch Pastor Cobolstein wurde damit überfallen, als er ihr im Namen der Kirchengemeinde seine Glückwünsche zum 75. Geburtstag überbrachte.
„Es kommen nur noch Wunderkinder zur Welt.“ Der Pastor strich sich über den kahlen Schädel, als gäbe es dort so etwas wie eine Frisur zu ordnen. „Bald besteht die einzige Chance zum Berühmtsein darin, ein einfacher und frommer Mensch geblieben zu sein.“
Lissi zuckte die Schultern. „Der Herr hat ihn nun mal mit dieser Gabe gesegnet. Warum soll er darauf nit stolz sein?“
„Weil Stolz womöglich eine Sünde ist?“ Er klopfte mir betrübt auf die Schulter. „Wir dürfen unsere Träume nicht zu unseren Göttern machen, mein Junge. Als kleiner Ami kennst du doch bestimmt die Geschichte von Oz, dem Zauberland? Wer einmal drin sitzt, der schafft es nur unter Mühen hinaus in die Welt.“
„Außer er trägt rote Schuhe.“ Ich versuchte, so zu grinsen, dass es böse aussah.
„Ja, aber ich glaube, das gilt nur für Mädchen, wie die kleine Dorothy. Welcher Junge, um Gottes Willen, trägt schon rote Schuhe?“
Lissi, die nicht wusste, ob der Umstand, hier festzusitzen, für mich heilsam oder verderblich war, schlug mir vor, eine Kostprobe zu geben. Und so begab ich mich, wie bei solchen Demonstrationen üblich, mit vom Fenster abgewandtem Gesicht in die Mitte unseres Wohnzimmers und wartete.
„Das ist Lisa, die Magd von den Gerbers“, rief ich, als nach ein paar Minuten das vertraute Geklacker von Holzschuhen erklang.
Kastagnetten.
Der Pastor schielte aus dem Fenster, dann legte er mir den Arm um die Hüfte und lachte. „Nicht böse sein, aber das hätte ich auch hinbekommen. Es ist neun Uhr in der Früh, da ist es immer die Lisa, die da lang geht, weil da beim Köhlermetzger die heiße Fleischwurst aus dem Kessel kommt, von der ihr Vater täglich einen ganzen Viering vertilgt. Die Lisa zu erraten, ist wirklich keine Kunst.“
Mein Ehrgeiz regte sich, und ich bat um eine zweite Chance. Lissi war sofort dabei.
„Glauben Sie mir, Herr Pastor, das hat nichts mit der Lisa zu tun. Selbst wenn der heilige Petrus da drüber läuft, wird der Junge ihn erkennen – vorausgesetzt, er hat den Petrus schon mal gehört und kennt seine Schritte.“
Cobolstein lachte, wie fantasielose alte Männer über Gespenstergeschichten lachten, und seine Schweinsäuglein verengten sich zu runzligen Rosetten.
„Ohren spitzen. Da kommt wieder jemand.“
Tipp-tock, tipp-tock, tipp-tock.
„Der Matthäus“, platzte ich heraus.
Bewaffnet mit ihrer Fernsichtbrille überzeugte Lissi sich von der Richtigkeit meiner Vermutung. „Tatsächlich, der arme alte Matthäus“, seufzte sie.
Ein Grinsen arbeitete sich wie eine Säge durch Cobolsteins Gesicht. „Wer einen Mann mit Holzbein nicht an seinen Schritten erkennt, dem taugt das beste Hörgerät nicht mehr.“ Er drückte meinen Arm eine Spur zu brutal. „Bis jetzt hast du gar nichts bewiesen. Und einen dritten Versuch ist mir die Sache nicht wert. Du beherrschst einfach nur ein paar Tricks, um mich und deine Tante an der Nase herumzuführen. Ein Lausbub halt. Prüfe dein Herz, mein Junge.“
Endlich, mit tausend Jahren Verspätung, kam Lissi mir zur Hilfe. Ihr schien peinlich, was sie mit ihren Heldengeschichten angerichtet hatte.
„Und wenn schon, Herr Pastor. Sie war'n doch auch mal jung.“
Da war ich mir nicht so sicher. Ich erinnerte mich wohl an ein paar Fotos aus Lissis Sammlung, auf denen der Pastor zumindest noch Haare hatte. Jung hatte er trotzdem nie ausgesehen.
