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Wie wollen wir zukünftig leben und arbeiten? Welche Voraussetzungen braucht die Gestaltung sozialer Strukturen jenseits ökonomischer Verwertbarkeit? Orte der Kunst und der Bildung ermöglichen die modellhafte Erforschung und Erprobung von Verfahren, Strukturen und Institutionen und sind damit Impulsgeber für unser Zusammenleben. Sie tragen einen wichtigen Teil dazu bei, um unsere Demokratie in ihrer Komplexität zu erhalten und fortzudenken. Expertinnen und Experten aus verschiedenen sozialen Feldern untersuchen von der Norm abweichende Praxisformen, verorten sie historisch und denken soziale Gegenwart aus einer möglichen Zukunft heraus. Mit Beiträgen u. a. von Armen Avanessian, Augusto Corrieri, Simone Hain, Isabell Lorey und Joshua Wicke.
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Seitenzahl: 247
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Dazwischengehen!
Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und PolitikHerausgegeben von Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel
Recherchen 166
© 2023 by Autorinnen und Autoren
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Silke Pohl sowie Madeleine LaRue (für den englischen Beitrag S. 37)
Gestaltung: Tabea Feuerstein
Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-436-8 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-437-3 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-474-0 (EPUB)
Recherchen 166
Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik
Herausgegeben von Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel
Theater der Zeit
Vorwort
Einleitung
Ortswechsel
Martin Schick
Rausgehen ist Einsteigen
Erweiterung der künstlerischen Arbeit hin zu partizipativem Kulturmanagement. Wie macht man vorgegebene Strukturen zum Ausgangs- und Mittelpunkt der eigenen Arbeit?
Doreen Yuguchi
In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am Lebensrand
Transfer von Performance-Kunst hin zu therapeutisch ausgerichteter Arbeit im Gefängnis. Was verbindet die Arbeitsfelder?
Berthold Schneider
Wechsel/Wirkung
Experiment Chefsesseltausch zwischen Kunst- und Wissenschaftsinstitutionen. Wie verlief eine außergewöhnliche Begegnung zwischen Oper und Klimaforschung?
Augusto Corrieri, Joshua Wicke
Something might escape the plan
A dialogue on post-theatre and background dramaturgies
Reflexionen zu Gegenwart und Zukunft von Theater-Kunst, ausgehend vom Erlebnis der Leere. Was passiert im Theater, wenn nichts passiert?
Zeitsprünge
Isabell Lorey
Das Kommune in der präsentischen Demokratie
Radikal-inklusive soziale Praxen als Grundlage für Kämpfe um mehr Demokratisierung. Welche Bedeutung hat die Aktualisierung vergangener politscher Bewegungen?
Armen Avanessian
Politische Zukunftsschule
Schule als ein Ort der Begegnung aller Generationen mit der Zukunft. Wie sieht eine Institution aus, in der wir uns auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten?
Claudia Hummel
Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt
Entwurf einer konkreten Umsetzung von Avanessians Zukunftsschule, ausgehend von pädagogischen Experimenten der siebziger Jahre. Die »Katastrophenwerkstatt« als partizipatives Schulprojekt?
Simone Hain
Die neue künstlerische Hochschule
Man muss das Rad nicht neu erfinden, solange historisch noch nicht alles eingelöst oder auch nur verstanden ist …
Die Zukunftskonzepte der Bauhaus-Schule, betrachtet als stille Reserve und erneuerbare Ressource für die Gegenwart. Was müsste man davon neu auf die Agenda setzen?
Jochen Gimmel
Feindliche Übernahme – durch sich selbst?
Entgrenzung der Arbeit – Utopie der Selbstverwirklichung
Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Arbeit, Nichtarbeit und Muße. Welches sind die Erkenntnisse aus einer radikalen Arbeitskritik?
Praxisformen
Lena Ziese
Die Neuen Auftraggeber
Bürger*innen vergeben an Kunstschaffende Aufträge zur (Er-)Findung von Antworten auf drängende Fragen ihres Lebensumfeldes. Welche Entwicklung nimmt das Pilotprojekt?
Philipp Furtenbach
Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts
Die Interventionen eines Kollektivs, das an abseitigen Orten besondere Situationen der Begegnung schafft. Wie sehen Methoden für ein anderes soziales Miteinander aus?
Gabriele Stötzer
Einen ungeraden Weg finden
Bericht einer Künstlerin aus der DDR, die als Anhängerin des Sozialismus zur Systemkritikerin wurde und ihre Kunst im Untergrund fortsetzte. Welche politische Kraft entwickelt das Beharren?
Thomas Heise
Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten
Über die Arbeit eines Dokumentarfilmers als besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen. Welche Einsichten sind aus einem radikalen Sich-Aussetzen zu gewinnen?
