Deep Danger (3) - J. Kenner - E-Book

Deep Danger (3) E-Book

J. Kenner

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Beschreibung

Liebe hat immer ihren Preis ...

Noah ist der neue Star der amerikanischen Tech-Branche. Niemand ahnt, dass er hinter der erfolgreichen Fassade eine schmerzhafte Vergangenheit verbirgt. Doch als er seiner großen Liebe Kiki wiederbegegnet, kann er seine Gefühle nicht mehr verstecken. Gefühle, die ihm Angst machen und ihn mit seinem dunkelsten Geheimnis konfrontieren. Wird die Liebe zu Kiki stark genug sein, seine Dämonen zu besiegen?

Band 3 der Deep-Serie

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J. KENNER

deepdanger

ROMAN

Band 3

Aus dem amerikanischen Englisch

von Nicole Hölsken

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Julie KennerDie Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Wicked Torture bei EverAfterRomance.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Antje Steinhäuser Covergestaltung: t. mutzenbach design, München Covermotiv: © Dragol Kostadinov, aPhoenixPhotographer/ShutterstockSatz: Christine Roithner Verlagsservice, BreitenaichAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-641-22241-3V002
www.diana-verlag.deBesuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.dewww.penguinrandomhouse.de

Der Roman

Noah ist der neue Star der amerikanischen Tech-Branche. Niemand ahnt, dass er hinter der erfolgreichen Fassade eine schmerzhafte Vergangenheit verbirgt. Doch als er seiner großen Liebe Kiki wiederbegegnet, kann er seine Gefühle nicht mehr verstecken. Gefühle, die ihm Angst machen und ihn mit seinem dunkelsten Geheimnis konfrontieren. Wird die Liebe zu Kiki stark genug sein, um seine Dämonen zu besiegen?

Die Autorin

Die Bestsellerautorin J. Kenner arbeitete als Anwältin, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Ihre Bücher haben sich weltweit mehr als drei Millionen Mal verkauft und erscheinen in über zwanzig Sprachen. J. Kenner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Texas, USA. Ihre lieferbaren Romane und Erzählungen finden Sie unter J. Kenner im Diana Verlag. Wenn Sie mehr über J. Kenner erfahren wollen, entdecken Sie Das große J. Kenner Fanbuch.

Die Deep-Serie

Deep love (Band 1)

Deep passion (Band 2)

Deep danger (Band 3)

PROLOG

Nichts in dieser Welt hat Bestand – keiner weiß das besser als ich. Plötzlich wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Man kann noch so hart kämpfen und doch alles verlieren. Und das Glück rinnt einem durch die Finger.

Das Schicksal war nie mein Freund. Es hat mich an der Nase herumgeführt, hat mir das Glück wie eine Möhre vor meine Nase gehalten, mich damit gelockt, aber immer gerade so, dass ich es nicht erreichen konnte.

Das geht jetzt mein Leben lang schon so, doch ich bin immer wieder darauf hereingefallen.

Deshalb hätte ich es doch eigentlich besser wissen sollen. Ich hätte ihn niemals so nah an mich heranlassen sollen, dass er mir das Herz brechen konnte.

Aber ich habe es getan, und jetzt ist er zurück.

Ich hätte davonlaufen sollen, aber er berührte mich, und also blieb ich stehen wie erstarrt. Dann küsste er mich, und die Welt um mich herum schien sich aufzulösen.

Es ist wundervoll.

Es ist beängstigend.

Und mir bleibt nur die Hoffnung, dass er stark genug ist, um uns beide zu retten.

1

Anscheinend war sie geradezu besessen von Sektquirls.

Noah versuchte, sich auf die Worte seines Dates zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach. Unaufhörlich drehte sie das Plastikstäbchen zwischen den Fingern, hob es dann an ihre kirschroten Lippen und leckte mit der Zungenspitze kleine Tröpfchen der Flüssigkeit davon ab.

Wahrscheinlich hielt sie das für sexy. Glaubte, ihn hart zu machen, indem sie die Zunge an dem dünnen Stab entlanggleiten ließ.

Aber weit gefehlt.

Und wahrscheinlich war das auch gut so. Immerhin hatte er heute Abend eigentlich gar nicht ausgehen wollen.

Oder – Korrektur – er hatte kein richtiges Date haben wollen. Er hatte lediglich jemanden aufreißen wollen. Einen One-Night-Stand, durch den er sämtliche Dämonen austreiben konnte, die immer mehr wurden und immer heftiger in ihm wüteten. Denn auch seine Arbeit konnte die Erinnerungen oder die Schuldgefühle nicht länger in Schach halten.

Er wünschte sich ein heißes, schnelles intimes Erlebnis ohne Verpflichtungen und absolut ohne Ziel außer der gegenseitigen Befriedigung der Teilnehmenden. Ihrer Befriedigung in Form des explosiven Orgasmus, den er ihr mit Freuden verschaffen wollte. Seiner Befriedigung, die im Vergessen bestand und darin, den Geistern und Erinnerungen zu entkommen. Er wollte sich in erotischen Empfindungen verlieren und in der tröstlichen Gewissheit, dass er zwar zwei Frauen vollkommen zerstört hatte, aber dieser Frau zumindest Lust bereiten konnte.

Korrektur. Drei Frauen. Er hatte drei Frauen zerstört.

