David Copperfield - Charles Dickens - E-Book

David Copperfield E-Book

Charles Dickens.

0,0
0,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"David Copperfield" ist einer der bekanntesten Bildungsromane überhaupt. Viele Elemente der Geschichte folgen Ereignissen aus Dickens' eigenem Leben, "David Copperfield" gilt daher als der am stärksten autobiografisch geprägte Roman seines Gesamtwerkes. Dickens selbst bezeichnete "David Copperfield" als seine Lieblingsgeschichte. Erzählt wird die Lebensgeschichte von David Copperfield. Man erfährt von seinem Werdegang und langsamem Erwachsenwerden. Nach dem frühen Tod der Eltern wächst David bei seinem brutalen Stiefvater auf, schon mit 10 Jahren wird er zum Arbeiten in die Fabrik geschickt (auch hier Parallelen zu Dickens' Leben). Er flieht, um den unerträglichen Bedingungen zu entkommen. Die Erzählung lebt von den zahlreichen (berühmt gewordenen) Figuren, die seinen Weg kreuzen, ihn eine Zeit lang begleiten, verschwinden und wieder auftauchen. In bekannter Dickens-Manier - mit viel Witz in den Nebensätzen - bekommen die Hauptfiguren schließlich, was sie verdienen. Nur wenige Erzählfäden bleiben unaufgelöst. In diesen Zeilen zeigt sich Dickens' großartiges Können um die Schilderung von Erlebnissen und Gefühlen der Kindheit. Wie die meisten Werke Dickens' wurde auch "David Copperfield" zunächst als mehrteilige, monatliche Fortsetzungsgeschichte verfasst und später vom Autor überarbeitet. Dickens ist der trotz aller gelegentlichen Rührsamkeit königlichste englische Erzähler mit seinem gütigen Herzen und seiner prachtvollen Laune, von ihm müssen wir mindestens die Pichwickier und den Copperfield haben. [Quelle: Bibliothek der Weltliteratur] Null Papier Verlag

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1545

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Charles Dickens

David Copperfield

Vollständige Fassung in zwei Bänden

Charles Dickens

David Copperfield

Vollständige Fassung in zwei Bänden

(The Personal History, Adventures, Experience & Observation of David Copperfield, the Younger)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Gustav Meyer EV: Albert Langen Verlag, München, 1910 2. Auflage, ISBN 978-3-954183-50-0

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Band 1

1. Ka­pi­tel – Ich kom­me zur Welt

2. Ka­pi­tel – Ich be­ob­ach­te

3. Ka­pi­tel – Eine Ver­än­de­rung

4. Ka­pi­tel – Ich fal­le in Un­gna­de

5. Ka­pi­tel – Man schickt mich fort

6. Ka­pi­tel – Ich er­wei­te­re den Kreis mei­ner Be­kannt­schaft

7. Ka­pi­tel – Mein ers­tes Se­mes­ter in Sa­lem­haus

8. Ka­pi­tel – Mei­ne Fe­ri­en – Ein glück­li­cher Nach­mit­tag

9. Ka­pi­tel – Ein denk­wür­di­ger Ge­burts­tag

10. Ka­pi­tel – Ich wer­de ver­nach­läs­sigt, und man – bringt mich un­ter

11. Ka­pi­tel – Ich be­gin­ne ein Le­ben auf eig­ne Faust und fin­de kei­nen Ge­fal­len dar­an

12. Ka­pi­tel – Da mir das Le­ben auf eig­ne Faust nicht ge­fällt, fas­se ich einen großen Ent­schluss

13. Ka­pi­tel – Die Fol­gen mei­nes Ent­schlus­ses

14. Ka­pi­tel – Mei­ne Tan­te kommt zu ei­nem Ent­schluss über mich

15. Ka­pi­tel – Ich fan­ge wie­der von vorn an

16. Ka­pi­tel – In mehr als ei­ner Hin­sicht bin ich ein Neu­ling in der Schu­le

17. Ka­pi­tel – Ein Mann taucht auf

18. Ka­pi­tel – Ein Rück­blick

19. Ka­pi­tel – Ich hal­te die Au­gen of­fen und ma­che eine Ent­de­ckung

20. Ka­pi­tel – Bei Steer­forth

21. Ka­pi­tel – Die klei­ne Emly

22. Ka­pi­tel – Alte Um­ge­bun­gen und neue Men­schen

23. Ka­pi­tel – Ich sehe, dass Mr. Dick recht hat­te, und wäh­le einen Be­ruf

24. Ka­pi­tel – Mei­ne ers­te Aus­schwei­fung

25. Ka­pi­tel – Gute und böse En­gel

26. Ka­pi­tel – Ich ge­ra­te in Ge­fan­gen­schaft

27. Ka­pi­tel – Tom­my Tradd­les

28. Ka­pi­tel – Mr. Mi­ca­w­ber wirft sei­nen Feh­de­hand­schuh hin

29. Ka­pi­tel – Mein zwei­ter Be­such in Steer­forths Haus

30. Ka­pi­tel – Ein Ver­lust

31. Ka­pi­tel – Ein noch grö­ße­rer Ver­lust

Band 2

32. Ka­pi­tel – Der An­fang ei­ner lan­gen Rei­se

33. Ka­pi­tel – Won­ne

34. Ka­pi­tel – Eine große Über­ra­schung

35. Ka­pi­tel – Nie­der­ge­schla­gen­heit

36. Ka­pi­tel – En­thu­si­as­mus

37. Ka­pi­tel – Eine kal­te Du­sche

38. Ka­pi­tel – Eine Tren­nung

39. Ka­pi­tel – Wick­field und Heep

40. Ka­pi­tel – Der Wan­de­rer

41. Ka­pi­tel – Do­ras Tan­ten

42. Ka­pi­tel – Un­heil

43. Ka­pi­tel – Wie­der ein Rück­blick

44. Ka­pi­tel – Un­ser Haus­halt

45. Ka­pi­tel – Mr. Dick er­füllt die Pro­phe­zei­ung mei­ner Tan­te

46. Ka­pi­tel – Nach­richt

47. Ka­pi­tel – Mar­ta

48. Ka­pi­tel – Häus­li­ches

49. Ka­pi­tel – Ein Ge­heim­nis hält mich in Atem

50. Ka­pi­tel – Mr. Peg­got­tys Traum geht in Er­fül­lung

51. Ka­pi­tel – Der An­fang ei­ner lan­gen Rei­se

52. Ka­pi­tel – Ich woh­ne ei­ner Ex­plo­si­on bei

53. Ka­pi­tel – Wie­der ein Rück­blick

54. Ka­pi­tel – Mr. Mi­ca­w­bers Ge­schäf­te

55. Ka­pi­tel – Sturm

56. Ka­pi­tel – Die neue Wun­de und die alte

57. Ka­pi­tel – Die Aus­wan­de­rer

58. Ka­pi­tel – Un­ter­wegs

59. Ka­pi­tel – Rück­kehr

60. Ka­pi­tel – Ag­nes

61. Ka­pi­tel – Zwei in­ter­essan­te Reui­ge wer­den vor­ge­führt

62. Ka­pi­tel – Ein Licht­strahl fällt auf mei­nen Weg

63. Ka­pi­tel – Ein Be­such

64. Ka­pi­tel – Ein letz­ter Rück­blick

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Das Buch

»Da­vid Cop­per­field« ist ei­ner der be­kann­tes­ten Bil­dungs­ro­ma­ne über­haupt. Vie­le Ele­men­te der Ge­schich­te fol­gen Er­eig­nis­sen aus Di­ckens’ ei­ge­nem Le­ben, »Da­vid Cop­per­field« gilt da­her als der am stärks­ten au­to­bio­gra­fisch ge­präg­te Ro­man sei­nes Ge­samt­wer­kes. Di­ckens selbst be­zeich­ne­te »Da­vid Cop­per­field« als sei­ne Lieb­lings­ge­schich­te.

Er­zählt wird die Le­bens­ge­schich­te von Da­vid Cop­per­field. Man er­fährt von sei­nem Wer­de­gang und lang­sa­mem Er­wach­sen­wer­den. Nach dem frü­hen Tod der El­tern wächst Da­vid bei sei­nem bru­ta­len Stief­va­ter auf, schon mit 10 Jah­ren wird er zum Ar­bei­ten in die Fa­brik ge­schickt (auch hier Par­al­le­len zu Di­ckens’ Le­ben). Er flieht, um den un­er­träg­li­chen Be­din­gun­gen zu ent­kom­men.

Die Er­zäh­lung lebt von den zahl­rei­chen (be­rühmt ge­wor­de­nen) Fi­gu­ren, die sei­nen Weg kreu­zen, ihn eine Zeit lang be­glei­ten, ver­schwin­den und wie­der auf­tau­chen.

In be­kann­ter Di­ckens-Ma­nier – mit viel Witz in den Ne­ben­sät­zen – be­kom­men die Haupt­fi­gu­ren schließ­lich, was sie ver­die­nen. Nur we­ni­ge Er­zähl­fä­den blei­ben un­auf­ge­löst. In die­sen Zei­len zeigt sich Di­ckens’ groß­ar­ti­ges Kön­nen um die Schil­de­rung von Er­leb­nis­sen und Ge­füh­len der Kind­heit.

Wie die meis­ten Wer­ke Di­ckens’ wur­de auch »Da­vid Cop­per­field« zu­nächst als mehr­tei­li­ge, mo­nat­li­che Fort­set­zungs­ge­schich­te ver­fasst und spä­ter vom Au­tor über­ar­bei­tet.

Di­ckens ist der trotz al­ler ge­le­gent­li­chen Rühr­sam­keit kö­nig­lichs­te eng­li­sche Er­zäh­ler mit sei­nem gü­ti­gen Her­zen und sei­ner pracht­vol­len Lau­ne, von ihm müs­sen wir min­des­tens die Pich­wi­ckier und den Cop­per­field ha­ben. [Quel­le: Biblio­thek der Welt­li­te­ra­tur]

Autor und Werk

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; geb. 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; gest. 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) ist ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der Ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

Zu sei­nen be­kann­tes­ten Wer­ken ge­hö­ren »Oli­ver Twist«, »Da­vid Cop­per­field«, »Eine Ge­schich­te aus zwei Städ­ten«, »Gro­ße Er­war­tun­gen« so­wie »Eine Weih­nachts­ge­schich­te«. Di­ckens ver­wen­det einen blu­mi­gen und poe­ti­schen Stil, der vie­le hu­mo­ris­ti­sche Ele­men­te be­sitzt. Be­son­ders sei­ne Sei­ten­hie­be auf die Bri­ti­sche Ari­sto­kra­tie sind weit ver­brei­tet und be­liebt.

Di­ckens ist das Zwei­te von acht Kin­dern von John Di­ckens (1786–1851), ei­nem mit­tel­lo­sen Ma­ri­ne­schrei­ber. 1823 kann der Va­ter die hung­ri­ge Fa­mi­lie nicht mehr er­näh­ren und kommt ins Schuld­ge­fäng­nis von Lon­don. Eine Tra­gö­die, die den Jun­gen Charles Di­ckens fürs Le­ben prägt - nicht um­sonst kri­ti­siert er in sei­nen Schrif­ten den un­ge­rech­ten Um­gang mit schuld­los Ver­schul­de­ten. Charles muss schon mit 12 Jah­ren als La­ger- und Fa­brik­ar­bei­ter sei­ne Fa­mi­lie un­ter­stüt­zen; auch die­se Er­fah­rung fließt in sein Werk um »Da­vid Cop­per­field« ein.

Als sein Va­ter 1824 aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wird, geht Charles bis 1826 zu­rück in die Schu­le und wird 1827 als Schrei­ber bei ei­nem Rechts­an­walt an­ge­stellt. Er ar­bei­tet sich bis zum Par­la­ment­ss­te­no­gra­fen hoch (1929).

1836 hei­ra­tet Di­ckens Ca­the­ri­ne Ho­garth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehe­paar hat zehn Kin­der.

