Dead Man's Hand – Die unorthodoxen Fälle des Grimshaw Griswald Grimsby - James J. Butcher - E-Book

Dead Man's Hand – Die unorthodoxen Fälle des Grimshaw Griswald Grimsby E-Book

James J. Butcher

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Grimshaw Griswald Grimsby, ein Hexer ohne Abschlussprüfung, ist das, was man in Boston einen Loser nennt. Umso erstaunter ist er, als er erfährt, dass seine Mentorin, die mächtigste Hexe Bostons, brutal ermordet wurde – und er, Grimsby, ist der Hauptverdächtige! Als auch noch ein tödliches Monster auftaucht und Jagd auf ihn macht, bleibt Grimbsy nur noch eines: fliehen und seine Unschuld beweisen. Aber das ist leichter gesagt als getan …

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Seitenzahl: 547

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DASBUCH

Auf den Straßen von Boston prallen zwei Welten aufeinander. Hier die Gewöhnlichen, ganz normale Menschen, und da die magiebegabten Unorthodoxen. Das Department für Unorthodoxe Angelegenheiten wacht über das Zusammenleben, weshalb dort nur die mächtigsten und besten Magier und Hexen angestellt sind. Grimshaw Griswald Grimsby ist … keiner von ihnen. Nachdem Grimsby aus dem Department-Trainingsprogramm als »untauglich« aussortiert wurde, muss er sich jetzt als mittelmäßiger Hexer durchschlagen. Dabei hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann noch einmal eine Chance zu bekommen, sein Können zu zeigen. Diese Gelegenheit ergibt sich, als seine ehemalige Mentorin, auch als die gefährlichste Hexe aller Zeiten bekannt, nur ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt ermordet wird. Und Grimsby ist Verdächtiger Nummer eins. Schon bald zeigt sich, dass es viel schwerer ist, seine Unschuld zu beweisen, als gedacht. Ein paar höchst unorthodoxe Schritte sind dafür nötig, wie etwa ein Zweckbündnis mit einer lebenden Legende namens »Der Große Jäger« zu schließen. Von dem seltsamen Wesen der Anderwelt ganz zu schweigen, das ihm plötzlich folgt. Ob Grimsby das nun auf dem Plan hatte oder nicht – er steckt mitten in einem unglaublichen Abenteuer. Alles, was er jetzt tun muss, ist, den wahren Mörder zu finden, die Agenten des Departments abzuschütteln und am Leben zu bleiben. Eigentlich ganz einfach, oder?

DERAUTOR

James Butcher verbringt den größten Teil seiner Zeit an Orten, die gar nicht existieren – weil er sie sich ausgedacht hat. Er ist der Sohn des New-York-Times-Bestsellerautors Jim Butcher. James Butcher lebt in Denver und arbeitet gerade an seinem nächsten Roman.

James J. Butcher

Dead Man’s Hand

Die unorthodoxen Fälle des Grimshaw Griswald Grimsby

Roman

Aus dem Amerikanischen von Thomas Salter

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: DEADMAN’S HAND

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 04/2024

Copyright © 2022 by James J. Butcher

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Fritzsche

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung der Original-Coverillustration von Chris McGrath und eines Motivs von Shutterstock.com (Murhena)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-30517-8V001

www.heyne.de

Dieses Buch ist guten Vätern gewidmet, sowohl denen, bei denen wir das Glück hatten, sie bei uns zu haben, als auch denen, bei denen wir alles tun würden, sie wieder bei uns zu haben

Prolog

Leslie Mayflower blickteaus seinem verdunkelten Wohnzimmer grimmig zwischen den verstaubten Streben der Jalousie hindurch und beobachtete die Straße. Dabei musste er seine verquollenen Augen zusammenkneifen, die Morgensonne verursachte einen wummernden Schmerz in seinem Hinterkopf.

Er war nicht sicher, was er mehr verfluchte: die Sonne oder die leere Flasche Whiskey in seiner Hand. Oder vielleicht die andere leere Flasche auf der Couch hinter ihm. Oder vielleicht die kaputte Flasche, die er vorige Nacht gegen den Kühlschrank geschleudert hatte.

Am leichtesten war es wohl, einfach sich selbst zu verfluchen.

Das Telefon klingelte, der Apparat schepperte dabei aufdringlich. Fast hätte er das Geräusch nicht erkannt. Die Kopfschmerzen wurden noch schlimmer – aber wenigstens wusste er jetzt, was er verfluchen sollte.

Er tastete nach dem Hörer, ohne dabei seine Augen vom Fenster abzuwenden. Die Station fiel dabei auf den Boden, er machte sich nicht die Mühe, sie aufzuheben, und hielt den Plastikhörer an sein Ohr.

»Ja.« Seine Stimme war ein Krächzen. Er konnte sich nicht erinnern, vor wie vielen Tagen er das letzte Mal gesprochen hatte.

»Damien Grieves hier. Ich möchte bitte mit Les Mayflower sprechen.« Die Stimme war ruhig und bestimmt. Und vertraut.

»Bastard«, knurrte Mayflower.

»Ah, du bist’s«, antwortete Grieves.

»Kein Interesse.«

»Les, hör einfach zu …«

Mayflower hörte nicht zu. Er ließ den Hörer fallen und stampfte so lange mit dem Fuß auf der Station herum, bis die blecherne Stimme am anderen Ende verstummte. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das, was wirklich zählte.

Auf der anderen Straßenseite war Sarah dabei, ihre Rosen zurückzuschneiden. Die Kinder waren tagsüber in der Schule und sie hatte donnerstags frei. Normalerweise verbrachte sie ihre freien Tage in ihrem Garten und genoss es, die verwaiste Straße für sich allein zu haben, bis die anderen Nachbarn am Nachmittag zurückkehrten. Manchmal beobachtete er sie dabei, wie sie diese stillen Morgen verlebte, so friedlich, und fand darin selbst so etwas wie Frieden.

Die Tasche auf der Vorderseite seines Flanellbademantels fing an zu vibrieren, er zuckte kurz zusammen und machte sich instinktiv breiter, als müsste er gleich kämpfen. Dann zog er knurrend sein aufgebrachtes Mobiltelefon aus seiner Tasche und starrte auf den kleinen Bildschirm auf der Vorderseite. Dort stand nur: Unbekannt.

»Unbekannt am Arsch«, sagte er. Er schnaubte verächtlich und ließ das Telefon aufschnappen. »Fahr zur Hölle.« Er nuckelte ein letztes Mal an seiner Whiskeyflasche, wurde für seine Mühe aber nur mit ein paar Tropfen belohnt. Dann stellte er die Flasche neben die anderen, die auf seinem Couchtisch aufgereiht waren, und öffnete die Haustür. Er ging hinaus und schreckte dabei den Staub auf, der es sich über zahllose Tage hinweg in seinem Hauseingang bequem gemacht hatte und jetzt durch den grellen Lichtstrahl wirbelte, der sich von draußen ins Haus ergoss.

»Mayflower, bitte«, sagte Grieves, seine Stimme klang über das altertümliche Mobiltelefon noch kleiner und verrauschter als im Festnetz. »Es ist wichtig.«

Die Sonne schien mächtig sauer zu sein, dass Mayflower sein Versteck verlassen hatte: Sie intensivierte ihre Bemühungen, ihm den Kopf der Länge nach zu spalten. Mayflower richtete seine schlechte Laune auf Grieves. »Ich bin beschäftigt«, log er.

»Das kann warten.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Was auch immer es ist: Es kann warten. Ich habe was Wichtigeres.«

»Kümmer dich selbst drum. Ich bin im Ruhestand.« Er tat so, als inspizierte er die Stabilität seines Gartenzauns. Dabei kam er zum Ergebnis, dass der Holzzaun, an dem schon die Farbe abblätterte, in der Tat genauso klapprig war, wie es die Arschgeigen aus der Nachbarschaftsversammlung in ihren ständigen Briefen an ihn immer behaupteten.

»Typen wie wir sind nie im Ruhestand. Das weißt du.«

Mayflower versteifte sich sofort, er spürte, wie seine Zähne knirschten, und sein altes Herz begann zu klopfen. Nicht schneller, aber fester, als sei es plötzlich in stramme Drähte gewickelt. Das Blut, das es durch seinen Körper pumpte, schmerzte in seinen angespannten Muskeln. »Männer wie wir?«, sagte er, seine Stimme ein Flüstern. »Du und ich haben nichts gemeinsam, Hexer.«

»Das sehe ich anders …«

»Fahr zur Hölle, Grieves.«

Mayflower ließ das Telefon wieder zuschnappen und nahm den Akku raus, dann stopfte er beides wieder in die Tasche seines Bademantels.

Auf der anderen Seite der Straße blickte Sarah auf und entdeckte ihn. Sie lächelte unter der breiten Krempe ihres Sonnenhuts hervor und winkte ihm mit einem dreckigen Handschuh zu. Ihm gelang es mit großer Mühe, ihren Gruß mit einem schmallippigen Lächeln zu erwidern – aber er spürte einen Stich im Magen und schlich wieder in die Dunkelheit seines leeren Hauses.

Er schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Er knurrte, zog eine Zigarette aus der zerdrückten Packung in seiner Bademanteltasche, zündete sie an und saugte tief die kratzige Hitze ein. Einen langen Moment hielt er den Rauch unten in seiner Brust, bevor er ihn wieder aus der Lunge strömen ließ, dann ging er in Richtung seiner zunehmend leeren Schnapsvitrine, um sich eine neue Flasche Whiskey zu holen.