Uwe Lübbermann
Das Premium-Getränkekollektiv
Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können
Die Entwicklung eines von Kooperation und Konsensdemokratie geprägten Unternehmens. Welche Wege können Wirtschaftsmodelle zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen bieten?
Biografien
Im Zentrum dieser Publikation steht die Frage, welche Inspiration, welche Kraft, welche Ideen und welche Praxisformen aus der Kunst heraus für das soziale Handeln unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutsam werden können. Seit 2018 führen die Herausgeber*innen auf der Suche nach Antworten einen Dialog mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen, die sich in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Pädagogik und in der Wirtschaft verorten lassen – und sie haben zwischen diesen Personen einen regen Austausch angezettelt. Vom Geist dieser Begegnungen, der sich rund um vier Arbeitskonferenzen entwickelt hat, ist die vorliegende Publikation getragen. Die zahlreich geführten Dialoge waren stets geprägt von der Suche nach Beispielen für die Relevanz künstlerischer Praxen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen.
Die Menge der gefundenen Antworten, Vorschläge und weiterführenden Fragen war und ist für uns Herausgeber*innen eindrücklich und bemerkenswert. Das Dazwischengehen! ist vielerorts keine von außen herangetragene, revolutionär anmutende Handlungsaufforderung, sondern erprobte Praxis. So sind hier Beispiele versammelt, in denen das Dazwischengehen! ganz selbstverständlich geschieht – vor allem da, wo das soziale Miteinander ausschließlich nach Kriterien der Zwecklogik, nach individuellem Gewinn- oder Machtstreben organisiert wird; da, wo es schlichtweg in einem uninspirierten und uninspirierenden Alltagstrott zu ersticken droht, oder da, wo demokratische Grundsätze missachtet und Gleichheitsgrundsätze außer Kraft gesetzt werden.
Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsfeldern haben hierzu beispielhafte, von der Norm abweichende Haltungen und Spezialkenntnisse entwickelt und eigensinnige Wege erprobt; sie haben in der künstlerischen, unternehmerischen oder pädagogischen Praxis Erfahrungen gewonnen, die im Hinblick darauf befragt werden, inwieweit sie übersetzbar in andere Praxen sind und so zu einer Inspiration für soziales Handeln in der Gesellschaft insgesamt werden können.
Diese Publikation ist jedoch mehr als eine Sammlung besonderer Praxisbeispiele; sie bietet mehr und anderes als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir in Zukunft leben und arbeiten, wie wir miteinander umgehen wollen. Sie stellt auch eine Einladung an die Leser*innen dar, für den je eigenen Bereich neue Entwürfe, neue Praxisformen zu entwickeln und darin Impulse des Buches aufzunehmen. Hierüber würden wir als Herausgeber*innen gerne in einen weiterführenden Dialog treten. Wir selbst bewegen uns zwischen verschiedenen Praxisfeldern. So steht Regina Guhl als Dramaturgin und Professorin für Dramaturgie am Studiengang Schauspiel der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover für die Felder Theater, Pädagogik und Internationalisierung. Dorothea Hilliger bewegt sich zwischen Kunst, Wissenschaft, Pädagogik und Institutionenentwicklung. Sie ist Professorin für Performative Künste und Bildung sowie ehemalige Interimspräsidentin der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mirko Winkel arbeitet zwischen den Feldern Kunst, Wissenschaft und gesellschaftliche Transformation. Er ist Künstler sowie Kurator und koordiniert ein transdisziplinäres Labor am Geographischen Institut der Universität Bern.
Ein Dank geht an all unsere Gesprächspartner*innen, die unser Denken bereichert haben. Der Lektorin Silke Pohl danken wir für die sorgfältige Durchsicht der Manuskripte. Weiterer Dank geht an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, die der zugrunde liegenden Tagungsreihe einen Ort geboten hat, und an das Staatstheater Braunschweig als Veranstaltungsort der letzten Konferenz. Das Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen und die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig haben mit großzügiger finanzieller Unterstützung den dialogischen Austausch ermöglicht. Ein Dank auch hierfür!
Regina Guhl, Dorothea Hilliger, Mirko Winkel
In einer demokratischen Gesellschaft ist die Kunst in all ihren Spielarten und Ausformungen ein zentraler Ort für Dialog und Kritik, für Begegnung, Erfindung und Verwandlung, für Erkenntnis und das Entwickeln von Fragen, für die Erforschung und Neuentdeckung von scheinbar Bekanntem. All dies findet täglich statt in der Arbeit von Künstler*innen, in den unterschiedlichen Medien der Kunst und in vielen der ihr gewidmeten Institutionen.