Ab 1831 ver­dient Di­ckens sei­nen Le­bens­un­ter­halt als Jour­na­list für ver­schie­de­ne Zei­tun­gen. 1836–37 er­schei­nen in mo­nat­li­chen Hef­ten die »Pick­wick Pa­pers«, durch die Di­ckens rasch Be­kannt­heit als Schrift­stel­ler er­langt. Eben­so sei­ne fol­gen­den Ro­ma­ne ent­ste­hen als Fort­set­zungs­ge­schich­ten in Zei­tun­gen. Oft schreibt er an meh­re­ren gleich­zei­tig.

Aber Di­ckens will nicht nur li­te­ra­ri­schen Er­folg, son­dern auch auf ge­sell­schaft­li­che Miss­stän­de hin­wei­sen und den Weg für so­zia­le Re­for­men eb­nen. 1838 er­scheint »Oli­ver Twist« und Di­ckens wird Her­aus­ge­ber der li­be­ra­len Ta­ges­zei­tung »Dai­ly News«.

Auf ei­ner er­folg­rei­chen Le­se­rei­se in die Ve­rei­nig­ten Staa­ten bringt Di­ckens, der un­ter nicht au­to­ri­sier­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent lei­det, die Idee ei­nes welt­wei­ten Ur­he­ber­rech­tes auf, aber ern­tet da­für kei­ne Un­ter­stüt­zung.

1843 ver­öf­fent­licht Di­ckens sei­ne be­kann­te »Weih­nachts­ge­schich­te«, in der er eine fan­tas­ti­sche Hand­lung mit der mo­ra­li­schen Idee von So­li­da­ri­tät und Nächs­ten­lie­be ver­knüpft.

1856 er­lau­ben ihm sei­ne Ein­künf­te, den Land­sitz Ga­d‘s Hill Place in Ro­che­s­ter zu er­wer­ben. Am 9. Juni 1865 über­lebt Di­ckens den schwe­ren Ei­sen­bah­n­un­fall von Staple­hurst. Die­sen über­steht er kör­per­lich un­ver­sehrt, wird aber zeit­le­bens an den Erin­ne­run­gen lei­den.

1869 macht er eine letz­te Le­se­rei­se durch Groß­bri­tan­ni­en, auf der er wäh­rend ei­ner Le­sung einen Schlag­an­fall er­lei­det. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Di­ckens auf sei­nem Land­sitz an ei­nem zwei­ten Schlag­an­fall. Er wird am 14. Juni in der West­mins­ter Ab­bey bei­ge­setzt.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­te­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

Charles Di­ckens bei Null Pa­pier:

www.null-papier.de/dickens

Band 1

1. Kapitel – Ich komme zur Welt

Ob ich mich in die­sem Bu­che zum Hel­den mei­ner eig­nen Lei­dens­ge­schich­te ent­wi­ckeln wer­de oder ob je­mand an­ders die­se Stel­le aus­fül­len soll, wird sich zei­gen.

Um mit dem Be­ginn mei­nes Le­bens an­zu­fan­gen, be­mer­ke ich, dass ich, wie man mir mit­ge­teilt hat und wie ich auch glau­be, an ei­nem Frei­tag um Mit­ter­nacht zur Welt kam. Es heißt, dass die Uhr zu schla­gen be­gann, ge­ra­de als ich zu schrei­en an­fing.

Was den Tag und die Stun­de mei­ner Ge­burt be­trifft, so be­haup­te­ten die Kinds­frau und ei­ni­ge wei­se Frau­en in der Nach­bar­schaft, die schon Mo­na­te zu­vor, ehe wir noch ein­an­der per­sön­lich vor­ge­stellt wer­den konn­ten, eine leb­haf­te Teil­nah­me für mich ge­zeigt hat­ten…

ers­tens: Dass es mir vor­aus­be­stimmt sei, nie im Le­ben Glück zu ha­ben, und

zwei­tens: Dass ich die Gabe be­sit­zen wür­de, Geis­ter und Ge­s­pens­ter se­hen zu kön­nen. Wie sie glaub­ten, hin­gen die­se bei­den Ei­gen­schaf­ten un­ver­meid­lich all den un­glück­li­chen Kin­dern bei­der­lei Ge­schlechts an, die in der Mit­ter­nachts­stun­de ei­nes Frei­tags ge­bo­ren sind.

Über den ers­ten Punkt brau­che ich nichts wei­ter zu sa­gen, weil ja mei­ne Ge­schich­te am bes­ten zei­gen wird, ob er ein­ge­trof­fen ist oder nicht.

Was den zwei­ten an­be­langt, will ich nur fest­stel­len, dass ich bis­her noch nichts be­merkt habe. – Vi­el­leicht habe ich schon als ganz klei­nes Kind die­sen Teil mei­ner Erb­schaft an­ge­tre­ten und auf­ge­braucht. Ich be­kla­ge mich auch durch­aus nicht, falls mir die­se schö­ne Gabe vor­ent­hal­ten blei­ben soll­te. Und wenn sich ir­gend­je­mand an­ders ih­rer viel­leicht be­mäch­tigt hat, mag er sie in Got­tes­na­men be­hal­ten.

Ich kam in ei­nem Haut­netz zur Welt, das spä­ter um den nied­ri­gen Preis von fünf­zehn Gui­ne­en in den Zei­tun­gen zum Ver­kauf aus­ge­schrie­ben wur­de. Ob da­mals die See­rei­sen­den ge­ra­de knapp bei Kas­se wa­ren oder schwach im Glau­ben und da­her Korkja­cken vor­zo­gen, weiß ich nicht; ich weiß bloß so viel, dass nur ein ein­zi­ges An­ge­bot ein­lief, und zwar von ei­nem An­walt, der zu­gleich Wech­se­l­agent war und zwei Pfund bar und den Rest in Sher­ry ge­ben woll­te und es ent­schie­den ab­lehn­te, um einen hö­hern Preis die­se Ga­ran­tie ge­gen das Er­trin­ken zu er­wer­ben. Die An­non­ce wur­de zu­rück­ge­zo­gen – denn was Sher­ry an­be­lang­te, so wur­de mei­ner ar­men lie­ben Mut­ter eig­ner Sher­ry ge­ra­de da­mals ver­stei­gert.

Das Haut­netz wur­de zehn Jah­re spä­ter in un­se­rer Ge­gend in ei­ner Lot­te­rie un­ter fünf­zig Per­so­nen aus­ge­kno­belt; je fünf­zig Be­wer­ber zahl­ten eine hal­be Kro­ne per Kopf, und der Ge­win­ner hat­te noch fünf Schil­lin­ge dar­auf­zu­le­gen. Ich selbst war ge­gen­wär­tig und er­in­ne­re mich, wie un­be­hag­lich und ver­le­gen mir zu Mute war, als ein Teil mei­nes eig­nen Selbsts auf die­se Wei­se ver­äu­ßert wur­de. Ich weiß noch, dass eine alte Dame mit ei­nem Hand­korb das Netz ge­wann und die aus­ge­mach­ten fünf Schil­lin­ge in lau­ter Half­pen­ny­stücken zö­gernd her­aus­hol­te.

Es fehl­ten da­mals noch zwei und ein hal­ber Pen­ny, was man ihr nur mit ei­nem großen Auf­wand an Zeit und Arith­me­tik be­greif­lich ma­chen konn­te. Tat­sa­che ist, dass die alte Dame wirk­lich nie er­trank, son­dern tri­um­phie­rend im Bet­te starb; zwei­und­neun­zig Jah­re alt.

Ich ließ mir er­zäh­len, dass sie sich bis an ihr Ende au­ßer­or­dent­lich da­mit brüs­te­te, in ih­rem gan­zen Le­ben nie­mals auf dem Was­ser ge­we­sen zu sein, höchs­tens auf ei­ner Brücke, und dass sie bei ih­rem Tee, dem sie sehr zu­ge­tan war, stets ihre Ent­rüs­tung über die Gott­lo­sig­keit der See­leu­te aus­sprach, die sich auf dem Mee­re »her­um­trie­ben«.

Es war ver­ge­bens, ihr vor­zu­stel­len, wie vie­le An­nehm­lich­kei­ten wir, den Tee zum Bei­spiel mit in­be­grif­fen, die­ser Un­sit­te ver­dan­ken. Stets er­wi­der­te sie mit noch grö­ßerm Nach­druck und mit in­stink­ti­vem Be­wusst­sein von der Ge­walt ih­res Ein­wan­des: »Man hat sich trotz­dem nicht her­um­zu­trei­ben.«

Um mich aber nicht selbst her­um­zu­trei­ben und ab­zu­schwei­fen, will ich wie­der zu mei­ner Ge­burt zu­rück­keh­ren.

Ich er­blick­te in Blun­der­sto­ne in Suf­folk oder da­her­um, wie man in Schott­land sagt, das Licht der Welt. Ich bin ein nach­ge­bor­nes Kind. Mei­nes Va­ters Au­gen schlos­sen sich sechs Mo­na­te frü­her, als die mei­ni­gen sich öff­ne­ten.

Es liegt et­was Selt­sa­mes für mich in dem Ge­dan­ken, dass mein Va­ter mich nie­mals ge­se­hen hat, und noch Selt­sa­me­res in der schat­ten­haf­ten Erin­ne­rung aus mei­ner ers­ten Kin­der­zeit an den wei­ßen Grab­stein auf dem Kirch­hof. Ich emp­fand un­säg­li­chen Kum­mer, dass er dort drau­ßen al­lein lie­gen muss­te in der dunklen Nacht, wäh­rend un­ser klei­nes Wohn­zim­mer warm und hell war von Feu­er und Licht und das Tor un­se­res Hau­ses – fast grau­sam kam es mir manch­mal vor – für ihn ver­rie­gelt und ver­schlos­sen.

Eine Tan­te mei­nes Va­ters, folg­lich eine Groß­tan­te von mir, von der ich bald mehr zu er­zäh­len ha­ben wer­de, galt als die an­ge­se­hens­te Per­son in un­se­rer Fa­mi­lie. Miss Trot­wood oder Miss Betsey, wie mei­ne arme Mut­ter sie im­mer nann­te, wenn sie ihre Angst vor die­ser schreck­li­chen Per­sön­lich­keit so weit über­wand, sie über­haupt zu er­wäh­nen, war ver­hei­ra­tet ge­we­sen mit ei­nem Man­ne, der jün­ger als sie selbst und sehr hübsch war. Al­ler­dings nicht in dem Sinn des Sprich­worts, »hübsch ist, wer sich hübsch be­trägt«, – denn er stand stark in dem Ver­dacht, dass er Miss Betsey durch­zu­prü­geln pfleg­te und ein­mal so­gar we­gen ei­ner strit­ti­gen Un­ter­stüt­zungs­fra­ge schnel­le, aber ent­schlos­se­ne Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen hät­te, sie aus ei­nem Fens­ter im zwei­ten Stock hin­aus­zu­wer­fen.

Die­se of­fen­kun­di­gen Be­wei­se un­ver­träg­li­cher Ge­müts­art be­wo­gen schließ­lich Miss Betsey, ihn mit Geld ab­zu­fer­ti­gen und eine Schei­dung auf ge­gen­sei­ti­ge Übe­rein­kunft durch­zu­set­zen.

Er ging mit dem Ka­pi­tal nach In­di­en und wur­de dort nach ei­ner wil­den Le­gen­de in un­se­rer Fa­mi­lie ein­mal auf ei­nem Ele­fan­ten rei­ten ge­se­hen in Ge­sell­schaft ei­nes Babu. Es wird wohl ein Pa­vi­an ge­we­sen sein – oder eine Be­gum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jah­re um wa­ren, kam aus In­di­en die Kun­de von sei­nem Tod.

Wie mei­ne Tan­te es auf­ge­nom­men hat, weiß nie­mand. Gleich nach der Schei­dung nahm sie ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der an, kauf­te sich ein Häu­schen in ei­nem Wei­ler weit drau­ßen an der See­küs­te und leb­te dort mit ei­ner ein­zi­gen Die­ne­rin in un­er­bitt­li­cher Zu­rück­ge­zo­gen­heit.

Mein Va­ter muss­te einst ihr Lieb­ling ge­we­sen sein, aber sei­ne Hei­rat hat­te sie töd­lich be­lei­digt, da mei­ne Mut­ter nach ih­rer An­sicht nur eine »Wach­s­pup­pe« war. Sie hat­te mei­ne Mut­ter wohl nie ge­se­hen, wuss­te aber, dass sie sehr jung war – noch nicht zwan­zig.

