Das Zeichen der Wahrheit - Susan Dennard - E-Book

Das Zeichen der Wahrheit E-Book

Susan Dennard

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Beschreibung

Der fantastische Auftakt der New-York-Times-Bestseller-Serie.

Die Magislande sind ein Reich, in dem die Elemente den Menschen magische Begabungen schenken. Doch kein Geschenk ist so kostbar wie die seltene Wahrmagie, über die Safiya verfügt. Indem sie Lüge von Wahrheit unterscheiden kann, wäre ihre Gabe eine gefährliche Waffe in den Händen ihrer mächtigen Feinde. Und davon hat die adelige Safi reichlich. Als der Krieg den Kontinent erschüttert, müssen Safi und ihre Freundin Iseult sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen, und beschließen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

»Das Zeichen der Wahrheit« ist 2016 unter dem Titel »Schwestern der Wahrheit« erschienen.

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Seitenzahl: 615

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Buch

Die Magislande sind ein Reich, in dem die Elemente den Menschen magische Begabungen schenken. Doch kein Geschenk ist so kostbar wie die seltene Wahrmagie, über die Safiya verfügt. Indem sie Lüge von Wahrheit unterscheiden kann, wäre ihre Gabe eine gefährliche Waffe in den Händen ihrer mächtigen Feinde. Und davon hat die adelige Safi reichlich. Als der Krieg den Kontinent erschüttert, müssen Safi und ihre Freundin Iseult sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen, und beschließen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Autor

Susan Dennard wuchs in einer Kleinstadt in Georgia, USA, auf. Als Meeresbiologin bereiste sie die Welt und hat schon sechs von sieben Kontinenten besucht, nur in Asien war sie bisher noch nicht. Heute lebt sie als hauptberufliche Autorin und Schreibtrainerin im Mittleren Westen der USA. Ihre Fantasyromane über die Magislande erreichten Spitzenplätze auf der New York Times-Bestsellerliste und begeistern Fans weltweit.

SUSAN DENNARD

DASZEICHENDERWAHRHEIT

ROMAN

Deutsch vonVanessa Lamatsch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Truthwitch« bei Tor Teen, New York.»Das Zeichen der Wahrheit« ist 2016 unter dem Titel »Schwestern der Wahrheit« bei Penhaligon erschienen.

1. AuflageCopyright der Originalausgabe © Susan Dennard 2016Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Redaktion: Catherine BeckUmschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Inkcraft in Zusammenarbeit mit Oswin Neumann, oswinart.comKarte: Maxime PlasseBL · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-21842-3V001www.penhaligon.de

Für meine Strangschwester Sarah

Alles lief schief.

Safiya fon Hasstrels hastig entworfener Plan für diesen Überfall entwickelte sich nicht so wie gewünscht. Zum Ersten war diese schwarze Kutsche mit der goldenen Standarte nicht das Angriffsziel, auf das Safi und Iseult gewartet hatten. Und noch schlimmer – diese verdammte Kutsche wurde von acht Reihen Stadtwachen begleitet, die gegen die Mittagssonne anblinzelten.

Zum Zweiten gab es keinen Ort, an den Safi und Iseult fliehen konnten. Die staubige Straße, die sich unter ihrer Felszunge aus Sandstein entlangzog, war der einzige Weg in die Stadt Veñaza. Und so wie ihr Felsen die Straße überblickte, überblickte die Straße nichts als die unendliche Weite des türkisen Meeres. Sie befanden sich auf einer zwanzig Meter hohen Klippe, die von rauen Wellen und noch raueren Winden umtost wurde.

Und zum Dritten – das war der endgültige Tiefschlag – würden die Wachen, sobald sie auf die versteckten Fallen traten und die Feuertöpfe darin explodierten … nun, ab dann würden diese Wachen jede Spalte der Klippen durchsuchen.

»Höllentore, Iz.« Safi schob ihr Fernrohr zusammen. »Es sind vier Wachen in jeder Reihe. Acht mal vier macht …« Sie runzelte die Stirn. Fünfzehn, sechszehn, siebzehn …

»Zweiunddreißig«, erklärte Iseult ausdruckslos.

»Zweiunddreißig dreimal verdammte Wachen mit zweiunddreißig dreimal verdammten Armbrüsten.«

Iseult nickte nur und schob die Kapuze ihres braunen Umhangs nach hinten. Die Sonne beleuchtete ihr Gesicht, das den perfekten Gegensatz zu Safi bildete: mitternachtsschwarzes Haar im Kontrast zu Safis Weizenblond, mondblasse Haut im Kontrast zu Safis Bräune, und grünbraune im Kontrast zu Safis blauen Augen.

Grünbraune Augen, die jetzt zu Safi glitten, als Iseult gleichzeitig nach dem Fernrohr griff. »Ich will ja nicht ›Ich habe es dir gesagt‹ sagen …«

»Dann tu es nicht.«

»… aber alles, was er dir gestern Abend erzählt hat, war eine Lüge. Er war sicherlich nicht an einem einfachen Kartenspiel interessiert.« Iseult zählte die Punkte an ihren behandschuhten Fingern ab. »Er hatte nicht vor, die Stadt heute Morgen über die nördliche Landstraße zu verlassen. Und ich wette« – ein dritter Finger hob sich – »er hieß nicht mal Caden.«

Caden. Falls … nein, wenn Safi diesen charmanten Schwindler fand, würde sie ihm jeden Knochen in seinem attraktiven Gesicht brechen.

Safi stöhnte und schlug ihren Kopf gegen den Fels. Sie hatte ihr gesamtes Geld an ihn verloren. Nicht nur einen Teil, sondern alles. Letzte Nacht hatte Safi nicht zum ersten Mal ihre – und Iseults – Ersparnisse bei einem Kartenspiel als Einsatz verwendet. Es war ja nicht so, als würde sie jemals verlieren, denn wie das Sprichwort schon sagte: Man kann eine Wahrmagis nicht täuschen.

Und die Gewinne einer einzigen Runde Taro mit den höchsten Einsätzen von ganz Veñaza hätten Safi und Iseult eine eigene Wohnung verschafft. Iseult hätte nicht mehr auf einem Dachboden leben müssen und Safi nicht mehr im stickigen Gästezimmer des Gildemeisters.

Doch wie die Laune des Schicksals es gewollt hatte, war es Iseult nicht gelungen, sich Safi beim Spiel anzuschließen – ihre Herkunft hatte ihr den Zugang zu dem kostspieligen Gasthaus verwehrt, in dem es stattfand. Und ohne ihre Strangschwester an ihrer Seite war Safi anfällig für … Fehler.

Besonders für Fehler der attraktiven, glattzüngigen Art, die Safi mit Komplimenten bedachten, die irgendwie ihre Wahrmagie unterlaufen hatten. Tatsächlich hatte sie nicht einen verlogenen Knochen im Leib des charmanten Schwindlers gespürt, als sie ihre Gewinne von der hauseigenen Bank abgeholt hatte … Oder als der charmante Schwindler sie untergehakt und in die warme Nacht geführt hatte … Oder als er sich zu einem keuschen, aber trotzdem unglaublich berauschenden Kuss auf die Wange vorgelehnt hatte.

Ich werde nie wieder spielen, schwor sich Safi, während sie mit den Fersen auf den Sandstein trommelte. Und auch nie wieder flirten.

»Wenn wir uns aus dem Staub machen wollen«, begann Iseult und unterbrach damit Safis Gedanken, »sollten wir das vielleicht tun, bevor die Wachen unsere Falle erreichen.«

»Sag bloß.« Böse starrte Safi ihre Strangschwester an, die damit beschäftigt war, die sich nähernden Wachen durch das Fernrohr zu beobachten. Wind umspielte Iseults Haare und hob die dünnen Strähnen an, die ihrem Zopf entkommen waren. In der Ferne stieß eine Möwe ihren widerwärtigen Schrei aus.

Safi hasste Möwen; sie kackten ihr immer auf den Kopf.

»Noch mehr Wachen«, murmelte Iseult, und fast hätten die Wellen ihre Worte übertönt. Doch dann sagte sie lauter: »Weitere zwanzig Wachen kommen von Norden.«

Safi stockte der Atem. Selbst wenn sie und Iseult sich irgendwie den zweiunddreißig Wachen um die Kutsche hätten stellen können, würden diese zwanzig Wachen sie erwischen, bevor sie entkommen konnten. Dann schnappte Safi wieder nach Luft, und alle ihr bekannten Flüche entschlüpften ihrem Mund.

»Uns bleiben nur noch zwei Möglichkeiten«, unterbrach Iseult sie, während sie an Safis Seite zurückglitt. »Wir können uns entweder selbst stellen …«

»Nur über die verwesende Leiche meiner Großmutter«, blaffte Safi.

»… oder wir versuchen, die Wachen zu erreichen, bevor sie die Falle auslösen. Dann müssen wir nur noch so dreist wie möglich tricksen.«

Safi warf einen kurzen Blick zu Iseult. Wie immer wirkte das Gesicht ihrer Strangschwester ungerührt und ausdruckslos. Nur ihre lange Nase verriet ihre Anspannung, denn sie zuckte alle paar Sekunden.

»Sobald wir das geschafft haben«, fügte Iseult hinzu und zog sich ihre Kapuze wieder über den Kopf, sodass ihr Gesicht im Schatten lag, »folgen wir dem üblichen Plan. Und jetzt beeil dich.«

Safi brauchte keinen zusätzlichen Ansporn – natürlich würde sie sich beeilen –, doch sie schluckte ihre Antwort hinunter. Iseult rettete ihnen wieder einmal die Haut.

Außerdem, wenn Safi noch ein einziges Ich habe es dir doch gesagt hören müsste, würde sie ihre Strangschwester erwürgen und ihre Leiche an die Einsiedlerkrebse verfüttern.