Vor dem Kühlschrank blieb er jedoch stehen, seine Füße knirschten auf den Glasscherben der Flasche, die er letzte Nacht dort zertrümmert hatte. Das Gerät war weiß und schmucklos, wie eine leere Leinwand – bis auf einen einzelnen sonnenverblichenen gelben Post-it-Zettel in der Mitte. Der Klebestreifen hatte schon lang den Geist aufgegeben, also hatte er den Zettel mit einem Magneten festgepinnt.

Der Magnet verdeckte die obere Hälfte des Papiers, aber auf der unteren Hälfte stand: Pass auf dich auf, die Handschrift weiblich und schmerzhaft vertraut.

Er las den Zettel, immer und immer wieder. Dann atmete er tief ein und drückte die Zigarette auf seinem Handballen aus. Es tat weh, und alles was er denken konnte, war: Gut. Er steckte die halb gerauchte Zigarette wieder in die Packung, schnappte sich den Besen und kehrte das zerbrochene Glas zusammen.

Er war schon wieder auf dem Weg zur Schnapsvitrine, als er innehielt. »Du brauchst Wasser, Idiot«, krächzte er sich selbst an. Er füllte eine große Tasse mit Leitungswasser und zwang sich, das ganze Ding zu exen.

Dann, und erst dann, ging er zum Schnapsschrank und holte seine vorletzte Flasche Whiskey raus. Mit einem Knacken öffnete er den Deckel und nahm einen Schluck, bevor er es sich wieder an seinem Platz am Fenster bequem machte. Es gab wenig anderes zu tun, als dem Tag dabei zuzuschauen, wie er ihm langsam durch die Finger glitt.

In dem Moment hörte er das Geräusch eines Motors näher kommen. Es war nicht das heisere Grollen eines der alten Laster, mit dem die Post die Nachbarschaft patrouillierte, und auch nicht das leise Rauschen der typischen Vorstadtlimousine. Es klang sanft und leise, wie ein säuselnder Atem, als es sich näherte. Wäre es in seiner Straße nicht so still gewesen, hätte er es vielleicht nie kommen hören. Aber er hörte es. Und er erkannte es wieder.

»Bastard«, knurrte er und knallte die Jalousien zu, damit sich nur noch der dünnste Spalt Licht durchzwängen konnte. Er beobachtete die Straße und wartete.

Als das Auto schließlich in Sichtweite kam, sah er, dass es schnittig und schwarz war – und fast kein Licht reflektierte. Sogar die Fenster waren so dunkel, dass man sie kaum wahrnahm. Er musste an einen Käfer mit schwarzem Panzer denken. Das Auto schlich langsam die Straße runter, als würde es die Umgebung erkunden. Schließlich erreichte es Mayflowers Haus, bog in seine Einfahrt ein und parkte hinter seinem panzerartigen, heruntergekommenen Jeep.

Ein Jeep, dachte er stolz, der diesen schwarzen Käfer, dieses Plastikauto, mühelos zerquetschen könnte.

Die Wagentür ging auf und ein Mann in einem feinen und teuren schwarzen Anzug stieg aus. Auf seiner Habichtsnase saß eine geschmackvolle Halbrandbrille.

Mayflower spuckte einen Fluch aus und nahm einen großen, großen Schluck aus seiner Flasche.

»Grieves«, murmelte er, der Schnaps brannte noch in seinem Atem. »Du Hurensohn.«

Grieves ging zu Mayflowers Tür und klopfte mit drei präzisen, identischen Handbewegungen an.

Mayflower erwog kurz, einfach nicht zu antworten. Einfach in seinem abgedunkelten Wohnzimmer sitzen zu bleiben und aus dem Fenster zu stieren, bis der Hexer wieder ging. Aber damit wäre die Sache nicht erledigt.

Drei weitere Schläge an der Tür, genauso exakt wie die zuvor.

»Ich weiß, dass du zu Hause bist, Les. Ich hab dich gerade angerufen.«

»Ich komme«, bellte er, stampfte zur Haustür und riss sie auf. »Was willst du hier?«

Grieves entgegnete ihm mit einem höflichen Lächeln: »Ich hab auf dem Weg hierher angerufen. Dachte mir schon, dass du einen Wutanfall kriegst und sofort auflegst.«

»Kannst gleich einen richtigen Wutanfall erleben«, sagte Mayflower leise.

Grieves strich seine Krawatte glatt, Mayflower bemerkte genervt, wie wenig die Drohung ihn getroffen hatte. »Ich bin nicht hier, um zu streiten. Ich wollte es dir selbst sagen, bevor du es von woandersher hörst.«

Er hielt inne. Irgendwas stimmte nicht. »Was?«

»Samantha ist tot.«

Mayflower hörte etwas zu seinen Füßen zerbrechen. Wie betäubt blickte er runter und sah, dass es seine Whiskeyflasche war. Einen langen Moment starrte er auf die Sauerei aus Scherben und Schnaps, bevor er wieder zu Grieves aufblickte.

»Wie?«, fragte er. Bei der Art Arbeit, die Samantha machte, ließ sich so etwas nie ganz ausschließen, das wusste er. Aber Samantha Mansgraf war taff gewesen, die taffste Hexe, der er je begegnet war, und er war sich fast sicher gewesen, dass sie ihn überleben würde – obwohl sie schon mindestens ein Jahrhundert älter war als er.

»Wir sind noch nicht sicher«, sagte Grieves. »Aber es war … übel.«

Mayflowers Lippe kräuselte sich zu einem verkrampften Lächeln. »Wie viele hat sie mitgerissen?«

Grieves runzelte die Stirn. »Ihr Körper war der einzige, den wir gefunden haben.«

Er starrte ihn an. »Das kann nicht sein.«

»Meine Leute waren sehr gründlich.«

»Mansgraf hätte einem einzelnen Angreifer mit den Zähnen die Kehle rausgerissen. Und wenn es mehrere waren, hätte sie sich vielleicht sogar die Mühe gemacht, ihre Hände zu benutzen.«

»Tja, du kennst sie besser als irgendjemand sonst.«

»Nicht besser als du. Du warst ihr Schüler. Bis du sie hintergangen hast.«

Grieves ignorierte seine Bemerkung. »Du warst ihr Partner«, fuhr er fort. »Sie hat mit mir kaum ein Wort gewechselt, seitdem du hingeworfen hast.«

»In den Ruhestand gegangen bin«, sagte Mayflower.

»Ich habe nie meine Einwilligung dazu gegeben.«

»Glücklicherweise hab ich nicht für dich oder das Department gearbeitet, also war deine Einwilligung nicht erforderlich.«

Grieves zuckte mit den Schultern und hob beschwichtigend seine Hände. »Okay, okay. Jetzt ist auf jeden Fall nicht der richtige Moment, um das zu diskutieren.«

»Warum bist du hier, Grieves?«, fragte Mayflower.

»Um dir die Nachricht zu überbringen.«

»Du hättest einen deiner Lakaien schicken können. Was bist du inzwischen, Direktor des Departments?«

Grieves ließ verärgert eine Augenbraue hochschnellen. »Stellvertretender Direktor.«

»O. k. Stellvertretend. Hättest trotzdem einen deiner Arbeitssklaven schicken können. Also. Warum bist du hier?«

Grieves atmete tief ein und zog den Kragen seines Jacketts gerade. »Um dich um Hilfe zu bitten. Du kanntest sie am besten. Wenn sie irgendeinen Hinweis oder ein Zeichen hinterlassen hat, bist du der Beste, um es zu finden.«

Mayflower musterte den Stellvertretenden Direktor einen langen Moment. Der Mann war nur noch wenige Beförderungen davon entfernt, bis er im Weißen Haus ein und aus ging. Er hätte jemand anderes schicken können, um Kontakt aufzunehmen – er hatte weiß Gott genug Leute dafür. Aber trotzdem, hier stand er, höchstpersönlich.

Das war aufschlussreich. Nur: für was? Darüber war sich Mayflower noch nicht klar.

Grieves’ Gesicht war ausdruckslos, wie die Masken, die seine Auditoren immer trugen. »Ich suche nur Rat bei einem Freund.«

»Wir sind keine Freunde«, sagte Mayflower.

»Dann eben bei einem früheren Kollegen«, verbesserte er sich. »Kommst du?«

Mayflower drehte sich wortlos um und ging zu seinem nikotinvergilbten, sonnenverblichenen Sessel, Grieves ließ er einfach in der offenen Tür stehen. Er griff unter den Sessel und fand seinen schweren alten Revolver. Dann kramte er seine Schachtel mit selbst gemachter Munition hervor. Er ließ die Trommel aufschnappen, in einer Kammer steckte noch eine Bleipatrone. Das war Munition, um Männer zu töten, keine Monster. Durch ein Tippen seiner Fingerspitze entfernte er die Patrone aus der Kammer und steckte sie in seine Tasche, bevor er die Trommel mit sechs seiner selbst gemachten Patronen bestückte. Sie waren handgefertigt, bestanden aus kalt bearbeiteten Eisenpatronen und seiner eigenen Mischung Schwarzpulver auf Silberfulminatbasis. Eisen und Silber, Hilfsmittel, auf die Leute wie er seit Jahrhunderten setzten. Er ließ die Waffe zuschnappen, stopfte noch ein paar Patronen in seine Tasche und steckte die Knarre in sein Schulterholster.

Das Gewicht gab ihm ein plötzliches Gefühl von Sicherheit, von Macht – aber es verging schnell wieder und wurde ersetzt durch eine bittere Übelkeit und Zweifel. Dem Hexer gegenüber ließ er sich nichts davon anmerken.

»Die wirst du nicht brauchen«, sagte Grieves und blickte kühl auf die Waffe.