Mein Va­ter und Miss Betsey sa­hen ein­an­der nie wie­der. Er war dop­pelt so alt als mei­ne Mut­ter, als er sie hei­ra­te­te, und von zar­ter Ge­sund­heit. Ein Jahr dar­auf starb er; wie ich schon ge­sagt habe, sechs Mo­na­te, ehe ich zur Welt kam.

So la­gen die Din­ge an je­nem, wie ich wohl sa­gen darf, er­eig­nis­vol­len und wich­ti­gen Frei­tag. Ich weiß na­tür­lich über sie nichts aus eig­ner An­schau­ung und stüt­ze mei­ne Erin­ne­run­gen auch nicht auf eig­ne Sin­nes­wahr­neh­mung.

Mei­ne Mut­ter saß am Feu­er, kör­per­lich schwach und geis­tig sehr nie­der­ge­drückt, schau­te, die Au­gen voll Trä­nen, in das Feu­er und sann trü­be nach über das Schick­sal des vor der Ge­burt ver­wais­ten Kin­des, des­sen An­kunft bin­nen kur­z­em er­war­tet wur­de, und über ihre ei­ge­ne Zu­kunft.

Es war ein hel­ler, win­di­ger Herbst­nach­mit­tag, und sie saß be­trübt und nie­der­ge­schla­gen da und von ban­gen Zwei­feln er­füllt, ob sie wohl glück­lich die zu er­war­ten­de schwe­re Stun­de über­ste­hen wer­de, als sie, ihre Au­gen trock­nend, auf­blick­te und durch das ge­gen­über­lie­gen­de Fens­ter eine frem­de Dame in den Gar­ten her­ein­kom­men sah.

Beim zwei­ten Blick hat­te mei­ne Mut­ter schon die si­che­re Ah­nung, dass es Miss Betsey wäre. Die un­ter­ge­hen­de Son­ne schi­en über den Gar­ten­zaun auf die frem­de Dame, und die­se schritt auf die Türe zu mit ei­ner so un­beug­sa­men Stren­ge in Ge­sicht und Hal­tung, dass es nie­mand an­ders sein konn­te.

Als sie das Haus er­reich­te, lie­fer­te sie noch einen an­de­ren Be­weis ih­rer Iden­ti­tät. Mein Va­ter hat­te oft er­wähnt, dass sie sich sel­ten wie ein ge­wöhn­li­cher Chris­ten­mensch be­neh­me; und nun trat sie wirk­lich, an­statt die Glo­cke zu zie­hen, an das nächs­te Fens­ter und drück­te ihre Nase mit sol­cher Ener­gie ge­gen das Glas, dass die­se im Au­gen­blick ganz platt und weiß wur­de, wie mei­ne Mut­ter oft er­zähl­te.

Sie be­kam dar­über einen sol­chen Schre­cken, dass ich es mei­ner Über­zeu­gung nach nur Miss Betsey zu dan­ken habe, wenn ich an ei­nem Frei­tag zur Welt kam.

Mei­ne Mut­ter war in ih­rer Auf­re­gung auf­ge­stan­den und hin­ter den Stuhl in eine Ecke ge­tre­ten. Miss Betsey sah sich durch die Schei­ben lang­sam und for­schend im Zim­mer um, wo­bei sie am an­de­ren Ende der Stu­be an­fing, und wen­de­te au­to­ma­ten­haft wie ein Tür­ken­kopf auf ei­ner Schwarz­wäl­der­wand­uhr das Ge­sicht, bis ihre Bli­cke auf mei­ner Mut­ter haf­ten blie­ben. Dann zog sie die Brau­en zu­sam­men und wink­te wie je­mand, der zu be­feh­len ge­wohnt ist, dass man ihr die Türe auf­ma­chen sol­le. Mei­ne Mut­ter ge­horch­te.

»Mrs. Da­vid Cop­per­field ver­mut­lich«, sag­te Miss Betsey mit ei­ner Em­pha­se, die sich wahr­schein­lich auf die Trau­er­klei­der mei­ner Mut­ter und auf ih­ren Zu­stand be­zog.

»Ja«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter schüch­tern.

»Ha­ben Sie schon von Miss Trot­wood ge­hört?« frag­te die Dame.

Mei­ne Mut­ter ent­geg­ne­te, sie habe das Ver­gnü­gen ge­habt, hat­te aber da­bei das un­an­ge­neh­me Ge­fühl, nicht da­nach aus­zu­se­hen, als ob es ein über­wäl­ti­gen­des Ver­gnü­gen ge­we­sen wäre.

»Jetzt steht sie vor Ih­nen«, sag­te Miss Betsey. Mei­ne Mut­ter ver­beug­te sich und bat die Dame, ein­zu­tre­ten.

Sie gin­gen in das Wohn­zim­mer, aus dem mei­ne Mut­ter ge­kom­men, denn das Be­such­zim­mer auf der an­de­ren Sei­te des Gan­ges war nicht ge­heizt und nicht ge­heizt ge­we­sen seit mei­nes Va­ters Lei­chen­be­gäng­nis. Als sie bei­de Platz ge­nom­men hat­ten, Miss Betsey aber nichts sprach, fing mei­ne Mut­ter, nach ei­nem ver­geb­li­chen Be­mü­hen sich zu fas­sen, zu wei­nen an.

»O still, still, still!« sag­te Miss Betsey has­tig. »Nur das nicht. Lass das, lass das!«

Mei­ne Mut­ter aber konn­te sich nicht hel­fen, und ihre Trä­nen flos­sen, bis sie sich aus­ge­weint hat­te.

»Nimm dei­ne Hau­be ab, Kind«, sag­te Miss Betsey, »da­mit ich dich se­hen kann.«

Mei­ne Mut­ter war viel zu sehr ein­ge­schüch­tert, um die­ses selt­sa­me Ver­lan­gen ab­zu­schla­gen, selbst wenn sie ge­wollt hät­te. Da­her ent­sprach sie dem Wun­sche und tat es mit so zit­tern­den Hän­den, dass ihr Haar, das sehr reich und schön war, sich lös­te und auf ihre Schul­tern her­ab­fiel.

»Gott be­wah­re!« rief Miss Betsey, »du bist ja noch ein wah­res Wi­ckel­kind.«

Al­ler­dings sah mei­ne Mut­ter selbst für ihre Jah­re noch sehr ju­gend­lich aus. Sie ließ den Kopf hän­gen, als ob es ihre Schuld wäre, und sag­te schluch­zend, dass sie auch fürch­te, sie sei ein wah­res Kind von ei­ner Wit­we und wer­de auch ein Kind von ei­ner Mut­ter sein, wenn sie am Le­ben blie­be.

In der kur­z­en Pau­se, die dar­auf folg­te, kam es ihr fast vor, als ob Miss Betsey ihr Haar be­rühr­te, und zwar nicht mit un­sanf­ter Hand; aber wie sie schüch­tern hof­fend auf­blick­te, hat­te sich die Dame mit auf­ge­schürz­tem Kleid be­reits hin­ge­setzt, die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet, die Füße auf das Ka­min­git­ter ge­stützt, und starr­te grim­mig ins Feu­er.

»Um Got­tes­wil­len?« frag­te Miss Betsey plötz­lich. »Wa­rum ei­gent­lich Krä­hen­horst?«

»Sie mei­nen das Haus, Ma­da­me?«

»Wa­rum Krä­hen­horst?« frag­te Miss Betsey. »Hüh­ner­hof wäre pas­sen­der ge­we­sen, wenn ihr bei­de einen Be­griff vom prak­ti­schen Le­ben ge­habt hät­tet.«

»Mr. Cop­per­field hat ihm den Na­men ge­ge­ben«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter. »Als er das Haus kauf­te, mein­te er, es müss­te hübsch sein, wenn Krä­hen dar­in nis­ten wür­den.«

Der Abend­wind feg­te in die­sem Au­gen­blick so ge­wal­tig durch die al­ten ho­hen Ul­men im Gar­ten, dass so­wohl mei­ne Mut­ter wie Miss Betsey un­will­kür­lich hin­aus­sa­hen. Als sich die Bäu­me zu­ein­an­der neig­ten wie Rie­sen, die sich Ge­heim­nis­se zu­flüs­ter­ten, und gleich dar­auf in hef­ti­ge Be­we­gung ge­rie­ten und mit ih­ren za­cki­gen Ar­men wild in der Luft her­um­fuh­ren, als ob die­se Ge­heim­nis­se zu gräss­lich für ihre See­len­ru­he wä­ren, wur­den ein paar alte, vom Sturm zer­zaus­te Krä­hen­nes­ter auf den höchs­ten Zwei­gen wie Wracks auf stür­mi­scher See hin und her­ge­wor­fen.

»Wo sind die Vö­gel?« ver­hör­te Miss Betsey.

»Was?« Mei­ne Mut­ter hat­te an et­was an­de­res ge­dacht.

»Die Krä­hen – wo sie hin­ge­kom­men sind?«

»Es wa­ren über­haupt nie wel­che da, seit wir hier ge­lebt ha­ben«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Wir dach­ten – Mr. Cop­per­field dach­te, es sei ein großer Krä­hen­horst, aber die Nes­ter wa­ren alt und von den Vö­geln längst ver­las­sen.«

»Echt Da­vid Cop­per­field«, rief Miss Betsey. »Da­vid Cop­per­field, wie er leibt und lebt! Nennt das Haus Krä­hen­horst, wo gar kei­ne Krä­he da ist, und nimmt die Vö­gel auf gu­ten Glau­ben, weil er die Nes­ter sieht.«

»Mr. Cop­per­field ist tot«, gab mei­ne Mut­ter zur Ant­wort, »und wenn Sie sich un­ter­ste­hen, un­freund­lich über ihn zu spre­chen –«

Ich glau­be, mei­ne arme, lie­be Mut­ter hat­te einen Au­gen­blick die Ab­sicht, sich an der Tan­te tät­lich zu ver­grei­fen. Die­se hät­te sie wohl leicht mit ei­ner Hand be­zwun­gen, selbst wenn mei­ne Mut­ter in ei­ner bes­sern Ver­fas­sung für einen sol­chen Kampf ge­we­sen wäre als an die­sem Abend. Aber es blieb bei ei­nem schüch­ter­nen Auf­ste­hen. Dann setz­te sich mei­ne Mut­ter wie­der schwach nie­der und fiel in Ohn­macht.

Als sie wie­der zu sich kam, sah sie Miss Betsey am Fens­ter ste­hen. Es war mitt­ler­wei­le ganz dun­kel ge­wor­den, und so un­deut­lich sie ein­an­der un­ter­schie­den, hät­ten sie doch auch das nicht ohne den Schein des Feu­ers kön­nen.

»Nun?« frag­te Miss Betsey und trat wie­der zu dem Stuhl, als hät­te sie bloß einen Blick aus dem Fens­ter ge­wor­fen, »und wann er­war­test du –?«

»Ich zit­te­re am gan­zen Lei­be«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter. »Ich weiß nicht, was es ist, ich st­er­be si­cher­lich.«

»Nein, nein, nein«, sag­te Miss Betsey; »trink eine Tas­se Tee!«

»Ach Gott, ach Gott, mei­nen Sie, dass mir das gut­tun wird?« rief mei­ne Mut­ter in hilflo­sem Tone.

»Selbst­ver­ständ­lich!« sag­te Miss Betsey. »Es ist al­les bloß Ein­bil­dung. Wie heißt denn das Mäd­chen?«

»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mäd­chen sein wird, Ma­da­me«, sag­te mei­ne Mut­ter un­schulds­voll.

»Gott seg­ne die­ses Kind!« rief Miss Betsey aus, un­be­wusst den Sinn­spruch auf dem Na­del­kis­sen in der Schub­la­de des obe­ren Stocks an­füh­rend, aber nicht mit An­wen­dung auf mich, son­dern auf mei­ne Mut­ter. »Das mei­ne ich doch nicht. Ich mei­ne doch das Dienst­mäd­chen.«

»Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter.

