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Das Zeichen der Vier Arthur Conan Doyle - Das Zeichen der Vier ist der zweite Sherlock-Holmes-Roman von Sir Arthur Conan Doyle.Sherlock Holmes und Dr. Watson werden von Miss Mary Morstan beauftragt, bei der Suche nach ihrem verschollenen Vater zu helfen. Dieser war Offizier in Indien und verschwand vor zehn Jahren bei seiner Rückkehr nach England.
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Seitenzahl: 195
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Kapitel
1
Durch seinen Scharfsinn und seine unermüdliche Thatkraft erfüllte mich Sherlock Holmes stets von neuem mit Bewunderung. Wenn er jedoch das Rätsel gelöst hatte, so schien alle Geistesfrische von ihm gewichen, und mein Freund versank in völlige Apathie.
Ihn in diesem Instand zu sehen, war für mich äußerst peinlich, aber noch unleidlicher erschien mir das Mittel, welches er anwandte, um seinen Trübsinn zu verscheuchen.
Auch heute, als wir im Zimmer beisammen saßen, langte Sherlock Holmes die Flasche von der Ecke des Kaminsimses herunter und nahm die Induktionsspritze aus dem sauberen Lederetui. Mit seinen weißen, länglichen Fingern stellte er die seine Nadel ein, und schob seine linke Manschette zurück. Eine kleine Weile ruhten seine Augen gedankenvoll an den zahllosen Narben und Punkten, mit denen sein Handgelenk und der sehnige Vorderarm über und über bedeckt waren. Endlich bohrte er die scharfe Spitze in die Haut, drückte den kleinen Kolben nieder, und sank mit einem Seufzer innigsten Wohlbehagens in seinen samtenen Lehnstuhl zurück.
Seit vielen Monaten hatte ich diesen Hergang täglich dreimal mit angesehen, ohne mich jedoch damit auszusöhnen. Im Gegenteil, Tag für Tag steigerte sich mein Verdruß bei dem Anblick, und in der Nacht ließ mir der Gedanke keine Ruhe, daß ich zu feige war, dagegen einzuschreiten. So oft ich mir aber vornahm, meine Seele von der Last zu befreien, immer wieder erschien mir mein Gefährte, mit der kühlen, nachlässigen Miene, als der letzte Mensch, dem gegenüber man sich Freiheiten herausnehmen dürfe. Seine großen Fähigkeiten, die ganze Art seines Auftretens, die vielen Fälle, in denen er seine außerordentliche Begabung schon vor mir bethätigt hatte – das alles machte mich ihm gegenüber ängstlich und zurückhaltend.
Aber an diesem Nachmittage fühlte ich plötzlich, daß ich es nicht länger aushalten könne. Der starke Wein, den ich beim Frühstück genossen, mochte mir wohl zu Kopfe gestiegen sein, vielleicht hatte mich auch Holmes' umständliche Manier ganz besonders gereizt.
»Was ist denn heute an der Reihe,« fragte ich kühn entschlossen, »Morphium oder Cocaïn?«
Er erhob die Augen langsam von dem alten Folianten, den er aufgeschlagen hatte.
»Cocaïn,« sagte er, »eine Lösung von sieben Prozent. Wünschen Sie's zu versuchen, Doktor Watson?«
»Wahrhaftig nicht,« antwortete ich ziemlich barsch. »Ich habe die Folgen des afghanischen Feldzugs noch nicht verwunden und kann meiner Konstitution dergleichen nicht zumuten.«
Er lächelte über meine Heftigkeit. »Vielleicht haben Sie recht, der physische Einfluß ist vermutlich kein guter. Ich finde aber die Wirkung auf den Geist so vorzüglich anregend und klärend, daß alles andere dagegen von geringem Belang ist.«
»Aber überlegen Sie doch,« mahnte ich eindringlich, »berechnen Sie die Kosten! Mag auch Ihre Hirnthätigkeit belebt und erregt werden, so ist es doch ein widernatürlicher, krankhafter Vorgang, der einen gesteigerten Stoffwechsel bedingt und zuletzt dauernde Schwäche zurücklassen kann. Auch wissen Sie ja selbst, welche düstere Reaktion Sie jedesmal befällt. Wahrlich, das Spiel kommt Sie zu hoch zu stehen. Um eines flüchtigen Vergnügens willen setzen Sie sich dem Verlust der hervorragenden Fähigkeiten aus, mit denen Sie begabt sind. Ich sage Ihnen das nicht nur als wohlmeinender Kamerad, sondern als Arzt, da ich mich in dieser Eigenschaft gewissermaßen für Ihre Gesundheit verantwortlich fühle. Bedenken Sie das wohl!«
Er schien nicht beleidigt. Seine Ellenbogen auf die Armlehnen des Stuhls stützend, legte er die Fingerspitzen gegeneinander, wie jemand, der sich zu einem Gespräch anschickt.