»Das hat bis jetzt noch nie gestimmt.«

Der seufzte. »Okay. Ich fahre.«

»Ich auch«, sagte Mayflower, während er seinen Bademantel gegen das verlotterte Jackett eintauschte, das an einem Haken neben der Haustür hing. Es war viel schwerer, als es aussah, und passte nicht zu seiner Anzughose mit den Whiskeyflecken oder seinen Lederstiefeln, aber es war ihm egal. »Ich fahre nicht in deiner Plastik-Todesfalle mit.«

»Okay«, sagte Grieves, während er draußen geschmeidig in das schwarze Insekt kletterte. »Fahr hinter mir her.«

Mayflower knurrte nur und knallte die Tür seines Jeeps hinter sich zu. Mit etwas Übung und gutem Zureden erweckte er den Wagen grummelnd zum Leben und folgte dem dunklen, lichtverschluckenden Auto, während es sich zum nördlichen Rand von Boston aufmachte.

Die Fahrt war ruhig, aber Grieves gab ein zum Steinerweichen langsames Tempo vor, obwohl die Straßen nach der vormittäglichen Stoßzeit eigentlich relativ frei waren. Mayflower merkte, wie er sich mit jedem Kilometer fester an das Lenkrad krallte, bis seine Finger ganz taub wurden.

Mansgraf war tot.

Früher, in den alten Tagen, wäre da so was überhaupt möglich gewesen? Er war sich dessen nicht so sicher. Aber das war lange her. Dinge hatten angefangen, sich zu verändern. Und sie hatten sich einfach geweigert, damit aufzuhören.

Doch als Mayflower hinter Grieves’ Wagen endlich am Tatort ankam, war er sich einer Sache absolut sicher: Mansgraf war nicht ohne Gegenwehr gestorben.

Das Lagerhaus, zu dem ihn Grieves führte, glich in fast jeder Hinsicht den anderen in der Umgebung – abgesehen von dem Kinderrestaurant ein paar Blocks weiter, einer auf unkonventionell getrimmten architektonischen Gräueltat. Das einzig Besondere an diesem spezifischen Lagerhaus war, dass das Gebäude aussah, als sei es innen mit einem brennenden Erdbohrer entkernt worden. Alle Fenster waren herausgesprengt, der Boden in einem Umkreis von Hunderten Metern mit verkohlten Glasscherben übersät. Schwarz geränderte Flammen flackerten aus den kaputten Fenstern und kletterten dann als brennend heiße aschfarbene Schwaden über das Metalldach. Die Fenster glichen Dutzenden erschrocken aufgerissener Augen mit zu viel Lidschatten.

Grieves parkte neben den Dutzenden Fahrzeugen des Departments, Mayflower hielt neben ihm. Er stieg aus dem Jeep und betrachtete die Szene.

»Wir denken, es ist irgendwann heute Morgen passiert, früh, vor Sonnenaufgang«, sagte Grieves und stellte sich neben ihn. »Warum sie hier war, wissen wir nicht genau.«

Mayflower blickte sich um. Ohne all die Inseln aus gelbem Absperrband, ohne die durcheinanderhetzenden Departmentsmitarbeiter in weißen Tatort-Schutzanzügen und ohne die Auditoren mit ihren weißen Masken, die Wache standen, wäre der Ort komplett verwaist gewesen.

»Sie muss gewusst haben, dass jemand hinter ihr her war«, sagte er. »Sie hat den Angreifer hergelockt, damit sie schweres Geschütz auffahren konnte, ohne irgendwelche Unbeteiligten zu gefährden.«

Grieves nickte. »Ein Feuerball war für ihre Verhältnisse schon subtil.«

»Hab sie mal ein Messer benutzen sehen«, sagte Mayflower. »Ein Feuerball ist gnädiger.«

Grieves setzte zu einer Antwort an, aber eine andere Stimme schnitt ihm das Wort ab.

»Grieves! Was macht dieser Kerl hier?« Ein Mann näherte sich, sein Anzug saß nicht ganz so gut wie der von Grieves. Sein blondes Haar wurde schon etwas dünn, an den kahlen Stellen schuppte sich seine Kopfhaut heftig.

»Das ist der Direktor des Departments, John Peters«, stellte Grieves kühl vor. »Das hier ist Les Mayflower, ein Berater …«

»Ich weiß sehr wohl, wer das ist«, sagte Peters. Die Säure in seiner Stimme hätte ausgereicht, um den Bordstein blank zu schrubben. »Er ist der Große Jäger.«

»Nicht mehr«, sagte Mayflower. »Jetzt bin ich nur irgendein Typ.«

»Das bezweifle ich.« Peters drehte sich zu Grieves. »Ich hab Sie gefragt, was er hier macht.«

»Externer Berater. Dachte, er könnte was bemerken, das uns entgangen ist.«

»Ich habe gesagt, kein unautorisiertes Personal! Muss ich Sie daran erinnern« – er warf Mayflower einen Blick zu – »wie heikel unsere Lage ist?«

»Natürlich nicht, Sir«, antwortete Grieves, gelassen wie immer. »Aber ich denke, es wäre klug, zumindest seine Einschätzung der Dinge zu erfahren – wenn wir herausfinden wollen, was hier passiert ist.«

Peters blickte zwischen beiden hin und her. »Okay. Fünf Minuten. Dann ist er weg.«

»Wie Sie wünschen, Sir.«

Peters schüttelte den Kopf und murmelte etwas, bevor er davonstürmte.

»Netter Kerl«, meinte Mayflower.

»Er ist ein jähzorniges Arschloch. Aber er kriegt den Job erledigt. Auf seine eigene Weise.«

»Statt auf deine eigene Weise?«

Grieves zuckte mit den Schultern. »Niemand ist perfekt.« Er deutete auf das Lagerhaus. »Hier entlang.«

Er führte Mayflower durch die massenhaft herumwuselnden Mitarbeiter, die den Tatort durchkämmten. Jeder einzelne von ihnen ging Grieves instinktiv aus dem Weg, als er vorbeikam. Alle kannten sein Gesicht – und vermutlich erst recht seinen Ruf, einen hauchdünnen Geduldsfaden zu haben.

Drinnen sah das Gebäude aus wie eine zerstörte Sternwarte. Die Decke, die Wände, sogar der Boden waren vom Feuer schwarz verkohlt wie ein sternenloser Nachthimmel. Dutzende Stapel Holz- und Eisenkisten hatten sich in Asche verwandelt oder waren zu formlosen Häufchen aus grauer Schlacke geschmolzen, die Halle glich einer außerirdischen Hügellandschaft aus Dunkelheit. Über diese Landschaft verteilt, standen Pfützen, regungslos und hart wie gefrorene Teiche.

»Was ist das?«, fragte Mayflower.

Grieves bleckte seine Zähne zu einem bitteren wölfischen Lächeln. »Geschmolzenes Metall.«

»Könnten das die Waffen der Angreifer sein, vielleicht? Wo sind die Leichen?«

Grieves schüttelte den Kopf. »Bei den Temperaturen wären Fleisch und Knochen verbrannt. Wir sind dabei, die Überreste zu analysieren.«

Mayflower nickte und ging weiter, doch als er die Raummitte übersehen konnte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

Dort auf dem Boden war ein perfekter Kreis aus hellem grauem Beton zu sehen, als hätte jemand einen Bühnenscheinwerfer mitten in die Dunkelheit gerichtet. Aber der Kreis war voller Blutlachen. Und in der Mitte, unter einer Plane, ließen sich die Umrisse einer vornübergebeugten Gestalt erkennen.

Mayflower spürte, wie ihm das Herz in der Brust knirschte und rappelte. Seine Hände hatte er unbewusst so fest zu Fäusten geballt, dass sich die kurzen Fingernägel in seine Handflächen bohrten. Er und Mansgraf waren keine Freunde gewesen. Sie hatten einander noch nicht einmal besonders gemocht. Aber sie waren Partner gewesen.

Und das war eine Verbindung, so tief wie Blutsverwandtschaft.

Die Szene – das ganze Blut, das so reichlich in der Mitte des sonst leeren Tatorts vergossen war – hatte etwas von einem sehr modernen Gemälde, das Mary zwar für interessant befunden hätte, aber nicht unbedingt als fürs Wohnzimmer geeignet.

Seine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, als er sich Mansgrafs Körper näherte. Es fühlte sich unwirklich an, dass sie wirklich tot sein sollte. Sie war immer so mächtig gewesen, so sicher, so weise. Und nicht zu vergessen: so paranoid, dass sie sogar ihre Zähne eigenhändig behandelt hatte.

Wie konnte das hier passiert sein?

Grieves blieb unmittelbar vor dem Ring aus nicht verrußtem Beton stehen. »Das Problem ist«, sagte er und schaute sich in dem ausgebrannten leeren Gebäude um, »sie war so … gründlich, dass wir noch nicht darauf gekommen sind, wer oder was das hier angestellt hat. Die einzigen Hinweise, die wir haben, sind ihre Wunden. Und das hier.«

Er lenkte Mayflowers Blick, der immer noch wie gebannt die Gestalt im Kreis fixierte, zur Seite. Dort, auf dem verkohlten Boden, waren schmale Schleifspuren zu sehen, die Furchen in der Asche hinterlassen hatten.

»Krallen?«, fragte Mayflower.

»Würde den Kreis möglicher Täter kaum verkleinern, könnte aber sein. Oder vielleicht eine Klinge. Aber bei unserem aktuellen Wissensstand könnten es genauso gut Schlittschuhe sein. Das Einzige, was wir sicher sagen können, ist, dass diese Spuren entstanden sind, nachdem das Gebäude schon halb abgebrannt war. Und dass Mansgraf den Kreis nie verlassen hat.«

»Also hat ihr Angreifer überlebt«, folgerte Mayflower und ertappte sich dabei, wie er wieder den grauen Lichtkreis anstarrte.