»Peg­got­ty!« wie­der­hol­te Miss Betsey ent­rüs­tet. »Willst du da­mit sa­gen, Kind, dass ein mensch­li­ches Ge­schöpf in eine christ­li­che Kir­che ge­gan­gen ist und sich hat Peg­got­ty tau­fen las­sen?«

»Es ist ihr Fa­mi­li­enna­me«, sag­te mei­ne Mut­ter schüch­tern. »Mr. Cop­per­field nann­te sie so, weil ihr Tauf­na­me der­sel­be ist wie mei­ner.«

»Heda, Peg­got­ty!« rief Miss Betsey und öff­ne­te die Zim­mer­tür. »Tee! Dei­ne Herr­schaft ist ein biss­chen un­wohl, aber rasch!«

Nach­dem sie die­sen Be­fehl so ge­bie­te­risch aus­ge­spro­chen, als wäre sie von je­her Her­rin die­ses Hau­ses, und aus dem Zim­mer hin­aus­ge­späht hat­te, um nach der er­staun­ten Peg­got­ty zu se­hen, die bei dem Klang ei­ner frem­den Stim­me mit ei­nem Licht den Gang ent­lang­kam, schloss sie die Tür wie­der und setz­te sich nie­der wie zu­vor, die Füße am Ka­min­git­ter, das Kleid auf­ge­schürzt und die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet.

»Du mein­test, es wer­de ein Mäd­chen wer­den«, sag­te Miss Betsey. »Ich zweifle kei­nen Au­gen­blick dar­an. Ich habe ein Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen wird. Nun, Kind! Von dem Mo­ment der Ge­burt die­ses Mäd­chens an –«

»Vi­el­leicht ists ein Kna­be«, er­laub­te sich mei­ne Mut­ter, sie zu un­ter­bre­chen.

»Ich sag­te dir be­reits, ich habe das Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen ist«, ent­geg­ne­te Miss Betsey. »Wi­der­sprich mir nicht im­mer. Also von dem Au­gen­blick der Ge­burt die­ses Mäd­chens an wer­de ich sei­ne Freun­din sein, Kind. Ich will sei­ne Pa­tin sein, und sie hat Betsey Trot­wood-Cop­per­field zu hei­ßen. Mit die­ser Betsey Trot­wood-Cop­per­field soll es im Le­ben glatt­ge­hen. Mit ih­ren Ge­füh­len darf nicht ge­spielt wer­den. Ar­mes Klei­nes. Sie muss gut er­zo­gen und in acht ge­nom­men wer­den, dass sie ihr Ver­trau­en nicht auf tö­rich­te Wei­se je­mand schenkt, der es nicht ver­dient. Das lass mei­ne Sor­ge sein.«

Bei je­dem die­ser Sät­ze zuck­te Miss Betsey mit dem Kopf, als ob das er­lit­te­ne Un­recht ver­gan­ge­ner Zei­ten in ihr wie­der le­ben­dig wür­de und sie einen deut­li­che­ren Hin­weis dar­auf nur mit Über­win­dung un­ter­drück­te. So ver­mu­te­te we­nigs­tens mei­ne Mut­ter, als sie sie beim schwa­chen Schim­mer des Feu­ers be­ob­ach­te­te, aber zu sehr von ih­rem We­sen er­schreckt war und in­ner­lich viel zu un­ru­hig und zu ver­wirrt, um über­haupt ir­gen­det­was klar be­ob­ach­ten zu kön­nen.

»Und war Da­vid gut ge­gen dich, Kind?« frag­te Miss Betsey, nach­dem sie eine Wei­le ge­schwie­gen und die Be­we­gung ih­res Kopfs all­mäh­lich auf­ge­hört hat­te. »Habt ihr euch gut ver­tra­gen?«

»Wir wa­ren sehr glück­lich«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Mr. Cop­per­field war viel zu gut zu mir.«

»Er hat dich also ver­zo­gen?«

»Al­lein und ver­las­sen zu sein und ohne Stüt­ze in die­ser rau­en Welt da­zu­ste­hen«, schluchz­te mei­ne Mut­ter, »dazu hat er mich wohl nicht er­zo­gen.«

»Gut. Wei­ne nicht«, sag­te Miss Betsey. »Ihr pass­tet eben nicht zu­sam­men, Kind, – zwei Men­schen kön­nen über­haupt nicht zu­sam­men­pas­sen – des­halb frag­te ich. Du warst eine Wai­se, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Gou­ver­nan­te?«

»Ich war Bon­ne in ei­ner Fa­mi­lie, die Mr. Cop­per­field häu­fig be­such­te. Mr. Cop­per­field war sehr freund­lich und auf­merk­sam ge­gen mich und mach­te mir zu­letzt einen Hei­rats­an­trag. Und ich sag­te ja. Und so wur­den wir Mann und Frau«, sag­te mei­ne Mut­ter ein­fach.

»Ha! Ar­mes Kind!« mur­mel­te Miss Betsey und sah im­mer noch grim­mig ins Feu­er. »Ver­stehst du et­was?«

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Ma­da­me?« stam­mel­te mei­ne Mut­ter.

»Von der Wirt­schaft zum Bei­spiel«, sag­te Miss Betsey.

»Ich fürch­te, nicht viel. Nicht so viel, wie ich möch­te. Aber Mr. Cop­per­field un­ter­rich­te­te mich –«

»Weil er sel­ber so viel da­von ver­stand«, warf Miss Betsey hin.

»– und ich glau­be, ich hät­te bald Fort­schrit­te ge­macht, denn ich war eif­rig im Ler­nen und er ein sehr ge­dul­di­ger Leh­rer, wenn nicht das große Un­glück –«, mei­ne Mut­ter ver­lor wie­der die Fas­sung und konn­te nicht wei­ter­spre­chen.

»Schon gut, schon gut«, sag­te Miss Betsey.

»Ich führ­te mein Wirt­schafts­buch re­gel­mä­ßig und schloss es mit Mr. Cop­per­field pünkt­lich je­den Abend ab«, rief mei­ne Mut­ter mit ei­nem neu­en Aus­bruch des Schmer­zes.

»Schon gut, schon gut«, rief Miss Betsey. »Hör end­lich auf zu wei­nen.«

»Und es war nie ein Wort des Strei­tes da­bei oder der Un­ei­nig­keit, au­ßer wenn Mr. Cop­per­field ta­del­te, dass mei­ne Drei­er und Fün­fer ein­an­der zu ähn­lich sä­hen, oder dass ich mei­nen Sieb­nern und Neu­nern krau­se Schwän­ze gäbe«, be­gann mei­ne Mut­ter von Neu­em und wie­der von ei­ner Trä­nen­flut un­ter­bro­chen.

»Du wirst dich krank ma­chen«, sag­te Miss Betsey. »Du weißt doch, dass das we­der für dich noch für mein Pa­ten­kind gut ist. Komm, du musst das blei­ben las­sen.«

Die­ses Ar­gu­ment trug ei­ni­ger­ma­ßen dazu bei, mei­ne Mut­ter zum Schwei­gen zu brin­gen, ob­gleich ihr zu­neh­men­des Übel­be­fin­den die Haup­t­ur­sa­che sein moch­te. Eine län­ge­re Stil­le trat ein, die nur un­ter­bro­chen wur­de von ei­nem ge­le­gent­li­chen »Ha!« Miss Betseys, die im­mer noch mit den Fü­ßen auf dem Ka­min da­saß.

»Da­vid hat sich mit sei­nem Geld eine Lei­b­ren­te ge­kauft«, sag­te sie end­lich, »und wie hat er für dich ge­sorgt?«

»Mr. Cop­per­field«, sag­te mei­ne Mut­ter mit An­stren­gung, »war so vor­sich­tig und gut, mir die An­wart­schaft auf einen Teil da­von zu si­chern.«

»Wie viel?« frag­te Miss Betsey.

»Hun­dert­und­fünf Pfund jähr­lich.«

»Er hät­te es noch schlim­mer ma­chen kön­nen«, sag­te mei­ne Tan­te.

Das Wort pass­te gut für den Au­gen­blick. Mei­ner Mut­ter ging es so viel schlim­mer, dass Peg­got­ty, die eben mit dem Tee­brett und Lich­tern her­ein­kam und auf den ers­ten Blick sah, wie krank sie war, – Miss Betsey hät­te es schon eher se­hen kön­nen, wenn es hell ge­nug ge­we­sen wäre, – sie so rasch wie mög­lich in die obe­re Stu­be hin­auf­brach­te und so­fort Ham Peg­got­ty, ih­ren Nef­fen, der seit ei­ni­gen Ta­gen ohne Wis­sen mei­ner Mut­ter als Bote für un­vor­her­ge­se­he­ne Fäl­le im Hau­se ver­bor­gen ge­hal­ten wur­de, nach der Heb­am­me und dem Dok­tor schick­te.

Die­se ver­bün­de­ten Mäch­te, die sich im Ver­lauf we­ni­ger Mi­nu­ten zu­sam­men­fan­den, wa­ren sehr er­staunt, eine frem­de Dame von stren­gem Aus­se­hen vor dem Feu­er sit­zen zu se­hen, den Hut am lin­ken Arm hän­gend, und sich die Ohren mit Ju­we­lier­baum­wol­le zu­stop­fend.

Da Peg­got­ty nichts über sie wuss­te und mei­ne Mut­ter nichts über sie hat­te fal­len­las­sen, blieb sie ein un­ge­lös­tes Rät­sel in der Wohn­stu­be, und der Um­stand, dass sie ein Baum­wol­len­ma­ga­zin in der Ta­sche trug und sich die Wat­te auf be­sag­te Wei­se in die Ohren stopf­te, raub­te ihr nichts von ih­rem An­se­hen.

Nach­dem der Dok­tor oben ge­we­sen und wie­der her­un­ter­ge­kom­men war und of­fen­bar ver­mu­te­te, dass er mit der un­be­kann­ten Dame ei­ni­ge Stun­den wür­de zu­sam­men­blei­ben müs­sen, be­müh­te er sich, höf­lich und ge­sel­lig zu er­schei­nen. Er war der sanf­tes­te sei­nes Ge­schlechts, der mil­des­te al­ler klei­nen Män­ner. Er drück­te sich beim Ein- und Aus­ge­hen seit­wärts durch die Tü­ren, um mög­lichst we­nig Raum ein­zu­neh­men. Er ging so lei­se wie der Geist des Ham­let, aber noch viel lang­sa­mer. Er trug den Kopf auf eine Sei­te ge­neigt, teils aus Be­schei­den­heit, teils aus Ent­ge­gen­kom­men. Es wäre zu we­nig ge­sagt, dass er nicht ein­mal für einen Hund ein bö­ses Wort ge­habt hät­te. Er hät­te nicht ein­mal ei­nem tol­len Hund ein bö­ses Wort sa­gen kön­nen. Höchs­tens ein sanf­tes oder ein hal­b­es oder ein Bruch­stück da­von, – denn er sprach so lang­sam, wie er ging, – aber er wür­de nicht grob ge­gen ihn ge­we­sen sein. Nicht ein­mal ein ra­sches, nicht um al­les in der Welt.

Mr. Chil­lip sah also mei­ne Tan­te, den Kopf auf die Sei­te ge­neigt, sanft an, mach­te eine klei­ne Ver­beu­gung und sag­te, auf die Wat­te an­spie­lend, in­dem er sein lin­kes Ohr be­rühr­te:

»Lo­ka­le Rei­zung, Ma­da­me?«

»Was?« frag­te mei­ne Tan­te und zog die Baum­wol­le wie einen Kork aus ei­nem Ohr.

Mr. Chil­lip er­schrak so sehr über ihr bar­sches We­sen, wie er spä­ter mei­ner Mut­ter er­zähl­te, dass es noch ein Glück war, dass er die Fas­sung nicht ver­lor. Er wie­der­hol­te sanft:

»Lo­ka­le Rei­zung, Ma­da­me?«

»Un­sinn!« ant­wor­te­te mei­ne Tan­te und ver­stopf­te so­fort das Ohr wie­der.

Mr. Chil­lip konn­te nun wei­ter nichts tun, als Platz neh­men und sie schüch­tern an­se­hen, wie sie so da­saß und ins Feu­er starr­te, bis er wie­der hin­auf­ge­ru­fen wur­de.

Nach vier­tel­stün­di­ger Ab­we­sen­heit kehr­te er wie­der zu­rück.

»Nun?« frag­te mei­ne Tan­te und nahm die Wat­te aus dem ihm am nächs­ten lie­gen­den Ohre.