Iseults Füße fanden die sandige Straße, und Safi kletterte geschickt neben sie. Staub erhob sich um ihre Stiefel, und Safi hatte eine Eingebung. »Warte, Iz.« Safi löste ihren Umhang, bevor sie mit schnellen Bewegungen ihres Parierdolchs die Kapuze abtrennte. »Rock und Kopftuch. Als Bäuerinnen wirken wir weniger bedrohlich.«

Iseult kniff die Augen zusammen, dann sank sie auf der Straße auf die Knie. »Aber unsere Gesichter sind dann noch deutlicher zu erkennen. Schmier dir so viel Dreck ins Gesicht wie nur möglich.«

Während Iseult ihr Gesicht bearbeitete und ihm eine schlammig braune Färbung verlieh, band sich Safi die Kapuze wie ein Kopftuch um die Haare und schlang sich den Umhang um die Hüfte. Sie befestigte den braunen Mantel so an ihrem Gürtel, dass er die Scheiden daran zuverlässig verbarg, dann schmierte auch sie sich Schlamm auf die Wangen.

In weniger als einer Minute waren beide Mädchen bereit. Safi bedachte Iseult mit einem prüfenden Blick – aber die Verkleidung war gut. Gut genug. Ihre Strangschwester sah aus wie eine Bäuerin, die dringend ein Bad nötig hatte.

Mit angehaltenem Atem und Iseult auf den Fersen trat Safi um die Sandsteinklippe … Dann atmete sie auf, ohne langsamer zu werden. Die Wachen befanden sich immer noch dreißig Schritte von den vergrabenen Feuertöpfen entfernt.

Safi winkte dem schnurrbartbewehrten Wachmann an der Spitze der Kolonne zu. Er hob die Hand, und alle Wachen hielten abrupt an. Dann richteten sie einer nach dem anderen ihre Armbrüste auf die Mädchen.

Safi gab vor, es nicht zu bemerken. Als sie den kleinen Haufen Kieselsteine erreichte, der die Falle markierte, hüpfte sie unauffällig darüber hinweg. Hinter ihr vollführte Iseult denselben fast unmerklichen Sprung.

Jetzt hob der Mann mit dem Schnurrbart – offensichtlich der Anführer – ebenfalls seine Armbrust. »Halt.«

Safi gehorchte und kam schlurfend zum Stehen, wobei sie noch so viel Straße hinter sich brachte wie möglich. »Onga?«, fragte sie, das arithuanische Wort für Ja. Wenn sie schon Bäuerinnen waren, konnten sie auch eingewanderte Bäuerinnen sein.

»Sprecht ihr Dalmotti?«, fragte der Anführer, wobei er erst Safi, dann Iseult ansah.

Ungeschickt hielt Iseult neben Safiya an. »Wir sprechen. Wenig.« Das war der schlimmste Ansatz eines arithuanischen Akzents, den Safiya jemals aus Iseults Mund gehört hatte.

»Habe wir … Schwierigkeiten?« Safi hob die Hände in einer allgemeinen Unterwerfungsgeste. »Wir nur wollen nach Veñaza.«

Iseult hustete übertrieben, und Safi hätte sie am liebsten erwürgt. Kein Wunder, dass Iz immer die Taschendiebin spielte, während Safi für Ablenkung sorgen musste. Ihre Strangschwester war eine schreckliche Schauspielerin.

»Wir wollen Stadtheiler«, erklärte Safi eilig, bevor Iseult noch einmal unglaubwürdig keuchte. »Für Fall, dass sie Pest hat. Unsere Mutter daran gestorben, wisst Ihr, und oooooh, wie sie in diesen letzten Tagen gehustet. So viel Blut …«

»Pest?«, unterbrach sie der Wachmann.

»Oh, ja.« Safi nickte wissend. »Meine Schwester sehr krank.«

Iseult presste ein weiteres Husten hervor, und diesmal war das Geräusch so überzeugend, dass Safi tatsächlich zusammenzuckte und dann zu ihr hinkte. »Oh, du brauchst Heiler. Komm, komm. Lass von deiner Schwester helfen.«

Der Wachmann drehte sich zu seinen Männern um, die Mädchen schon halb vergessen. Er brüllte bereits Befehle. »Zurück ins Glied! Vorwärts marsch!«

Kiesel knirschten, Schritte donnerten auf den Boden. Die Mädchen schlurften weiter, vorbei an Wachen mit gerümpfter Nase. Anscheinend wollte sich niemand Iseults »Pest« einfangen.

Safi zerrte Iseult gerade an der schwarzen Kutsche vorbei, als sich die Tür plötzlich öffnete. Ein runzliger alter Mann lehnte seinen in scharlachrote Seide gekleideten Oberkörper aus der Öffnung. Seine schlaffe Haut schlackerte im Wind.

Es war der Vorsteher der Gold-Gilde, ein Mann namens Yotiluzzi, den Safi schon aus der Ferne gesehen hatte. Und zwar ausgerechnet gestern Abend im Gasthof.

Der alte Gildemeister erkannte Safi offensichtlich nicht. Nach einem flüchtigen Blick hob er seine näselnde Stimme. »Aeduan! Schaff mir diesen fremden Dreck vom Hals!«

Eine weiß gekleidete Gestalt umrundete mit wehendem Umhang die hinteren Räder der Kutsche. Auch wenn sein Gesicht vom Schatten einer Kapuze verborgen wurde, war es unmöglich, das Wehrgehänge voller Messer vor seiner Brust oder das Schwert an seiner Hüfte zu übersehen.

Er war ein Carawen-Mönch, ein Söldner, der von Kindesbeinen an zum Töten ausgebildet worden war.

Safi erstarrte. Ohne nachzudenken ließ sie Iseult los, die sich unauffällig hinter sie schob. Die Wachen würden jeden Moment die Falle der Mädchen erreichen, und das war ihre Angriffsstellung: Verbunden. Vereint.

»Arithuanier«, sagte der Mönch. Seine Stimme war rau, aber nicht wegen seines Alters, sondern wegen mangelnder Nutzung. »Aus welchem Dorf?« Er trat einen Schritt auf Safi zu, und sie musste den Drang unterdrücken zurückzuweichen. Ihre Wahrmagie explodierte förmlich vor Unbehagen – ein raues Gefühl, so als würde ihr jemand die Haut vom Nacken kratzen.

Und es waren nicht seine Worte, die Safis Magie zum Aufflackern brachten. Es war seine bloße Gegenwart. Dieser Mönch war jung, doch irgendetwas an ihm war falsch und skrupellos und zu gefährlich, um ihm jemals zu vertrauen.

Er schob seine Kapuze zurück und enthüllte ein fahles Gesicht und sehr kurze braune Haare. Dann, als der Mönch nah an Safis Kopf die Luft einsog, wirbelte plötzlich Rot in seinen Augen.

Blutmagis.

Dieser Mönch war ein verdammter Blutmagis. Eine Kreatur aus den Mythen; ein Wesen, das das Blut eines anderen wittern, seine Magie riechen konnte – und seiner Zielperson so über ganze Kontinente folgen. Wenn er Safis oder Iseults Witterung aufnahm, steckten sie in tiefen, tiefen …

Bumm-bumm-bumm.

Das Schießpulver in den Feuertöpfen explodierte. Die Wachen hatten die Falle erreicht.

Safi reagierte sofort, genau wie der Mönch. Sein Schwert sauste aus der Scheide, ihr Messer schoss nach oben. Sie traf die Kante seiner Waffe und schlug seine Klinge zur Seite, doch er erholte sich sofort und stürzte sich auf sie. Safi wich zurück. Ihre Unterschenkel stießen gegen Iseult, aber die kniete sich in einer geschmeidigen Bewegung hin, und Safi rollte seitwärts über ihren Rücken.

Verbunden. Vereint. So kämpften die Mädchen. So lebten sie. Nach ihrer Rolle kam Safi wieder auf die Beine und zog das Schwert in dem Moment zurück, in dem sich Iseults Halbmondsicheln hoben. Ein Stück entfernt ertönten weitere Explosionen. Schreie erklangen, die Pferde traten aus und wieherten. Iseult zielte auf die Brust des Mönchs, er sprang nach hinten und auf das Wagenrad. Doch statt des Moments der Ablenkung, mit dem Safi gerechnet hatte, stürzte sich der Mönch nun von oben auf sie.

Er war gut. Der beste Kämpfer, dem sie sich je gestellt hatten.

Aber Safi und Iseult waren besser.

Safi wich zurück, während Iseult in den Weg des Mönchs sprang. In einem Wirbel aus Stahl trafen ihre Sicheln seine Arme, seine Brust, seinen Bauch. Dann zog sie wie ein Tornado an ihm vorbei.

Darauf hatte Safi nur gewartet. Sie hielt nach dem Ausschau, was nicht wahr sein konnte und offenbar doch stimmte: Alle Wunden am Körper des Mönchs heilten vor ihren Augen.

Nun bestand kein Zweifel mehr: Dieser Mönch war ein dreimal verdammter Blutmagis, der direkt Safis dunkelsten Albträumen entsprungen schien. Also tat sie das Einzige, was ihr einfiel: Sie warf ihren Parierdolch direkt auf seine Brust.

Die Klinge durchstieß seinen Rippenbogen und grub sich tief in sein Herz. Er stolperte nach vorne, fiel auf die Knie, und seine roten Augen suchten Safis. Mit gefletschten Zähnen zog er sich knurrend den Dolch aus der Brust. Blut spritzte aus der Wunde …

Und dann begann auch diese Verletzung zu heilen.