„Er meint’s nit bös mit dir“, sagte sie, als wir wieder allein waren. „Sei höflich, wenn er heute Abend zur Feier kommt.“
„Du hast ihn eingeladen?“
„Die Kirche unseres Herrn muss man nit einladen. Die ist immer willkommen.“
Ich stöhnte. „Das Zauberland Oz, hat er gesagt. Aus dem niemand entrinnen kann.“
Lissi nickte. „Er weiß halt, dass da draußen Gefahren lauern.“
~
Lissis Feier war eigentlich keine große Sache. Es kamen die Nähterin und unser Nachbar, der Kriminalkommissar Eckardt, und natürlich Lissis beste Freundin, die Burga, eine alte Jungfer mit Kuhaugen und gespenstisch tiefem Timbre, die sich immer einen Grafen als Ehemann gewünscht, aber nie einen bekommen hatte und schließlich ledig geblieben war. Die Burga hatte noch immer nicht kapiert, dass ich inzwischen fünfzehn war, und brachte mir immer Bücher für Zweitklässler und alberne Spielzeugautos mit.
„Lass sie doch“, flüsterte Lissi dann, als würde sie mir ein Geheimnis anvertrauen. „Die Burga lebt in der Vergangenheit.“
Die Burga ging regelmäßig zur Bennewitz-Kunni vom Oberen Dorf, die den Leuten ihre Zukunft voraussagte. Die Kunni konnte auch „büßen“, also Krankheiten besprechen, und meinem Cousin hatte sie, als er ein Baby war, angeblich das Leben gerettet, da bei ihm Herz und Lunge zusammengewachsen waren und die Kunni so lange über seiner Brust gemurmelt hatte, bis die Verwachsung sich löste.
„Diesmal hat sie nichts Gutes gewusst, die Kunni“, hatte Burga vor ein paar Tagen gesagt. „Ich glaube, deine Carola wird bald sterben.Und was Schreckliches wird passieren im Dorf, aber was, hat sie nicht gesagt. Und noch etwas.“ Sie zog ihren Rock straff, als wären ihre Knie eine verbotene Delikatesse. „Der Pastor ist verliebt. Schwebt angeblich im siebten Himmel. Manchmal spinnt sie einfach, die Kunni.“
„Der Carola geht es doch gut“, wunderte sich Lissi. Der Tod ihrer Lieblingshenne, mit der sie sprach wie mit einem erwachsenen Menschen, wäre ein echter Trauerfall in der Familie gewesen.
„Das kann bei Hühnern so schnell gehen wie bei Menschen.“ Burga versuchte sich an einer fatalistischen Mimik. „Und das andere ... hmm. Der Mond hat Blut gezogen, sagt die Kunni. Das ist nie ein gutes Zeichen.“
~
Das Beste an Lissis Geburtstagstorten war, dass sie richtig kickten. Letztes Jahr hatten Wolfi, seine Schwester Nancy und ich uns definitiv eine Überdosis gegeben und uns danach auch noch an Lissis Sherry vergriffen.
Nancy war zwei Jahre älter als wir und betrachtete uns inzwischen als ahnungslose kleine Hosenpisser. Sie trieb es schon mit Jungs, trug Stöckelschuhe und schminkte sich. Ihren ersten Kuss hatte sie von Falko bekommen, dem Sohn von Kommissar Eckardt, und in der Zeit, wo sie mit ihm zusammen war, hatte sie oft blaue Flecken. Sie sagte, das sei ihr empfindliches Gewebe, dafür könne sie nichts. Doch als sie nicht mehr mit Falko ging, hatte sie auch keine blauen Flecken mehr, und ich sprach sie darauf an, und plötzlich hatte sie wieder welche, und eines Tages im Schwimmbad sah ich, wie sie sich selbst in die Arme und Beine kniff, und mir ging ein Licht auf.
„Dieser Scheißkerl“, sagte Wolfi, der seine Schwester trotz aller Kleinkriege abgöttisch liebte. „Ich sollte ihm aufs Maul geben.“
„Okay. Vergiss aber nicht, mich in deinem Testament zu berücksichtigen.“ Von da an war Schluss mit dem Thema.
Ich bezweifelte, dass Nancy dieses Jahr wieder mitkommen würde. Die Erwachsenen waren ihr zu fad, und wir Jungs zu durchgeknallt vor lauter Hormonen. Während ich an Nancys reife Titten dachte, kam Lissi herein, die ihre Blumenschürze, die sie das ganze Jahr über trug, gegen einen moosgrünen Rock eingetauscht hatte.
„Wie sehe ich aus?“
„Interessant.“
„Darf ich dich jetzt zum Einkaufen zur Bärenwirtin schicken?“
Ich dachte an die alten Saufbrüder, die dort immer herumhockten, und stöhnte. „Wenn's denn sein muss.“
~
Als Junge wie ich wurde man bei der Bärenwirtin sofort mit zotigen Sprüchen bombardiert, doch seit ein paar Monaten dachte ich mir unterwegs selbst Sprüche aus, und dem Gerstnerschmied hatte das so imponiert, dass er mir vor kurzem eine Lichtlein-Maß (ein großes Bier mit Schuss) spendiert hatte, die ich tapfer in mich hineintrank, nur um sie auf dem Heimweg portionsweise wieder auszukotzen. Egal, die alten Hohlköpfe hielten mich seitdem für einen trinkfesten Burschen.