»Mein Geist,« sagte er, »empört sich gegen den Stillstand. Geben, Sie mir ein Problem, eine Arbeit, die schwierigste Geheimschrift zu entziffern, den verwickeltsten Fall zu enträtseln. Dann bin ich im richtigen Fahrwasser und kann jedes künstliche Reizmittel entbehren. Aber ich verabscheue das nackte Einerlei des Daseins; mich verlangt nach geistiger Aufregung. Das ist auch die Ursache, weshalb ich mir einen eigenen, besondern Beruf erwählt oder vielmehr geschaffen habe; denn ich bin der Einzige meiner Art in der Welt.«
»Der einzige, nicht angestellte Detektiv?« – fragte ich mit ungläubiger Miene.
»Der einzige, nicht angestellte, beratende Detektiv,« entgegnete er. »Ich bin die letzte und sicherste Instanz im Detektivfach. Wenn Gregson, oder Lestrade, oder Athelney Jones auf dem Trocknen sind – was, beiläufig gesagt, ihr normaler Zustand ist – so wird mir der Fall vorgelegt. Ich untersuche die Thatsachen als Kenner und gebe den Ausspruch des Spezialisten. Mein Name erscheint in keiner Zeitung, ich beanspruche keinerlei Anerkennung. Die Arbeit an sich, das Vergnügen, ein angemessenes Feld für meine besondere Gabe der Beobachtung und Schlußfolgerung zu finden, ist mein höchster Lohn. – Uebrigens bin ich nicht ganz unbekannt; meine kleinen Schriften werden sogar jetzt ins Französische übertragen.«
»Ihre Schriften?«
»O, wußten Sie es nicht?« rief er lachend. »Sie behandeln lauter technische Gegenstände. – Hier ist z. B. eine Abhandlung ›Ueber die Verschiedenheit der Tabaksache‹. Ich zähle da hundert und vierzig Sorten auf: Rauchtabak, Zigarren undZigaretten, deren Asche sich unterscheiden läßt, wie Sie aus den beigedruckten, farbigen Tafeln ersehen. Vor Gericht ist das oft von der größten Bedeutung. Wenn man z. B. mit Bestimmtheit sagen kann, daß ein Mord von einem Manne verübt worden ist, der eine indische Lunkah rauchte, so wird dadurch offenbar das Feld der Untersuchung wesentlich beschränkt. Für das geübte Auge unterscheidet sich die schwarze Asche der Trichinopolly-Zigarre von den weißen Fasern des Birds Eye-Tabaks wie ein Kohlkopf von einer Kartoffel.«
»Sie haben ein außerordentliches Genie für kleine Nebendinge,« bemerkte ich.