Doch Safi blieb keine Zeit für einen weiteren Schlag. Die Wachen machten kehrt. Der Gildemeister schrie in seiner Kutsche, und die Pferde setzten zu einem panischen Galopp an.

Iseult sprang vor Safi. Ihre Sicheln bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit, um zwei Armbrustbolzen aus der Luft zu schlagen. Dann verbarg die fahrende Kutsche die Mädchen für einen Moment vor den Blicken der Wachen. Nur der Blutmagis konnte sie sehen, und auch wenn er nach seinen Messern griff, war er doch zu langsam. Zu erschöpft von der heilenden Magie.

Und trotzdem lächelte er – er lächelte –, als wüsste er etwas, das Safi nicht wusste. Als könnte und würde er sie zur Strecke bringen und zur Rechenschaft ziehen.

»Komm schon!« Iseult riss an Safis Arm und drängte sie zu einem schnellen Sprint in Richtung Klippe.

Zumindest war das hier Teil ihres Plans, und sie hatten das so oft geübt, dass sie es mit geschlossenen Augen konnten.

Gerade als der erste Armbrustbolzen hinter ihnen in die Straße einschlug, erreichten die Mädchen einen hüfthohen Findling auf der Seeseite der Straße.

Sie schoben ihre Klingen in die Scheiden, dann überwand Safi mit zwei schnellen Sprüngen den Felsen, und dasselbe galt für Iseult. Auf der anderen Seite brach die Klippe fast senkrecht zu den donnernden weißen Wellen ab.

Zwei Seile warteten dort auf sie, befestigt an einem Pflock, der tief in die Erde getrieben war. Viel schneller und schwungvoller, als sie es für ihre Flucht je geplant hatten, schnappte sich Safi ihr Seil, schob den Fuß in eine Schlaufe, umklammerte den Knoten auf Kopfhöhe …

Und sprang.

Die Luft sauste in Safis Ohren und drängte in ihre Nase, als sie weit nach vorne sprang … auf die weißen Wellen zu und weg von der zwanzig Meter hohen Klippe …

Bis sie das Ende des Seils erreichte. Mit einem scharfen Ruck, der ihren Körper erschütterte und ihre Hände zum Brennen brachte, schwang sie auf die mit Seepocken überzogene steile Felswand zu.

Das würde wehtun.

Mit einem Knall traf sie auf den Stein und biss sich dabei auf die Zunge. Schmerzen durchfuhren ihren Körper. Der Kalkstein schnitt in Arme, Gesicht, Beine. Sie streckte die Hände aus, um sich am Felsen festzuklammern, genau in dem Moment, in dem Iseult neben ihr gegen die Klippe knallte.

»Brenne«, grunzte Safi. Das Wort, das die Magie des Seils auslöste, ging im Dröhnen der Wellen unter, doch der Befehl tat seine Wirkung. In einem weißen Blitz, der schneller nach oben davonsauste, als ihre Augen ihm folgen konnten, entzündeten sich ihre Seile …

Und zerfielen. Feine Asche wurde im Wind verweht. Ein paar Flocken landeten auf den Kopftüchern und Schultern der Mädchen.

»Armbrustbolzen!«, brüllte Iseult und presste sich so eng wie möglich gegen den Stein, als die Geschosse an ihnen vorbeisausten. Einige trafen die Felsen, andere versanken in den Wellen, einer durchschlug Safis Rock. Dann schaffte sie es, auch ihre Zehenspitzen in zwei Spalten zu vergraben, sich einen besseren Halt zu suchen und seitwärts zu klettern. Ihre Muskeln zitterten, bis sie und Iseult es endlich schafften, sich unter einen kleinen Vorsprung zu ducken. Bis sie endlich innehalten konnte, während die Geschosse harmlos an ihnen vorbeisausten.

Die Felsen waren feucht, die Seepocken scharf, und Wasser schwappte über die Knöchel der Mädchen. Salzige Tropfen, die sie wieder und wieder trafen, bis der Pfeilhagel schließlich endete.

»Kommen sie?«, keuchte Safi in Iseults Richtung.

Iseult schüttelte den Kopf. »Aber sie sind noch da. Ich kann ihre Stränge warten fühlen.«

Safi blinzelte, um das Salz aus ihren Augen zu vertreiben. »Wir werden schwimmen müssen, oder?« Sie rieb sich das Gesicht an der Schulter, doch das half auch nichts. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Leuchtturm?«

Beide Mädchen waren gute Schwimmerinnen, aber das spielte bei diesen Wellen, die sogar einen Delfin ertränken konnten, keine große Rolle.

»Uns bleibt keine andere Wahl«, antwortete Iseult. Sie sah Safi an, und in ihren Augen stand diese Wildheit, aus der Safi immer so viel Kraft zog. »Hier können sie uns nicht treffen, aber wenn wir im Wasser sind, sieht es anders aus. Wir können unsere Röcke nach links werfen, und während die Wachen darauf zielen, tauchen wir rechts ab.«

Safi nickte, dann drehte sie mit einer Grimasse ihren Körper so, dass sie den Rock ausziehen konnte. Sobald beide Mädchen ihre braunen Röcke gelöst hatten, riss Iseult einen Arm zurück.

»Bereit?«

»Bereit.« Safi warf. Der Rock flog unter dem Vorsprung heraus, dicht gefolgt von Iseults.

Dann ließen beide Mädchen die Felsen los und tauchten in die Wellen.

Während Iseult det Midenzi sich von ihrer durchweichten Tunika, den Stiefeln und schließlich ihrer Unterwäsche befreite, tat ihr gesamter Körper weh. Jede Kleidungsschicht, die sie ablegte, enthüllte zehn neue Kratzer von Kalksteinsplittern und Seepocken, und jede Gischtwolke, die durch zerstörte Fenster hereindrang, ließ sie zehn weitere spüren.

Dieser uralte, verfallene Leuchtturm war ein perfektes Versteck, doch bis zur Ebbe konnten sie nicht von hier entkommen. Im Moment ging das Wasser draußen Iseult mindestens bis zur Brust, und diese Tatsache würde gemeinsam mit den tosenden Wellen zwischen hier und der sumpfigen Küste den Blutmagis hoffentlich davon abhalten, ihnen zu folgen.

Der Innenraum des Leuchtturms war kaum geräumiger als Iseults Speicherzimmer über Mathews Kaffeestube. Sonnenlicht drang durch die mit Algen verklebten Fenster, und der Wind trieb die aufgepeitschte Gischt durch die offene Tür.

»Es tut mir leid«, sagte Safi. Ihre Stimme klang gedämpft, weil sie sich gerade ihre nasse Tunika über den Kopf zog. Dann hatte sie sich von dem Kleidungsstück befreit und warf es über eine Fensterbank. Trotz ihrer Sommersprossen und der gebräunten Haut wirkte sie bleich.

»Entschuldige dich nicht.« Iseult sammelte ihre eigene Kleidung ein. »Ich bin schließlich diejenige, die dir überhaupt von diesem Kartenspiel erzählt hat.«

»Das ist wahr«, antwortete Safi mit zitternder Stimme. Sie sprang auf einem Fuß durchs Zimmer und versuchte, sich die Hose auszuziehen, während sie ihre Stiefel noch trug. Das tat sie immer. Iseult war jedes Mal wieder fassungslos, dass eine Achtzehnjährige immer noch zu ungeduldig sein konnte, um sich ordentlich auszuziehen. »Aber«, fügte Safi hinzu, »ich bin diejenige, die eine bessere Unterkunft wollte. Hätten wir einfach vor zwei Wochen diese Wohnung gekauft …«

»Würden wir jetzt mit Ratten zusammenleben«, unterbrach sie Iseult. Sie schlurfte zu einer trockenen, sonnenbeschienen Stelle des Bodens. »Du hattest recht damit, etwas anderes zu wollen. So etwas kostet mehr, aber das wäre es wert gewesen.«

»Wäre gewesen dürften hier die Schlüsselwörter sein.« Mit einem lauten Grunzen gelang es Safi endlich, sich von ihrer Hose zu befreien. »Jetzt wird es keine eigene Wohnung mehr geben, Iz. Ich wette, jeder Wachmann in Veñaza sucht nach uns. Gar nicht zu reden von …« Für einen Moment starrte Safi auf ihre Stiefel. Dann riss sie sich in einer schnellen Bewegung den ersten Schuh vom Fuß. »Genauso wie der Blutmagis.«

Blut. Magis. Blut. Magis. Die Worte pulsierten im Takt ihres Herzens durch Iseults Körper, im Rhythmus ihres Bluts.

Iseult hatte noch nie einen Blutmagis gesehen, oder irgendwen, dessen Magie der Finsternis entsprang. Finstermagi gab es schließlich nur in unheimlichen Geschichten. Sie waren nicht real. Sie bewachten keine Gildemeister und versuchten auch nicht, einen mit Schwertern aufzuschlitzen.

Iseult wrang ihre Hose aus und legte sie über ein Fensterbrett, bevor sie zu einer Ledertasche im hinteren Teil des Leuchtturms schlurfte. Sie und Safi versteckten hier vor jedem Beutezug eine Notfalltasche, nur für den Fall, dass es zum Schlimmsten kam.

Nicht dass sie schon viele Beutezüge durchgezogen hätten. Nur hin und wieder. Und natürlich ging es immer gegen zwielichtige Gestalten, die es nicht anders verdient hatten.

Wie diese zwei Lehrlinge, die eine von Gildemeister Alix’ Seidenlieferungen ruiniert und dann versucht hatten, die Sache Safi in die Schuhe zu schieben.

Oder diese Schlägertypen, die in Mathews Abwesenheit seinen Laden aufgebrochen und das Silberbesteck gestohlen hatten.

