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Seitenzahl: 133
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Er hatte ja recht. Sonja kam sich selbst schrecklich albern vor. Sein besorgter Blick nahm ihr etwas von der Panik, die sie empfand. Er zog sie ein Stückchen weiter. Sonja hätte sich am liebsten losgerissen und wäre den Berg wieder hinuntergehetzt. Noch nie im Leben hatte sie sich dermaßen verängstigt gefühlt. Welche Geister hatte sie bloß heraufbeschworen? Er zog sie mit sich. Sonja kniff die Augen zu und hielt die Luft an, als ein Schatten über sie fiel. Sie hatte die Kapelle betreten – »Schau doch nur …«, lockte sie Christians Stimme. Doch Sonja wollte das Schreckliche nicht sehen. Ein kalter Windhauch strich um ihre Beine, kroch höher und schien sie in einen Eisblock zu verwandeln. Sie war unfähig, noch einen einzigen Schritt zu tun. Als hätte das Böse sie gepackt und festgenagelt – Sonja stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht …
»Sonja! Willst du nicht endlich aufstehen und herunterkommen?«
Die Stimme ihrer Mutter riß Sonja aus ihren Träumen.
Sie wollte nicht aufstehen. Nachdem sie ihr Examen bestanden hatte und nun in acht Wochen ihre erste richtige Arbeitsstelle in einer Zeitschriftenredaktion antreten sollte, wollte sie einfach für eine Weile relaxen. Hatte sie es sich nicht redlich verdient nach dem vielen Büffeln? Ihr Literaturstudium war zum Schluß ganz schön anstrengend gewesen.
Außerdem hatte sie noch einen Grund, um ein wenig für sich zu bleiben, aber der war leider nicht so erfreulich wie das bestandene Examen.
Vor vier Wochen war ihre geliebte Großmutter gestorben. Ihr Tod hatte Sonja sehr bedrückt. Sonja-Maria Murnau war zwar schon neunundsiebzig Jahre alt gewesen, aber trotzdem hätte Sonja sie gern noch ein wenig besser kennengelernt, jetzt, wo sie nicht mehr so viel um die Ohren hatte. Als sie ein Kind gewesen war, war ihr die Großmutter immer höchst interessant erschienen, und das mußte sie wohl auch sein, denn Sonjas Mutter hatte den Kontakt zwischen Großmutter und Enkelin auf ein Minimum beschränkt. Sonjas Großmutter galt als sehr spleenig, sie behauptete von sich, das Zweite Gesicht zu haben. Und deshalb wollte Claudia Werner nicht, daß Sonja von diesem dummen Zeug, wie sie sich ausdrückte, angesteckt wurde.
Einmal im Jahr konnte Sonja ihre Großmutter sehen, immer kurz nach Weihnachten, wenn ihre Eltern sie mitnahmen in das kleine Haus in der Lüneburger Heide. Zwei Tage blieben sie dort, bewachten Sonja allerdings höchst mißtrauisch und achteten darauf, daß sie auf keinen Fall zu lange mit der Großmutter allein blieb.
Trotzdem fand Sonja Gelegenheit, der alten Dame ein paar Geheimnisse zu entlocken, die sie aufs höchste faszinierten. Sonja-Maria Murnau besprach Warzen und so komplizierte Krankheiten wie Gürtelrose, worunter sich Sonja nun überhaupt nichts vorstellen konnte. Aber sie hatte selbst erlebt, wie Leute von weither zu ihr gekommen waren und sie sie dann hätte wegschicken müssen, weil die Eltern und Sonja zu Besuch waren.
Sonjas Mutter hatte kein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, denn ihr war das alles schrecklich peinlich, und sie erzählte niemandem von ihr. Schon als Kind hatte Sonja den Eindruck gehabt, daß die Mutter lieber Waise gewesen wäre, als so eine ›verrückte‹ Mutter zu haben.