»Das glauben wir auch«, meinte Grieves. »Aber wir können nichts mit Sicherheit sagen, bevor wir das hier nicht ins Labor gebracht haben. Danach haben wir vielleicht eine Ahnung, wer oder was sie erwischt hat.«

Mayflower verzog unbewusst das Gesicht, seine Lippen wichen dabei langsam von seinen Zähnen zurück.

Das Blut wurde schon dunkel, an vielen Stellen zog es sich in langen, dünnen Linien über den Beton, wie Farbspritzer vom Pinsel eines manischen Malers.

Dann entdeckte Mayflower ein paar Linien, die für ihn herausstachen. Linien, die an Stellen verliefen, wo sie nicht hätten sein sollen.

Er folgte ihnen mit seinen Augen, versuchte, nachzuvollziehen, wie sie dort hingelangt sein konnten. Dann fand er eine einzelne Blutspur, die den ganzen Weg zurück zu Mansgrafs Körper getröpfelt war.

»Du hast was über ihre Wunden gesagt?«, fragte Mayflower.

Grieves nickte. »Schnittwunden. Lang und tief. Könnten von allem Möglichen stammen. Sie werden schon analysiert.«

»Zeig’s mir.«

»Les«, sagte Grieves und fing sich von Mayflower für den Gebrauch seines Spitznamens einen zornigen Blick ein. »Du musst dir das nicht antun …«

»Zeig’s. Mir.«

Grieves seufzte. »Nun gut.« Er winkte den Gestalten in Tatortschutzanzügen, die im Kreis standen. »Heben Sie die Plane hoch.«

Sie gehorchten und zogen vorsichtig die blutverschmierte Abdeckung von der Leiche herunter.

Mayflower spürte, wie sein ganzer Körper sich vor Wut und Ekel verkrampfte, als wären seine Muskeln Sprungfedern und jemand hätte sie alle gleichzeitig um ein paar Umdrehungen angezogen.

Wenn da nicht unter dem Blut die Patchworkkleider sichtbar gewesen wären, die sie immer getragen hatte, hätte Mayflower sie nie erkannt.

Ihre Überreste glichen einem Kochschinken, den jemand während einer Achterbahnfahrt mit einem Spiralschneider bearbeitet hatte. Ihre Gliedmaßen waren mit langen Schnittwunden übersät, die bis hinunter auf die Knochen reichten.

Ihre grauen Augen starrten wütend ins Nichts. Ihr vom hohen Alter gezeichnetes Gesicht war zu einer Grimasse aus Schmerz und Widerstand gefroren.

Mayflower zwang sich, seinen Blick von ihrem Gesichtsausdruck loszureißen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf ihre Hand. Und siehe da: Die seltsame Blutspur, die ihm aufgefallen war, führte direkt zum Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand, die vollkommen mit ihrem eigenen Blut bedeckt war.

Erneut zeichnete er die Spuren mit seinen Augen nach und begriff, was sie waren.

Mansgraf hatte eine Botschaft hinterlassen.

Es war nicht viel. Sie hatte wahrscheinlich nur ein winziges Zeitfenster gehabt, um ihre Botschaft abzufassen, bevor sie verblutete.

Mayflower grub tief in seiner verstaubten Erinnerung nach Hinweisen, was für Symbole das sein könnten. Dann erkannte er die Schrift. Es war Ogham. Altes Ogham. Eine Schrift, die einst dazu diente, sie in Steine einzugravieren. Mit Werkzeugen, mit denen man nur gerade Linien ritzen konnte. Aber Mansgrafs Linien waren nicht gerade. Sie hatte ihr Blut in langen, sich windenden Kurven von sich geschleudert, als hätte sie versucht, in einem Spiegelkabinett zu schreiben. Wahrscheinlich hatten sie die ganzen Leute hier in dem blutigen Chaos deshalb auch noch nicht als Schriftzeichen erkannt.

Er zermarterte sich sein Hirn, kramte alte Informationen hervor, die er schon über Jahre hinweg nicht abgerufen hatte.

Schließlich gelang es ihm, die Bruchstücke zusammenzufügen.

Mayflower drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zu seinem Jeep.

»Was entdeckt?«, fragte Grieves.

»Nein«, log Mayflower.

Er hatte etwas entdeckt. Etwas Kleines und Simples.

Eine Aufforderung, die seine tote Partnerin bei ihren letzten Atemzügen mit ihrem eigenen Blut geschrieben hatte.

Töte Grimsby.

1

»Ich weiß nicht, was ich angestellt hab, um das zu verdienen«, sagte Grimshaw Griswald Grimsby, »aber es tut mir leid.«

Er starrte in dem gesprungenen Spiegel auf sein Tutu. Es war pink. Nicht rosa und auch kein ruhiges, natürliches, fröhliches Pink. Ein aggressives Pink. Die Art von Pink, die Babys zum Weinen brachte und Bienen anlockte. Der Stoff spannte fest über seinem T-Shirt, saß so stramm, dass er unangenehm gegen die blassen Brandnarben scheuerte, die einen Großteil seiner linken Körperhälfte entstellten.

Carla, die Managerin des Restaurants, zuckte mit ihren breiten Schultern. »Taco-Dienstage ziehen bei den Leuten nicht mehr so wie früher«, sagte sie. »Wir brauchen etwas Schockierendes, um aufzufallen.«

»Ich mache Zauberei«, sagte Grimsby und drehte seinen Rücken zum Spiegel, um die handgemachten tacoförmigen Flügel zu begutachten, die Carla ungeschickt auf der Rückseite des Tutus angetackert hatte. »Echte Zauberei. Wie ist das bitte weniger schockierend als das hier?«

»Zauberei kriegen die Leute überall«, sagte Carla. »Du bist nicht der einzige Hexer auf der Welt, Grimsby. Und du bist bei Weitem nicht der beste.«

»Warum hast du mich dann überhaupt eingestellt?«

»Du warst der einzige Bewerber. Also, wenn du weiter für Donalds Mächtiges Magisches Königreich des Essens arbeiten willst, dreh dich um und lass mich die Rückseite in Ordnung bringen.«

Grimsby wollte ganz sicher nicht weiter für Donalds Mächtiges Magisches Königreich des Essens arbeiten, aber er drehte sich trotzdem um und richtete seine Augen auf den Boden. Das Rüschenröckchen an dem Tutu störte ihn nicht so sehr wie der eng sitzende, einschnürende Stoff. Er tänzelte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und gab sich dabei Mühe, freizuschütteln, was er lieber nicht eingeklemmt haben wollte.

Carla hatte vorgeschlagen, seine Jeans durch durchsichtige Strumpfhosen zu ersetzen, aber er hatte beschlossen, dass das nicht infrage kam. Das Letzte was er den Leuten zeigen wollte, waren seine blassen, dürren Beine. Na ja, vielleicht das Vorletzte.

»Es ist nur ein Mal die Woche«, sagte Carla, »und nur bis der Taco-Dienstag wieder Fahrt aufnimmt! Obwohl, wenn es richtig gut läuft, müssen wir vielleicht einen Tacofee-Dienstag draus machen. Immerhin ist ja der Magische-Kuchen-Mittwoch ein Hit …«

Grimsby versuchte sich vorzustellen, das Kostüm in der absehbaren Zukunft einmal die Woche tragen zu müssen. Der Gedanke tat weh. Etwa so, wie es ihm wehgetan hatte, als er vor über einem Jahr sein erstes graues Haar entdeckt hatte. Mit neunzehn. Es war eine tiefe Verletzung mit einem Schmerz, der mit der Zeit nur noch schlimmer werden konnte.

»Wenn es so weit kommt, kündige ich.«

»Und gehst wohin?«, fragte sie und zupfte dabei an einer Falte in dem augenmörderischen pinken Stoff.

»Es gibt viele Unternehmen, die Unorthodoxe wie mich anheuern«, verteidigte sich Grimsby.

Sie schnaubte verächtlich. »Klar. Aber die stellen diese Leute nicht ein, weil sie Unorthodoxe sind, Grimsby«, sagte sie. »Sie stellen sie ein, obwohl sie Unorthodoxe sind. Therianer als Buchhalter. Vampire als Wachleute. Bis auf das Department – und vielleicht deren private Auftragnehmer – hat keiner ein Interesse daran, Hexen zu beschäftigen.«

Grimsby schnürte sich die Kehle zu, aber er schob trotzig das Kinn vor. »Du schon.«

»Keinen echten Hexer. Nur … einen wie dich«, sagte sie. Ihre Worte klangen nicht wie böse gemeint, aber dadurch taten sie irgendwie noch mehr weh. »Schließlich hast du mit deiner Lizenz kaum die Erlaubnis, überhaupt zu zaubern. Du darfst was? Teller drehen und diesen Trick mit dem Klebeband vorführen?«

»Das sind keine Tricks«, sagte Grimsby leise. Es war echte Zauberei. Seine Zauberei.

»Was auch immer. Hör mal: Niemand, der keinen Hexer will, wird dich einstellen. Und wer einen Hexer oder eine Hexe will, findet bessere. Du musst dich mit mir abfinden. Und ich mich mit dir.«

Er wollte widersprechen, aber sie hatte recht.

Er hatte einen Großteil seiner Kindheit darauf hingearbeitet, beim Department für Unorthodoxe Angelegenheiten unterzukommen. Nachdem sie ihn abgelehnt hatten, gab es nicht viele Alternativen für ihn. Fast einen Monat hatte er gebraucht, um diesen Job zu finden. Die Leute rannten gescheiterten Hexen nicht unbedingt die Türen ein, um ihnen Jobs anzubieten. Oder Hexen im Allgemeinen, um genau zu sein. Zauberei war außerhalb ihrer streng definierten Nutzung im Dienst des Departments rigoros reglementiert. Warum sollte also irgendwer einen Hexer einstellen, wenn ein Gewöhnlicher ausreichte?