Und dann hatte es da die vier Gelegenheiten gegeben, als Safis Taro-Spiele in Schlägereien und verschwundenen Münzen geendet hatten. Natürlich hatte das nach Gerechtigkeit verlangt, ganz abgesehen von der Rückgewinnung gestohlenen Eigentums.

Die heutige Begegnung war allerdings der erste Anlass, zu dem die Freundinnen diese Notfalltasche tatsächlich brauchten.

Iseult grub sich durch die Wechselkleidung und fand unter einer Wasserflasche schließlich zwei Lappen und eine Dose Fettcreme. Sie griff nach den Waffen, die sie zur Seite gelegt hatten, und stampfte mit allem im Arm zurück zu Safi. »Lass uns unsere Klingen säubern und einen Plan zurechtlegen. Irgendwie müssen wir ja wieder in die Stadt kommen.«

Safi zog auch noch den zweiten Stiefel aus, bevor sie ihr Schwert und das Pariermesser entgegennahm. Beide Mädchen setzten sich im Schneidersitz auf den rauen Boden, und Iseult versank im vertrauten Geruch des Schmierfetts und in den sorgfältigen Bewegungen, mit denen sie ihre Sicheln reinigten.

»Wie haben die Stränge des Blutmagis ausgesehen?«, fragte Safi leise.

»Ist mir nicht aufgefallen«, murmelte Iseult. »Alles ging so schnell.« Sie rieb ihr Tuch fester über den Stahl, um die wunderschönen Marstoki-Klingen – Geschenke von Mathews Herzstrang Habim – vor Rost zu schützen.

Schweigen breitete sich in der steinernen Ruine aus. Die einzigen Geräusche waren das Quietschen von Stoff auf Stahl und das unendliche Rauschen der Wellen der Jadansi-See.

Iseult wusste, dass sie ungerührt wirkte, während sie ihre Waffen säuberte, doch gleichzeitig war sie sich vollkommen sicher, dass sich ihre Stränge in denselben verängstigten Farben wanden wie die von Safi.

Iseult war allerdings eine Strangmagis, was bedeutete, dass sie ihre eigenen Stränge nicht sehen konnte, und auch nicht die anderer Strangmagi. Als ihre Magie im Alter von neun Jahren erwacht war, hatte sich Iseults Herz angefühlt, als müsste es zu Staub zerfallen. Als würde es unter dem Gewicht von Millionen Strängen zerquetscht, von denen kein einziger ihr gehörte. Überall, wo sie hinsah, erkannte sie die Stränge der Menschen. Sie sah, wie sie sich zwischen Leuten bildeten und wie sie brachen. Sah die Bildestränge, Bindestränge und Bruchstränge, die zum Leben gehörten. Und doch konnte sie niemals ihre eigenen Stränge sehen oder erkennen, wie sie sich ins Gewebe der Welt einfügte.

Und so hatte Iseult wie jede Nomatsi-Strangmagis gelernt, ihren Körper kühl zu halten, wenn er heiß sein sollte. Ihre Finger still zu halten, wenn sie zittern wollten. Die Gefühle zu ignorieren, die alle anderen antrieben.

»Ich glaube«, sagte Safi und durchbrach damit Iseults Gedanken, »dass der Blutmagis weiß, dass ich eine Wahrmagis bin.«

Iseult stoppte für einen Moment ihre Polierbewegung. »Wieso solltest du das glauben?« Ihre Stimme war so ausdruckslos wie der Stahl unter ihren Fingern.

»Wegen der Art, wie er mich angelächelt hat.« Safi schüttelte sich. »Er hat meine Magie gewittert, genau wie es in den Geschichten beschrieben wird. Und jetzt kann er mich jagen.«

»Was bedeutet, dass er uns schon jetzt im Moment verfolgen könnte.« Iseult lief ein kalter Schauder über den Rücken, und ihre Schultern verspannten sich, doch sie schrubbte ihre Klingen nur umso fester.

Normalerweise half ihr das Reinigen ihrer Waffen dabei, ihr Gleichgewicht zu finden. Half ihren Gedanken, sich zu beruhigen. Half ihrer praktischen Veranlagung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Sie war die Taktikerin, während Safi diejenige war, die als Erste die Ideen hatte.

Verbunden. Vereint.

Nur dass Iseult im Moment keine Lösung für ihr Problem einfiel. Sie und Safi konnten sich ein paar Wochen lang verstecken und den Stadtwachen aus dem Weg gehen … doch vor einem Blutmagis gab es kein Verbergen.

Besonders, wenn dieser Blutmagis wusste, was Safi war und sie an den höchsten Bieter verkaufen konnte.

Wenn eine Person direkt vor Safi stand, konnte die junge Frau Wahrheit von Lüge unterscheiden, Ehrlichkeit von Täuschung. Und soweit Iseult es in ihren Unterrichtsstunden bei Mathew gelernt hatte, war die letzte bekannte Wahrmagis vor mehr als einem Jahrhundert gestorben – geköpft von einem marstokischen Kaiser, weil sie sich mit einer cartorrischen Königin verbündet hatte.

Falls Safis Magie jemals öffentlich bekannt wurde, würde man sie als politisches Werkzeug einsetzen …

Oder als politische Bedrohung eliminieren: So wertvoll und selten war Safis Macht. Und deswegen hatte Safi ihre Magie ihr gesamtes Leben über geheim gehalten. Wie Iseult war auch sie eine Ketzerin: eine unregistrierte Magis. Ihr rechter Handrücken war makellos; kein eintätowiertes Magismal verkündete die Art ihrer Begabung. Und doch würde eines Tages jemand anders als Safis engste Freunde herausfinden, welche Magie sie besaß. Und wenn dieser Tag kam, würden Soldaten das Gästezimmer des Gildemeisters stürmen und Safi in Ketten wegschleppen.

Kurz darauf steckten die Klingen der Mädchen wieder gereinigt in ihren Scheiden, und Safi bedachte Iseult mit einem ihrer härteren, nachdenklicheren Blicke.

»Spuck es aus«, befahl Iseult.

»Wir müssen vielleicht aus der Stadt fliehen, Iz. Das Dalmottische Reich ganz verlassen.«

Iseult presste die salzverkrusteten Lippen aufeinander und bemühte sich, nicht die Stirn zu runzeln. Bemühte sich, nichts zu empfinden.

Der Gedanke, Veñaza zu verlassen … Iseult konnte sich das einfach nicht vorstellen. Die Hauptstadt des Dalmottischen Reiches war ihr Zuhause. Die Leute im nördlichen Hafenviertel bemerkten ihre fahle Nomatsi-Haut oder ihre schmalen Nomatsi-Augen nicht mehr.

Und es hatte sie sechseinhalb Jahre gekostet, sich diese Ruhe zu erkämpfen.

»Für den Moment«, sagte Iseult leise, »sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir ungesehen in die Stadt zurückkehren können. Und lass uns außerdem beten, dass der Blutmagis nicht wirklich dein Blut gewittert hat.« Oder deine Magie.

Safi stieß ein erschöpftes Seufzen aus und kauerte sich in einen Sonnenfleck. Das Licht brachte ihre Haut zum Glühen und ließ ihre Haare fast durchsichtig erscheinen. »Zu wem soll ich beten?«

Iseult kratzte sich an der Nase, dankbar über den Themenwechsel. »Wir wären fast von einem Carawen-Mönch umgebracht worden, also warum betest du nicht zu den Ursprungsquellen?«

Safi schüttelte sich. »Wenn dieser Kerl die Ursprungsquellen anruft, dann will ich das auf keinen Fall tun. Wie wäre es mit diesem nubrevnanischen Gott? Wie hieß er noch mal?«

»Noden.«

»Den meine ich.« Safi verschränkte die Finger vor der Brust und starrte zur Decke. »Noden, Gott der nubrevnanischen Wellen …«

»Ich glaube, er herrscht über alle Wellen, Safi. Und auch über alles andere.«

Safi verdrehte die Augen. »Gott aller Wellen und auch des Rests der Welt, könntest du bitte dafür sorgen, dass niemand uns verfolgt? Besonders nicht … er. Halte ihn einfach weit entfernt. Und falls du auch die Stadtwachen von Veñaza fernhalten könntest, wäre das sehr nett.«

»Das ist mit Abstand das schlechteste Gebet, das ich je gehört habe«, verkündete Iseult.

»Sollen doch Wiesel auf dich pinkeln, Iz. Ich bin noch nicht fertig.« Safi seufzte tief und nahm ihr Gebet wieder auf. »Bitte bring mir mein gesamtes Geld zurück, bevor Mathew oder Habim von ihrer Reise zurückkehren. Und … das wäre alles. Vielen Dank, o heiliger Noden.« Dann fügte sie hastig hinzu. »Oh, und bitte sorg dafür, dass der charmante Schwindler genau das bekommt, was er verdient hat.«

Bei dieser letzten Bitte hätte Iseult fast laut aufgelacht, nur dass genau in diesem Moment eine heftige Welle den Leuchtturm traf. Wasser spritzte Iseult ins Gesicht, und aufgewühlt wischte sie die Tropfen weg. Sie war erhitzt und durcheinander statt kühl und kontrolliert.

»Bitte, Noden«, flüsterte sie, während sie sich die Gischt von der Stirn rieb. »Bitte, lass uns diese Geschichte überleben.«

Die Kaffeestube von Mathew zu erreichen, wo Iseult lebte, entpuppte sich als schwerer, als Safi erwartet hatte. Sie waren erschöpft, hungrig und zerkratzt bis zu den Höllenflammen, also sorgte schon das bloße Gehen dafür, dass Safi am liebsten aufgestöhnt hätte. Oder sich zumindest danach sehnte, ihre Schmerzen mit einem heißen Bad und Gebäck zu mildern.