Als ich das Gastzimmer mit den makabren Rehköpfen an der Wand betrat, war ich wie immer gut gerüstet. Doch heute hatten sie bereits ein Thema.
Dieses Thema war jung und saß an einem der entlegensten Tische, auf einem Stuhl den Hintern, auf einem anderen die erdbeerfarbenen Turnschuhe. Während ich mit Lissis Geld in der Faust auf die Wirtin wartete, blinzelte das Mädchen mir zu.
„Wie sieht's aus, schöne Maid?“ hörte ich den Gerstnerschmied. „Einmal ist keinmal. Und was Besseres wie mich wirst hier im Dorf nit finden.“
Sie trug Florida-Jeans und ein T-Shirt, das eine tätowierte Möwe auf ihrem Oberarm entblößte. Die einzigen, die hier solche Klamotten trugen, waren Wolfi und ich, weil ich zum Geburtstag immer Pakete aus Amerika bekam und in einem meiner letzten Briefe angedeutet hatte, es gebe da einen Kumpel, der auch so coole Sachen tragen wolle.
„Die will nix von dir, Gerstner, hast’s noch nit begriffen?“ rief ein langer Typ mit Pinselschnurrbart, der im Dorf als der Hafner bekannt war. „Aus dem Alter, wo man jungen Mädels den Kopf verdreht, bist du schon lang heraus. Da schrumpft’s hier und schrumpft’s dort. Da hab ich bessere Karten.“
Sein Blick streifte mich, und mir wurde heiß.
„Oder der junge Mann da, Mädel. Sieht zwar aus, als wüsste er noch nicht, wo bei den Mädels die richtige Haustür ist, aber bis er zwanzig ist, wird er sich prächtig entwickelt haben. Dann lässt er den Gerstner am ausgestreckten Arm verhungern.“
Endlich kam die Wirtin, und zum Glück musste sie nicht erst in den Keller, sondern gab mir zehn Flaschen direkt aus dem Kühlschrank, die sie auf meine beiden Leinenbeutel verteilte.
„Stolper nit, Junge. Und richt unserer Lissi schöne Grüße aus. Der Herrgott soll sie gesund erhalten, sagst ihr. Und ihr Hühneraug soll er auch heilen, sagst ihr. Und wenn du den Falko siehst, sagst ihm, seinen Filz soll er endlich bezahlen. Der hat noch drei Seidel stehen, und ich krieg’s ja auch nit geschenkt. Wart, ich geb dir einen Bocksbeutel mit, für Lissi, als Überraschung.“
Dazu musste sie nun doch in den Keller; doch der Hafner und der Gerstner hatten sich inzwischen beruhigt und spielten wieder Schafkopf, und im Nebenraum dudelte der Wirt auf seiner Handquetsche, und manchmal splitterte Holz, wenn einer einen Trumpf ausspielte.
Sie hatte nachterprobte Augen. Neonaugen. Warum saß sie allein beim Bärenwirt? Und warum sah sie mich an, als würden wir uns kennen? Ich trug nur meine alten Leinenhosen und ein verschossenes Baumwollhemd, doch irgendwie schien sie zu spüren, dass ich mich gelegentlich so kleidete wie sie.
„Von mir auch liebe Grüße an deine Tante.“
Ich spürte, wie ich rot wurde. „Danke. Ich werd's ausrichten.“
„Nimm mich doch mit“, sagte sie, und nun war ich völlig überfordert und freute mich, dass die Wirtin mit dem Bocksbeutel kam und ihn zu den Bieren in eine der Leinentaschen stopfte.
„Eingepackt hab ich’n nit erst. Einem eingepackten Bocksbeutel sieht man’s ja trotzdem an, dass er ein Bocksbeutel ist. Kalt soll sie'n trinken, sagst, dann schmeckt er am herzlichsten, sagst. Und jetzt geh, sie wird dich brauchen im Haus. Und sie soll mir ja nichts zu meinem Geburtstag bringen, sagst, weil die Lissi hat so ein gutes Herz, die ist imstande und tut das. Und jetzt geh los.“
Ein letzter Blick aus Neonaugen, den ich auffing und mit auf den Weg nahm. Nimm mich mit – ich tat so, als hätte ich es nicht gehört, aber mir war nicht wohl dabei, sie hier allein zu lassen. Wenn die Meute besoffen war, würden sie bestimmt noch anzüglicher werden. Nicht dass ich mit meinen fünfzehn Jahren viel hätte ausrichten können, doch was ein wackerer Bursch ist, hatte ich mal gelernt, der läuft nicht weg. Ich lief ja auch nicht weg. Mich riefen nur Verpflichtungen.