Angesichts aktueller Krisen ist die Diskussion um die Relevanz der Kunst und der Praxis von Kunstschaffenden neu entfacht. Die vorliegende Publikation hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren besonderen Stellenwert anhand vielfältiger Beispiele und Argumentationslinien herauszuarbeiten. Denn Kunst stellt neben anderen Feldern wie Politik oder Ökonomie einen ganz eigenen Praxisraum der sozialen Welt dar, der das Potential hat, unserem Sein und Handeln Sinn und Bedeutung zu verleihen und Wege des sozialen Miteinanders zu erkunden.1 Über das Faktische hinaus schafft Kunst eine sinnhafte Organisation von Wirklichkeit, in deren Zusammenhang soziale Gebilde und demokratisch orientiertes Verhalten erst möglich werden. Das Praktizieren von Kunst in einer funktionierenden Demokratie geht über die Reflexion gesellschaftlicher Prozesse weit hinaus, was ihr gerade heute, da die Demokratie selbst beständigen Herausforderungen ausgesetzt ist, eine besondere Relevanz verleiht.
Tragischerweise und in pervertierter Form lässt sich die Bedeutung von Kunst dieser Tage wieder an den offenbar gezielten Zerstörungen und Plünderungen von Theatern und Museen in der Ukraine durch russisches Militär ablesen. Im Ausmaß der Erschütterung selbstverständlich nicht mit den Schäden durch Krieg zu vergleichen, haben die Künste auch in der Coronakrise massive Einschränkungen und dauerhaft wirksame Verluste hinnehmen müssen – trotz aller Beteuerungen ihrer Relevanz und trotz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen. Doch die an Institutionen gebundene und durch sie legitimierte Kunst ist nur ein Teil der künstlerischen Praxen. Kunst und Kultur sterben nicht im Krieg und nicht in der Pandemie, auch wenn ihre Institutionen zerstört oder heruntergespart werden. Sie orientieren sich um und finden, oftmals unter überaus schwierigen Bedingungen, neue Wege der Wirksamkeit.
Angesichts verschiedenartiger Bedrohung, aber auch, um das Potential der Künste im Allgemeinen wie im Detail ermessen zu können, müssen wir als demokratisch verfasste Gesellschaft den spezifischen Beitrag von Kunstschaffenden ernst nehmen und mit allem, was wir haben, sichtbar machen, um so seine Wirksamkeit zu erhöhen. Dieses Buch will hierzu beitragen, indem es die Bedeutung künstlerischer Prozesse an verschiedenen Beispielen ausbuchstabiert. Die Anlage ist eine multiperspektivische. Sie stellt Biografielinien und ungewöhnliche Solidargemeinschaften ebenso vor wie alternative Organisationsformen in Kunst, Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft.
Im ersten Teil mit dem Titel Ortswechsel werden Handlungsräume und Institutionen in den Blick genommen, wo Perspektivwechsel und Umnutzungen erprobt wurden. So beschreibt es Martin Schick in seinem Text Rausgehen ist Einsteigen (S. 21) als grundlegendes Prinzip seiner Arbeit, immer wieder neue Kontexte aufzusuchen oder sie gar selbst aufzubauen. Ursprünglich aus dem Schauspiel kommend, begleitet er heute institutionelle Transformationsprojekte als performative Praxis. Er hat somit die Rolle des Künstlers auf Kunst und Kultur schaffende Strukturen ausgeweitet und erläutert, wie er Umstände zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Arbeiten macht.
Doreen Yuguchis berufliche Praxis ist ebenfalls von einem mehrfachen Wechsel der Rahmenbedingungen gekennzeichnet. In ihrem Text In unmittelbaren Kontakt treten – Interaktionen am Lebensrand (S. 26) schildert sie den Transfer von der bildenden Kunst mit Schwerpunkt Performance hin zu einer neuen, therapeutisch ausgerichteten Ausbildung und Arbeit. Zwischenstationen auf dem Weg waren künstlerische Arbeiten im Gefängnis- und im Hospizkontext. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach Bezügen zwischen diesen sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern.
Berthold Schneider berichtet in Wechsel/Wirkung (S. 33) davon, wie er als Intendant der Oper Wuppertal sein Chefbüro mit Uwe Schneidewind, dem Präsidenten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, tauschte – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Als routinierte Leitungsmenschen suchten beide einen Perspektivwechsel auf ihre eigene Arbeitspraxis und setzten sich den täglichen Abläufen der jeweils anderen Institution aus.
In Something might escape the plan. A dialogue on post-theatre and background dramaturgies (S. 37) reflektieren der Dramaturg Joshua Wicke und der Künstler, Forscher und Schriftsteller Augusto Corrieri die Leere des entleerten Theaterraumes, den Zustand des Aussetzens und der Nicht-Aktivität. Für ihr gemeinsames Nachdenken wählten sie die klassische Form des Briefwechsels.