Deswegen konnte er hier nicht einfach den Kram hinwerfen und abhauen, egal wie sehr er es wollte. Er brauchte die Arbeit. Dringend. So dringend, dass er es hinnahm, sich drei Tage die Woche – sagen wir vier – mit Kostümchen zu verkleiden. Und da waren die Feiertage noch nicht mitgerechnet, obwohl er nach dem Gerichtsprozess vom letzten Jahr seine Zweifel hatte, dass Carla ihn wieder als Santa Claus einsetzen würde. Er besaß ohnehin nicht die Statur dafür. Welcher Weihnachtsmann ist eins fünfundsechzig groß und wiegt sechzig Kilo?

Kein fröhlicher Weihnachtsmann, das war sicher.

Er starrte wieder seine Flügel an. Carla hatte dünnen, knallig gefärbten Stoff in die Windungen der Tacos geklebt, um die typischen Füllungen nachzuahmen. Sie hatte sogar großzügig roten, grünen und braunen Glitzer draufgestreut, um die Gewürze zu imitieren. Wo zur Hölle konnte man braunen Glitzer kaufen?

»Krötenzähne«, fluchte er leise.

»Warum fluchst du immer so seltsam?«, fragte Carla gelangweilt, während sie einen losen Flügel mit Nadeln wieder festtackerte. »Das törnt ab.«

Grimsby zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter mochte keine Flucherei«, sagte er.

»Muss ein Hexending sein«, sagte Carla desinteressiert. »Fast fertig. Hier.« Als krönenden Abschluss gab sie ihm etwas in die Hand – ihm war, als würde sie den Dolch in der Wunde drehen: Es war ein Plastikschlauch, an dessen Ende mit Heißkleber eine Gummiavocado befestigt war.

»Ist das ein Radiergummi?«, fragte Grimsby und starrte traurig die Avocado an.

»Du hast es bemerkt? Verdammt! Ich hatte gehofft, es wäre subtiler. Na ja, soll zumindest ein Zauberstab sein. Brauchst du keinen Zauberstab für deine Tricks?«

»Es sind keine Tricks«, fauchte Grimsby.

»Meinetwegen«, sagte Carla mit einem Tonfall und einer leichten Neigung ihres Kopfes, die durchklingen ließen, dass es sehr wohl Tricks waren.

Er seufzte. »Nein. Dafür brauche ich keinen Zauberstab.«

»Oh. Hast du es mal probiert? Vielleicht würde es helfen bei deinen … deinen, du weißt schon.« Mit einer vagen Geste umfasste sie seine gesamte Erscheinung.

Er atmete tief ein und dehnte dabei den pinken Stoff bis ans Limit. »Ja. Vielleicht hilft es«, sagte er mechanisch.

»Gut.« Sie trat einen so großen Schritt zurück, wie es ihr die vollgestopfte Hausmeisterkammer erlaubte, und begutachtete ihn noch ein letztes Mal. »So, wie fühlst du dich?«

Er zupfte an dem knallengen Tutu. »Als müsste ich die Miete zahlen«, sagte er.

»Das wollte ich hören!«

Grimsby grummelte nur vor sich hin.

Tutu, Tacoflügel, Avocadozauberstab. Diese Kombination aus Gräueltaten verwandelte Grimsby, den sanftmütigen Kinderzauberer, in eine Schande, deren Name nur mit einem schreckerfüllten Flüstern ausgesprochen werden konnte: die Tacofee.

Jetzt war es Showtime.

Grimsby zwängte sich vorsichtig aus der Kammer und duckte sich unter der Kanonade von Ermahnungen weg, die ihm Carla hinterherrief, während sie die behelfsmäßige Umkleide aufräumte. Er ließ die Tür hinter sich zufallen, lehnte sich einen Moment dagegen und atmete tief ein. Er hatte irgendwie gehofft, die Luft wäre frisch und belebend. Stattdessen roch sie nur nach verbranntem Käse und machte ihn müde.

Von der anderen Seite des Gangs ertönte das Geräusch einer Klospülung, ein Mann trat aus der Toilettentür und wischte sich die Hände an der Vorderseite seiner Hose ab. Seine Augen trafen sich kurz mit Grimsbys, bevor sie auf sein Tutu und seine Flügel fielen. Der Mann verschluckte sich fast beim Versuch, sein Lachen zu unterdrücken. Dann schüttelte er den Kopf und ging wortlos weiter, an Grimsby vorbei, zum Speisesaal.

Grimsby plusterte seine Wangen auf. Mit peinlichen Situationen konnte er umgehen. Sonst hätte er es wohl in DMMKDE nicht so lange ausgehalten. Hin und wieder verkackte er seinen Einsatz oder brachte seine Zaubersprüche durcheinander. Er war schließlich auch nur ein Mensch – und nicht mal ein besonders guter.

Aber es hätte ihm besser gefallen, wenn Leute ihn nicht für Carlas modische Verbrechen, sondern wenigstens aufgrund seiner eigenen Fehler auslachten. Das hätte er wenigstens verdient.

Niemand verdiente die Tacofee.

Aber die Tacofee sollten sie kriegen, zu einem schrecklichen Preis.

Dem Mindestlohn.

Er richtete sich auf. Stolz war ein Luxus, aber er war auch relativ. Wenn Grimsby schon ein pinkes Tutu und Tacoflügel tragen musste, dann würde er sie verdammt noch mal richtig tragen!

Grimsby stolzierte mit erhobenem Haupt in den Essensbereich des Restaurants, der kaum mehr als ein Dutzend Sitzkojen und fünf oder sechs Tische umfasste. Dort saßen verteilt eine Handvoll Erwachsene, die sich leise unterhielten oder auf ihre Telefone starrten. Es war weitgehend das übliche Publikum aus ordentlich, aber leger gekleideten Erwachsenen – aber ein Mann stach heraus. Er war mager wie ein Skelett und so groß, dass sich Grimsby sofort wie ein Kind fühlte. Er stand in einer Ecke und kaute auf einer unangezündeten Zigarette rum, seine Augen von einer dunklen Brille verdeckt.

Grimsbys Erscheinen ließ einige Gäste aufblicken und entsetzt gaffen, aber nicht alle.

Nicht genug.

»Meine Damen und Herren und der Mann mit der feuchten Jeans!«, rief Grimsby aus voller Kehle, jeder Kopf drehte sich ruckartig zu ihm. »Willkommen in Donalds Mächtigem Magischen Königreich des Essens! Das Schicksal hat Ihnen das große Glück zuteilwerden lassen, sich hier in unserem schönen Land an diesem Dienstag der Tacos aufzuhalten, an dem der Kauf eines einzelnen Tacos Ihnen die reiche Ausbeute von zwei, ja richtig, zwei Tacos einträgt! Kaufet, kaufet die Tacos und verspeiset sie! Denn ich, die Tacofee, beziehe meine Zauberkraft aus anderer Menschen befriedigter Begierde nach Tacos!«

Damit erntete er im Raum nicht mehr als verdutzte Stille. Der Mann in der Ecke kaute weiter lautlos auf seiner Zigarette, ohne seine Augen hinter der getönten Brille von ihm abzuwenden.

Eine dürre Frau mit dichter Monobraue stand von ihrem Platz auf und stützte ihre Hände in die Hüften. »Wo zur Hölle waren Sie?«, fragte sie fordernd, ihr Tonfall klang eher, als spräche sie mit einem Kind als mit einem berufstätigen Erwachsenen. »Die Party von meinem Sohn hat vor zehn Minuten angefangen!«

»Ah, aber sehen Sie«, sagte Grimsby, »ich wurde aufgehalten.«

»Von was, du ekliger Schleimer?«, motzte sie dagegen.

Grimsby zuckte bei dem Wort leicht zusammen und bleckte seine Zähne, um sich so einen Gesichtsausdruck abzunötigen, der nur vor Gericht als Lächeln durchgehen würde. Mit einem guten Anwalt. Er spürte, wie sein Bedürfnis, sich vernünftig zu benehmen, langsam davonschwebte.

In seiner Fantasie benutzte es dafür die Tacoflügel.

»Von dem gar tragischen Umstand, dass Tacofeen keine Flügel haben, Madam, sondern nur Tacos«, sagte er. »Für das Fliegen nutzlose Hüllen, gefüllt mit Fleisch und anderen noch abscheulicheren Zutaten. Das Leben von uns Tacofeen ist ein Albtraum im Wachzustand. Und nachts? Da kommen die Bären.«

»Ach du lieber Gott«, sagte die Frau und rollte mit den Augen. »Sind Sie irre oder nur ein Idiot?«

»Die Indizien deuten zum größten Teil auf Letzteres«, sagte Grimsby, »aber nur zum größten Teil. Sorgen Sie sich nicht, Ma’am, ich bin der beste Tutu tragende Zauberer in einem Radius von mindestens zwei Meilen.«

»Was auch immer. Ich bezahl Sie nicht fürs Quatschen.«

»Streng genommen bezahlen Sie mich überhaupt nicht, Madam. Meine Dienste gehören vollständig zum garantierten Lieferumfang des Extravaganza-Geburtstagsmenüs von Donalds Mächtigem Magischen Königreich des Essens. Im Zweifel – also eigentlich immer – gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen.«

Sie schaute ihn finster an. »Dann erwarten Sie von mir mal lieber kein Trinkgeld, Feenjunge.«

»Natürlich nicht, Madam. Ich arbeite hier schon über ein Jahr. Ich kenne den Drill.«

Sie schnaubte verächtlich und entblößte dabei nikotingelbe Zähne mit frei liegenden Zahnhälsen. »Ein Jahr hier? Ich würde mich umbringen.«

Grimsby setzte erneut sein gerichtstaugliches Minimallächeln auf. »Wir suchen immer Mitarbeiter. Jetzt werden Sie mich entschuldigen: Ich habe eine Show zu absolvieren.«

Er stolzierte an der Mutter mit der Monobraue vorbei und vollführte dabei eine ungeschickte, aber dramatische Pirouette, die sie mit tacogewürzfarbenem Glitzer bestreute. Sie stammelte und stotterte wütend vor sich hin, und er beschleunigte seinen Schritt, ehe sie ganze Worte artikulieren konnte.