Als Sonja dann ihr Studium begonnen hatte, war nicht mehr viel Zeit gewesen, sich um die Großmutter Gedanken zu machen. Sie war mit ihren Kommilitoninnen ausgegangen, hatte Freunde gehabt, war tanzen gegangen und hatte die Großmutter kaum noch gesehen.
Dafür schämte sie sich heute noch. Ein Trost war nur, daß sie ihr wenigstens regelmäßig geschrieben hatte.
Aber Sonja wußte, daß ihr die Großmutter ihr Verhalten nicht übelgenommen hatte. Sie hatten eine tiefe, enge, innige Verbindung, die nicht zerstört werden konnte. Und diese Verbindung war es ja auch, die Sonjas Mutter so sehr beängstigt hatte.
Insofern war ihre Mutter jetzt bestimmt froh, daß die ›Gefahr‹ für Sonja vorüber war. Die Großmutter konnte Sonja nach ihrer Meinung nun nicht mehr anstecken mit ihrem Hokuspokus. Ihre Trauer hielt sich in Grenzen.
Sonja hatte das Häuschen der Großmutter geerbt. Sie ganz allein! Es war zwar kein Wertobjekt, dann hätten sich wohl die anderen darüber gehörig aufgeregt, aber Sonja liebte es und freute sich, es nun zu besitzen. Später könnte sie dort vielleicht hin und wieder einmal einen Kurzurlaub verbringen oder aber das Häuschen vermieten.
In den nächsten Tagen wollte sie hinausfahren und die persönlichen Unterlagen ihrer Großmutter sortieren und alles wegwerfen, was nicht wichtig genug war, um es aufzuheben. Dann würde sie die Wände neu tapezieren und sich ein paar schöne Tage machen – ganz allein, vor allem ohne Volker.
Volker war bis vor kurzem ihr Freund gewesen. Er hatte sogar schon von Heirat gesprochen. Auch er hatte studiert und war ein Jahr vor Sonja damit fertig geworden. Jetzt arbeitete er im Verlag seines Vaters. Sie stellten Landkarten her.
Sonja und Volker hatten sich gut verstanden, bis er angefangen hatte, an ihr herumzukritisieren. Sie war offenbar noch nicht passend gewesen für die Rolle der Ehefrau des Mitinhabers eines Verlages. Sie sollte Tennisspielen gehen, sich die überschulterlangen Haare abschneiden und Twinset und Perlenketten tragen.
Sonja trug aber lieber aufgesteckte Zöpfe, manchmal baumelten sie auch lang den Rücken hinunter, dazu knöchellange Röcke und viele bunte Ketten. Ihre Mutter behauptete immer, sie sehe genauso aus wie die Blumenkinder der Hippiegeneration, und diese Zeit sei doch nun wohl endgültig vorbei, doch Sonja war das egal. Sie fand ihren eigenen Stil sehr passend für sich. Natürlich besaß sie auch angemessene Kleidung, in ihrem neuen Job konnte sie so nämlich nicht herumlaufen, aber bis zum Twinset war der Weg denn doch noch weit.
Als sie Volker zuliebe einmal mit im Tennisclub gewesen war, in dem sein Vater zum Vorstand gehörte, hatte Sonja sofort gewußt, daß sie hier niemals dazugehören würde.
Sie war schon immer ziemlich konsequent gewesen, und je älter sie wurde, desto stärker prägte sich dieses Verhalten aus. Also hatte sie Volker schließlich nicht nur erklärt, daß aus dem Tennisspielen nichts würde, sondern auch, daß ihre Beziehung nun vorbei sei. Er war fassungslos gewesen. So eine gute Partie, wie er es in seinen Augen darstellte, wollte sie einfach sausen lassen? Ja, hatte sie ihm kühl erklärt, er solle sich lieber unter dem tennisspielenden Nachwuchs umsehen.