Im dritten Teil des Buches folgen die Herausgeber*innen unter dem Stichwort Praxisformen den Biografien von Menschen, die, ausgehend von ihrem künstlerisch geprägten Denken und Handeln, Wege und Methoden gesellschaftlich wirksamer Intervention gefunden haben. Den Auftakt bildet der Text Die Neuen Auftraggeber (S. 109) von Lena Ziese. Das Konzept der Neuen Auftraggeber wurde von dem Belgier François Hers 1990 entwickelt und ist in Frankreich und Belgien fest etablierter Bestandteil staatlicher Kunstförderung. Bürger*innen vergeben an Künstler*innen Aufträge, die mit ihrem konkreten Lebensumfeld zu tun haben und auf dort drängende Fragen Antworten geben können. Seit 2017 beteiligt sich Deutschland mit Pilotprojekten an dem inzwischen internationalen Netzwerk. Lena Ziese beleuchtet den Beginn des Projektes in Brandenburg, wo sie ihre vielfältigen Erfahrungen als Künstlerin, Kuratorin und Lehrende für Freie Kunst und Kunstpädagogik eingebracht hat.
Der Künstler Philipp Furtenbach spricht Über eine andere Art des gemeinsamen Aufenthalts (S. 117). Die Interventionen des Kollektivs AO& sind darauf ausgelegt, an abseitigen Orten besondere Situationen der Begegnung zu schaffen. Furtenbach erzählt von Arbeiten, die in bestimmten Landschaften, in Bergdörfern, in Restaurants und in Hotels neue Methoden der Kommunikation testen. Sie zielen insbesondere darauf ab, bestehende Konventionen in sozialer Praxis und Kunst aufzubrechen.
Gabriele Stötzer berichtet von ihrem Weg in der DDR, auf dem sie als Anhängerin des Sozialismus zur Systemkritikerin wurde. Nicht genehmigte künstlerische Aktionen führten zu ihrer Inhaftierung und beendeten zwangsweise ihr Kunstpädagogikstudium. Sie arbeitete fortan im Untergrund als Performancekünstlerin. Mit Aktivismus vertraut, stellte sie sich 1989 gemeinsam mit anderen Frauen der Staatssicherheit entgegen, um Akten von Dissident*innen vor der Vernichtung zu bewahren. Der vorliegende Text Einen ungeraden Weg finden (S. 126) basiert auf einem Gespräch mit der Künstlerin.
Der Regisseur, Autor und Filmemacher Thomas Heise äußert sich über seine Arbeit als Dokumentarfilmer. Er beschreibt die besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen, die er in ihrem jeweiligen Umfeld aufsucht: in einer Dorfkneipe, einem Jugendzentrum, welches zum Treffpunkt von Neonazis wurde, oder in einem Gefängnis. Unter dem Titel Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten (S. 137) beschreibt Heise sein Arbeitsprinzip. Er bleibt am jeweiligen Ort so lange, bis sich eine Annäherung ergibt. Die Besonderheit seiner Arbeit besteht in der Unvoreingenommenheit, mit der er seinen Protagonist*innen begegnet.
Der Teil Praxisformen findet seinen Abschluss mit dem Text von Uwe Lübbermann. Unter dem Titel Das Premium-Getränkekollektiv. Ein Ergebnis, das viel klüger ist, als du es alleine jemals hättest hinkriegen können (S. 146) beschreibt er die Entwicklung eines von ihm gegründeten konsensdemokratischen Getränkeunternehmens, in dem er als zentraler Moderator mitwirkt. Er legt besonderen Fokus auf die Chancen und Herausforderungen, die mit Entscheidungsprozessen einhergehen, und erläutert, wie gesellschaftliche Krisen wie eine Pandemie auf solche alternativen Wirtschaftsmodelle wirken.
Zwischen dem ersten und dem dritten Teil findet der wissenschaftliche Blick seinen Platz, der nach Relevanz und Tragfähigkeit neuer Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik fragt. In diesem Teil unter der Überschrift Zeitsprünge erfolgt auch die historische Reflexion von Praxisformen, die sich durch ihr unbedingtes Beharren auf der Kraft demokratischer Verhandlungsformen auszeichneten und in ihrer künstlerischen Ausprägung Experiment und Modell gleichermaßen werden konnten. So bezieht sich die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey auf Das Kommune in der präsentischen Demokratie (S. 53). Lorey spürt deren Ursprüngen in der Pariser Kommune von 1871 nach und bezieht sich zudem auf die munizipalistischen Praxen in Spanien, die im Kontext der Besetzungs- und Demokratiebewegungen von 2011 entstanden sind. In der Befragung radikal inklusiver sozialer Praxen, etwa des Festes und der Gastfreundschaft sowie vielfältiger Formen horizontaler Versammlung, formuliert sie eine queer-feministische Kritik an einer möglichen Vereinnahmung.