»Nun, Ma­da­me«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »wir – wir ma­chen lang­sam Fort­schrit­te.«

»Ba-a-ah«, sag­te mei­ne Tan­te, den ver­ächt­li­chen Aus­ruf förm­lich her­vor­sto­ßend, und ver­stopf­te sich wie­der wie vor­hin.

In der Tat – in der Tat, Mr. Chil­lip war ge­ra­de­zu be­stürzt, – wie er spä­ter mei­ner Mut­ter ge­stand; – na­tür­lich bloß vom ärzt­li­chen Ge­sichts­punkt aus. Aber trotz­dem starr­te er Miss Betsey fast zwei Stun­den lang an, bis er von Neu­em ge­ru­fen wur­de. Nach län­ge­rer Ab­we­sen­heit kehr­te er wie­der­um zu­rück.

»Nun?« frag­te mei­ne Tan­te und nahm aber­mals die Wat­te aus dem glei­chen Ohr.

»Nun, Ma­da­me«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »wir – wir ma­chen lang­sam Fort­schrit­te, Ma­da­me.«

»Ja-a-a«, knurr­te mei­ne Tan­te Mr. Chil­lip der­art an, dass er es für­wahr nicht län­ger mehr aus­hal­ten konn­te. Es war fast da­nach an­ge­tan, ihm al­len Mut zu neh­men, äu­ßer­te er spä­ter.

Da­rum ging er lie­ber hin­aus und setz­te sich drau­ßen im Dun­keln auf die zu­gi­ge Trep­pe, bis man wie­der nach ihm schick­te.

Ham Peg­got­ty, der in die Volks­schu­le ging und wie ein Dra­che über sei­nem Ka­te­chis­mus zu sit­zen pfleg­te und des­halb si­cher als glaub­wür­di­ger Zeu­ge gel­ten kann, er­zähl­te am nächs­ten Tag, er hät­te eine Stun­de spä­ter zur Stu­ben­tür her­ein­ge­guckt und wäre so­gleich von Miss Betsey, die in großer Er­re­gung auf und ab ge­gan­gen, er­späht und ge­packt wor­den, ehe er die Flucht habe er­grei­fen kön­nen. Er be­rich­te­te fer­ner, dass man zu­wei­len das Geräusch von Fuß­trit­ten und Stim­men in den obe­ren Zim­mern ge­hört hät­te, das wahr­schein­lich die Wat­te nicht ganz ab­hielt, wie er aus dem Um­stän­de schloss, dass ihn die Dame wie ein Op­fer fest­hielt und an ihm ihre über­strö­men­de Auf­re­gung aus­ließ, wenn die Geräusche am lau­tes­ten wa­ren. Sie hät­te ihn am Kra­gen ge­packt ge­hal­ten und in der Stu­be auf- und ab­ge­führt (als ob er zu viel Lau­da­num ge­nos­sen), hät­te ihn ge­schüt­telt, ihm die Wä­sche zer­zaust und die Ohren ver­stopft, als ob es ihre eig­nen ge­we­sen wä­ren, und ihn auf an­de­re Wei­se miss­han­delt. Sein Be­richt wur­de zum Teil von Peg­got­ty be­stä­tigt, die ihn um halb ein Uhr, kurz nach sei­ner Be­frei­ung, noch ganz rot ge­se­hen hat­te.

Der sanf­te Mr. Chil­lip konn­te nie­mand böse sein und wenn über­haupt je, so am al­ler­we­nigs­ten in sol­cher Stun­de. Er drück­te sich des­halb in das Wohn­zim­mer, so­bald er ab­kom­men konn­te, und sag­te zu mei­ner Tan­te in sei­nen mil­des­ten Tö­nen:

»Ma­da­me, es freut mich, Sie be­glück­wün­schen zu kön­nen.«

»Wozu?« frag­te Miss Betsey mit Schär­fe.

Mr. Chil­lip, wie­der­um ver­wirrt durch die au­ßer­or­dent­li­che Schroff­heit mei­ner Tan­te, mach­te ihr eine klei­ne Ver­beu­gung und lä­chel­te sie an, um sie zu be­sänf­ti­gen.

»O die­ser Mensch, was er nur macht«, rief mei­ne Tan­te un­ge­dul­dig, »kann er denn nicht spre­chen!«

»Be­ru­hi­gen Sie sich, mei­ne teue­re Ma­da­me«, sag­te Mr. Chil­lip mit sei­nen weichs­ten Lau­ten. »Es ist nicht län­ger Ur­sa­che zur Be­sorg­nis mehr vor­han­den, Ma­da­me. Be­ru­hi­gen Sie sich.«

Man hat es spä­ter für ein Wun­der an­ge­se­hen, dass mei­ne Tan­te ihn nicht schüt­tel­te, um das, was er zu sa­gen hat­te, aus ihm her­aus­zu­schüt­teln. Was sie schüt­tel­te, war nur der Kopf, den aber so dro­hend, dass es den Dok­tor er­zit­tern mach­te.

»Nun, Ma­da­me«, be­gann Mr. Chil­lip von Neu­em, so­bald er wie­der Mut ge­fasst, »es freut mich, Sie be­glück­wün­schen zu kön­nen. Al­les ist nun vor­bei, Ma­da­me, und glück­lich vor­bei.«

Wäh­rend der fünf Mi­nu­ten, die Mr. Chil­lip zu die­ser Rede brauch­te, sah ihn mei­ne Tan­te lau­ernd und scharf an.

»Wie be­fin­det sie sich?« frag­te mei­ne Tan­te und ver­schränk­te ihre Arme, an de­ren ei­nem im­mer noch der Hut hing.

»Nun, Ma­da­me, sie wird bald wie­der ganz wohl sein, hof­fe ich«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »so wohl, wie wir es von ei­ner jun­gen Mut­ter un­ter so ge­trüb­ten häus­li­chen Ver­hält­nis­sen nur er­war­ten kön­nen. Wenn Sie sie so­gleich se­hen wol­len, steht dem nichts im Wege, Ma­da­me. Vi­el­leicht tut es ihr so­gar gut.«

»Und sie? Wie geht es ihr?«

Mr. Chil­lip neig­te sei­nen Kopf noch ein biss­chen mehr auf die Sei­te und sah mei­ne Tan­te an wie ein lie­bens­wür­di­ger Vo­gel.

»Das Baby?« sag­te mei­ne Tan­te, »wie geht es ihr?«

»Ma­da­me«, er­wi­der­te Mr. Chil­lip. »Ich nahm an, Sie wüss­ten es schon. Es ist ein Kna­be.«

Mei­ne Tan­te sprach kein Wort, nahm ih­ren Hut an den Bän­dern wie eine Schleu­der, führ­te einen Streich da­mit ge­gen Mr. Chil­lips Kopf, stülp­te ihn aufs Haupt, schritt hin­aus und kam nie­mals wie­der.

Sie ver­schwand, wie eine un­zu­frie­de­ne Fee oder wie eins je­ner über­na­tür­li­chen We­sen, die ich nach dem Volks­glau­ben be­rech­tigt war, se­hen zu kön­nen; ging hin und ward nicht mehr ge­se­hen.

Ich lag in mei­ner Wie­ge und mei­ne Mut­ter im Bett. Betsey Trot­wood-Cop­per­field aber blieb für im­mer im Lan­de der Träu­me und Schat­ten, in je­ner grau­en­vol­len Re­gi­on, die ich jüngst durch­wan­dert. Und das Licht un­se­res Zim­mers schi­en hin­aus auf das ir­di­sche Ziel al­ler Wan­de­rer aus die­ser Re­gi­on: auf den Hü­gel über der Asche und dem Stau­be des­sen, der einst hie­nie­den ge­weilt, und ohne den ich nie ge­wor­den wäre.

2. Kapitel – Ich beobachte

Die ers­ten Ge­gen­stän­de, die be­stimm­te Um­ris­se vor mir an­neh­men, wenn ich weit zu­rück in die Lee­re mei­ner Kind­heit bli­cke, sind mei­ne Mut­ter mit ih­rem schö­nen Haar und den ju­gend­li­chen For­men und Peg­got­ty mit über­haupt gar kei­ner Form und mit so dun­keln Au­gen, dass sie ihre Um­ge­bung im Ge­sicht dun­kel zu ma­chen schei­nen, und mit Ar­men und Ba­cken so rot, dass ich mich stets wun­der­te, warum die Vö­gel nicht lie­ber an ih­nen statt an den Äp­feln her­um­pick­ten.

Ich glau­be, mich noch dar­an er­in­nern zu kön­nen, wie die bei­den Frau­en in klei­ner Ent­fer­nung von­ein­an­der auf dem Bo­den knie­ten, und ich un­si­cher von ei­ner zur an­de­ren wank­te. Ich habe auch noch eine dunkle Erin­ne­rung an Peg­got­tys Zei­ge­fin­ger, der von der Na­del so rau war wie ein Ta­schen­mus­kat­nuss­reib­ei­sen.

Das mag Ein­bil­dung sein, aber ich glau­be, dass das Ge­dächt­nis der meis­ten Men­schen wei­ter in die Kin­der­zeit zu­rück­reicht, als man ge­wöhn­lich an­nimmt; eben­so glau­be ich, dass die Beo­b­ach­tungs­ga­be bei vie­len klei­nen Kin­dern an Schär­fe und Ge­nau­ig­keit ganz wun­der­bar ist. Ich glau­be so­gar, dass man von den meis­ten Er­wach­se­nen, die in die­ser Hin­sicht be­mer­kens­wert sind, viel eher sa­gen könn­te, sie hät­ten die­se Fä­hig­keit nicht ver­lo­ren, als, sie hät­ten sie erst spä­ter er­wor­ben; umso mehr, als sol­che Men­schen über­dies eine ge­wis­se Fri­sche und Sanft­mut und eine Fä­hig­keit, sich über ir­gen­det­was zu freu­en, be­sit­zen, lau­ter Ei­gen­schaf­ten, die sie eben­falls aus der Kind­heit mit her­über­ge­nom­men ha­ben.

Wenn ich also, wie ge­sagt, in die Lee­re mei­ner frü­he­s­ten Ju­gend zu­rück­bli­cke, sind die ers­ten Ge­gen­stän­de, de­ren ich mich er­in­nern kann, und die aus dem Wirr­warr der Din­ge her­vor­ste­chen, mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty. Was weiß ich sonst noch? Wol­len mal se­hen.

Es schei­det sich aus dem Ne­bel un­ser Haus in sei­ner mir in frü­he­s­ter Erin­ne­rung ver­trau­ten Ge­stalt. Im Erd­ge­schoss geht Peg­got­tys Kü­che auf den Hin­ter­hof hin­aus; da sind: in der Mit­te ein Tau­ben­schlag auf ei­ner Stan­ge, aber ohne Tau­ben; eine große Hun­de­hüt­te in ei­ner Ecke, aber kein Hund dar­in, und eine An­zahl Hüh­ner, die mir er­schreck­lich groß vor­kom­men, wie sie mit dro­hen­dem und wil­dem We­sen her­um­stol­zie­ren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfos­ten, um zu krä­hen, und scheint sein Auge ganz be­son­ders auf mich zu rich­ten, wie ich ihn durch das Kü­chen­fens­ter be­trach­te; und ich zit­te­re vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gän­sen au­ßer­halb der Sei­ten­tür, die mir mit lan­g­aus­ge­streck­ten Häl­sen nach­lau­fen, wenn ich vor­bei­ge­he, träu­me ich die gan­ze Nacht, wie ein Mann, den wil­de Tie­re um­ge­ben, von Lö­wen träu­men wür­de.