Aber es würde in nächster Zeit keine Bäder und kein Gebäck geben. Wachen drängten sich überall in Veñaza, und als die Mädchen schließlich das nördliche Hafenviertel erreichten, stand der Sonnenaufgang kurz bevor. Sie hatten die halbe Nacht damit verbracht, mit trübem Blick vom Leuchtturm zur Hauptstadt zu wandern, und dann die andere Hälfte damit, durch Gassen zu schleichen und über Mauern in Küchengärten zu klettern.

Jedes Aufblitzen von Weiß – jedes aufgehängte Stück Wäsche, jedes zerrissene Stück Segeltuch und jeder flatternde Vorhang – hatte Safi das Herz in die Hose rutschen lassen. Doch es war nie der Blutmagis gewesen, den Göttern sei gedankt. Und gerade als die Sonne über den Horizont stieg, tauchte das Schild von Mathews Kaffeestube vor ihnen auf. Es ragte aus einer schmalen Straße heraus, die von der breiten Hauptstraße zum Hafen abging.

ECHTER MARSTOKISCHER KAFFEEDER BESTE IN VEÑAZA

In Wahrheit war es kein echter marstokischer Kaffee, denn Mathew stammte nicht einmal aus dem Marstokischen Reich. Stattdessen war der Kaffee gefiltert und nichtssagend, um sich an die, wie Habim es immer nannte, »abgestumpften westlichen Gaumen« anzupassen.

Außerdem war Mathews Kaffee nicht der beste in der Stadt. Selbst Mathew hätte zugegeben, dass der heruntergekommene Laden im südlichen Hafenviertel viel besseren Kaffee verkaufte. Doch hier in der nördlichen Ecke der Hauptstadt kamen die Leute nicht wegen des Kaffees. Sie kamen, um Geschäfte zu machen, und zwar die Art von Geschäften, in denen sich Wortmagi wie Mathew hervortaten. Es ging um den Handel mit Gerüchten und Geheimnissen, die Planung von Raubzügen und Betrügereien. Er führte Kaffeestuben überall in den Magislanden, und Neuigkeiten über irgendwas drangen immer zuerst an Mathews Ohren.

Es war seine Wortmagie, die Mathew zur besten Wahl als Safis Lehrer gemacht hatte – nachdem sie ihm erlaubt hatte, in allen Sprachen zu sprechen.

Noch wichtiger war allerdings, dass Mathews Herzstrang Habim sein gesamtes Leben lang für Safis Onkel gearbeitet hatte, sowohl als Soldat als auch als ständig unzufriedener Ausbilder. Als Safi also nach Süden geschickt worden war, erschien es einfach sinnvoll, dass Mathew dort weitermachte, wo Habim aufgehört hatte.

Nicht dass Habim Safis Training vollkommen aufgegeben hätte. Er besuchte seinen Herzstrang oft in Veñaza und beschäftigte sich dann damit, Safi das Leben mit zusätzlichen Stunden Geschwindigkeitstraining oder der Lehre alter Kriegstaktiken schwer zu machen.

Safi erreichte die Kaffeestube als Erste. Nachdem sie über eine dreckige Pfütze gesprungen war, die eine beängstigend orange Färbung aufwies, begann sie, auf den Schlosszauber an der Eingangstür zu tippen: neu installiert nach dem Vorfall mit dem gestohlenen Besteck. Habim konnte sich bei Mathew noch so sehr über die Kosten des aethermagischen Schlosszaubers beschweren, soweit es Safi anging, war er das Geld wert. Veñaza hatte eine üble Verbrechensrate. Zum einen, weil es eine Hafenstadt war, und zum anderen, weil reiche Gildemeister einfach eine unglaubliche Anziehung auf piestrahungriges Gesindel ausübten.

Natürlich waren es genau dieselben gewählten Gildemeister, die für eine scheinbar endlose Anzahl von Stadtwachen bezahlten – von denen eine gerade am Ende der Nebenstraße anhielt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen und ließ seinen Blick über die vertäuten Schiffe des nördlichen Hafens gleiten.

»Schneller«, murmelte Iseult. Sie pikte Safi in den Rücken. »Der Wachmann dreht sich … dreht sich …«

Die Tür flog auf, Iseult schubste, und Safi flog in den dunklen Laden.

»Was zum liebestollen Frettchen?«, zischte sie und wirbelte zu Iseult herum. »Die Wachen in dieser Gegend kennen uns!«

»Genau«, hielt Iseult dagegen, wobei sie die Tür schloss und verriegelte. »Aber aus der Ferne sehen wir aus wie zwei Bäuerinnen, die in eine verschlossene Kaffeestube einbrechen.«

Unwillig murmelte Safi: »Stimmt«, während Iseult einen Schritt vortrat und murmelte: »Licht.«

Sofort flammten sechsundzwanzig verzauberte Dochte auf und enthüllten farbenfrohe, gewundene Marstoki-Muster an Wänden, Decke und Boden. Es wirkte übertrieben – zu viele Teppiche mit verschiedenen Mustern – aber wie beim Kaffee hatten Westländler eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein marstokischer Laden aussehen sollte.

Mit dem Seufzen von jemandem, der endlich wieder frei atmen kann, stiefelte Iseult zu der Wendeltreppe in der hintersten Ecke der Stube. Safi folgte ihr. Sie stiegen nach oben, zuerst vom Erdgeschoss in den ersten Stock, wo Mathew und Habim lebten, dann auf den Speicher unter den Dachschrägen, den Iseult ihr Zuhause nannte. Der enge Raum wirkte mit zwei Feldbetten und einem Schrank überfüllt.

Schon seit sechseinhalb Jahren hatte Iseult hier gelebt, gelernt und gearbeitet. Nachdem sie aus ihrem Stamm geflohen war, war Mathew der einzige Arbeitgeber gewesen, der bereit war, eine Nomatsi anzustellen und zu beherbergen. Seitdem war Iseult nicht ausgezogen – allerdings nicht, weil sie es nicht gewollt hätte.

Ein Ort ganz für mich.

Safi musste ihre Strangschwester das tausend Mal sagen gehört haben. Hunderttausend Male. Und vielleicht hätte sich Safi, wenn sie damit aufgewachsen wäre, ein Bett in einer Hütte mit nur einem Raum mit ihrer Mutter teilen zu müssen, ebenfalls eine größere, abgeschiedenere, persönlichere Unterkunft gewünscht.

Und doch hatte Safi Iseults gesamte Pläne ruiniert. Jede gesparte Piestra war weg, und alle Stadtwachen von Veñaza befanden sich auf der Jagd nach ihnen. Das war das schlimmste Katastrophenszenario, das man sich nur vorstellen konnte, und kein Notfallbündel oder Versteck in einem Leuchtturm würde ihnen aus diesem Schlamassel heraushelfen.

Safi bemühte sich, ihre Übelkeit zu unterdrücken, stolperte zu einem Fenster am anderen Ende des schmalen Raums und schob es auf. Heiße, nach Fisch riechende Luft drang herein, vertraut und beruhigend. Die Sonne, die im Osten aufging, ließ die Lehmdächer von Veñaza leuchten wie orangefarbene Flammen.

Es war wunderschön und friedlich. Götter, Safi liebte diesen Anblick. Aufgewachsen in zugigen Ruinen mitten in den Orhin-Bergen und eingesperrt im östlichen Flügel, wann immer Onkel Eron sich seinen Launen hingab, hatte Safis Leben in der Hasstrel-Burg aus zerbrochenen Fenstern und eindringendem Schnee bestanden, aus eiskalten Winden und dunklem, schleimigem Schimmel. Überall, wo sie hinsah, landete ihr Blick immer auf Schnitzereien oder Gemälden oder Teppichen, auf denen die Hasstrel-Bergfledermaus abgebildet war. Eine groteske, drachenartige Kreatur, die ein Banner mit dem Motto »Liebe und Furcht« in den Krallen hielt.

Aber die Brücken und Kanäle von Veñaza brannten immer in der Sonne und rochen wunderbar nach verfaultem Fisch. Mathews Kaffeestube war immer hell und voller Leben, die Docks immer erfüllt von den wunderbar anstößigen Flüchen der Matrosen.

Hier empfand Safi Wärme. Hier fühlte sie sich willkommen und manchmal sogar erwünscht.

Safi räusperte sich. Sie löste ihre Hand vom Riegel, und als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Iseult gerade ein olivgrünes Kleid anzog.

Ihre Strangschwester steckte den Kopf tiefer in den Schrank. »Du kannst mein zweites Tageskleid tragen.«

»Dann sieht man allerdings die hier.« Safi rollte einen salzverkrusteten Ärmel nach oben, um den Blick auf die Kratzer und blauen Flecken freizugeben, die ihren Arm überzogen. Unter den kurzen, der aktuellen Mode entsprechenden Ärmeln wären sie gut zu sehen.

»Dann hast du ja Glück, dass ich immer noch …« Iseult zog zwei kurze schwarze Jacken aus dem Schrank, »die hier habe!«

Safis Mundwinkel zuckten. Diese Jacken gehörten zur Standardausrüstung aller Gildenlehrlinge, und diese beiden speziellen Jacken waren Trophäen vom ersten Überfall der Mädchen.

»Ich vertrete immer noch die Meinung«, verkündete Safi, »dass wir ihnen mehr hätten abnehmen sollen als nur ihre Jacken, als wir sie gefesselt in diesem Lagerraum zurückgelassen haben.«

»Ja, nun. Wenn jemand das nächste Mal eine ganze Schiffsladung Seide ruiniert und dir die Schuld in die Schuhe schieben will, Saf, verspreche ich, dass wir ihnen mehr nehmen als nur ihre Jacken.« Iseult warf Safi den schwarzen Wollstoff zu, und sie fing das Kleidungsstück aus der Luft.