Armen Avanessian begründet in seinem Text Politische Zukunftsschule (S. 70) die Notwendigkeit einer Schule als Ort der Begegnung mit der Zukunft, nicht nur für die heranwachsende Generation. Dafür darf das gesellschaftliche Wissen über die Zukunft, welches auf Basis technischer Entwicklungen und durch sie generierter Algorithmen vorhanden ist, nicht monopolistisch aufgestellten Unternehmen überlassen werden. In einer demokratischen Gesellschaft kann die Schule nach Avanessian zu einem Ort werden, an dem sich alle Generationen, aus der Zukunft lernend, auf diese vorbereiten.
Claudia Hummels Interesse gilt der Kunst im Kontext von Schule. In ihrem Text Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt (S. 75) rekapituliert sie künstlerische Handlungsräume während der »pädagogischen Euphorie ab den 1970er Jahren«. Sie antwortet mit den von ihr selbst initiierten Reenactments künstlerisch-partizipatorischer Projekte auf den Vorschlag des Philosophen Armen Avanessian, Schule und Bildung aus der Zukunft heraus zu denken.
Als Architekturhistorikerin arbeitet Simone Hain seit 30 Jahren an der Vergegenwärtigung von Vergangenheiten, dabei oftmals an Gegenständen, die in Verruf geraten sind. Die Zukunftskonzepte der Vergangenheit, hier das des Bauhauses für Die neue künstlerische Hochschule (S. 83), versteht sie als Energiequelle, stille Reserve und erneuerbare Ressource für die Gegenwart. Statt die Vergangenheit zu kritisieren, legt sie den Fokus auf die Fragen: Was ist uneingelöst? Worin waren die Konzepte unserer Zeit voraus? Warum hat sich etwas nicht durchsetzen können? Und welches Uneingelöste muss man neu auf die Agenda setzen?
Der Philosoph Jochen Gimmel ist Mußeforscher. In seinem Text Feindliche Übernahme – durch sich selbst? Entgrenzung der Arbeit – Utopie der Selbstverwirklichung (S. 92) entwickelt er eine radikale Arbeitskritik und setzt das Tätigsein ins Verhältnis zu Spiel und Erotik. Hierfür durchleuchtet er die Arbeitsbegriffe von Karl Marx, Hannah Arendt, Charles Fourier und Herbert Marcuse.
Die sehr unterschiedlichen Beiträge des Buches, die jeweils einen eigenen Gedankenkosmos und Handlungsraum eröffnen und entsprechend für sich stehen können, eint der kritische Blick auf strukturelle Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und die Leugnung politischer wie gesellschaftlicher Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten. In ihrem Verständnis von sozialer Wirklichkeit richten sich sämtliche Texte gegen die von Margaret Thatcher ausgerufene neoliberale Formel: »There is no such thing as society, only individual men and women and their families.«2 Das Buch stellt nicht nur theoretisch ein solcherart verkürztes Gesellschaftsbild in Frage, welches vorgibt, individuelle Freiheit zu ermöglichen, in Wahrheit aber die Subjekte größtmöglicher ökonomischer Ausbeutung aussetzt, sondern es zeigt zugleich existierende Praxisformen auf, die, zum Teil spielerisch, zum Teil unter enormem persönlichen Einsatz wie auch Risiko soziale Verhältnisse jenseits von Entsolidarisierung, Ignoranz oder Unterdrückung produzieren. Je nachdem, ob die Autor*innen eher theoretische oder historische Kontexte aufsuchen oder ihre künstlerische oder anderweitige Praxis vorstellen, unterscheiden sich die Beiträge in ihrer Textform und in ihrem Sprachgestus.
Bezüglich der Wirksamkeit subjektiver oder auch kollektiv eingebundener Praxisformen folgen die Herausgeber*innen dem Verständnis der Praxistheorie, welche das subjektive Veränderungspotential in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der jeweiligen historischgesellschaftlichen Situation stellt. Die Praxistheorie geht weder von einem Determinismus subjektiv möglicher Praxisformen durch gesellschaftlich-ökonomische Verhältnisse aus, noch interpretiert sie das Soziale als Produkt individueller Handlungsakte. Vielmehr kreuzen sich im Subjekt verschiedene soziale Felder, etwa das der Familie, das der Ökonomie, das der Kunst und so weiter. Das Subjekt stellt somit einen Knotenpunkt zwischen verschiedenen sozialen Feldern dar, die sich in den jeweils dominanten Praxisformen erheblich unterscheiden. Aus der Verknüpfung von Praxisformen im Subjekt ergibt sich die Möglichkeit von Feldüberschreitungen und damit das Potential für Abweichung und Veränderung.
Das Veränderungspotential liegt aber auch in der Struktur sozialer Praxis selbst begründet, indem diese zwischen Routine und Tradition einerseits sowie Unterbrechung und einer gewissen Unbestimmtheit andererseits changiert. Damit »bewegt sich die Praxis zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs«3.