»Ich erkenne ihre Wichtigkeit. – Hier ist ferner mein Aufsatz über die Erforschung der Fußspuren, mit Anmerkungen über den Gips als Mittel, die Abdrücke zu bewahren. Dies hier ist ein kleines, merkwürdiges Schriftchen über den Einfluß des Handwerks auf die Form der Hand, mit Abbildungen der Hände von Dachdeckern, Schiffern, Zimmerleuten, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Das ist von großem praktischen Interesse für den wissenschaftlichen Detektiv, besonders wo es sich um die Erkennung von Leichen oder um die Vorgeschichte der Verbrecher handelt. – Aber ich langweile Sie mit meinem Steckenpferde.«
»Durchaus nicht,« erwiderte ich eifrig. »Ich interessiere mich sehr dafür, seit ich Gelegenheit hatte, Zeuge seiner praktischen Anwendung zu sein. Sie sprachen soeben von Beobachtung und Schlußfolgerung, sind diese nicht in gewissem Grade gleichbedeutend?«
»Hm – kaum.«
Er lehnte sich behaglich in den Lehnstuhl zurück und blies dichte blaue Wollen aus seiner Pfeife. »Die Beobachtung zeigt mir z. B., daß Sie heute früh in der Wigmorestraße auf der Post gewesen sind, aber die Schlußfolgerung läßt mich wissen, daß Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«
»Richtig! Beides trifft zu,« rief ich. »Aber wie in aller Welt haben Sie das herausgebracht? Der Gedanke kam mir ganz plötzlich, und ich habe keiner Seele etwas davon gesagt.«
»Das ist lächerlich einfach,« sagte er, vergnügt über mein Erstaunen, »und erklärt sich eigentlich ganz von selbst; es kann jedoch dazu dienen, die Grenzen der Beobachtung und der Schlußfolgerung festzustellen. – Die Beobachtung sagt nur, daß ein kleiner Klumpen rötlicher Erde an Ihrer Fußsohle klebt. – Nun wird aber gerade beim Postamt in der Wigmorestraße das Pflaster ausgebessert, und dabei ist die ausgeworfene Erde vor den Eingang zu liegen gekommen. Diese Erde hat eine absonderliche, rötliche Färbung, wie sie, soviel ich weiß, sonst nirgends in der Umgegend vorkommt. Das ist die Beobachtung. Das übrige ist Schlußfolgerung.«
»Und wie folgerten Sie das Telegramm?«
»Je nun, ich wußte natürlich, daß Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich den ganzen Morgen Ihnen gegenüber gesessen habe. In ihrem offenen Pult dort liegt auch noch ein Vorrat von Briefmarken und Postkarten. Wozu könnten Sie also auf die Post gegangen sein, außer um eine Depesche abzugeben? – Räumt man alle andern Faktoren fort, so muß der, welcher übrig bleibt, den wahren Sachverhalt zeigen.«
»In diesem Fall trifft das zu,« erwiderte ich nach einigem Bedenken. »Die Lösung war allerdings höchst einfach. Ich möchte jedoch Ihre Theorie einmal einer strengeren Probe unterwerfen, wenn Sie das nicht unbescheiden finden?«
»Im Gegenteil,« versetzte er, »es wäre mir sehr lieb; wenn Sie mir irgend ein Problem zu erforschen geben, brauche ich heute leine zweite Dosis Cocaïn zu nehmen.«
»Ich habe Sie einmal behaupten hören, daß der Mensch den Gegenständen, welche er im täglichen Gebrauch hält, fast ausnahmslos den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt, so daß ein geübter Beobachter an den Sachen den Charakter ihres Eigentümers zu erkennen vermag. Nun habe ich hier eine Uhr, die mir noch nicht lange gehört. Würden Sie wohl die Güte haben, mir Ihre Meinung über die Eigenschaften und Gewohnheiten des früheren Besitzers zu sagen?«
Ich reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung. Die Aufgabe war nach meinem Bedünken unlösbar; ich wollte ihm damit nur eine kleine Lehre geben wegen des allzu anmaßenden Tones, den er zuweilen annahm. Er wog die Uhr in der Hand, blickte scharf auf das Zifferblatt, öffnete das Gehäuse und untersuchte das Werk; erst mit bloßen Augen, dann durch ein starkes Vergrößerungsglas. Als er endlich mit entmutigtem Gesicht die Uhr wieder zuschnappte und mir zurückgab, konnte ich mich kaum eines Lächelns enthalten.
»Da giebt's nur wenige Anhaltspunkte,« bemerkte er. »Die Uhr ist neuerdings gereinigt, was mich um die besten Merkmale bringt.«
»Ganz recht.« erwiderte ich. »Sie wurde gereinigt, ehe man sie mir sandte.«
Holmes brauchte diesen schwachen Vorwand offenbar nur, um seine Niederlage zu verdecken. Was für Anhaltspunkte hätte er denn bei einer nicht gereinigten Uhr finden können?