„Da war ein Mädchen im Gasthaus, das ich noch nie gesehen habe“, sagte ich, während Lissi die Flaschen im Kühlschrank verstaute. „Ist irgendwer zugezogen?“
Rings um die Torte standen jetzt Tassen und Teller, und ich spähte für mich und Wolfi schon mal die besten Plätze aus, um möglichst oft unbemerkt fliehen und Sherry stehlen zu können.
„Ein Mädchen? Wie alt?“
„Vielleicht sechzehn.“
„Na, so ein junges Ding zieht nit allein hierher. Da müsst ja eine ganze Familie zugezogen sein, und davon hätt ich gehört. Aber es kommen oft Leut mit dem Auto durch, die speisen beim Bärenwirt und fahren dann weiter. Vielleicht ist sie ja so eine Reisende.“
Der Gedanke, sie womöglich nie wieder zu sehen, stimmte mich traurig. Nicht, dass ich mich verliebt hätte – es war nur ihre Kleidung, und ihre Bitte, und dass ich nicht dazu gekommen war, mit ihr zu sprechen.
„Ich soll dich von ihr zum Geburtstag grüßen.“
„Du sollst ...? Ja, kennt das Mädel mich denn?“
„Natürlich nicht. Ich meine ...“ Warum zum Teufel hatte ich nur damit angefangen? Aber wäre es nicht fies gewesen, den Geburtstagsgruß einfach zu ignorieren? Ich wechselte das Thema. „Den Bocksbeutel sollst kalt trinken, sagt die Wirtin.“
Vielleicht war das Mädchen auf Wohnungssuche. Vielleicht war es ihr erster Tag im Dorf. Vielleicht musste sie frieren und kam aus dem verfluchten Kaff nicht weg, und vielleicht begegnete sie irgendwann einem der Saufbrüder, der sich nicht beherrschen konnte und ihr die schrecklichsten Minuten ihres Lebens bescherte.
„Sag mal, Lissi, drüben im Hochzeitszimmer, wo der leere Vogelkäfig steht, bei der Kommode, meinst du, da könnt noch jemand übernachten?“
„Übernachten? Bei uns?“
Erst zitterte nur ihr Kinn. Dann begann ihr falsches Gebiss zu mahlen, und beides zusammen, so wusste ich, ergab ihren Tränenunterdrückungs-Mechanismus.
„Jetzt reicht’s aber. Seit du hier bist, redest nur wirres Zeug. Hat die Wirtin dir Likör gegeben?“
Lissi verlor nur selten die Nerven, und wenn, dann stets aus Angst, etwas zu verlieren, an dem sie hing. In diesem Fall ging es um mich und meinen klaren Verstand.
„Ich hab mir doch nur Sorgen gemacht“, sagte ich. „Das Mädchen saß da so allein.“
Ein dunkler Glanz, wie ein schummriges Kirchenlicht, trat in ihre Augen. Sie rieb sich die Arme, als würde sie frieren, dann sank sie erschöpft auf ihren Stuhl.
Oh Mann, dachte ich, jetzt hast du ihr den Geburtstag verdorben.
„Ich wohn hier seit sechzig Jahren. Als Kind bin ich in dieses Haus gezogen, und ich hab viele Generationen von Bewohnern miterlebt. Im Jahre fünfunddreißig ...“
Ich kannte die Geschichte. Sie erzählte sie immer, wenn etwas sie bedrückte. Ich kannte alle Details: Dass der einzige Mann, für den sie sich je mit kirschengeschmücktem Hut durchs Dorf gewagt hatte, an Krebs gestorben war. Dass sie schon Wochen zuvor immer von Kohlen geträumt und nicht mal gewagt hatte, in Schwarz hinter dem Sarg herzulaufen, weil sie ja nicht verheiratet waren. Dass ihr Herz so geblutet hatte, dass sie sich schwor, nie mehr einem Mann nachzusehen, und ihrem Gelübde auch treu blieb und darüber alt wurde. Dass ihr Vater jahrelang krank im Bett gelegen hatte, und sie die einzige der drei Schwestern gewesen war, die ihren Job hinwarf, um ihn zu pflegen, bis er eines Tages scheinbar gesund und am nächsten Tag tot war. Dass ihr dann nur eine lächerliche Rente geblieben war, ihr Glaube an Gott und der Spruch vom Leben, das köstlich gewesen ist, wenn’s Leid und Mühsal war.
„Ich hab mir immer geschworen, im Alter holst nach, was das Leben dir versagt hat. Freilich, das ist nur Gerede, aber wenigstens dem Teufel sollte man ab und zu ein Schnippchen schlagen.