Judith und Jolanthe - Oliver Fehn - E-Book

Judith und Jolanthe E-Book

Oliver Fehn

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Beschreibung

Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Jolanthe, die bäuerlich-herbe Raumpflegerin in der Nachtbar 49th Parallel, und die Serviererin Judith – jung, attraktiv und alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Die beiden Frauen werden Freundinnen und erzählen sich aus ihrem Leben – doch als Judiths 12jähriger Sohn Levin auftaucht, der jede Nacht nach Sperrstunde zauberhafte Klänge auf dem Barpiano spielt, gerät Jolanthes Welt jäh aus den Fugen. Sie beginnt, den Jungen auf fanatische Weise zu vergöttern, und zeichnet ein Bild von ihm, dem Levin nicht gerecht werden kann.

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Oliver Fehn

Judith und Jolanthe

Eine Gespenstergeschichte ohne Gespenster

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Judith und Jolanthe

Impressum neobooks

Judith und Jolanthe

Eine Gespenstergeschichte

ohne Gespenster

Diese Geschichte ist wahr;

sie wäre es auch,

wenn sie nie passiert wäre.

ES WAR ein heller Abend in den Dünen. Außer den beiden war niemand hier. Er hielt sie im Arm, und sie tat sich schwer, seine Berührung zu genießen.

„Du wirst den Mond da oben doppelt sehen“, sagte er.

Über ihnen kreisten Möwen, gierig nach liegengebliebenen Snacks, und im Grunde, klar, war sie auch nur ein Snack, wenn auch noch nicht tot genug für die Möwen oder um Monde doppelt zu sehen. Sie hatte schon ganz andere Männer gehabt.

„Es ist so seltsam still hier“, sagte sie. „Wollen wir nicht woanders hingehen?“

Der Druck seiner Hand wurde fordernder. Er spürte, dass sie nur Zeit schinden wollte. Er riss ihren Körper zu sich herum und blitzte sie an.

„Wieso zum Henker sind wir dann erst hierher gelaufen?“

„Es war nicht meine Idee, Bruno.“ Tatsächlich hatte sie sich den Abend völlig anders vorgestellt: Heute war ihr erster freier Tag im 49th Parallel, seit ihrem Dienstantritt vor drei Wochen. Nachdem Bruno sie angesprochen hatte, war sie nochmal allein in der Bar gewesen, um ihre Puderdose und ihre Schlüssel zu holen und wieder einmal festzustellen, dass es nichts Trostloseres gab als eine Bar an einem Off-Tag. Hinter den Kulissen sah die Welt immer viel nackter und kälter aus. Eine Träne war ihr gekommen. Wegen des Abends, der ihr bevorstand. Und des Lebens, das hinter ihr lag.

Er presste die Daumen fest auf ihr Brustbein, gleich unterhalb der Kehle, ließ aber sofort wieder locker. „Gut, dann eben woanders“, sagte er.

Und so spazierten sie zurück ins 49th Parallel; als Angestellte hatte sie einen Schlüssel, aber sie wusste, dass vom Personal noch keiner schlief, es war zu früh. Das Waschhaus würde sich vielleicht eignen. Es war nicht romantisch dort, zwei große Wäschetrommeln, ein ebenso großer Trockner, und ein Gewirr von Leinen. Widerwärtige Kälte, sogar jetzt im Sommer. Aber vielleicht ein sicherer Ort.

Ihm war es egal, er wollte sie einfach nur. Bruno war kein Romantiker; die wenigsten von Judiths Gästen waren es. Sie wollten Drinks, sie wollten Tanz, und sie wollten Sex. Sie hatte sich geschworen, nicht zu vertrauensselig zu sein, als sie sich hier bewarb. Aber Bruno war sie etwas schuldig. Er hatte ihr zweimal das Taxi bezahlt, weil sie nicht genug einstecken hatte. Er hatte sie einmal beschützt, vor einem sternhagelvollen und distanzlosen Gast; vielleicht nur, weil er Konkurrenz in ihm gewittert hatte. Aber wie dem auch war, ohne ihn würde es ihr jetzt vielleicht schlechter gehen.