Bevor er die Tür erreichte, die zu dem riesigen Ex-Lagerraum, jetzt Spielraum, führte, legte sich eine kalte Hand auf seine Schulter.

»Mr. Grimsby«, sagte eine raue Stimme, »einen Moment Ihrer Zeit.«

Grimsby drehte sich um und erblickte den skelettartigen Mann vor sich. Und ein gutes Stück über sich: Der Mann sah aus, als wäre er locker zwei Meter groß, obwohl das vielleicht auch daran lag, wie er sich bewegte. Er trug ein zerknittertes Anzugjackett in verschiedenen Schattierungen von sonnenverblichenem Grau. Seine Anzughose war in einem unmodisch abweichenden Blauton gehalten. Sein Gesicht war eingefallen, als wäre er krank oder am Verhungern, seine Wangen waren mit weißen und schwarzen Stoppeln bedeckt, es sah aus wie ein krisseliges Störsignal auf einem altmodischen Fernseher.

Grimsby war sich nicht sicher, was er sagen sollte, also zögerte er kurz und neigte den Kopf. »Ich bin, äh, gerade beschäftigt.«

Selbst durch die dunklen Brillengläser konnte er sehen, wie die Augen des Mannes über sein Tutu glitten. »Offensichtlich. Aber es ist wichtig.«

»Okay, in Ordnung. Aber machen Sie schnell.«

»Mein Name ist Mayflower. Ich bin … beim Department. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Beim Department? Das Letzte, was er vom Department bekommen hatte, war ein Brief mit einer präventiven Absage auf jede weitere Bewerbung und eine Lizenz für nur die grundlegendste Zauberei. Das war vor über einem Jahr gewesen. »Fragen? Zu was?«

»Zu wem. Samantha Mansgraf.«

Er schüttelte den Kopf. »Oh nein, mit der will ich nichts zu tun haben. Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, hat sie mein Leben ruiniert. Ich will gar nicht wissen, was mir zustößt, wenn wir uns noch mal unterhalten.«

»Das war keine Bitte.« Der Mann schien ein paar Zentimeter zu wachsen, obwohl Grimsby sich das wahrscheinlich nur einbildete.

Grimsby spürte, wie er sich unweigerlich selber aufplusterte, mitsamt seinen Stoffflügelchen. Grobiane waren ihm schon immer gegen den Strich gegangen. »Sind Sie sicher? Klang nämlich für mich wie eine Bitte.«

»Sie irren sich.« Die Stimme des Mannes klang wie alter rostfreier Stahl: kalt, zeitlos und nicht sehr flexibel.

Grimsbys Stimme klang im Vergleich dazu eher wie eine in starkem Wind quietschende Schaukel, aber er weigerte sich, klein beizugeben. »Nein, ich glaube Sie sind derjenige, der sich irrt, wenn Sie denken, dass Sie hier einfach reinspaziert kommen und Forderungen an mich stellen können. Das Department hatte genug Gelegenheit, mich zu befragen. Stattdessen hat man mir nur einen Brief geschickt. Ich bin durch mit dem Department – und folglich auch mit Ihnen.«

Das Gesicht des Mannes verdunkelte sich, obwohl sein Ausdruck sich nicht wirklich veränderte.

»Jetzt gehe ich an meine Arbeit. Ich habe Rechnungen zu bezahlen.«

»Ich würde sagen, Ihre Rechnung ist überfällig.«

Normalerweise hätten die Worte Grimsby ein bewunderndes Kichern entlockt, aber so wie dieser Mann sie von sich gab, blieb ihm das Lachen im Hals stecken.

Trotzdem fand er den Mut, flapsig zu reagieren.

»Oh, wie gruselig«, sagte er und rollte mit den Augen. Obwohl es ihn Überwindung kostete. Der Mann war unmöglich groß, hager – und irgendwie jagte er Grimsby schreckliche Angst ein. Aber er wollte es sich um keinen Preis anmerken lassen. »Aber Sie haben vergessen, Ihre Sonnenbrille mit einer dramatischen Geste abzusetzen, während Sie es gesagt haben. Das hat Ihnen die Pointe ziemlich ruiniert.« Er wandte sich ab und trat durch die Glastür in das Spielzimmer.

Der Mann folgte ihm. »Ich werde nicht noch mal fragen …«

»Whoa!«, sagte Grimsby und streckte eine Hand aus. »Können Sie nicht lesen?!«

Mayflower blickte ihn finster an. »Was lesen?«

Grimsby deutete auf die Pappfigur von König Donald, die an die Wand geheftet war. Der König – der als Kopf eine Waffel hatte, warum auch immer – streckte sein königliches Zepter ungefähr auf Brusthöhe aus. Und ein Schild auf seiner Brust verkündete: DUMUSSTMINDESTENSSOJUNGSEIN, UMEINZUTRETEN. Grimsby hatte die Höhe selbst eingestellt: Das Schild war gerade niedrig genug, um die Oberseite seines Kopfes zu streifen.

Mayflower zögerte. »Sie verarschen mich.«

»Tut mir leid, das ist nicht meine Regel«, sagte Grimsby und deutete auf King Donald. »Es ist königliches Gesetz.«

»Sie …«

»Königliches Gesetz!«, rief er, überquerte die Türschwelle und warf die Tür hinter sich zu. Während er sich entfernte, warf er einen Blick über seine Schulter und sah Mayflowers Silhouette im Glas der Tür. Sogar durch das Milchglas hindurch schienen die Augen des Mannes ihn so ruhig und genau im Blick zu behalten wie das Zielfernrohr eines Gewehrs.

Grimsby schauderte. Was konnte der Mann gewollt haben? Er hatte nicht damit gerechnet, jemals wieder vom Department zu hören – außer sie wollten ihm eine Geldbuße für den Missbrauch von Magie aufs Auge drücken. Aber was auch immer Mayflower im Sinn hatte: Grimsby war sich sicher, es würde ihm nichts als Ärger einbringen. Auch wenn ein Teil von ihm neugierig war. Egal was er Mayflower gegenüber behauptet hatte: Er wünschte sich nichts sehnlicher als noch eine Chance auf einen Job beim Department. Aber dazu würde es nie kommen.

Dafür hatte Mansgraf gesorgt.

Er schüttelte die Fragen und Zweifel ab und sah sich im Spielzimmer um. Es war Zeit, seine Arbeit anzugehen.

2

DMMKDE – was für jedes Unternehmen ein schwaches Akronym gewesen wäre, vor allem aber für ein Etablissement für Kinder – war im Bebauungsplan einst nachträglich von einer Lagerhalle zu einem Restaurant umgewidmet worden. Dann hatte man einfach sämtliche Kisten und Paletten aus dem breiten dreistöckigen Gebäude rausgeräumt und dort das abscheuliche Königreich des Essens des Mächtigen Magischen Donald errichtet.

Der Beton war mit Kunststofffliesen und Kunstrasen zugedeckt, die Schächte für die elektrischen Leitungen waren einfach mit Sperrholz vernagelt und dann angemalt worden, um ihnen das Aussehen von Festungstürmchen zu verleihen. Die Decke mit den Glaspaneelen erstrahlte in knalligen Primär- und Sekundärfarben. Das graue Licht des kalten Herbsttages, das durch die bunten Dachfenster sickerte, tauchte den Kunstrasen des darunterliegenden Spielbereichs in einen seltsamen Farbton, von dem Grimsby etwas übel wurde.

In der Mitte der Lagerhalle hatte ein Architekt oder Ingenieur – auf alle Fälle jemand, der händeringend Aufträge suchte oder dem sein Psychiater das als Beschäftigungstherapie verschrieben hatte – das Schloss des Königreichs des Essens installiert. Das Schloss war der eigentliche Grund, warum Eltern die Reise zu diesem fast verlassenen Industriepark eine halbe Stunde außerhalb von Boston auf sich nahmen und dann für Essen bezahlten, das wie recycelte Pappe schmeckte. Und noch nicht mal wie durchaus sättigende Doppelwellpappe.

Die Pfefferkuchenzinnen des irren Essenskönigsschlosses, umgeben von einem Wehrgraben-Bälleparadies, ragten fast fünf Meter in die Höhe. Die Brüstung aus Eiswaffeln schraubte sich spiralförmig fast bis zur Decke, ihre Spitze war geschmückt mit einer schlaff herabhängenden Flagge, darauf das DMMKDE-Logo: eine Pizza, die eine edelsteinbesetzte Krone trug. Eine Zugbrücke in der Form eines halb gegessenen Kekses spannte sich über den Wehrgraben und führte in den geschützten Innenbereich des Schlosses.

Doch als Grimsby das Königreich betrat, sah er, dass das Schloss gerade angegriffen wurde.

Kinder krabbelten über die Zinnen und stürmten die Brücke. Sie schwammen im Bällegraben und kraxelten über die auf Federn montierten Schaukelpferdchen, stießen dabei die kostümierten Schaufensterpuppen um, die den königlichen Hofstaat darstellten. Chaos, Anarchie und Hochverrat im Reich des Essenskönigs.

Grimsby konnte das nicht durchgehen lassen.

So stand es schließlich in seinem Arbeitsvertrag.