Manchmal tat es ihr ein wenig leid, daß sie rigoros Schluß mit ihm gemacht hatte. Er konnte nämlich auch ganz nett sein. Aber mit sechsundzwanzig fand sich Sonja noch nicht zu alt, daß sie unbedingt schon unter die Haube mußte. Sie wußte im Grunde ja selbst noch nicht einmal, was eigentlich für sie gut war. Ihre Großmutter hatte ihr einmal zugeflüstert, daß die Liebe sie eines Tages wie ein Blitzschlag treffen würde, und Sonja war ganz sicher, daß sie sich darauf verlassen konnte. Ein Blitzschlag war Volker nicht gewesen, eher ein Wetterleuchten, wenn man schon in meteorologischen Begriffen dachte.
Ihre Mutter war entsetzt gewesen, als Sonja ihr mitgeteilt hatte, daß sie nun wieder allein sei. Volker war doch so beruhigend normal gewesen! Wenn überhaupt einer, so hätte sicher er Sonja auf dem rechten Weg gehalten. Jetzt war alles offen. Deshalb war Claudia Werner dann beruhigt gewesen, als Sonja wenigstens die Stelle in der Zeitungsredaktion angenommen hatte. Seit Sonjas Vater tot war, lag die ganze Verantwortung auf ihr. Höchstens ihr Bruder Stefan, Sonjas Onkel, stand ihr hin und wieder zur Seite. Doch er reiste beruflich bedingt viel herum und konnte nicht mehr zur Stelle sein, wenn Sonja eigenartige Ideen entwickelte.
Claudia Warner konnte einfach nicht akzeptieren, daß ihre Tochter längst erwachsen und daher durchaus in der Lage war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne daß die Mutter sie gutheißen mußte.
Sonja störte es nicht sehr, sie hörte zu, nickte und verhielt sich dann, wie sie es wollte. Demnächst könnte sie dann auch von zu Hause wegziehen, sobald sie erst ihr eigenes Geld verdiente. Schade, daß das Häuschen der Großmutter zu weit von ihrer neuen Arbeitsstelle entfernt lag, um dort wohnen zu können.
»Sonja! Hörst du mich denn überhaupt?« rief ihre Mutter jetzt erneut.
Ihre Stimme klang nun deutlich gereizt.
Sonja seufzte. Wenn sie ihre Ruhe haben wollte, fuhr sie am besten heute schon in das Heidehäuschen ihrer Großmutter.
Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, flocht sie ihre Haare zu einem dicken Zopf, den sie mit einer Zopfspange zusammenhielt und über die rechte Schulter nach vorn fallenließ. Ihr Haar war wunderschön, deshalb war Sonja auch nicht bereit, es abschneiden zu lassen. Es schimmerte rötlich, im Sommer, wenn sie sich viel im Schwimmbad aufhielt, wurde es dann eher blond. Exakt diese Farbe ließen sich eine Menge Frauen für viel Geld einfärben. Auch sonst war Sonja mit ihrem Aussehen sehr zufrieden. Sie war groß und schlank, mußte beim Essen nicht aufpassen und konnte sogar ungestraft naschen, was sie auch ganz gern tat.
»Da bist du ja endlich. Ich will oben saubermachen. Wird Zeit, daß du erscheinst.«
»Ach, Mama, sei doch nicht so ungemütlich!«
»Du hast gut reden! Ich kann nicht den ganzen Tag im Bett herumliegen!«
»Das kann ich doch bald auch nicht mehr! Außerdem habe ich mich entschlossen, heute in Großmutters Häuschen zu fahren. Dann bist du mich erst einmal los.«
Das Gesicht ihrer Mutter verdüsterte sich noch mehr. Sonja bemühte sich, es zu übersehen.