Den in der Struktur sozialer Praxis wie auch im Subjekt als Bündel unterschiedlicher, feldüberschreitender Praxisformen liegenden Veränderungspotentialen sozialer Wirklichkeit geht diese Publikation in all ihren Bestandteilen nach. Der detaillierte Blick auf diese Praxisformen führt uns die Entwicklung von Haltungen, Förderwerkzeugen, Spielregeln, Werten, neuen Arbeitsbegriffen und ein sich wandelndes Selbstverständnis von Kunst, Pädagogik, Politik und Zivilgesellschaft vor Augen. Im Weiterdenken lassen sich Antworten auf folgende Fragen finden:
In welcher Form wollen wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben und arbeiten?
Worin bestehen die Arbeitsprinzipien, die Ethik, die Umgangsformen der Zukunft?
Welche Relevanz wird der Kunst in ihren unterschiedlichen Spielarten und den Kunstschaffenden noch/nun beigemessen?
Welche Rahmungen werden für ihre Arbeit entwickelt, welche Zusammenarbeiten auch über Feldgrenzen hinweg ermöglicht?
Welche Institutionen braucht es in der Zukunft, und wie setzen diese sich zusammen?
Welche Regeln geben wir uns selbst, und wie setzen wir sie um und durch?
In diesem Sinne ist das Buch auch eine Einladung dazu, aus der Zukunft heraus zu denken, wie der Philosoph Armen Avanessian ausführt, und sich der »grundsätzlichen demokratiepolitischen Herausforderung einer Toleranz«4 zu stellen, »gegenüber nicht nur der eigenen, sondern der Zukunft anderer und zukünftiger Generationen«5.
Die Herausgeber*innen
1
Vgl. Reckwitz, Andreas:
Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne
, 2. Aufl., Stuttgart 2012, S. 51 ff.
2
Thatcher, Margaret: »Interview for
Woman’s Own
« (»No Such Thing as Society«), in: Margaret Thatcher Foundation (Hrsg.):
Speeches, Interviews and Other Statements
, London 1987.
3
Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praxis«, in:
Zeitschrift für Soziologie
, Jg. 32, H. 4 (2003), S. 294.
4
Siehe Avanessian, Armen:
Politische Zukunftsschule
,
S. 70
in diesem Buch.
5
Ebd.
Martin Schick
Von mir selbst sage ich, dass ich eigentlich kein Künstler bin, sondern Kunstarbeiter. Meine Arbeit besteht darin, mich für eine Situation oder ein Thema weitgehend zur Verfügung zu stellen, mich kritisch in die Situation einzubringen, meine Position quasi aufs Spiel zu setzen, je nachdem, wie es der Kontext fordert; eher im Sinne einer Dienstleistung oder eines Aktivismus als aus einem inneren künstlerischen Verlangen heraus. So sind es oft tatsächlich die Umstände, welche meine Arbeiten gestalten.1
Kunst im Spannungsfeld zwischen Dienstleistung und Aktivismus wird zum Instrument mit der Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Deshalb scheint es mir wichtig, dass die Impulse proaktiv von der Kunst ausgehen; die Künstler*innen also hinausgehen in andere gesellschaftliche Bereiche. Aber inwiefern sind wir überhaupt bereit, tatsächlich auszusteigen, rauszugehen, uns hinauszulehnen, wenn es eigentlich gerade ganz o.k. läuft in der Kunstszene? Wie groß ist unsere Bereitschaft, aus dem warmen Bad auszusteigen, das wir uns – weitgehend auf Kosten anderer – eingelassen haben? Wenn etwas im Kunstkontext gut funktioniert, ist das ein Grund, weiterzumachen? Oder ist es erst recht ein Grund, auszusteigen? Soll Kunst funktionieren? Oder gibt es Dinge, die konsequent gegen die Wand gefahren werden müssen, um überhaupt neu gedacht und aufgebaut werden zu können?
Im internationalen Kontext stellt die Schweiz in Sachen Förderung sicher ein Idealbild dar, birgt aber auch Gefahren, Kritik und eventuell viel schlechtes Gewissen. Ein solches Luxusproblem will ich kurz erläutern. Nachdem ich im Theater eine kapitalismuskritische Arbeit realisiert hatte, kam eine Anfrage, ob ich eine dreijährige Partnerschaft mit der Fondation Nestlé eingehen möchte: 9.000 Euro pro Jahr wurden angeboten, um mich vom Produktionsdruck zu befreien. Ich wollte das aufgrund der problematischen Herkunft der Finanzen ablehnen. Nachdem ich jedoch in meinen Künstlerkreisen um Rat gefragt hatte, war mir klar: besser kritisch dieses Feld betreten als es einer unkritischen Person überlassen. Die Konsequenz war eine Performance mit dem Titel Halfbreadtechnique, die sich mit diesem Konflikt auseinandersetzt und dieses Geld zurück auf die Bühne brachte: eine Art Rückzahlung in Form eines theatralen Vorgangs.