Dann ist ein lan­ger Gang da – für mich eine end­lo­se Per­spek­ti­ve –, der von Peg­got­tys Kü­che zum Haupt­tor führt. Eine dunkle Vor­rats­kam­mer mün­det auf die­sen Gang; – so recht ein Ort, um des Nachts dar­an scheu vor­bei­zu­lau­fen –, denn ich weiß nicht, was zwi­schen die­sen Ton­nen und Krü­gen und al­ten Tee­kis­ten ste­cken mag –, wenn sich nicht ge­ra­de je­mand mit ei­nem bren­nen­den Licht in der Kam­mer be­fin­det. Eine dump­fi­ge Luft, mit der sich der Ge­ruch von Sei­fe, Mi­xed-Pick­les, Pfef­fer, Ker­zen und Kaf­fee ver­mischt, strömt her­aus. Dann sind die bei­den Wohn­zim­mer da: Das eine, in dem abends mei­ne Mut­ter, ich und Peg­got­ty sit­zen, – denn Peg­got­ty leis­tet uns Ge­sell­schaft, wenn wir al­lein sind, und sie ihre Ar­beit ge­macht hat, – und das Empfangs­zim­mer, wo wir Sonn­tags sit­zen, prunk­voll, aber nicht so trau­lich. Für mich hat die­ses Zim­mer et­was Schwer­mü­ti­ges, denn Peg­got­ty hat mir er­zählt, – ich weiß zwar nicht mehr, wann, aber es muss lan­ge her sein – als mein Va­ter be­gra­ben wur­de, wä­ren die Trau­er­gäs­te drin mit schwar­zen Män­teln um­her­ge­gan­gen. Dort liest je­den Sonn­tag abends mei­ne Mut­ter Peg­got­ty und mir vor, wie La­za­rus von den To­ten auf­er­weckt wur­de. Und ich ängs­ti­ge mich so sehr dar­über, dass sie mich dann aus dem Bet­te her­aus­neh­men und mir aus dem Schlaf­zim­mer­fens­ter den stil­len Kirch­hof zei­gen müs­sen, wo die To­ten im fei­er­li­chen Mond­licht in ih­ren Grä­bern ru­hen.

Auf der gan­zen Welt, so viel ich weiß, ist nir­gends das Gras nur halb so grün wie auf die­sem Kirch­hof, nir­gends sind die Bäu­me halb so schat­tig, und nichts ist so still wie die Grab­stei­ne. Die Scha­fe wei­den dort, wenn ich früh mor­gens in dem klei­nen Bett in dem Al­ko­ven hin­ter mei­ner Mut­ter Schlaf­zim­mer knie und hin­aus­schaue, und ich sehe das röt­li­che Licht auf die Son­nen­uhr schei­nen und den­ke bei mir: Freut sich die Son­nen­uhr, dass sie die Zeit an­ge­ben kann?

Dann ist un­ser Bet­stuhl in der Kir­che da. Was für ein hoch­rücki­ger Stuhl! Da­ne­ben ist ein Fens­ter, von dem aus man un­ser Haus se­hen kann. Und oft­mals wäh­rend des Mor­gen­got­tes­diens­tes blickt Peg­got­ty hin­aus, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob nicht ein­ge­bro­chen oder et­was in Brand ge­steckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Au­gen um­her­wan­dern lässt, so wird sie doch böse, wenn ich das­sel­be tue, und winkt mir zu, wenn ich auf dem Sitz ste­he, dass ich den Geist­li­chen an­bli­cken sol­le. Aber ich kann ihn doch nicht im­mer­fort an­se­hen – ich ken­ne ihn doch so­wie­so auch ohne das wei­ße Ding, das er um­hat, und fürch­te im­mer, er kön­ne plötz­lich wis­sen wol­len, warum ich ihn so an­stau­ne, und viel­leicht gar den Got­tes­dienst un­ter­bre­chen, um mich dar­über zu be­fra­gen, – und was soll­te ich dann tun?

Es ist et­was Schreck­li­ches, zu gäh­nen. Aber ir­gen­det­was muss ich doch ma­chen. Ich bli­cke mei­ne Mut­ter an, aber sie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einen Jun­gen im Sei­ten­schiff an; er schnei­det mir Ge­sich­ter. Ich sehe auf die Son­nen­strah­len, die durch die off­ne Tür her­ein­fal­len, und da er­bli­cke ich ein ver­irr­tes Schaf, ich mei­ne nicht einen Sün­der, son­dern einen Ham­mel, der Mie­ne macht, in die Kir­che zu tre­ten. Ich füh­le, dass ich nicht län­ger hin­schau­en kann, denn ich könn­te in Ver­su­chung kom­men, et­was laut zu sa­gen, und was wür­de dann aus mir wer­den. Ich bli­cke auf die Ge­dächt­nis­ta­feln an der Wand und ver­su­che, an den ver­stor­be­nen Mr. Bod­gers zu den­ken, und wel­cher Art wohl Mrs. Bod­gers Ge­füh­le ge­we­sen sein mö­gen, als ihr Mann so lan­ge krank lag und die Kunst der Ärz­te ver­ge­bens war. Ich fra­ge mich, ob sie auch Mr. Chil­lip ver­geb­lich ge­ru­fen ha­ben und wenn, ob es ihm recht ist, dar­an jede Wo­che ein­mal er­in­nert zu wer­den. Ich schaue von Mr. Chil­lip in sei­nem Sonn­tags­hals­tuch nach der Kan­zel hin und den­ke, was für ein hüb­scher Spiel­platz das sein müss­te, und was das für eine fei­ne Fes­tung ab­ge­ben wür­de, wenn ein an­de­rer Jun­ge die Trep­pen her­auf­käme zum An­griff, und man könn­te ihm das Samt­kis­sen mit den Trod­deln auf den Kopf schmei­ßen. Und wenn sich nach und nach mei­ne Au­gen schlie­ßen, und ich an­fangs den Geist­li­chen in der Hit­ze noch ein schläf­ri­ges Lied sin­gen höre, ver­neh­me ich bald gar nichts mehr. Dann fal­le ich mit ei­nem Krach vom Sit­ze und wer­de mehr tot als le­ben­dig von Peg­got­ty hin­aus­ge­tra­gen.

Und dann wie­der sehe ich die Au­ßen­sei­te un­se­res Hau­ses, und die Fens­ter­lä­den des Schlaf­zim­mers ste­hen of­fen, da­mit die wür­zi­ge Luft hin­ein­strö­men kann, und im Hin­ter­grund des Haupt­gar­tens hän­gen in den ho­hen Ul­men die zer­zaus­ten Krä­hen­nes­ter. Jetzt bin ich in dem Gar­ten hin­ter dem Hof mit dem lee­ren Tau­ben­schlag und der Hun­de­hüt­te – ein wah­rer Park für Schmet­ter­lin­ge – mit sei­nem ho­hen Zaun und sei­ner Türe mit Vor­häng­sch­lös­sern, und das Obst hängt dick an den Bäu­men, rei­fer und rei­cher als in ir­gend­ei­nem an­de­ren Gar­ten, und mei­ne Mut­ter pflückt die Früch­te in ein Körb­chen, wäh­rend ich da­bei­ste­he und heim­lich ein paar ab­ge­zwick­te Sta­chel­bee­ren rasch in den Mund ste­cke und mich be­mü­he, un­be­tei­ligt aus­zu­se­hen.

Ein star­ker Wind er­hebt sich, und im Handum­dre­hen ist der Som­mer weg. Wir spie­len im Win­ter­zwie­licht und tan­zen in der Stu­be her­um. Wenn mei­ne Mut­ter au­ßer Atem ist und im Lehn­stuhl aus­ruht, sehe ich ihr zu, wie sie ihre glän­zen­den Lo­cken um die Fin­ger wi­ckelt und sich das Leib­chen glatt zieht, und nie­mand weiß so gut wie ich, dass sie sich freut, so gut aus­zu­se­hen, und stolz ist, so hübsch zu sein.

Das sind so ei­ni­ge von mei­nen frü­he­s­ten Ein­drücken. Das und ein Ge­fühl, dass wir bei­de ein biss­chen Angst hat­ten vor Peg­got­ty und uns in den meis­ten Fäl­len ih­ren An­ord­nun­gen füg­ten, ge­hört zu den ers­ten Schlüs­sen, – wenn ich so sa­gen darf, – die ich aus dem zog, was ich sah.

Peg­got­ty und ich sa­ßen ei­nes Abends al­lein in der Wohn­stu­be vor dem Ka­min. Ich hat­te Peg­got­ty von Kro­ko­di­len vor­ge­le­sen. Ich muss wohl kaum sehr deut­lich ge­le­sen ha­ben, oder die arme See­le muss in tie­fen Ge­dan­ken ge­we­sen sein, denn ich er­in­ne­re mich, als ich fer­tig war, hat­te sie so eine Idee, Kro­ko­di­le wä­ren eine Art Ge­mü­se. Ich war vom Le­sen müde und sehr schläf­rig, aber da ich die be­son­de­re Er­laub­nis be­kom­men hat­te, auf­zu­blei­ben, bis mei­ne Mut­ter von ei­nem Be­such nach Hau­se käme, wäre ich na­tür­lich lie­ber auf mei­nem Pos­ten ge­stor­ben als zu Bett ge­gan­gen. Ich war be­reits auf ei­nem Sta­di­um von Schläf­rig­keit an­ge­kom­men, wo Peg­got­ty mir im­mer grö­ßer und grö­ßer zu wer­den schi­en. Ich hielt mei­ne Au­gen mit den bei­den Zei­ge­fin­gern of­fen und sah sie un­un­ter­bro­chen an, wie sie auf ih­rem Stuh­le saß und ar­bei­te­te, be­trach­te­te dann das klei­ne Stück­chen Wachs­licht, mit dem sie ih­ren Zwirn wichs­te – wie alt es aus­sah mit sei­nen Run­zeln kreuz und quer –, das Hütt­chen mit dem Stroh­dach, worin das El­len­maß wohn­te, das Ar­beits­käst­chen mit dem Schie­be­de­ckel und ei­ner An­sicht dar­auf von der St.-Pauls-Kir­che mit ei­ner pur­pur­ro­ten Kup­pel, den mes­sing­nen Fin­ger­hut und sie selbst, die mir un­ge­mein schön vor­kam. Ich war so müde, dass ich fühl­te, ich wür­de ein­schla­fen, wenn ich nur einen Au­gen­blick mei­ne Au­gen ab­wen­de­te.

»Peg­got­ty«, sag­te ich dann plötz­lich: »Bist du ein­mal ver­hei­ra­tet ge­we­sen?«

»Herr Gott, Mas­ter Davy!« er­wi­der­te Peg­got­ty, »wie kommst du nur aufs Hei­ra­ten?«

Sie ant­wor­te­te so über­rascht, dass ich ganz wach wur­de. Dann hielt sie inne in ih­rer Ar­beit und sah mich an, den Fa­den in sei­ner gan­zen Län­ge straff­ge­zo­gen.

»Aber du warst doch ein­mal ver­hei­ra­tet, Peg­got­ty?« frag­te ich. »Du bist doch wun­der­schön, nicht wahr?« Ich hielt sie al­ler­dings für eine an­de­re Stilart als mei­ne Mut­ter, aber nach ei­ner an­de­ren Schu­le von Schön­heits­be­griff ge­se­hen, kam sie mir als voll­kom­me­nes Mus­ter vor. In un­serm Empfangs­zim­mer war ein rot­sam­te­nes Fuß­bänk­chen, auf das mei­ne Mut­ter einen Blu­men­strauß ge­malt hat­te. Die­ser Samt und Peg­got­tys Haut schie­nen mir ganz gleich. Die Fuß­bank war glatt und weich und Peg­got­ty rau, aber das mach­te kei­nen Un­ter­schied.

»Ich, schön, Davy!« sag­te Peg­got­ty. »O Gott, nein, mein lie­bes Kind. Aber wie kommst du aufs Hei­ra­ten?«

»Ich weiß nicht. – Du darfst nicht mehr als einen auf ein­mal hei­ra­ten, nicht wahr, Peg­got­ty?«

»Ge­wiss nicht«, sag­te Peg­got­ty mit größ­ter Ent­schie­den­heit.

»Aber wenn du einen Mann hei­ra­test und er stirbt, dann geht’s, nicht wahr, Peg­got­ty?«

»Es geht schon, wenn man will, lie­bes Kind«, sag­te Peg­got­ty. »Das ist dann eben mei­ne Sa­che.«

»Aber was ist dei­ne Mei­nung«, frag­te ich.

Bei die­ser Fra­ge blick­te ich sie neu­gie­rig an, weil sie mich so selt­sam mus­ter­te.