»Muß das wirklich sein? Was willst du denn überhaupt dort? Ich denke, du solltest dir den Vorschlag von Onkel Stefan noch einmal überlegen und das Haus verkaufen. Das Geld käme dir später sicher einmal zugute. Es ist doch sowieso schon halb verfallen.«
»Ach, das richte ich mir schon wieder her. Ich finde das Haus schön. Außerdem hat Großmutter sehr daran gehangen und hätte bestimmt nicht gewollt, daß ich es einfach verkaufe.«
»Wie willst du das wissen? Ihr kanntet euch doch kaum.«
»Weil du nicht wolltest, daß ich sie besuche.«
Ihre Mutter drehte sich zu Sonja um und sah sie wütend an. Genau dies war ein ausgesprochenes Reizthema zwischen ihnen, auch jetzt noch, nach dem Tod von Sonja-Maria Murnau.
»Rede nicht in diesem Ton mit mir, Sonja. Ich hatte meine Gründe, wie du weißt.«
»Du hast mir aber nie erzählt, was Großmutter so Schlimmes gemacht hat, daß du keinen Kontakt zu ihr haben wolltest«, beharrte Sonja.
Auf diese Weise kam sie wenigstens bruchstückhaft an Informationen heran. Es klappte auch diesmal wieder.
»Du hast ja meine Kindheit auch nicht miterlebt. Onkel Stefan und ich wurden von den anderen Kindern immer gehänselt, weil unsere Mutter im Dorf als Hexe verschrien war. Sie hat sich nichts daraus gemacht, aber wir, das kann ich dir sagen!«
»Was hat sie denn ›verhext‹?«
»Gar nichts. Aber sie hat eben immer wieder ihre Heilungen vorgenommen und ist bei Vollmond durch den Wald gelaufen und hat Kräuter gesammelt. Außerdem behauptete sie, in die Zukunft sehen zu können. Dadurch hat sie allerlei Leute angezogen, die dann bei uns Schlange standen. Die Dorfbewohner haben sich regelrecht darüber lustig gemacht.«
»Haben die denn nie ihre Dienste in Anspruch genommen?«
»Doch, das schon. Wenn es ganz schlimm wurde, kamen sie auch hin und wieder zu uns.«
»Und konnte Großmutter ihnen helfen?«
»Frag nicht soviel. Das ist vorbei und vergessen. Jedenfalls paßt es mir nicht, wenn du jetzt dort einziehst, und sei es auch nur für die Ferien.«
»Aber ich hexe doch nicht und habe auch kein Zweites Gesicht. Oder hast du Angst, das Haus könnte mich vielleicht anstecken? Glaubst du, deine Mutter spukt dort nachts herum?«
Der Gedanke amüsierte Sonja. Sie konnte sich nämlich sehr gut vorstellen, daß ihre Großmutter genau so etwas täte, wenn sie dazu in der Lage wäre. Vielleicht wollte sie ihr Wissen gern weitergeben und wartete nur auf eine Gelegenheit dazu?
»Red’ keinen Unsinn. Jetzt frühstücke endlich, damit ich hier fertig werde.«
Sonja wußte, daß die Informationsquelle damit endgültig für sie versiegt war. Sie mußte sich zufriedengeben und versuchen, selbst noch ein wenig herauszufinden, wenn sie in der Heide war. Vielleicht hatte ihre Großmutter ihre Geheimnisse ja auch aufgeschrieben. Es war wie ein elektrisierender Gedanke für sie.
*
Das Häuschen lag in der Nähe von Celle. Es war umgeben von Birken und Wacholdern, die dann in ein Mischwäldchen übergingen. Im Garten wuchsen allerlei Heilkräuter, jedenfalls vermutete Sonja, daß es sich bei den zum Teil recht verwildert aussehenden Pflanzen um solche handelte. Sie würde sich ein Buch besorgen müssen, um sie nicht versehentlich mit Unkraut zu verwechseln und herauszurupfen, wenn sie sich um den Garten kümmerte.
Doch erst einmal schloß sie die grünlackierte Haustür auf und öffnete dann auch die Fensterläden, um Sonne und Licht hereinzulassen. Das war schon besser.