Während sie sich hastig die Kleidung vom Körper riss, setzte sich Iseult mit schiefer Miene auf den Rand ihres Bettes. »Ich habe nachgedacht«, setzte sie ruhig an. »Wenn dieser Blutmagis wirklich hinter uns her ist, dann könnte dich der Seiden-Gildemeister vielleicht beschützen. Schließlich ist er technisch gesehen dein Vormund, und du lebst in seinem Gästezimmer.«

»Ich glaube nicht, dass er einem Flüchtling Unterschlupf gewähren wird.« Safi zog eine angespannte Grimasse. »Außerdem wäre es nicht richtig, Gildemeister Alix mit in diese Sache hineinzuziehen. Er war immer nett zu mir. Ich würde ihm das nur ungern mit Ärger vergelten.«

»In Ordnung«, sagte Iseult, die Miene unbewegt. »Mein nächster Plan hat mit den Höllebarden zu tun. Die Gardisten sind für den Waffenstillstandskongress in der Stadt, nicht wahr? Um das Cartorrische Reich zu beschützen? Vielleicht könntest du dich an sie wenden, nachdem dein Onkel schließlich einmal ein Höllebarde war … und ich davon ausgehe, das nicht mal Dalmotti-Wachen dumm genug wären, sich mit einem Höllebarden anzulegen.«

Bei diesem Vorschlag verzog Safi das Gesicht nur noch mehr. »Onkel Eron wurde unehrenhaft aus den Höllebarden entlassen, Iz. Die gesamte Höllebarden-Brigade hasst ihn jetzt, und Kaiser Henrick sogar noch mehr.« Sie schnaubte abfällig, und das Geräusch schien von den Wänden und in ihrem Bauch widerzuhallen. »Und um alles noch schlimmer zu machen, sucht der Kaiser nur nach einer Ausrede, meinen Titel auf einen seiner schleimigen Speichellecker zu übertragen. Ich bin mir sicher, der Überfall auf einen Gildemeister reicht ihm als Grund.«

Den Großteil von Safis Kindheit über hatte ihr Onkel sie ausgebildet wie einen Soldaten, und er hatte sie auch so behandelt – zumindest, wenn er nüchtern genug gewesen war, um sie überhaupt zu beachten. Doch als Safi zwölf geworden war, hatte Kaiser Henrick beschlossen, dass es Zeit wurde, dass sie für ihre Erziehung in die cartorrische Hauptstadt kam. Was weiß sie davon, wie man Bauern Anweisungen erteilt oder eine Ernte organisiert?, hatte Henrick ihren Onkel Eron angeschrien, während Safi klein und stumm hinter ihm gestanden hatte. Welche Erfahrung hat Safiya darin, einen Haushalt zu führen oder den Zehnten zu zahlen?

Es war dieser letzte Punkt – die Zahlung der unverschämten cartorrischen Steuern –, der Kaiser Henrick am meisten Sorge bereitete. Nachdem er den gesamten Adel um seine vor Ringen starrenden Finger gewickelt hatte, wollte er sichergehen, dass auch Safi gefangen war.

Aber Henricks Versuch, sich eine weitere loyale Domna zu sichern, war in die Binsen gegangen. Denn Onkel Eron hatte Safi nicht in die Hauptstadt gebracht, um mit allen anderen jungen Adligen in Praga ausgebildet zu werden. Stattdessen hatte Eron sie nach Süden geschickt, zu den Gildemeistern und Ausbildern von Veñaza.

Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass Safi ihrem Onkel gegenüber je so etwas wie Dankbarkeit empfunden hatte.

»In diesem Fall«, erklärte Iseult entschlossen, obwohl gleichzeitig ihre Schultern nach unten sanken, »werden wir die Stadt verlassen müssen. Wir können uns … irgendwo verstecken, bis der Sturm vorübergezogen ist.«

Safi biss sich auf die Lippen. Bei Iseult klang es so einfach, sich »irgendwo zu verstecken«. Aber in der Realität machte Iseults klar erkenntliche Nomatsi-Abstammung sie überall zu einem Angriffsziel.

Das einzige Mal, als die Mädchen versucht hatten, Veñaza zu verlassen, um eine Freundin in der Nähe zu besuchen, hatten sie es kaum zurück nach Hause geschafft.

Natürlich hatten die drei Männer in der Taverne, die beschlossen hatten, Iseult anzugreifen, ihr Zuhause nicht so schnell wiedergesehen. Zumindest nicht mit intakten Oberschenkelknochen.

Safi stampfte zum Schrank und riss die Tür auf, wobei sie sich einredete, der Griff wäre die Nase des charmanten Schwindlers. Wenn sie diesen Mistkerl jemals wiedersah, würde sie ihm jeden Knochen in seinem verdorbenen Körper brechen.

»Die beste Chance«, fuhr Iseult fort, »dürften wir im südlichen Hafenviertel haben. Dort ankern die dalmottischen Handelsschiffe. Vielleicht gelingt es uns, eine Überfahrt gegen unsere Arbeitskraft zu tauschen. Brauchst du noch was aus dem Haus von Gildemeister Alix?«

Nach Safis Kopfschütteln sprach Iseult weiter. »Gut. Dann lassen wir Nachrichten für Habim und Mathew zurück, in denen wir alles erklären. Und dann, nehme ich an, werden wir … verschwinden.«

Safi zog schweigend ein goldenes Kleid aus dem Schrank. Ihre Kehle war zu eng, um etwas zu sagen, ihr Magen zu verkrampft.

Und als Safi gerade damit beschäftigt war, zehn Millionen hölzerne Knöpfe zu schließen und Iseult sich gerade ein hellgraues Tuch um den Kopf band, hallte ein hartes Klopfen durchs Haus.

»Stadtwache von Veñaza!«, erklang eine gedämpfte Stimme. »Öffnet! Wir haben euch einbrechen sehen!«

Iseult seufzte – ein leidvolles Geräusch.

»Ich weiß«, knurrte Safi, als sie den letzten Knopf in die Öse schob. »Du hast es mir gesagt.«

»Solange du dir dessen nur bewusst bist.«

»Als würdest du mich das je vergessen lassen?«

Iseults Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war ein jämmerlicher Versuch, und Safi brauchte ihre Wahrmagie nicht, um das zu erkennen.

Als sich die Mädchen ihre kratzenden Lehrlingsjacken überzogen, schrie der Wachmann wieder. »Öffnet! Es gibt nur einen Weg aus dieser Stube heraus!«

»Stimmt nicht«, befand Safi.

»Wir werden nicht zögern, Gewalt anzuwenden!«

»Genauso wenig wie wir.« Auf ein Nicken ihrer Strangschwester hin kam Safi zu Iseults Bett. Zusammen schoben sie die Liege zur Tür. Hölzerne Beine ächzten, und schon bald hatten sie es auf die Seite gelegt, um eine Barrikade zu bilden, von der sie wussten, dass sie funktionierte – es war nicht das erste Mal, dass Safi und Iseult gezwungen waren, sich aus dem Haus zu stehlen.

Allerdings waren es immer Mathew oder Habim gewesen, die auf der anderen Seite der Tür geschrien hatten. Keine bewaffneten Wachen.

Augenblicke später standen Safi und Iseult schnell atmend am Fenster und lauschten, als die Eingangstür nach innen aufgedrückt wurde. Der gesamte Laden erzitterte, Glas zersprang.

Safi zuckte zusammen, bevor sie aufs Dach kletterte. Zuerst hatte sie all ihr Geld verloren, und jetzt hatte sie auch noch Mathews Kaffeestube zerstört. Vielleicht … vielleicht war es sogar gut, dass ihre Ausbilder momentan geschäftlich die Stadt verlassen hatten. Zumindest würden sie sich in nächster Zeit weder Mathew noch Habim stellen müssen.

Iseult kletterte neben Safi aufs Dach, und das Notfallbündel auf ihrem Rücken beulte sich vor Vorräten. Iseults Waffen passten in die Schenkelscheiden unter ihrem Kleid, aber Safi konnte nur ihr Pariermesser in den Stiefel stecken. Ihr Schwert – ihr wunderschönes Schwert aus gefälteltem Stahl – musste zurückbleiben.

»Wohin?«, fragte Safi, weil sie wusste, dass hinter den glitzernden Augen ihrer Strangschwester bereits eine Route existierte.

»Wir werden uns zuerst landeinwärts bewegen, als hielten wir auf das Haus von Gildemeister Alix zu, dann biegen wir nach Süden ab.«

»Über die Dächer?«

»So lange wir können. Du führst.«

Safi nickte kurz, bevor sie losrannte, nach Westen, auf das Herz von Veñaza zu. Als sie den Rand von Mathews Dach erreichte, sprang sie auf das nächste schräge, schindelgedeckte Dach.

Sie knallte auf die Oberfläche. Tauben stiegen auf, schlugen wild mit den Flügeln, um ihr auszuweichen, dann landete Iseult hinter ihr.

Aber Safi bewegte sich bereits wieder, flog auch schon auf das nächste Dach zu. Und dann aufs nächste, und auf nächste, und so weiter, Iseult immer hinter sich.

Iseult schlich durch die gepflasterten Straßen, Safi zwei Schritte vor sich. Die Mädchen hatten sich erst landeinwärts gehalten, hatten Kanäle überquert und Haken über Brücken geschlagen, um den Stadtwachen auszuweichen. Glücklicherweise hatte inzwischen der Morgenverkehr eingesetzt, eine wimmelnde Masse aus mit Früchten beladenen Karren, Eseln, Ziegen und Leuten aller Rassen und Nationalitäten. Stränge, die farblich genauso vielfältig waren wie die Hautfarben ihrer Besitzer, wanden sich träge in der Hitze.