»Mei­ne Mei­nung ist«, sag­te Peg­got­ty, als sie nach kur­z­em Zö­gern ihre Au­gen von mir ab­ge­wen­det und wie­der zu ar­bei­ten be­gon­nen hat­te, »dass ich selbst nie­mals ver­hei­ra­tet ge­we­sen bin, Mas­ter Davy, und dass ich auch nicht dar­an den­ke. Das ist al­les, was ich von der Sa­che weiß.«

»Du bist doch nicht böse, Peg­got­ty?« frag­te ich, nach­dem ich eine Wei­le still ge­we­sen.

Ich glaub­te es wirk­lich, so kurz hat­te sie mich ab­ge­fer­tigt, muss­te aber wohl im Irr­tum sein, denn sie leg­te ihr Strick­zeug weg, öff­ne­te ihre Arme, nahm mei­nen lo­cki­gen Kopf und drück­te mich fest an sich. Dass sie mich derb an sich press­te, wuss­te ich, denn da sie sehr be­leibt war, so pfleg­ten stets, wenn sie an­ge­klei­det war, bei je­der klei­nen An­stren­gung ein paar Knöp­fe hin­ten an ih­rem Kleid ab­zu­sprin­gen. Und ich er­in­ne­re mich, dass zwei Stück in die ent­ge­gen­ge­setz­te Zim­me­r­e­cke flo­gen, als sie mich um­arm­te.

»Nun lies mir noch et­was von den Kror­king­di­len vor«, sag­te Peg­got­ty, die in die­sem Na­men noch nicht recht sat­tel­fest war, »ich habe noch lan­ge nicht ge­nug von ih­nen ge­hört.«

Ich konn­te nicht be­grei­fen, warum Peg­got­ty so wun­der­li­che Au­gen mach­te und durch­aus wie­der von den Kro­ko­di­len hö­ren woll­te. Mit großem Ei­fer mei­ner­seits kehr­ten wir je­doch wie­der zu den Un­ge­heu­ern zu­rück und lie­ßen die Son­ne ihre Eier im San­de aus­brü­ten, ris­sen vor ih­nen aus und ent­ran­nen ih­nen durch plötz­li­ches Um­keh­ren, was sie ih­res un­ge­schlach­ten Bau­es we­gen nicht so rasch nach­ma­chen konn­ten, ver­folg­ten sie als Ein­ge­bo­re­ne ins Was­ser und steck­ten ih­nen scharf­ge­spitz­te Holz­stücke in den Ra­chen, kurz, lie­ßen sie förm­lich Spieß­ru­ten lau­fen. Ich we­nigs­tens tat es, hat­te aber be­treffs Peg­got­tys so mei­ne Zwei­fel, denn ich sah, wie sie sich die gan­ze Zeit über in Ge­dan­ken ver­sun­ken mit der Na­del in ver­schie­de­ne Tei­le ih­res Ge­sichts und ih­rer Arme stach. Wir hat­ten end­lich die Kro­ko­di­le er­schöpft und be­gan­nen eben mit den Al­li­ga­to­ren, als die Gar­ten­glo­cke läu­te­te. Wir gin­gen hin­aus und fan­den da mei­ne Mut­ter, die mir un­ge­wöhn­lich hübsch vor­kam, und bei ihr stand ein Herr mit schö­nem, schwar­zem Haar und Ba­cken­bart, der schon am letz­ten Sonn­tag mit uns aus der Kir­che nach Hau­se ge­gan­gen war.

Als mei­ne Mut­ter mich auf der Schwel­le in ihre Arme nahm und mich küss­te, sag­te der Herr, ich sei glück­li­cher als ein Kö­nig – oder et­was Ähn­li­ches –; ich füh­le wohl, dass mir mein spä­te­res Ver­ständ­nis hier zu Hil­fe kommt.

»Was heißt das?« frag­te ich ihn über ihre Schul­ter hin­weg.

Er klopf­te mich auf den Kopf, aber ich konn­te ihn und sei­ne tie­fe Stim­me nicht lei­den und war ei­fer­süch­tig, dass sei­ne Hand die mei­ner Mut­ter be­rühr­te, und ich stieß ihn weg, so gut ich konn­te.

»Aber Davy«, er­mahn­te mich mei­ne Mut­ter.

»Der lie­be Jun­ge«, sag­te der Herr. »Ich kann mich über sei­ne Lie­be nicht wun­dern.«

Noch nie hat­te ich mei­ner Mut­ter Ge­sicht so schön rot ge­se­hen. Sie schalt mich mil­de aus we­gen mei­ner Un­höf­lich­keit und sprach, in­dem sie mich fest an sich drück­te, ih­ren Dank dem Herrn aus, der so freund­lich ge­we­sen, sie nach Hau­se zu be­glei­ten. Sie reich­te ihm ihre Hand hin bei die­sen Wor­ten, und als er sie nahm, kam es mir vor, als ob sie mich an­blick­te.

»Jetzt wol­len wir uns gute Nacht wün­schen, mein hüb­scher Jun­ge«, sag­te der Herr zu mir, als er sein Ge­sicht, wie ich wohl be­merk­te, auf mei­ner Mut­ter klei­nen Hand­schuh neig­te.

»Gute Nacht«, sag­te ich.

»Wir müs­sen noch die bes­ten Freun­de von der Welt wer­den«, lach­te der Herr, »gib mir die Hand.«

Mei­ne rech­te Hand lag in mei­ner Mut­ter Lin­ken, und so gab ich ihm die an­de­re.

»Aber das ist ja die falsche, Davy«, sag­te er wie­der la­chend.

Mei­ne Mut­ter zog mei­ne rech­te Hand her­vor, aber ich war ent­schlos­sen, sie ihm nicht zu ge­ben und tat es auch nicht. So reich­te ich ihm die an­de­re und er schüt­tel­te sie und sag­te, ich sei ein bra­ver Jun­ge, und ging fort.

Und noch jetzt seh ich ihn, wie er sich im Gar­ten um­dreh­te und uns einen letz­ten Blick aus sei­nen un­an­ge­neh­men, schwar­zen Au­gen zu­warf, ehe er das Tor schloss.

Peg­got­ty, die kein Wort ge­spro­chen und kei­nen Fin­ger ge­rührt hat­te, schob so­fort den Rie­gel vor, und wir gin­gen alle in das Wohn­zim­mer. An­statt sich wie ge­wöhn­lich in den Lehn­stuhl ne­ben den Ka­min zu set­zen, blieb mei­ne Mut­ter am an­de­ren Ende des Zim­mers und sang vor sich hin.

»– hof­fe, Sie ha­ben einen an­ge­neh­men Abend ver­lebt, Ma’am«, sag­te Peg­got­ty, die mit ei­nem Leuch­ter in der Hand steif wie eine Ton­ne mit­ten im Zim­mer stand.

»Dan­ke schön, Peg­got­ty«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter sehr auf­ge­räumt. »Ich habe einen sehr an­ge­neh­men Abend ver­bracht.«

»Eine neue Be­kannt­schaft ist im­mer eine an­ge­neh­me Ab­wechs­lung«, be­merk­te Peg­got­ty.

»Eine sehr an­ge­neh­me Ab­wechs­lung«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter.

Peg­got­ty blieb re­gungs­los in der Mit­te des Zim­mers ste­hen, mei­ne Mut­ter fing wie­der zu sin­gen an, und ich schlief ein, wenn auch nicht so fest, dass ich nicht noch hät­te Stim­men hö­ren kön­nen, ohne aber zu ver­ste­hen, was sie sag­ten. Als ich aus die­sem un­be­hag­li­chen Schlum­mer halb er­wach­te, sah ich, dass mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty bei­de wein­ten und in großer Auf­re­gung mit­ein­an­der spra­chen.

»So ei­ner wie die­ser hät­te Mr. Cop­per­field nicht ge­fal­len«, sag­te Peg­got­ty. »Das ist mei­ne Mei­nung und die be­schwör ich.«

»Gott im Him­mel!« rief mei­ne Mut­ter. »Du wirst mich noch wahn­sin­nig ma­chen. Wur­de je­mals ein ar­mes Mäd­chen von sei­nen Dienst­bo­ten so miss­han­delt. Wa­rum füge ich mir das Un­recht zu und nen­ne mich ein Mäd­chen? War ich viel­leicht nie­mals ver­hei­ra­tet, Peg­got­ty?«

»Gott weiß, dass Sie es wa­ren, Ma’am«, er­wi­der­te Peg­got­ty.

»Wie kannst du es dann wa­gen«, sag­te mei­ne Mut­ter, »du weißt, ich mei­ne nicht, wie du es wa­gen kannst, Peg­got­ty, son­dern wie du es übers Herz brin­gen kannst, mich so zu ver­stim­men und mir so böse Wor­te zu sa­gen, wo du doch recht gut weißt, dass ich au­ßer dem Hau­se nicht einen ein­zi­gen gu­ten Freund habe.«

»Umso mehr Grund für mich, Ih­nen zu sa­gen, dass es nicht geht«, ent­geg­ne­te Peg­got­ty. »Nein, es geht nicht, nein, um kei­nen Preis. Nein!« Ich dach­te schon, Peg­got­ty wür­de den Leuch­ter weg­wer­fen, so ener­gisch schwang sie ihn.

»Wie kannst du es nur so auf­bau­schen«, sag­te mei­ne Mut­ter und fing von Neu­em an zu wei­nen, »und so un­ge­recht sein. Du tust so, als wenn al­les schon ab­ge­macht wäre, Peg­got­ty, und ich sage dir doch im­mer und im­mer wie­der, du grau­sa­mes Ding, dass au­ßer den ge­wöhn­lichs­ten Höf­lich­kei­ten nichts vor­ge­fal­len ist. Du sprichst von Be­wun­de­rung. Was kann ich da­für, wenn die Leu­te so al­bern sind, sol­chen Ge­füh­len nach­zu­ge­ben, ist das mei­ne Schuld? Was soll ich denn tun, fra­ge ich dich? Willst du viel­leicht, dass ich mir die Haa­re schnei­den oder das Ge­sicht schwär­zen oder mich durch einen Brand­fleck oder hei­ßes Was­ser oder sonst et­was Ähn­li­ches ver­un­stal­ten soll? Ich glau­be, du wärst es im­stan­de, Peg­got­ty. Ich glau­be, du wür­dest dich so­gar drü­ber freu­en.«

Peg­got­ty schi­en sich die­se Zu­mu­tung sehr zu Her­zen zu neh­men, wie mir vor­kam.

»Und mein lie­ber Jun­ge«, schrie mei­ne Mut­ter, kam zu mir in den Lehn­stuhl und lieb­kos­te mich. »Mein ein­zi­ger klei­ner Davy! Las­se ich es viel­leicht an Lie­be für mein Herz­blatt feh­len? Für den al­ler­bes­ten klei­nen Jun­gen, den es je ge­ge­ben hat?«

»Kein Mensch hat das be­haup­tet«, sag­te Peg­got­ty.

»Ja du, Peg­got­ty«, gab mei­ne Mut­ter zu­rück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn an­de­res aus dei­nen Wor­ten schlie­ßen, du un­freund­li­ches Ge­schöpf, wo du doch recht gut weißt, dass ich mir bloß sei­net­we­gen kei­nen neu­en Son­nen­schirm ge­kauft habe, ob­wohl der alte, grü­ne ganz ab­ge­scho­ben ist und gar kei­ne Fran­sen mehr hat. Du weißt es, Peg­got­ty, und kannst es nicht leug­nen.« Dann wand­te sie sich wie­der zärt­lich zu mir, leg­te ihre Wan­ge an mei­ne. »Bin ich dir eine nichts­nut­zi­ge Mama, Davy? Bin ich eine hart­her­zi­ge, grau­sa­me, selbst­süch­ti­ge, schlech­te Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peg­got­ty wird dich lie­ben, und Peg­got­tys Lie­be ist viel bes­ser als mei­ne, Davy. Ich lie­be dich gar nicht, nicht wahr?«

Dar­über fin­gen wir alle an zu wei­nen. Ich glau­be, ich war der lau­tes­te von ih­nen, aber ich weiß si­cher, wir mein­ten es alle gleich auf­rich­tig. Ich war tief un­glück­lich und habe, fürch­te ich, in der ers­ten Auf­wal­lung ver­letz­ter Zärt­lich­keit Peg­got­ty ein »Biest« ge­nannt. Ich er­in­ne­re mich noch, das ehr­li­che Ge­schöpf ge­riet in die tiefs­te Be­trüb­nis und muss bei die­ser Ge­le­gen­heit ganz knopf­los ge­wor­den sein, denn eine gan­ze Sal­ve die­ser Ge­schos­se flog ab, als sie vor mei­nem Stuh­le nie­der­knie­te, um sich mit mei­ner Mut­ter und mir zu ver­söh­nen.