»Die Untersuchung ist zwar unbefriedigend, jedoch nicht ganz erfolglos,« führ er fort, während er mit glanzlosen Augen träumerisch nach der Stubendecke starrte. »Irre ich mich, wenn ich sage, daß die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater erbte?«
»Sie schließen das ohne Zweifel aus dem H. W. auf dem Deckel?«
»Ganz recht. Das W. deutet Ihren eigenen Namen an. Das Datum reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm ist so alt wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation gemacht worden. Wertsachen pflegen auf den ältesten Sohn überzugehen, der auch meistens den Namen seines Vaters trägt. Da Ihr Vater, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot ist, hat Ihr ältester Bruder die Uhr seitdem in Händen gehabt.«
»Soweit richtig,« sagte ich. »Und was wissen Sie sonst noch?«
»Er war sehr liederlich in seinen Gewohnheiten – liederlich und nachlässig. Er kam in den Besitz eines schönen Vermögens, brachte jedoch alles durch und lebte in Dürftigkeit. Zuweilen verbesserte sich feine Lage auf kurze Zeit, bis er endlich dem Trunk verfiel. Das ist alles, was ich ersehen kann.«
Ich sprang heftig erregt vom Stuhl auf, und ging im Zimmer auf und ab.
»Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich, um meiner Erbitterung Luft zu machen. »So etwas hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie haben Erkundigungen eingezogen über die Geschichte meines unglücklichen Bruders und geben jetzt vor, Ihre Kenntnis auf irgend eine abenteuerliche Weise erlangt zu haben. Sie können mir unmöglich zumuten, daß ich glauben soll, Sie hätten dies alles aus der alten Uhr gelesen! Ihr Benehmen ist höchst rücksichtslos und streift, gerade herausgesagt, an Gaukelei.«
»Entschuldigen Sie mich, bitte, lieber Doktor,« erwiderte er freundlich. »Ich habe die Sache nur als ein abstraktes Problem, angesehen und darüber vergessen, daß dieselbe Sie persönlich angeht und Ihnen peinlich sein könnte, Ich versichere Sie, ehe Sie mir die Uhr reichten, wußte ich nicht einmal, daß Sie einen Bruder hatten.«
»Aber wie in aller Welt sind Sie denn zu diesen Thatsachen gekommen, die durchaus richtig sind – in allen Einzelheiten?«
»Wirklich! Nun, das ist zum Teil nichts als Glück. Ich hielt mich an die Wahrscheinlichkeit und erwartete durchaus nicht, es so genau zu treffen.«
»Aber Sie haben doch nicht bloß auf gut Glück geraten?«
»Nein, nein: ich rate nie. Das ist eine widerwärtige Gewohnheit, die jede logische Fähigkeit zerstört. Die Sache erscheint Ihnen nur sonderbar, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen, noch die kleinen Anzeichen beobachten, die zu großen Schlußfolgerungen führen können. Wie bin ich zum Beispiel zu der Ansicht gelangt, daß Ihr Bruder nachlässig war? – Betrachten Sie einmal den Deckel der Uhr genau. Sie werden bemerken, daß er nicht allein unten an zwei Stellen eingedrückt ist, sondern auch voller Schrammen und Krätzer – eine Folge der Gewohnheit, andere harte Gegenstände, wie Münzen oder Schlüssel, in derselben Tasche zu tragen. Wer aber eine so kostbare Uhr auf solche Weise behandelt, muß ein nachlässiger Mensch sein. Um das zu erkennen, bedarf es keines großen Scharfsinns. Ebensowenig ist es ein weither geholter Schluß, daß der Erbe eines so wertvollen Gegenstandes auch im übrigen in ziemlich guter Lage ist.«
Ich nickte, um zu zeigen, daß ich seiner Auseinandersetzung folgte.
»Die Pfandverleiher in England pflegen bekanntlich bei versetzten Uhren die Nummer des Pfandzettels auf der Innenseite des Gehäuses einzukratzen,« fuhr Holmes fort. »Nun sind nicht weniger als vier solcher Nummern durch mein Glas erkennbar, ein Beweis, daß Ihr Bruder oft in Verlegenheit war, doch muß er dazwischen in seinen Verhältnissen empor gekommen sein, sonst hatte er das Pfand nicht wieder einlösen können. – Betrachten Sie nun noch den inneren Deckel der Uhr. Sehen Sie die tausend Schrammen rund um das Schlüsselloch – Spuren, wo der Schlüssel ausgeglitten ist? Bei der Uhr eines nüchternen Mannes kommen solche Kratzer nicht vor; auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterläßt diesen Beweis von der Unsicherheit seiner Hand. Wo ist in alledem ein Geheimnis?«
»Es ist so klar wie der Tag,« antwortete ich. »Verzeihen Sie, daß ich Ihnen unrecht that. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre wunderbare Begabung setzen sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig in Ihrem Beruf irgend einen Fall zu enträtseln haben?«
»Keinen! – daher das Cocaïn. Ich kann nicht leben ohne Kopfarbeit. Was soll man auch sonst thun? Hier am Fenster stehen? Die Welt sieht gar zu gräßlich, trübselig und abstoßend aus! Sehen Sie nur, wie der gelbe Nebel herabsinkt und sich auf die schwärzlichen Häuser lagert! Wie hoffnungslos, elend und prosaisch erscheint alles! Was nützen dem Menschen seine Gaben, Doktor, wenn er kein Feld hat, sie in Anwendung zu bringen? Das Verbrechen ist alltäglich, das Dasein ist alltäglich und nur für alltägliche Fähigkeiten giebt es etwas zu thun auf der Welt.«
Ich wollte eben den Mund zu einer Entgegnung öffnen, als es rasch an die Thür klopfte und unsere Hauswirtin eintrat.