Die Sonne malte Kringel auf den einfachen Fliesenboden und tauchte die Räume in ein goldenes Licht. Die Küche bestand aus einem Sammelsurium von Schränken, aber gerade das liebte Sonja. Sie fand die glatten Einbauküchen nämlich ausgesprochen langweilig. Der solide Tisch mit der Kiefernholzplatte war schon viele hundert Male geschrubbt worden und würde auch weitere Jahre solcher Behandlung schadlos überstehen. Die vier einfachen Stühle standen da, als warteten sie nur darauf, endlich wieder einer Familie Platz bieten zu dürfen. Es gab einen Kohle- und einen Elektroherd, beide waren tadellos in Ordnung. Sogar einen Kühlschrank hatte Sonja hier, was wollte man mehr?
Außer der Küche standen ihr noch ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Badezimmer zur Verfügung. Alle Räume waren klein und kuschelig, genau richtig für sie. Nein, verkaufen würde sie das Häuschen bestimmt nicht.
Zum Dachboden führte eine schmale Hühnerleiter hinauf. Dort oben lagen bestimmt eine Menge interessanter Dinge in den Kisten und Kästen verborgen.
Sonja wußte, daß Onkel Stefan hier gewesen sein mußte, denn man sah im Staub Abdrücke von großen Männerschuhen. Von Onkel Stefan hatte Sonja auch den Schlüssel bekommen. Hoffentlich war es der einzige, denn der Gedanke, daß er auch weiterhin hier herumstöbern würde, behagte ihr gar nicht. Sie mußte ihn unbedingt danach fragen, wenn er erst wieder in Hamburg war.
Zunächst machte sich Sonja daran, den Boden zu wischen und die Fenster zu putzen. Während sie summend vor sich hin arbeitete, mußte sie plötzlich lachen. Ihre Mutter würde nicht glauben, daß es ihr sogar Spaß machte, hier den Feudel zu schwingen!
Nachdem das Werk vollendet war, sah Sonja, daß die Tapeten und Böden gar nicht so schlecht aussahen. Ein bißchen Farbe für die Wände würden schon genügen, um sich hier wohlzufühlen. Das Tapezieren konnte sie erst einmal streichen. Wie angenehm es war! Sie riß sich nicht gerade um solche Arbeiten, und Volker, der davor keine Scheu hatte, stand ihr ja nicht mehr zur Verfügung.
Nach getaner Arbeit kochte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf die alte, verwitterte Bank vor der Tür. Die Sonne wärmte wunderbar, es war überhaupt ihr Lieblingsmonat. Im Mai war sie geboren, in den Frühling hinein.
»Grüß Gott«, hörte sie eine Männerstimme sagen.
Sonja öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. Zuerst sah sie nur schemenhafte Umrisse von einem leicht gebeugt dastehenden Mann, doch dann, als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie ihn auch. Er war der andere Außenseiter des Dorfes, der alte Schäfer Krupp. Seinen Vornamen kannte sie nicht, jeder sprach nur vom ›alten Krupp‹.
»Grüß Gott, Herr Krupp«, antwortete sie freundlich und erhob sich, um zum Zaun hinüberzugehen.
Vielleicht konnte er ihr etwas über ihre Großmutter erzählen.
»Bist wohl die Enkelin von Sonja?« murmelte er, nachdem er sie ausgiebig gemustert hatte.
Seine Augen waren von einem verwaschenen Blau, umgeben von tausend kleinen Fältchen in dem wettergegerbten Gesicht.
»Ja, die bin ich. Ich heiße auch Sonja.«
»Weiß ich wohl. Sonja hat viel von dir erzählt.«
»Was denn? Wollen Sie nicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken?«
»Hast du auch einen Köm?«
»Ja, ich glaube, ich habe noch einen Wacholderschnaps gesehen. Setzen Sie sich auf die Bank, ich hole ihn schnell.«
Mit Köm konnte man den ›alten Krupp‹ immer ködern. Das wußte Sonja bereits aus abfälligen Bemerkungen ihrer Mutter.
Sie beeilte sich mit der Tasse Kaffee und dem Glas Köm wieder herauszukommen, bevor er es sich vielleicht anders überlegte.