Und er war nicht der übelste Mann der Welt.

Er sah nicht schlecht aus. Sie nannten ihn Breitnasen-Bruno, aber das lag nur daran, dass es unter den Gästen auch mal einen Spitznasen-Bruno gegeben hatte, dessen Profil wirklich so dreieckig gewesen war wie das eines Windhundes. Um sie zu unterscheiden, hatte man aus Bruno eben Breitnasen-Bruno gemacht, und wegen des albernen Gleichklangs vermutlich. Bruno war Fernfahrer. Manchmal parkte sein Peterbilt 379 draußen vor der Bar, während er hier saß und trank. Und er glaubte, dass sie glaubte, dass sein Leben ein Abenteuer war.

Was er nicht wusste: Dass sie genug von dieser Welt kannte, auch genügend Truckfahrer, um zu wissen, dass das Leben auf den Fernstraßen trist und stumpfsinnig war. Nur die cyanblauen Tuninglichter am Verdeck seines Trucks gefielen ihr: Ein verschnörkelter Schriftzug mit den Buchstaben _UCK YOU. Alle paar Sekunden leuchtete davor ein TR auf – TRUCK YOU. Was heißen sollte: Ich bin ein ehrlicher Bursche, ein echter Trucker eben. Dass es auch andere Worte mit der gleichen Endung gibt, besprechen wir im nächsten Motel, Baby.

Er war breitschultrig und hatte einen Schnauzbart und ein einfältiges Gesicht. Er gehörte zu den Typen, mit denen es keine Probleme gab, solange sie nicht die Nerven verloren. Falls aber doch, dann wurden sie nicht nur aufmüpfig, sondern richtig wehleidig, wie zurückgebliebene Kinder. Wenn Kinder genügend Macht hätten, würde die Welt nur noch ein Blutbad sein, hatte Judiths Vater immer gesagt. Er drückte auf den Lichtschalter, und das Waschhaus erstrahlte in der kühlen Farbe unreifer Zitronen.

„Du bist wunderschön“, keuchte er zitternd, seine Hand am Hosenschlitz. Sie knöpfte zaghaft ihre Bluse auf.

Er drängte sie an die Wand und pendelte sich langsam in seinen Rhythmus ein. Auf seinen fleischigen Handgelenken stellten sich die Härchen auf. Sie schloss die Augen. Sie versuchte, sich hinzugeben, und das ging am besten, wenn sie die Welt jetzt nicht sah.

Dann auf einmal jene Schritte, draußen auf der Treppe. Es schien niemand zu sein, der sich angepirscht hatte, es klang geschäftig und profan, nach viel und doch nach gar nichts.

Judith riss sich los. „Ich habe es dir gesagt“, zischte sie, sich gleichzeitig fragend, was sie eigentlich gesagt haben wollte.

„Wenn du keinen verdammten Schlüssel für hier unten hast, wieso sind wir dann nicht draußen in den Dünen geblieben?“

Eine Frau stand in der Tür, eine große, dünne, ältere Frau mit graublonden Dauerwellen und einer Blumenschürze, mit beiden Händen einen gefüllten Wäschekorb vor sich herwuchtend.

Es war eine Frau, die das, was sie sah, nicht kannte, jedenfalls nicht sehr gut; es war eine Frau, die das, was sie sah, gern kennen würde, zumindest etwas besser; und es war eine Frau, die mit dem, was sie sah, in ihrem eigenen Leben nicht rechnete, jedenfalls nicht mehr. Judith wusste, wie solche Frauen aussahen; zumindest wie sie einen anblickten, wenn sie einen anblickten.

„Oh … lieber Gott!“

„Was willst du hier, Jolanthe?“ Brunos Stirn färbte sich knallrot.