»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Herr Holmes,« sagte sie, meinem Gefährten eine Karte reichend.
»Miß Mary Morstan,« las er. »Hm – der Name ist mir nicht bekannt. Bitten Sie das Fräulein, sich herauf zu bemühen, Frau Hudson. Gehen Sie nicht fort, Doktor. Es wäre mir wirklich lieber, Sie blieben hier.«
Kapitel
2
Fräulein Morstan, eine blonde junge Dame, betrat das Zimmer mit festem Schritt und äußerlich ruhiger Haltung. Sie war klein und zierlich, geschmackvoll gekleidet und trug tadellose Handschuhe. Dennoch ließ der Anzug in seiner Schmucklosigkeit und Einfachheit auf Beschränktheit in den Mitteln schließen. Ihr dunkelgrünes Wollenkleid hatte weder Besatz noch sonstige Verzierung, und ihre kleine Kopfbedeckung von derselben matten Farbe war nur an der Seite durch einen winzigen weißen Federstutz gehoben. Zwar besaß sie weder regelmäßige Züge, noch schöne Formen, doch war der Ausdruck des Gesichts höchst liebenswürdig und anziehend; aus ihren großen, blauen Augen sprach Geist und Leben. Ich hatte die Frauen vieler Nationen in drei verschiedenen Weltteilen gesehen, aber niemals war mir ein Gesicht vorgekommen, in welchem sich so deutlich eine empfängliche, edle Natur ausprägte. Es entging mir nicht, daß, als sie den Sitz annahm, den Holmes ihr darbot, ihre Lippe zitterte und ihre Hand bebte; in ihrem ganzen Wesen sprach sich eine tiefe innere Erregung aus.
»Ich komme zu Ihnen, Herr Holmes,« sagte sie, »weil sie der Dame, in deren Familie ich lebe, Frau Cäcilie Forrester, einmal behilflich gewesen sind, eine kleine häusliche Verwickelung aufzuklären. Die Güte und Geschicklichkeit, welche Sie damals bewiesen, hat großen Eindruck auf sie gemacht.«
»Frau Cäcilie Forrester« – wiederholte er nachdenklich. »Ja, ja, ich erinnere mich, ich hatte Gelegenheit, ihr einen kleinen Gefallen zu thun. Es war eine höchst einfache Sache.«
»Sie hielt sie damals durchaus nicht dafür. Von meinem Fall werden Sie indessen schwerlich dasselbe sagen. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, das noch sonderbarer und unerklärlicher wäre, als die Lage, in der ich mich eben jetzt befinde.« Holmes rieb sich die Hände, seine Augen glänzten. Er saß weit vorgebeugt da; aus seinen scharfgeschnittenen, falkenartigen Zügen sprach die gespannteste Aufmerksamkeit.
»Teilen Sie mir Ihren Fall mit,« sagte er in kurzem Geschäftston.
Ich befand mich in peinlicher Verlegenheit.
»Sie werden entschuldigen,« murmelte ich, mich von meinem Platz erhebend.
Allein, zu meiner Ueberraschung machte die junge Dame eine Bewegung, wie um mich zurückzuhalten.
»Wenn Ihr Freund die Güte hätte, zu bleiben,« rief sie, »so könnte er mir einen unschätzbaren Dienst leisten.«
Ich sank in meinen Stuhl zurück.