Safi sprang vor einen Schweinekarren, sodass Iseult sich beeilen musste, ihr zu folgen. Dann ging es um einen Bettler herum, vorbei an einer Gruppe Puristen, die etwas über die Sünden der Magie schrien, und dann direkt durch eine Herde unzufriedener Schafe. Schließlich stießen die Mädchen auf eine verstopfte Straße, in der sich nichts mehr bewegte. Vor ihnen wirbelten Stränge in hellem, genervtem Rot. Iseult stellte sich vor, dass ihre eigenen Stränge dasselbe Rot zeigten. Die Mädchen waren dem südlichen Hafenviertel bereits so nah, dass Iseult sogar schon die vielen vertäuten Schiffe mit weißen Segeln vor sich sehen konnte.

Doch sie hieß die Frustration willkommen. Andere Gefühle, die sie nicht benennen wollte und die keine anständige Strangmagis je an die Oberfläche dringen lassen würde, zitterten in ihrer Brust. Ruhe, erklärte sie sich, genau wie ihre Mutter es sie vor Jahren gelehrt hatte, Ruhe in Fingerspitzen und Zehen.

Bald schon flackerten die Stränge im Verkehr vor ihnen in blaugrünem Verständnis. Die Farbe verbreitete sich nach hinten, wie eine Schlange über einen Tümpel glitt. So als ob die Menge nach und nach verstünde, was der Grund für den Stau war.

Weiter und weiter schob sich die Farbe nach hinten, bis eine alte Vettel in der Nähe der Mädchen krächzte: »Was? Eine Straßensperre vor uns? Aber dann bekomme ich keine frischen Krabben mehr!«

Iseult wurde eiskalt, und Safis Stränge glänzten in angsterfülltem Dunkelgrau.

»Höllentore«, zischte sie. »Was jetzt, Iz?«

»Noch mehr Dreistigkeit, denke ich.« Mit einem Grunzen und einer Gewichtsverlagerung fischte Iseult ein dickes graues Buch aus ihrem Bündel. »Mit zwei Büchern in den Händen werden wir aussehen wie zwei sehr wissbegierige Lehrlinge. Du kannst Eine kurze Geschichte der Autonomie von Dalmotti haben.«

»Kurze Geschichte am Kamelhintern«, murmelte Safi, als sie das riesige Buch entgegennahm. Als Nächstes zog Iseult ein in blaues Leder gebundenes Buch mit dem Titel Ein Leitfaden über das Carawen-Kloster heraus.

»Oh, jetzt verstehe ich, warum du das dabeihast.« Safi zog die Augenbrauen hoch, als wolle sie Iseult herausfordern, ihr zu widersprechen. »Die dienen überhaupt nicht der Verkleidung. Du wollest nur einfach deine Lieblingsbücher nicht zurücklassen.«

»Und?« Iseult schnaubte herablassend. »Bedeutete das, dass du kein Buch willst?«

»Nein, nein. Ich behalte es schon.« Safi hob das Kinn. »Versprich mir nur, dass du mir die Schauspielerei überlässt, sobald wir die Straßensperre erreicht haben.«

»Schauspielere, so gut du kannst.« Mit einem verschmitzten Grinsen zog Iseult das Kopftuch tiefer. Es war bereits mit Schweiß durchtränkt, beschattete aber trotzdem ihr Gesicht und verbarg ihren bleichen Teint. Dann rückte sie ihre Handschuhe zurecht, bis kein Zentimeter Haut mehr sichtbar war. Alle würden sich ganz auf Safi konzentrieren, und so sollte es auch bleiben.

Denn wie Mathew immer sagte: Gib einer Person mit der Rechten, was sie erwartet – und schneide ihr mit der Linken die Börse auf. Safi spielte immer die ablenkende rechte Hand (und sie war gut darin), während Iseult in den Schatten lauerte, bereit, jede Börse aufzuschneiden, die es eben nötig hatte.

Iseult richtete sich auf die heiße Wartezeit ein, indem sie den dicken Deckel ihres Buchs hob. Seitdem ein weiblicher Carawen-Mönch Iseult geholfen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war, war sie ein wenig … nun, besessen war das Wort, das Safi immer verwendete. Aber es war nicht nur Dankbarkeit, wegen der Iseult so sehr von den Caraweni fasziniert war. Es lag auch an ihren reinweißen Roben und glänzenden Opalohrringen, an ihrer tödlichen Ausbildung und ihrem heiligen Gelöbnis.

Das Leben im Carawen-Kloster erschien Iseult so einfach. So voller Geborgenheit. Egal, woher man auch stammte, man konnte sich ihnen anschließen und wurde sofort akzeptiert. Sofort respektiert.

Das war ein Gefühl, das Iseult sich kaum vorstellen konnte, doch wann immer sie daran dachte, pochte ihr Herz vor Sehnsucht.

Das Buch öffnete sich raschelnd auf Seite siebenunddreißig, wo eine Piestra aus Bronze zu ihr aufglänzte. Sie hatte die Münze dort hineingeschoben, um als Lesezeichen zu dienen, und der geflügelte Löwe darauf schien sie zu verhöhnen.

Die erste Piestra auf dem Weg in ein neues Leben, dachte Iseult. Dann glitt ihr Blick zu der Dalmotti-Schrift. Beschreibungen und Bilder der Carawen-Mönche füllten das Blatt. Als Erstes wurde der Söldnermönch beschrieben, mit einem Wehrgehänge voller Messer, einem Schwert und versteinerter Miene.

Das Bild sah genauso aus wie der Blutmagis.

Blut. Magis. Blut. Magis.

Eisige Kälte erfüllte Iseult bei der Erinnerung an seine roten Augen, seine gefletschten Zähne. Kälte … und ein leeres Gefühl. Ein schweres Gefühl.

Enttäuschung, darauf legte sie sich schließlich fest. Denn es erschien ihr vollkommen falsch, dass ein solches Monster in die Gemeinschaft der Mönche aufgenommen worden war.

Iseult las den Satz unter dem Bild, als könnte sie darin eine Erklärung finden. Doch dort stand nur: Ausgebildet, um im Namen der Cahr Awen in der Fremde zu kämpfen.

Iseults Atem stockte bei diesem Begriff – Cahr Awen –, und ihre Brust wurde eng. Als Mädchen hatte sie Stunden damit verbracht, auf Bäume zu klettern und sich einzubilden, sie wäre eine der Cahr Awen; sie hatte vorgegeben, sie wäre eine der zwei Magi, die aus den Ursprungsquellen geboren worden waren und sogar das finsterste Übel reinigen konnten.

Doch so, wie viele der Ursprungsquellen seit Jahrhunderten versiegt waren, waren in den letzten fast fünfhundert Jahren keine neuen Cahr Awen geboren worden, und Iseults Fantasien hatten ihr unvermeidliches Ende in bösartigen Gruppen von Dorfkindern gefunden. Sie schwärmten um jeden Baum, auf den sie geklettert war, und riefen Flüche und Hassparolen nach oben, die sie von ihren Eltern gelernt hatten. Eine Strangmagis, die keine Strangsteine anfertigen kann, gehört hier nicht her!

In diesen Momenten – während sie einen Ast umklammerte und darum betete, dass ihre Mutter sie bald fand – hatte Iseult immer gewusst, dass die Cahr Awen nicht mehr waren als eine schöne Geschichte.

Schwer schluckend drängte Iseult diese Erinnerungen zurück. Der Tag war schon schlimm genug; es gab keine Veranlassung, auch noch altes Leid heraufzubeschwören. Außerdem hatten sie und Safi die Wachen inzwischen fast erreicht, und Habims älteste Lektion erklang flüsternd in ihrem Kopf.

Schätz deine Gegner ab, sagte er immer. Analysiere die Umgebung und das Terrain. Wähle dein Schlachtfeld selbst, wenn es möglich ist.

»In einer Reihe aufstellen!«, riefen die Wachen. »Alle Waffen müssen so gehalten werden, dass wir sie sehen können!«

Iseult schlug ihr Buch mit einem Poff voll staubiger Luft zu. Zehn Wachen, zählte sie. Über die Straße verteilt mit Wagen hinter sich, um die Menge zurückzuhalten. Armbrüste. Entermesser. Wenn diese kleine Unterredung nicht gut lief, wäre es unmöglich, sich den Weg freizukämpfen.

»In Ordnung«, murmelte Safi. »Wir sind dran. Halte dein Gesicht versteckt.«

Iseult tat wie ihr geheißen und nahm ihre Position hinter Safi ein, die gebieterisch auf den ersten schlecht gelaunten Wachmann zumarschierte.

»Was hat das zu bedeuten?« Safis Worte waren selbst über das ständige Hintergrundgeräusch des Verkehrs deutlich zu vernehmen. »Jetzt werden wir zu spät zu unserem Treffen mit dem Meister der Weizengilde kommen. Wisst Ihr eigentlich, wie jähzornig er ist?«

Das Gesicht des Wachmanns verzog sich gelangweilt, aber seine Stränge blitzten vor intensivem Interesse auf. »Namen.«

»Safiya. Und dies ist meine Zofe, Iseult.«

Die Miene des Wachmanns blieb unbeeindruckt, doch das interessierte Leuchten seiner Stränge verstärkte sich. Er wandte sich halb ab und winkte einen zweiten Wachmann heran, der in der Nähe aufragte. Iseult musste sich auf die Zunge beißen, um Safi nicht zu warnen.

»Ich verlange zu wissen, welchem Zweck diese Straßensperre dient!«, rief Safi in Richtung des neuen Wachmanns, der ein wahrer Riese war.