Geduldig wartete Judith darauf, dass sie das Gleiche tun würde wie jede andere Frau in einer solch misslichen Lage: Hinausgehen und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Aber Jolanthes Augen wurden rund und groß und irgendwie traurig. Bruno griff nach seinem Ding, scheinbar unschlüssig, ob es besser war, es einzupacken oder seine Imposanz ein paar Augenblicke länger auf Jolanthe wirken zu lassen. Sie löste das Problem von sich aus, indem sie sich beide Hände vor die Augen hielt, bevor sie ging, was den Vorgang nicht eben beschleunigte. Den Wäschekorb ließ sie stehen. Während sie die Treppe hochschlich – als würde es nützen, wenn man schon nicht leise gekommen war, wenigstens leise zu gehen – sah Judith, dass der Korb schwarze Damenwollstrümpfe, ein Mieder und mehrere einfarbige Blusen enthielt.

„Diese dumme Ziege“, sagte Bruno. „Die ganze Nummer ist im Eimer.“

Judith winkte lächelnd ab. „So was erlebt jeder mal. Es hilft, wenn man einfach dort weitermacht, wo man aufgehört hat.“

Er gab sich Mühe, doch es wurde eine lieblose Angelegenheit. Nach vier oder fünf Minuten waren sie fertig. Man kann seine Geilheit übergehen, genau wie seinen Hunger oder Schlaf. Und Judith stellte – nicht zum ersten Mal im Leben – fest, dass es Gesichter gab, die danach sämtliche Konturen einbüßten, als wäre die Lust alles gewesen, woraus sie sich speisten.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er.

„Willst du überhaupt?“ Sie hoffte, er würde Nein sagen, aber er antwortete:

„Erst seinen Spaß haben und dann kneifen ist nicht drin. Und damit wir uns verstehen: Das gilt für uns beide.“

Sie fragte sich, an welcher Stelle genau er wohl seinen Spaß gehabt hatte. „Nächste Woche habe ich ja hier meine Wohnung“, sagte sie. „Isabella muss nur noch bleiben, bis ihr Zimmer auf dem Land frei wird. Wenn ich erst meine eigene Bude habe, kann Jolanthe nicht mehr einfach reinplatzen.“ Sie raffte ihre Kleider zusammen und zog sich an. Er sah ihr zu, etwa so wie man einer Katze beim Putzen zusieht. „Sie gehört gewissermaßen zum Hausinventar, oder?“, fragte Judith. „Wie lange arbeitet sie schon hier?“

Bruno, der schon seit Urzeiten Stammgast im 49th Parallel war, wusste es auch nicht so genau. Jolanthe war eigentlich schon immer hier gewesen. Und alle waren gealtert, nur sie nicht. Und alle waren irgendwann jünger gewesen, nur sie nicht. Und alle hatten an irgendeinem trüben Abend, an dem die Bar so trostlos war, als käme Regen durchs Dach, von sich erzählt.

Nur sie nicht.

Das Leben mit seinen Hochs und Tiefs war kein Thema für Jolanthe. Wenn die Welt ein Kuchen war, dann war sie nur für die verkohlten Stellen zuständig, die andere wegkratzten. Nichts war süß an ihrer Welt, nichts war sauer. Alles war salzig. Und in diesem Salz lebte sie, wie ein seltener Krebs, über den auch Biologen nicht viel wussten oder es wieder vergessen hatten. So wie auch die meisten Jolanthes Gesicht wieder vergaßen. Es war hager und fast vom gleichen Sandgrau wie ihr Haar, es fand sich kein Kontrast, an den man sich erinnern würde. Sie trug eine Brille mit einer Kette, die bei ihrer Arbeit gewohnheitsmäßig gegen Stühle, Tischkanten und Spiegelflächen schlug, ohne je kaputtzugehen. Sie schmückte sich nicht. Sie schminkte sich nicht. Im