Er war der Hofmarschall dieses Reiches, der in Elasthan gezwängte Wahrer der Sicherheitsbestimmungen, und vor allem: verantwortlich für jeden Schaden, der den Kindern in diesem Raum zustieß.

Zum Glück war er außerdem ein Hexer und das war manchmal nützlich.

Er atmete tief ein, um sich für das zu wappnen, was jetzt auf ihn zukam. Er durfte keine Furcht zeigen, kein Zögern, und vor allem: keinen Stolz. Man konnte unmöglich die eigene Würde bewahren und sich gleichzeitig angemessen um Kinder kümmern. Das war ein universelles, vielleicht sogar kosmisches Gesetz.

Mit gut gefüllten Lungen brüllte er jetzt: »Meine Damenmädchen und Herrenjungs!«

Die Kinder hielten inne und Dutzende winzige Augenpaare wandten sich von der Plünderung des Königreichs ab und richteten sich stattdessen auf diesen pinken Neuankömmling mit seinen Tacoflügeln.

Es folgte eine bedeutungsvolle Stille, bis Grimsby schließlich sagte: »Wer will ein bisschen Zauberei sehen?«

Die Kinder antworteten mit Gegröle, Gekreische und Geschrei. Irgendein seltsames Kind trillerte sogar wie ein Vogel. Mit hektischer, uneleganter Leichtigkeit kletterten sie die Zinnen und Brüstungen herunter und rasten über die Felder aus smaragdgrünem Plastikgras auf Grimsby zu.

Er blieb standhaft auf der Stelle stehen, als sie auf ihn zustürmten. Manche kamen schlitternd ein paar Zentimeter vor ihm zum Halten. Andere knallten direkt in seine Beine. Er fing alle auf, die stolperten oder fielen, und versammelte sie um sich herum zu einem Halbkreis aus Kids mit klebrigen Händen und neugierigen Gesichtern.

Sie plapperten alle, selbstverständlich, mit ihm, miteinander oder einfach aus Prinzip. So etwas wie Stille existierte nicht, nicht im Königreich des Essens.

Er wedelte mit seinem Avocadozauberstab durch die Gegend und sagte dabei: »Kinder, Kinder«, immer und immer wieder. So gelang es ihm, viele Blicke auf sich zu ziehen und einige Kinder für einen kurzen Moment ihren Mund vergessen zu lassen. Endlich – als der Raum so nah am Zustand »still« war, wie er es vielleicht je sein konnte – sprach er: »Wer von euch ist der Geburtstagsjunge?«

Ein ordentlicher Brocken von einem Jungen kam nach vorne und schubste dabei die kleineren Kinder aus dem Weg. Mit seiner Monobraue und der auffälligen Runzelfalte in der Mitte seiner glänzenden Stirn, die zusammen ein umgekehrtes T bildeten, kam er Grimsby bekannt vor. Er trug ein bedrucktes weißes T-Shirt mit seinem Gesicht, das mit einem digital hinzugefügten Partyhut geschmückt worden war. Darunter standen die Worte HAPPYBIRTHDAY, RICHIE!

Richie verschränkte seine pummeligen Arme und starrte Grimsby skeptisch an. »Welcher Dildo will das wissen?«, fragte er herausfordernd.

Grimsby zwang sich ein verwirrtes Lächeln ab und versuchte, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. »Na, die Tacofee, natürlich. Ich bin der Magier im Dienste des hochverehrten Königs, des Mächtigen Magischen Donald. Ich bin gekommen, um dir alles Gute zum Geburtstag …«

»Langweilig!«, verkündete Richie und erntete damit vereinzeltes Kichern von den Kindern. Er blickte sich selbstzufrieden um. »Dieser ganze Ort ist langweilig! Langweilig wie Dildos!«, sagte er.

Mehr Gekicher.

Etwas zupfte an Grimsbys Rock, er drehte sich um und sah ein kleines Mädchen, die ein ähnliches Outfit trug wie er selbst, obwohl ihre Flügel geschmackvoller und aus so etwas wie Seide gefertigt waren. Bei einem Wettbewerb, wem das Outfit besser stand, hätte Grimsby verloren. Allerdings nur knapp.

»Herr Tacofee«, sagte die kleine Miss Tutu mit einer winzigen Stimme. »Was ist Dildos?«

Grimsby öffnete und schloss seinen Mund mehrere Male, bevor er schließlich antwortete: »Frag deine Mutter.« Die möglichen Folgen dieses Vorschlags hatte er nicht wirklich bedacht, merkte er dann. Er verzog das Gesicht und hoffte, sie würde den Rat ignorieren.

Das Mädchen nickte nachdenklich und reihte sich wieder in die Menge ein.

Unterdessen hatte Richie etwas zerlaufene Schokolade aus seiner Tasche gefischt und futterte sie mit einer klebrigen Pfote und starrte Grimsby dabei an. »Meine Mum hält mich für ein Kind. Aber ich bin jetzt zehn. Das sind zwei Zahlen. Ich bin zu alt für dieses Babyschloss und die Dildofee. Und viel zu alt für Zaubertricks.«

In Grimsbys Gesicht zuckte es peinlich berührt, als er sich kurz eine solche Fee vorstellte. Als wäre die Taco-Version nicht schon verstörend genug. Die Flügel allein … Er schüttelte den Kopf. »Absolut. Jeder Zehnjährige sollte Zaubertricks langweilig finden.«

»Auf jeden Fall«, sagte Richie. »Langweilig wie Dildos.«

»Ah«, sagte Grimsby und begriff, was hier wohl vor sich ging. Richie musste kürzlich nicht nur das Wort gelernt haben, sondern etwas noch Wichtigeres: dass er es nicht benutzen durfte. Deshalb verspürte er den unwiderstehlichen Drang, es in jeden Satz zu quetschen, so wie es jeder Junge tun würde. »Nun, du wirst begeistert sein zu hören, dass ich hier keine Tricks vorführe. Ich beherrsche nämlich die echte Magie.«

Die Kinder schnappten nach Luft und murmelten untereinander, und Grimsby nickte ihnen zu, um zu signalisieren, dass derlei Geflüster an dieser Stelle angemessen war.

Richie kniff seine Augen ganz schmal zusammen und schaute ihn skeptisch an. »Du meinst, du bist ein echter Hexer?«, fragte er. »Ist deswegen deine Haut so hässlich?« Er zeigte auf die linke Seite von Grimsbys Hals.

Grimsby versteckte instinktiv mit der Hand seine Narben. Seine Nervosität ließ sie jucken und brennen, bis runter zu seinen Fingerspitzen. »Nein. Das ist was anderes.«

»Was ist mit deinem Outfit? Ich wusste nicht, dass Hexen so dämliche Klamotten tragen.«

Grimsby zuckte mit den Schultern. »Echte Hexen ziehen an, was sie wollen.«

Richie schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Backen schlackerten. »Ne-he! Mein Onkel arbeitet beim Department, dem mit den Hexen und den anderen Sonderlingen. Er sagt, die müssen Masken und Anzüge tragen, sonst drehen sie durch.«

»Das Department für Unorthodoxe Angelegenheiten«, sagte Grimsby mit demselben rein formal als Lächeln durchgehenden Gesichtsausdruck, mit dem er auch die Mutter des Jungen bedacht hatte. »Und dein Onkel hat nur teilweise recht. Die Masken haben praktische Gründe, aber die Anzüge sind freiwillig.«

»Wo ist dann deine Maske?«, wollte Richie wissen.

Die anderen Kinder murmelten alle ihre eigenen Zweifel bezüglich Grimsbys Legitimität vor sich hin. Na ja, manche Kinder. Den anderen wurde langweilig, und sie spazierten davon, um sich in den Bällegraben fallen zu lassen.

Grimsby tippte die absonderlich große runde Brille in seinem Gesicht an. »Masken können verschiedene Formen haben. Das hier ist meine.« Es stimmte. Die Gläser waren das Einzige, was ihm den direkten Blick ins Anderswo ersparte.

»Also würdest du ohne die Brille durchdrehen?«, fragte Richie.

»Allmählich«, sagte Grimsby. Wenn ich lange genug überlebe, ergänzte er in seinem Kopf.

»Nimm sie ab!«, brüllte ein Kind von hinten.

Grimsby schüttelte den Kopf. Kurz blitzte vor seinem inneren Auge das Anderswo auf, er erschauderte. »Das wäre … eine schlechte Idee. Aber macht euch keine Sorgen: Ich kann auch mit Brille zaubern. Folgt mir!«, sagte er und ging entschlossen los.

Bevor er weit gekommen war, hatten die Kinder ihn schon wieder eingeholt und umschwärmten ihn. Sie rannten im Kreis, sprangen auf und ab und dachten sich unzählige andere Bewegungen aus, um die kritische Masse an überschüssiger Energie zu verbrennen, die sie in fast zwei Minuten Stillstehen aufgestaut hatten.

Grimsby watete sanft durch sie hindurch und versuchte dabei, niemanden umzustoßen. In der wuselnden Menge sah er die kleine Miss Tutu stürzen und im allgemeinen Getrampel verschwinden, wie eine kleine pinke Puppe in einem Wäschetrockner voll harter Ziegelsteine. Er bückte sich, schob die Kinder von Miss Tutu herunter, hievte die Kleine hoch und setzte sie auf seine Hüfte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, aber bis auf einen kleinen Riss in einem ihrer Flügel war sie unverletzt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Lippe bebte gefährlich. Es drohte ein Nervenzusammenbruch. »Hier«, sagte Grimsby und reichte ihr seinen Avocadozauberstab. »Warum nimmst du den nicht mal? Ich wette, du kannst besser damit umgehen als ich.«

Ihre Augen wurden noch größer, und ihr Mund formte ein überraschtes »O«, die aufgestauten Tränen waren vergessen. Sie packte den Zauberstab und wedelte damit wild herum. Sie richtete ihn auf Richie und murmelte was von brodelnden Kesseln und zischendem Feuer.