In Halfbreadtechnique spiele ich die Rolle des Gutmenschen. Nach dem Vorbild der Kampagne The Giving Pledge gebe ich alles, was ich auf der Bühne zur Verfügung habe – inklusive meiner Gage – zur Hälfte her: an Künstler*innen in Not, an das Publikum und so weiter. Es kommt zum Vergleich mit dem heiligen Sankt Martin, der die Hälfte seines Mantels abgibt, dabei aber ausblendet, dass der Akt ihm selbst zugutekommt. Wieso wurde Sankt Martin heiliggesprochen, doch der Bettler blieb Bettler? Wieso hat Sankt Martin nur seinen halben Mantel gegeben, aber nicht auch sein halbes Pferd? Wie viel muss ich hergeben, um tatsächlich als guter Mensch davonzukommen? Alles?
Mehr als das Stipendium an sich interessierte mich die Tatsache, diese Verfänglichkeiten zu betreten: Ich schmeiß mich in die Problematik rein und muss da irgendwie wieder rauskommen, auch mal mit Schrammen. An dieser Stelle geht die Abgrenzung von Leben und Theater flöten. Performance wird eher eine Herausforderung, ein Escape-Room, eine Selbsterfahrung, ein Experiment.
In der Performance wird die geteilte Hälfte wieder und wieder halbiert, sei es von der Gage, der Spielfläche, dem T-Shirt bis zum Kaugummi, dem Hotelzimmer und dem Drink im Foyer, bis nichts mehr bleibt, außer Schulden. Aber auch die werden wiederum geteilt. Die Selbstkritik wird zur Schlinge, die sich immer weiter zuzieht und der Konflikt wird ad absurdum geführt, um mehr über ihn zu erfahren. Nicht alles klärt sich. Vieles bleibt eine Vermutung, eine Provokation, aber es erklärt sich vielleicht dann umso eher hinterher im Foyer, bei einem (halben) Glas Prosecco.
Überhaupt mag ich das Foyer am liebsten im Theater. Es ist auf die Außenwelt gerichtet und dennoch interner Verhandlungsort. Der Prosecco-Umtrunk wird rituell zur Bestätigung dessen, was man sich an Meinung, Praxis und Institution zusammengebaut hat: systemkonform, auch wenn es auf der Bühne grade noch kritisch war; ein Ort des Übergangs und auch des Widerspruchs.
Die formelle Struktur war oft der Anfang meiner Arbeit. Für das Stück X MINUTES gab es eine Anfrage einer Netzwerkveranstaltung, wo ich meine Arbeit verkaufen durfte. Gemeinsam mit weiteren Kolleg*innen haben wir in einem Auktionsverfahren minutenweise ein neues Stück verkauft. Mit jedem Verkauf wurde das Stück länger und zu einer wachsenden Schuld, die es im Anschluss zu begleichen galt. Die Kurator*innen kauften die Katze im Sack. Dies war ein weiterer Versuch, die Situation auf den Punkt zu bringen, mit der bestehenden Logik zu spielen. Das Beispiel ist aber auch wieder limitiert auf die künstlerische Arbeitswelt, und mit dieser Begrenzung hat es zu tun, dass ich mich jetzt um weitere gesellschaftliche Kontexte kümmere, in denen spielerische, kritische und artistische Momente möglich sind.
Ich will nicht immer wissen, wie es ausgeht, und ecke damit oft an. Irgendwie scheint das ein Schaden aus einer Lebensphase im klassischeren Theaterbereich zu sein, wo alles eingeübt ist und dann etwa so gezeigt wird: »Hey, schaut mal, was wir vorbereitet haben!« Stattdessen habe ich Lust, mich an Orte zu begeben, an denen ich mich nicht auskenne. Dort versuche ich gerne, irgendwie klarzukommen.
Wie also nehme ich dieses Glas in die Hand, ohne zu wissen, dass ich später auch daraus trinken werde? Mein Interesse, den Job als Kulturmanager für einen Innovationsbetrieb, bei dem Kultur ganz hinten steht, anzunehmen, bestand darin, mich aus dem Theaterbereich herauszubewegen und mich einer anderen (weniger bekannten) Situation zu stellen. Aus der Perspektive der Kunst ist das ein klares Downsizing, aber wieso nicht erst mal ein- oder umsteigen und dann erst schauen, wie du es hinbiegst? Inzwischen wurde das Quartier, in dem ich arbeite, in seiner Mischform von Wirtschaft und Kultur längst zum Politikum; es wird verhandelt von rechts nach links. Indem es porös und fragil wird, kann daraus etwas Neues entstehen.