»Die Thatsachen,« fuhr sie fort, »sind kurz folgende: Mein Vater war Offizier in einem indischen Regiment und schickte mich als kleines Kind in die Heimat. Meine Mutter war gestorben, und da ich keine Verwandten in England hatte, ward ich in einer guten Pension in Edinburg untergebracht, wo ich bis zu meinem siebzehnten Jahre blieb. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, als ältester Hauptmann seines Regiments, einen zwölfmonatlichen Urlaub und kehrte heim. Er telegraphierte mir von London aus, daß er dort glücklich angekommen sei, und gab mir ›Langham-Hotel‹ als seine Adresse an, wo ich ihn sogleich aufsuchen sollte. Die Botschaft war, wie ich mich erinnere, voller Liebe und Güte. Ich folgte seiner Anweisung, erfuhr jedoch im Langham-Hotel, daß Hauptmann Morstan zwar daselbst abgestiegen, aber am vorigen Abend ausgegangen und nicht wiedergekommen sei. Ich wartete den ganzen Tag, ohne Nachricht zu erhalten. Um Abend riet mir der Hotel-Direktor, mich in Verbindung mit der Polizei zu setzen. Wir machten nun Anzeigen in allen Zeitungen, allein unsere Nachforschungen blieben ohne Erfolg; von jenem Tage an bis heute hat man nie mehr ein Wort von meinem unglücklichen Vater gehört. Er kam in die Heimat mit sehnsüchtigem Herzen, er hoffte Frieden und Behagen zu finden, – statt dessen –«
Sie brach ab; Schluchzen erstickte ihre Stimme.
»Das Datum?« fragte Holmes, sein Notizbuch öffnend.
»Er verschwand am 3. Dezember 1878 – vor fast zehn Jahren.«
»Sein Gepäck?«
»War im Hotel geblieben, verschaffte uns aber keinen Aufschluß. Außer Kleidern und Büchern fand sich nur eine ansehnliche Sammlung von Seltenheiten von den Andamanen-Inseln vor. Mein Vater war einer der kommandierenden Offiziere des Wachtpostens der dortigen Verbrecherkolonie gewesen.«
»Hatte er irgend einen Freund in der Stadt?«
»Nur einen unseres Wissens – Major Scholto von seinem Regiment, dem 34. der Bombay-Infanterie. Der Major hatte kurz zuvor den Abschied genommen und wohnte in Ober-Norwood. Natürlich setzten wir uns mit ihm in Verbindung; aber er wußte nicht einmal, daß sein früherer Kamerad in England sei.«
»Ein sonderbarer Fall,« bemerkte Holmes.
»Das Seltsamste muß ich Ihnen erst noch mitteilen. Vor ungefähr sechs Jahren, oder um ganz genau zu berichten, am 4. Mai 1882 – erschien in der ›Times‹ eine Aufforderung an Fräulein Mary Morstan, ihre Adresse anzugeben, mit dem Bemerken, daß es nicht ohne Nutzen für sie sein würde. Weder Name noch Ort war beigefügt. Ich hatte gerade zu der Zeit die Stelle als Erzieherin im Hause der Frau Forrester angetreten, und auf ihren Rat ließ ich meine Adresse in die Zeitung rücken. Noch am selben Tage kam mit der Post eine kleine Pappschachtel für mich an, welche eine sehr große, glänzende Perle enthielt. Kein geschriebenes Wort war beigefügt. Seitdem ist mir jedes Jahr am gleichen Datum eine solche Schachtel mit einer Perle zugekommen, immer ohne irgend welchen Aufschluß über den Absender. Die Perlen sind nach dem Urteil eines Kenners von seltener Gattung und bedeutendem Wert. Sie können sich selbst überzeugen, daß sie schön sind.«
Sie öffnete eine flache Schachtel, in der sechs der schönsten Perlen lagen, die ich je gesehen hatte.