Wir gin­gen sehr nie­der­ge­schla­gen zu Bett. Mein Wei­nen hielt mich lan­ge wach, und wenn mich ein be­son­ders hef­ti­ges Schluch­zen in die Höhe riss, sah ich, dass mei­ne Mut­ter auf dem Bett­rand saß und sich über mich beug­te. Dann schlum­mer­te ich in ih­ren Ar­men fest ein.

Ob schon am fol­gen­den Sonn­tag der Herr wie­der kam, oder ob ein län­ge­rer Zeit­raum da­zwi­schen lag, ist mir nicht mehr er­in­ner­lich. In der Zeit­rech­nung bin ich mei­ner nicht ganz si­cher. Aber er war in der Kir­che und be­glei­te­te uns dann nach Hau­se.

Er trat auch zu uns her­ein, um ein schö­nes Gera­ni­um an­zu­se­hen, das im Fens­ter stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es be­son­ders be­ach­te­te, aber ehe er ging, bat er mei­ne Mut­ter, ihm eine Blü­te da­von zu ge­ben. Sie bat ihn, sich selbst eine aus­zu­su­chen, aber das woll­te er nicht – warum, war mir un­be­greif­lich –, und so pflück­te sie ihm denn eine Blü­te und gab sie ihm in die Hand. Er sag­te, er wer­de sich nie­mals im Le­ben da­von tren­nen, und ich dach­te mir, er müs­se sehr dumm sein, weil er nicht wis­se, dass die Blät­ter in ein oder zwei Ta­gen aus­fal­len wür­den.

Peg­got­ty fing an, uns abends we­ni­ger Ge­sell­schaft zu leis­ten als frü­her. Mei­ne Mut­ter gab ihr in sehr vie­len Din­gen nach, mehr noch als ge­wöhn­lich, wie mir schi­en, und wir blie­ben alle drei die al­ler­bes­ten Freun­de.

Aber doch war es zwi­schen uns an­ders ge­wor­den, und es war uns nicht mehr so be­hag­lich zu Mute. Manch­mal kam es mir so vor, als ob Peg­got­ty nicht recht zu­frie­den wäre, wenn mei­ne Mut­ter die schö­nen Klei­der an­zog, die sie im Schrank hän­gen hat­te, und so oft die Nach­barn be­su­chen ging. Aber ich war ganz froh, dass ich mir kei­ne Ge­dan­ken dar­über zu ma­chen brauch­te.

All­mäh­lich ge­wöhn­te ich mich dar­an, den Herrn mit dem schwar­zen Ba­cken­bart zu se­hen. Er ge­fiel mir nicht bes­ser als am An­fang, und ich fühl­te im­mer noch die­sel­be un­be­stimm­te Ei­fer­sucht. Aber wenn ich spä­ter ei­nem in­stink­ti­ven, kind­li­chen Wi­der­wil­len und dem Ge­dan­ken im All­ge­mei­nen, dass Peg­got­ty und ich voll­kom­men aus­rei­chen müss­ten, mei­ne Mut­ter ohne wei­tern Bei­stand glück­lich ge­nug ma­chen zu kön­nen, noch einen an­de­ren Grund da­für hat­te, war es doch ge­wiss nicht der, den ich im rei­fern Al­ter für mei­ne Ab­nei­gung her­aus­ge­fun­den hät­te. Nichts Der­ar­ti­ges fiel mir ein. Ich konn­te wohl stück­wei­se be­ob­ach­ten, aber aus sol­chen Fä­den ein Netz zu ma­chen und dar­in je­mand zu fan­gen, das ging und geht noch jetzt über mein Kön­nen hin­aus.

An ei­nem Herbst­mor­gen stand ich mit mei­ner Mut­ter in dem Vor­gar­ten, als Mr. Murd­sto­ne, ich kann­te jetzt sei­nen Na­men, vor­bei­ge­rit­ten kam. Er hielt sein Pferd an, um mei­ne Mut­ter zu be­grü­ßen, und sag­te, er rit­te nach Lo­we­stoft, um ei­ni­ge Freun­de zu be­su­chen, die dort eine Jacht hät­ten, und mach­te den lus­ti­gen Vor­schlag, mich vor sich auf den Sat­tel zu neh­men, wenn ich rei­ten woll­te.

Das Wet­ter war so wun­der­schön, und das Pferd schnaub­te und stampf­te so mun­ter vor der Gar­ten­tür, dass ich große Lust dazu hat­te. Mei­ne Mut­ter schick­te mich da­her zu Peg­got­ty hin­auf zum An­zie­hen, und mitt­ler­wei­le stieg Mr. Murd­sto­ne ab und schritt, die Zü­gel über dem Arm, lang­sam vor der Ro­sen­he­cke auf und ab, wäh­rend mei­ne Mut­ter an der in­nern Sei­te ne­ben ihm her­ging. Ich er­in­ne­re mich noch, wie Peg­got­ty und ich aus dem klei­nen Fens­ter hin­ab­sa­hen, er­in­ne­re mich auch noch, wie eif­rig mei­ne Mut­ter und Mr. Murd­sto­ne die Ro­sen­he­cke zwi­schen sich zu be­trach­ten schie­nen, wäh­rend sie dar­an ent­lang­schlen­der­ten, und wie Peg­got­ty, die vor­her in wah­rer En­gel­slau­ne ge­we­sen, plötz­lich ganz är­ger­lich wur­de und mein Haar wü­tend ge­gen den Strich bürs­te­te.

Mr. Murd­sto­ne und ich wa­ren bald un­ter­wegs und trab­ten auf dem grü­nen Ra­sen ne­ben der Land­stra­ße da­hin. Er hielt mich leicht mit ei­nem Arm, und ich glau­be nicht, dass ich be­son­ders un­ru­hig war. Aber ich konn­te mich nicht ent­hal­ten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wen­den und ihm ins Ge­sicht zu se­hen.

Er hat­te jene Art seich­ter schwar­zer Au­gen – ich fin­de kei­nen bes­sern Aus­druck da­für –, die, wenn sie nach­sin­nen, durch ir­gend­ei­ne son­der­ba­re Licht­bre­chung zu schie­len schei­nen. Ver­schie­de­ne Male, wenn ich ihn an­sah, be­merk­te ich das mit ei­ner Art Scheu und hät­te gern ge­wusst, wor­über er so tief nach­den­ke. Sein Haar und sein Bart wa­ren in der Nähe noch schwär­zer und dich­ter, als ich ge­glaubt. Das star­ke Kinn und die schwar­zen Punk­te, die von dem sorg­fäl­tig ra­sier­ten Bar­te üb­rig blie­ben, er­in­ner­ten mich an eine Wachs­fi­gur, die vor ei­nem hal­b­en Jahr in un­se­rer Ge­gend ge­zeigt wor­den war. Die­ses, sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Au­gen­brau­en und das rei­che Weiß, Schwarz und Braun sei­nes Teints ver­wünscht sei sein Teint und ver­wünscht sein An­den­ken – mach­ten, dass ich ihn trotz mei­ner Ab­nei­gung für einen schö­nen Mann hielt. Ich zweifle nicht, dass mei­ne arme, lie­be Mut­ter ganz der­sel­ben Mei­nung war.

Wir gin­gen in ein Gast­haus am Mee­re, wo zwei Her­ren in ei­nem Zim­mer Zi­gar­ren rauch­ten. Je­der von ih­nen lag auf min­des­tens vier Stüh­len und hat­te eine wei­te zot­ti­ge Ja­cke an. In ei­ner Ecke la­gen auf ei­nem Hau­fen über­ein­an­der Rö­cke und Boots­män­tel und eine Flag­ge. Bei­de Her­ren rich­te­ten sich schwer­fäl­lig auf, als wir ein­tra­ten, und rie­fen: »Hal­lo, Murd­sto­ne! Wir dach­ten schon, du wä­rest tot.«

»Noch nicht«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was ist das für ein Gelb­schna­bel?« frag­te ei­ner der Gent­le­men und fass­te mich am Arm.

»Das ist Davy«, ant­wor­te­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was für ein Davy?« frag­te der Herr Jo­nes.

»Cop­per­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was? Der himm­li­schen Mrs. Cop­per­field Bei­ga­be? Der rei­zen­den klei­nen Wit­we?«

»Qui­ni­on«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »nimm dich in acht, man ist schlau.«

»Wer denn?« frag­te der Gent­le­man la­chend.

Ich blick­te rasch auf, denn ich hät­te es auch gern ge­wusst.

»Bloß Brooks von Shef­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

Ich fühl­te mich or­dent­lich er­leich­tert, dass es bloß Brooks von Shef­field sei, denn an­fangs hat­te ich wirk­lich ge­glaubt, man mei­ne mich.

Mr. Brooks von Shef­field muss­te wohl je­mand sehr Ko­mi­sches sein, denn die bei­den Gent­le­men lach­ten herz­lich, als sein Name fiel, und Mr. Murd­sto­ne war auch sehr be­lus­tigt. Nach län­ge­rem La­chen sag­te der Herr, der Qui­ni­on hieß: »Und wie ist Mr. Brooks’ von Shef­field Mei­nung in be­treff des ge­plan­ten Ge­schäf­tes?«

»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vor­der­hand viel da­von ver­steht«, ent­geg­ne­te Mr. Murd­sto­ne, »aber ich glau­be, im All­ge­mei­nen ist er ihm nicht be­son­ders güns­tig.«

Dar­über wur­de noch viel mehr ge­lacht, und Mr. Qui­ni­on sag­te, er wol­le nach Sher­ry klin­geln, um auf Brooks Ge­sund­heit zu trin­ken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein we­nig da­von und ein Bis­kuit, und be­vor ich trank, stand er auf und sag­te: »Ver­wir­rung kom­me über Brooks von Shef­field.«

Der Toast wur­de mit großem Bei­fall und so herz­li­chem Ge­läch­ter auf­ge­nom­men, dass ich selbst mit­la­chen muss­te, wor­über sie dann noch mehr lach­ten. Kurz, es war sehr lus­tig.

Wir gin­gen hier­auf an den Klip­pen des Stran­des spa­zie­ren und setz­ten uns ins Gras und schau­ten durch ein Fern­rohr – ich konn­te nichts se­hen, als sie es mir vor das Auge hiel­ten, be­haup­te­te aber, ich könn­te es – und dann gin­gen wir zu­rück in das Ho­tel, um zei­tig zu Mit­tag zu es­sen.

Wäh­rend un­se­res Spa­zier­gan­ges rauch­ten die bei­den Her­ren un­auf­hör­lich, was sie – nach dem Ge­ruch ih­rer zot­ti­gen Rö­cke zu schlie­ßen – wohl seit dem ers­ten Tage an ge­macht ha­ben muss­ten, seit sie sie vom Schnei­der be­kom­men hat­ten. Ich darf nicht ver­ges­sen, dass wir auch an Bord der Jacht gin­gen, wo sie alle drei in die Ka­jü­te hin­un­ter­stie­gen und sich eif­rig mit ver­schie­de­nen Pa­pie­ren be­schäf­tig­ten. Ich sah sie an­ge­strengt ar­bei­ten, wenn ich durch das of­fe­ne Lu­ken­fens­ter hin­un­ter­blick­te.

Die gan­ze Zeit über lie­ßen sie mich in Ge­sell­schaft ei­nes sehr net­ten Man­nes mit ei­nem großen Kopf voll ro­ter Haa­re und ei­nem sehr klei­nen la­ckier­ten Hut. Er hat­te ein bunt­ge­streif­tes Hemd an, mit dem Wor­te »Feld­ler­che« in großen Buch­sta­ben quer über der Brust. Ich dach­te, es sei sein Name und er schrei­be ihn auf die Brust, weil er auf dem Schif­fe wohn­te und kein Hau­stor hat­te, wor­auf er ihn hät­te an­schla­gen kön­nen. Als ich ihn aber Mr. Feld­ler­che nann­te, sag­te er, das Schiff hie­ße so.