»Wir suchen nach zwei Mädchen«, grollte er. »Sie werden wegen Wegelagerei gesucht. Ich nehme nicht an, dass Ihr Waffen bei Euch tragt?«

»Sehe ich aus wie die Art von Mädchen, die Waffen trägt?«

»Dann wird es Euch sicherlich nichts ausmachen, wenn wir Euch durchsuchen.«

Zu Safis Ehre musste man sagen, dass sich die Angst in ihren Strängen keinen Moment lang auf ihrem Gesicht zeigte. Stattdessen hob sie das Kinn nur höher. »Es macht mir mit absoluter Sicherheit etwas aus. Und wenn Ihr es wagt, mich auch nur zu berühren, werde ich sofort dafür sorgen, dass Ihr Eure Posten verliert. Ihr alle!« Sie wedelte mit ihrem Buch, und der erste Wachmann zuckte leicht zusammen. »Morgen um diese Zeit werdet Ihr alle auf der Straße stehen und Euch wünschen, ihr hättet Euch nicht mit dem Lehrling eines Gildemeisters angelegt …«

Safi konnte ihre Drohung nicht weiter ausführen, denn in diesem Moment schrie eine Möwe über ihrem Kopf … und ein klebriger weißer Fleck blühte auf ihrer Schulter auf.

Ihre Stränge wechselten zu einem überraschten Türkis. »Nein«, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Nein.«

Auch die Augen der Wachen traten fast aus ihren Höhlen, und ihre Stränge wechselten zu einem fröhlichen Pink.

Sie fingen an zu lachen, wobei sie auf Safi deuteten. Selbst Iseult musste sich eine Hand vor den Mund schlagen. Nicht lachen, nicht lachen …

Das Gelächter brach aus ihr heraus, und Safis Stränge flackerten in wütendem Dunkelrot. »Warum?«, quietschte sie in Iseults Richtung. Dann sagte sie zu den Wachen: »Warum immer ich? Es gibt Tausende Schultern, auf die Möwen kacken könnten, aber sie suchen sich immer mich aus!«

Die Wachen bogen sich inzwischen vor Lachen, und der zweite Wachmann hob schwach eine Hand. »Geht. Geht … einfach.« Tränen rannen ihm aus den Augen, was Safi dazu brachte, die Zähne zu fletschen, als sie an ihm vorbeistampfte. »Wieso fangt Ihr nicht etwas Sinnvolleres mit Eurer Zeit an? Statt über Mädchen in Not zu lachen, zieht doch los und kämpft gegen Verbrecher oder irgendwas!«

Dann hatte Safi den Kontrollpunkt hinter sich gelassen und eilte auf das nächstgelegene Handelsschiff mit breitem Rumpf zu, die unablässig kichernde Iseult auf den Fersen.

Merik Nihars Finger schlossen sich fester um das Buttermesser. Die cartorrische Domna auf der anderen Seite des breiten Esstischs hatte ein haariges Kinn, über das Fetttropfen nach unten rannen.

Als hätte sie Meriks Blick gespürt, hob die Domna eine braune Serviette und tupfte sich die faltigen Lippen und das runzlige Kinn ab.

Merik hasste sie, genauso wie jeden anderen Diplomaten hier im Raum. Er mochte ja Jahre damit verbracht haben, den Jähzorn kontrollieren zu lernen, für den seine Familie berühmt war, doch inzwischen brauchte es nur noch ein einziges Körnchen. Noch ein einziges Korn Salz und der Ozean würde das Land fluten.

Im gesamten langen Speisezimmer brummten Stimmen in mindestens zehn verschiedenen Sprachen. Der kontinentale Waffenstillstandskongress würde morgen beginnen. Dort wollte man über den Großen Krieg und das herannahende Ende des Zwanzigjährigen Waffenstillstands sprechen. Der Kongress hatte Hunderte Diplomaten aus den gesamten Magislanden nach Veñaza gebracht.

Dalmotti mochte das kleinste der drei Reiche gewesen sein, doch im Handel war es am mächtigsten. Und nachdem es mitten zwischen dem Marstokischen Reich im Osten und dem Cartorrischen Reich im Westen lag, war es der perfekte Ort für diese internationalen Verhandlungen.

Merik war hier, um Nubrevna zu vertreten, sein Heimatland. Genau genommen war er schon vor drei Wochen angekommen in der Hoffnung, neue Handelsverbindungen aufzutun oder vielleicht an alte Beziehungen mit den Gilden anzuknüpfen. Aber das war vollkommene Zeitverschwendung gewesen.

Meriks Blick huschte von der alten Adligen zu der riesigen Glasfläche hinter ihr. Dahinter erstreckten sich die Gärten des Dogenpalasts. Die Vegetation vor dem Fenster erfüllte den Raum mit einem grünlichen Glühen und dem Duft von hängendem Jasmin. Als gewähltes Oberhaupt des Dalmotti-Rats besaß der Doge keine Familie, ebenso wie alle anderen Gildemeister in Dalmotti. Es hieß, Familie würde sie von ihrer Hingabe an die Gilden ablenken, also war es nicht so, als bräuchte er einen Garten, in dem man mühelos zwölf von Meriks Schiffen hätte unterbringen können.

»Bewundert Ihr die Glaswand?«, fragte der rotblonde Meister der Seidengilde, der zu Meriks Rechter saß. »Eine ziemliche Leistung unserer Erdmagi. Es ist eine einzige große Scheibe, wisst Ihr?«

»Unbedingt eine Leistung«, erklärte Merik, obwohl sein Ton etwas anderes sagte. »Obwohl ich mich frage, Gildemeister Alix, ob Ihr je darüber nachgedacht habt, Eure Erdmagi für sinnvollere Aufgaben einzusetzen.«

Der Gildemeister hüstelte. »Unsere Magi sind hoch spezialisiert. Wieso sollte man darauf bestehen, dass ein Erdmagis, der gut mit Erdreich umgehen kann, nur auf einer Farm arbeitet?«

»Aber es gibt einen Unterschied zwischen einem Humusmagis, der nur mit Erde arbeiten kann, und einem universalen Erdmagis, der sich entscheidet, nur mit Humus zu arbeiten. Oder damit, Sand zu Glas zu schmelzen.« Merik lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nehmt Euch selbst, Gildemeister Alix. Ihr seid ein Erdmagis, nehme ich an? Wahrscheinlich erstreckt sich Eure Magie auch auf Tiere, aber doch sicherlich nicht exklusiv und ausschließlich auf Seidenraupen.«

»Ach, ich bin gar kein Erdmagis.« Alix drehte seine Hand ein wenig und gab damit den Blick frei auf sein Magismal: ein Kreis für Aether und eine gestrichelte Linie, die bedeutete, dass er sich auf die Künste spezialisiert hatte. »Mein eigentlicher Beruf ist Schneider. Meine Magie liegt darin, den Geist einer Person in ihrer Kleidung zum Leben zu erwecken.«

»Natürlich«, antwortete Merik ausdruckslos. Der Seiden-Gildemeister hatte Meriks Argument gerade bestätigt – nicht dass der Mann das bemerkt zu haben schien. Wieso verschwendete man ein magisches Talent für Kunst auf Mode? Auf eine einzige Art von Stoff? Meriks eigener Schneider hatte mit dem Leinenanzug, den er gerade trug, ebenfalls wunderbare Arbeit geleistet, ganz ohne Magie.

Ein langer, silbergrauer Gehrock lag über einem cremefarbenen Hemd, und obwohl beide Kleidungsstücke mehr Knöpfe aufwiesen, als gesetzlich erlaubt sein sollten, mochte Merik diesen Anzug. Seine eng geschnittene schwarzen Hose steckte in Stiefeln, die so neu waren, dass sie noch knarrten, und der breite Gürtel um seine Hüften war mehr als nur Zierde. Sobald Merik sich wieder auf seinem Schiff befand, würde er erneut sein Entermesser und seine Pistolen daran befestigen.

Gildemeister Alix, der Meriks Missstimmung offensichtlich gespürt hatte, wandte sich der Adligen zu seiner Rechten zu. »Was sagt Ihr zu Kaiser Henricks anstehender Hochzeit, meine Dame?«

Meriks Stirnrunzeln vertiefte sich. Die Leute bei diesem Mittagessen schienen nur daran interessiert, über Gerüchte und Oberflächlichkeiten zu reden. Es gab einen Mann in der ehemaligen Republik von Arithuanien – diesem wilden, anarchischen Land im Norden –, der konkurrierende Splittergruppen vereinte und sich selbst »König« nannte. Aber interessierte das diese kaiserlichen Diplomaten?

Nicht im Geringsten.

Es gab Gerüchte, dass die Höllebarden-Brigade Magi gewaltsam anwarb, doch niemand von allen hier versammelten Doms und Domnas schien diese Nachricht beunruhigend zu finden. Allerdings ging Merik auch davon aus, dass es nicht ihre Söhne oder Tochter waren, die zwangsverpflichtet wurden.

Meriks wütender Blick fiel auf seinen Teller. Er war sauber gekratzt. Selbst die Knochen hatte er in seine Serviette geschoben. Knochenbrühe war schließlich einfach zu kochen und konnte Matrosen tagelang ernähren. Mehrere der anderen Gäste hatten es bemerkt, denn Merik hatte nicht unbedingt versucht, seine Handlung zu verbergen, als er die beige Seidenserviette verwendet hatte, um die Knochen von seinem Teller zu sammeln.

Merik war sogar in Versuchung, seine Sitznachbarn zu fragen, ob er auch ihre Hühnerknochen haben konnte, von denen die meisten unberührt in kleinen Haufen grüner Bohnen lagen. Seeleute verschwendeten keine Nahrung, da sie nie wussten, ob sie jemals wieder einen Fisch fangen oder Land sehen würden.

Und besonders nicht, wenn ihr Heimatland hungerte.