»Ihre Mitteilung ist höchst interessant,« sagte Holmes. »Hat sich sonst noch etwas ereignet?«
»Ja, und zwar erst heute. Deshalb bin ich hier. Diesen Morgen erhielt ich einen Brief – bitte lesen Sie!«
»Besten Dank! Auch das Couvert, wenn ich bitten darf! Poststempel London SW Datum 17. Juli. Hm! Auf der Ecke der Abdruck eines Mannsdaumens – vermutlich des Briefträgers – Papier von der besten Sorte, Couvert desgleichen. Der Mann ist wählerisch in Schreibmaterialien. Keine Anrede. ›Stellen Sie sich heute abend um sieben Uhr vor dem Lyceum-Theater ein. Wenn Sie Mißtrauen hegen, bringen Sie zwei Freunde mit. Es ist Ihnen Unrecht geschehen und Sie sollen Ihr Recht haben. Bringen Sie niemand von der Polizei. Thun Sie das, so ist alles vergebens. Ihr unbekannter Freund.‹ – Wahrhaftig ein interessantes, kleines Geheimnis! Was gedenken Sie zu thun, Fräulein Morstan?«
»Darüber wollte ich eben Ihren Rat hören.«
»Nun, dann werden wir sicherlich hingehen – Sie und ich und – jawohl – Doktor Watson ist gerade der richtige Mann. Der Brief sagt, zwei Freunde. Wir haben schon früher einmal zusammen gearbeitet, er und ich.«
»Würde er aber auch mitkommen wollen?« fragte sie mit bittender Gebärde.
»Ich werde stolz und glücklich sein, wenn ich mich nützlich machen kann,« rief ich lebhaft.
»Sie sind beide sehr gütig,« erwiderte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und wüßte keinen Freund, an den ich mich wenden könnte. Wird es früh genug sein, wenn ich um sechs Uhr hier bin?«
»Kommen Sie ja nicht später,« sagte Holmes. »Noch eine Frage: Ist dies die nämliche Handschrift, wie auf den Adressen der Perlschachteln?«
»Sehen Sie selbst,« antwortete sie, ihm ein halbes Dutzend Papierschnitzel vorzeigend.
»Sie sind ja eine wahre Muster-Klientin. Sie haben das richtige Verständnis. Das ist schön!« Er breitete die Zettel auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum andern. »Der Schreiber hat seine Hand verstellt, ausgenommen bei dem Brief, darüber kann kein Zweifel bestehen. Sehen Sie, wie das griechische ε überall durchbrechen will, und hier den Schnörkel am Schluß. Sie stammen unzweifelhaft von derselben Person. Ich möchte keine falschen Hoffnungen erregen, Fräulein Morstan, aber – besteht irgend eine Aehnlichkeit zwischen dieser Handschrift und derjenigen Ihres Vaters?« –
»Nicht die geringste.«
»Das dachte ich mir wohl. Also um sechs Uhr werden wir Sie erwarten. Erlauben Sie mir, die Papiere zu behalten, ich kann vielleicht vorher noch etwas in der Sache thun. Es ist erst halb vier. Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen,« sagte die junge Dame in heiterm Ton, steckte die Perlschachtel wieder ein und eilte mit freundlichem Gruße fort. Vom Fenster aus sah ich sie schnellen Schrittes die Straße hinuntergehen, bis das graue Hütchen mit der weißen Feder nur noch ein Punkt in der dunklen Menschenmenge war.
»Ein höchst anziehendes Mädchen,« sagte ich zu meinem Gefährten gewandt.
Holmes hatte seine Pfeife wieder angezündet und sich mit halbgeschlossenen Augen in den Stuhl zurückgelehnt. »So?« sagte er langsam – »ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zu Zeiten ist gar kein menschliches Leben in Ihnen.«
»Man darf sein Urteil nie von persönlichen Eigenschaften beeinflussen lassen,« entgegnete er mit mattem Lächeln, »das ist von der größten Wichtigkeit. Für mich ist ein Klient nichts als eine Figur, ein Faktor in einem Problem. Gefühle sind dem klaren Denken feindlich. Der Schein trügt nur zu oft. Das liebreizendste Frauenzimmer, das mir vorgekommen ist, wurdegehängt, weil sie drei kleine Kinder um ihrer Lebensversicherung willen vergiftet hatte, und der allerabstoßendste Mann meiner Bekanntschaft ist ein Menschenfreund, der beinahe eine Viertelmillion für die Armen Londons verwendet hat.«
»In diesem Fall indessen –«
»Ich mache niemals Ausnahmen. Eine Ausnahme stößt die Regel um. Haben Sie jemals versucht, den Charakter aus der Handschrift zu bestimmen? Wie urteilen Sie über diesen Menschen nach seinem Geschreibsel?«
»Es ist leserlich und regelrecht. Ein Geschäftsmann, nicht ohne Charakterstärke, sollte ich meinen.«