Dieses Quartier ist ein Wirtschaftsunternehmen, das sich zusätzlich einen Kulturbeauftragten leistet und sich so bei der Stadt starkmacht. Innerhalb des Betriebs gehen die Meinungen oft diametral auseinander. Jetzt gibt es Kultur, aber wie weit kann sie gehen, wenn sie der Wirtschaftslogik trotzt?
Was ist und kann Kunst dort, wo sie nicht zu Hause und für sich selbst und ihr Publikum da ist? Die Arbeit in diesem Betrieb ist eine Form des Spiels, in dem die Regeln laufend mitgeschrieben und angepasst werden. Meine Beteiligung besteht unter anderem darin zu stören – und nicht allzu schnell aufzugeben. Aussitzen. Aushalten. Ich frage mich nämlich, wie sich ein Wurzelsystem aufbauen lässt, das so schnell nicht weggeht, fast unsichtbar den Boden mitbeackert und unterirdisch Vernetzungen schafft. Somit würde das Kulturmanagement kein Begleitprogramm gestalten, sondern eine Grundlage bilden für das Leben vor Ort. Diese Strategien bauen auf Überlegungen zur Permakultur auf.
Inzwischen gibt es ein komplexes Biotop mit verschiedensten Projekten, die ich ganz unterschiedlich begleite. Autonomie ist sehr wichtig in diesem Verfahren, und so suche ich auch immer wieder Leute, die meine Rolle als Gärtner übernehmen, indem sie zum Beispiel als Manager für einen Tag einsteigen, etwa bei dem Projekt Manager for a Day. Da können andere einfach meinen Job einen Tag lang machen und dabei meinen Lohn verdienen. Die neue Person schiebt dann eines dieser Projekte einfach ein bisschen weiter, je nachdem, was die Person kann oder woran sie interessiert ist.
Mit der Anstellung im Betrieb kuriere ich meine Künstlerkrankheit der letzten zehn Jahre: immer unterwegs sein, aber nirgends so richtig beteiligt. Die Felder, die man füllen darf und soll, sind schon aufgezeichnet. Das Publikum ist hyperinternational, es ist aber auch hyperschnell wieder weg; der Austausch ist kurz. Die Produktionszeiten sind reduziert, und dennoch muss das Material neu sein, um dabeibleiben zu dürfen. Stattdessen bin ich dauernd auf Tournee und es bleibt kaum Zeit für Neues; es gibt auch keine Zeit für neue Realitäten, neue Zusammenhänge, neue Geschichten.
Und dann war da auch das Fliegen, das so ziemlich aus der Mode kam. Und ja, dann könnte ich noch ein Stück produzieren, das anderswo gespielt wird von anderen Menschen, ohne dass ich hinfliegen muss. Dieser letzte Versuch einer Konfrontation mit der Problematik auf der Bühne hieß Solutions und war eher uninteressant; nicht zuletzt, weil man selbst gar nicht dabei ist und nichts erlebt, gar keinen Austausch mehr pflegt und das Interesse verliert. So wurde das Bleiben vor Ort immer mehr zum neuen Verlangen: lokal agieren, ohne in einer engen Denke zu verkommen.
Wenn ich das alles beschreibe, klingt es so, als wäre die Kunstszene in meinen Augen weltfremd. Aber das meine ich gar nicht. Nur geht es meines Erachtens zu oft darum, neue oder fremde Realitäten in die Kunstwelt hereinzuholen, um sie innerhalb des Apparates zu verwerten. Der Gang von Kunstschaffenden in andere Bereiche der Gesellschaft, raus aus den Institutionen und hinein in andere Berufsfelder, soll also nicht nur andere Realitäten ins Theater holen, sondern auch den Wirkungskreis von Kunstschaffenden erweitern. Im Moment wirkt das eher negativ in Künstlerbiografien; so, als hätten es diese Künstler*innen nicht geschafft, von der Kunst zu leben. Aber vielleicht könnte das Rausgehen auch zunehmend als Vorteil oder gar Erfolg gewertet werden? Steigt ein, geht raus!
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Der gebürtige Schweizer Martin Schick ist Kulturmanager des Innovationsquartiers
bluefactory
in Fribourg/Schweiz, wie auch Co-Initiant einer Fachstelle für Partizipation der Genossenschaft Kalkbreite Zürich.
Doreen Yuguchi
Bereits in meiner künstlerischen Arbeit war Interaktion für mich immer wichtig. Ich habe Formen der Interaktion in Performances untersucht und bin an einen Punkt gekommen, an dem ich das Artifizielle darin nicht mehr mochte, das Kreieren von Dringlichkeit. In dem Moment habe ich entschieden, mich Bereichen zuzuwenden, vor denen ich Angst hatte. Ich bin in die Hospizarbeit gegangen, an den Lebensrand, wo das Agieren sehr eingeschränkt ist. Dort habe ich versucht, etwas zu lernen und etwas von dem anzuwenden, was ich in der Kunst interessant fand: unmittelbaren Kontakt.