Grimsby merkte, dass er lächelte, während er das Mädchen trug und die anderen zum Innenhof des Plastikschlosses führte. Sie überquerten die Kekszugbrücke, die Dutzenden kleinen Füße klangen auf der hohlen Konstruktion wie Donnergrollen.

Im Innenhof hatte er übers Wochenende die Szene für die Show aufgebaut und irgendwie hatte sein Bühnenbild den Kinderansturm bis jetzt überstanden. Ein halbes Dutzend Schaufensterpuppen, die er mit alten Halloweenkostümen als Fürsten und Edeldamen verkleidet hatte, standen aufgereiht an den Wänden und blickten auf zwei weitere Gestalten, die in der Mitte des Innenhofs warteten. Diese beiden trugen über ihrer Kleidung Gummirüstungen, der eine in Silber, der andere in Schwarz: zwei Ritter, die einander regungslos in einem ewigen Showdown gegenüberstanden und darauf warteten, dass der andere endlich angriff.

»Sehet«, sagte Grimsby, »die Schlacht der Ewigkeit! Silberner Ritter gegen Schwarzen Ritter, Gut gegen Böse!«

»Dildo gegen coolen Typen!«, sagte Richie.

Grimsby fuhr fort, als hätte er es nicht gehört. »Heute werde ich sie mit Magie zum Leben erwecken – und wir werden sehen, wer obsiegt!«

Die Kinder bekundeten mit lautstarken »Ahs« und »Ohs« ihr Interesse und ihre Aufregung. Die kleine Miss Tutu hörte sogar kurz auf, mit dem Zauberstab zu wedeln, und starrte mit großen Augen auf die reglosen, schweigenden Ritter. Grimsby nutzte die Gelegenheit, um sie zwischen die anderen Kinder auf den Boden zu setzen, und wandte sich seiner Show zu.

Theatralisch versank er in Konzentration, die Hände dramatisch erhoben.

Er begann zu skandieren, sein Tonfall hob und senkte sich im regelmäßigen Takt seines Versmaßes: »Geschwärzter Stahl und silbern grell, wenn zwei Ritter im Duell, welcher sieget, dunkel, hell?«

Die Schaufensterpuppen bebten kaum wahrnehmbar.

Jetzt starrten die Kinder wirklich, sogar Richie gelang es nicht mehr, Desinteresse vorzutäuschen.

Grimsby grinste. »Kommt schon«, sagte er. »Ich brauch eure Hilfe. Sprecht mir nach: ›Welcher sieget, dunkel, hell?‹« Er wiederholte die Worte noch ein paar Mal.

Nach wenigen Momenten stiegen die Kinder mit ein. Ein paar der jüngeren Kinder verhaspelten sich, aber auch wenn ihre Zungen der Aufgabe nicht ganz gewachsen waren, ihre Herzen saßen am richtigen Fleck. Irgendwo aus der Menge ragte der Avocadozauberstab hervor und wurde aufgeregt hin und her geschwenkt.

Grimsby ließ seine Arme zittern, als ob er die ganze Kraft des Universums aufsaugen würde. Aber der Motor der Magie tankt kein Normalbenzin.

Grimsby beschwor seinen Impetus herauf, diese mystische innere Energie eines Hexers, spürte dessen Wärme wie eine Quelle in sich hochsteigen und sein Herz umschließen. Der Impetus breitete sich dann in seiner Brust aus und schwoll zu einer strahlenden Kraft an.

Grimsby zuckte etwas zusammen, als die Energie durch seine Gliedmaßen strömte. Dort, wo sie seine alten Brandnarben auf der linken Körperhälfte berührte, begann die Haut zu brennen. Ein paar Funken sprühten dabei aus den verwachsenen Narben. Mit großer Anstrengung unterdrückte er den Schmerz und lenkte den Impetus stattdessen zu seiner anderen Hand. Es war nicht leicht, so als würde man Wasser den Berg hinaufschaufeln, aber er schaffte es. Bald spürte er, wie sich seine rechte Hand durch den Impetus erhitzte, bereit war für seinen Befehl.

Er richtete seinen Fokus auf die Binderunen, die er überall auf den Schaufensterpuppenrittern verteilt hatte. Er konnte ihre Magie auf seiner Haut spüren, wie die dünnen Fäden eines Spinnennetzes. Mit seinem Impetus tastete er nach diesen Bindungen und folgte ihnen, bis er das erste Paar in der Kette fand.

Dann kam der einzige Teil des Zauberspruchs, der wirklich ausgesprochen werden musste: Er murmelte ein einziges Wort.

»Binde.«

Und mit diesem Wort begann das Schauspiel.

Das erste Paar der zahlreichen Bindungen, die er angebracht hatte, erwachte zum Leben. Dünne blaue Fäden aus Licht kreuzten sich zwischen den zwei Runen, wie kristalline Spinnenweben. Sie zogen die Schaufensterpuppen aufeinander zu und erweckten sie zum Leben, wie die Schnüre eines Marionettenspielers.

Die Schwerter der Ritter hoben sich zu einem wackligen Gruß, dank der Bindesprüche, die Grimsby zwischen den Armen der Ritter und der Decke platziert hatte. Mithilfe eines weiteren Paars von Binderunen drehten sich die Ritter zuerst zur Statue des Mächtigen Magischen Donald, danach zur versammelten Hofgesellschaft und den Kindern und dann schließlich zueinander.

Grimsby zog mit seinem Impetus an den Fäden, zupfte wieder und wieder an den Bindungen, suchte dabei jedes Mal neue Verbindungen aus, um den Rittern auf diese Weise das Zucken eines Lebensgeists einzuhauchen. Falls die Kinder die dünnen Fäden bemerkten, war es ihnen zumindest egal: Sie starrten wie gebannt auf die Show.

Die Ritter preschten aufeinander zu, ihre Holzschwerter donnerten mit einem ohrenbetäubenden Knall gegeneinander, der die Kinder zusammenschrecken ließ. Mit waghalsiger, grob choreografierter Hemmungslosigkeit schwang der Schwarze Ritter sein Schwert durch die Luft, immer wieder. Doch der Silberritter fing jeden seiner Schläge ab.

Die Kinder klatschten und jubelten. Richie – und ein paar der älteren Kinder, die sich um ihn versammelt hatten – feuerten den Schwarzen Ritter an. Der Rest bejubelte einfach die Show.

Dann schwang der Schwarze Ritter sein Schwert von oben herab, um dem Silbernen Ritter den Schädel zu spalten, der hob gerade noch rechtzeitig seine Klinge und parierte auch diesen Hieb. Aber noch während sie ihre Klingen über ihren Köpfen knirschend gegeneinanderdrückten, fasste der Schwarze Ritter in seine Rüstung und zog einen Dolch hervor.

»Pass auf!«, rief die kleine Miss Tutu.

Der Schwarze Ritter stieß mit dem Messer zu, die Klinge schoss mithilfe einer weiteren Bindung zwischen dem Dolch und dem Bauch des Silbernen Ritters nach vorne. Die Holzklinge bohrte sich tief in seinen Magen und blieb stecken – dank des gespannten Zauberfadens.

Die Kinder schnappten entsetzt nach Luft, der Silberne Ritter fiel auf die Knie. Grimsby löste mit seinem Impetus den Faden zwischen der Hand des Ritters und seinem Schwert, die Holzwaffe krachte zu Boden.

Der Schwarze Ritter stellte sich über ihn und richtete seine Klinge nach unten, wollte zum Todesstoß ansetzen. Dieses Detail war für Grimsby sogar der schwierigste Teil der ganzen Show gewesen, aber als die Kinder wie gebannt alle gleichzeitig nach Luft schnappten, war ihm das die vielen Stunden Tüftelei wert.

»Steh auf, steh auf!«, brüllten sie alle. Sogar Richies Bande aus größeren Kindern stimmte mit ein. Alle liebten den Unterlegenen.

Offensichtlich alle außer Richie.

Denn der Junge mit der Monobraue brüllte: »Erledige ihn! Fatality!« Immer und immer wieder.

Dann, als der Schwarze Ritter die Klinge nach unten stieß, drehte sich der Silberritter zur Seite und zog dabei das Messer aus seinem Bauch. Das herabsausende Schwert verfehlte ihn und der Silberritter stieß dem Schwarzen Ritter das Messer von unten ins Kinn.

Die Kinder hielten alle den Atem an, während die beiden Ritter einen kurzen Moment wie eingefroren wirkten.

Dann fiel der Schwarze Ritter um.

Die Kinder grölten zustimmend, klatschten und kreischten und brüllten so laut, dass Grimsby etwas zusammenzuckte.

»Der Silberne Ritter hat gesiegt!«, verkündete er.

Mehr Rufe und Applaus, aber als er sich umdrehte, sah er Richie vor sich stehen, die pummeligen Arme verschränkt und seine Lippen zu einem Flunsch verzogen. Seine gerunzelte Monobraue kündigte ein Stimmungsgewitter an.

»Ich wollte, dass der Schwarze Ritter gewinnt!«, erklärte Richie.

»Tut mir leid«, sagte Grimsby und empfand ein bisschen Genugtuung darüber, den Geburtstagsjungen enttäuscht zu haben. »Aber dieser Tag gehört dem Silberritter.«

»Es ist mein Geburtstag«, harrte Richie. »Und ich kriege, was ich will. Mach, dass der Schwarze Ritter gewinnt.«

Grimsby schüttelte den Kopf. »Der Gute gewinnt immer«, sagte er.

»Ne-he! Mein Dad sagt, die Netten verlieren immer und haben das auch verdient. Gute Typen sind dämlich. Die gewinnen nie.«