Die Stimme in seinem Kopf war barsch. Erbarmungslos. Und er zuckte zusammen, als habe man ihm einen Schlag versetzt.

Drei Frauen, ja. Aber nicht wirklich. Zwei Frauen und ein Kind.

Darla, seine Ehefrau.

Kiki, seine Geliebte.

Und die kleine Diana, die nicht einmal ihren ersten Geburtstag hatte erleben dürfen. O Gott.

Sein Magen rebellierte, und er kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu schließen, um die Erinnerungen, die nun auf ihn einstürmten, in Schach zu halten. Der leblose Körper seiner süßen Diana, ein Bild so scharf, klar und schrecklich wie die Wirklichkeit vor all den Jahren.

Er würde es nie vergessen – zum Teufel, er wollte es nie vergessen.

Aber jetzt war es fast neun Jahre her, seit Darla und Diana in Mexico City gekidnappt worden waren, und seine Freunde hatten recht – er musste das alles hinter sich lassen. Seine Frau und seine Tochter gab es nicht mehr, er aber war noch hier. Lebendig und gesund, und er tat verdammt noch mal alles, um sich aus dem Morast aus Schuld und Verlust zu befreien und seine Gefühle in Schach zu halten. Indem er zahllose Überstunden machte und sich heimliche Augenblicke sexueller Befriedigung gönnte, die eigentlich nie wirkliche Erleichterung brachten, außer der beständigen Illusion, dass sie irgendwann vielleicht doch helfen würden.

Und das führte seine Gedanken wieder zurück zu Evie und ihrem Sektquirl.

»Sie ist Anwältin in L. A., verbringt aber die meiste Zeit in Austin«, hatte sein Freund Lyle ihm erklärt und darauf bestanden, dass Noah mit Evie etwas trinken gehen sollte. »Sie ist hübsch, klug und witzig. Und wenn es zwischen euch nicht funkt, dann hattest du zumindest einen netten Abend. Also Augen zu und durch, okay?«

Noah hatte eigentlich Nein sagen wollen. Aber er wusste auch, dass er langsam anfangen musste, wieder ins Leben zurückzukehren.

Also machte er seinen Anfang mit Evie. Und Lyle hatte recht. Sie war klug, und sie war hübsch.

Sie war zwar nicht wie die anderen namenlosen Frauen, die er sonst aufgabelte, aber sie war wahrscheinlich gut im Bett, und bei Gott: Heute Abend brauchte er irgendjemanden. Er brauchte diese wenigen Augenblicke vollkommenen Vergessens.

Die vergangene Woche war schlimmer gewesen als die meisten, und wenn Evie ihm ein wenig Erleichterung verschaffte, umso besser …

Noah lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und musterte sie. Sie saßen verborgen in einer dunklen Nische der Bar, ein kleiner Cocktailtisch zwischen ihnen. Sie hatte aufgehört, an dem Sektquirl zu nuckeln, und benutzte ihn nun als Zeigestock.

»Ich habe dieses Hotel immer schon geliebt«, sagte sie und deutete auf die Bar, die im Texas-Country-Stil eingerichtet war. Der ausgestopfte Kopf eines Longhorn-Rinds ragte über dem Kamin hervor. Die Ölgemälde zeigten Szenen auf einer Ranch. Die Sofas waren mit Kuhfellen und Leder überzogen.

Bevor er vor sechs Monaten nach Austin gezogen war, hatte er sich eingebildet, dass es in ganz Texas so aussah wie in dieser Bar. Er war ziemlich erleichtert gewesen, als er merkte, dass er sich geirrt hatte.

Es war Mittwochabend, aber trotzdem war das Lokal brechend voll. Das Driskill Hotel galt seit dem 19. Jahrhundert als Wahrzeichen Austins, und Noah hatte Restaurant, Bar und Räumlichkeiten schon während seiner ersten Wochen in Austin kennengelernt. Damals wurde seine Wohnung noch renoviert, weshalb er zehn Tage in einer der Suiten gewohnt hatte, bis sie fertig war.

»Hier spukt es, musst du wissen«, sagte er zu ihr.

»Ja, das erzählt man sich, aber ich wohne trotzdem immer hier, wenn ich aus L. A. herüberkomme, und ich habe noch nie einen Geist gesehen. Ich sage ihnen immer, ich will eines dieser Spukzimmer, aber das Glück hatte ich nie.«

»Glück«, wiederholte er. Er selbst bemühte sich nach Kräften, die Geister in seinem Leben zu meiden, deshalb war er sich nicht so sicher, ob er ihre Einschätzung teilte. »In der Theorie klingt das faszinierend, aber hättest du denn keine Angst? Oder bist du kein ängstlicher Typ?« Die letzte Frage ließ er fast neckend klingen. Denn er mochte sie. Es war nicht ihre Schuld, dass sie sich mit einem Mann verabredet hatte, der ein Deluxe-Problempaket mit sich herumtrug. Und es wurde tatsächlich langsam Zeit; er musste wieder anfangen, sich zu verabreden, nicht nur herumzuvögeln. Er musste wieder am Leben teilnehmen.

»Ängstlich? Ach, ich bitte dich.« Sie winkte ab. »Ich bin schließlich Anwältin, wie du weißt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich noch nie einen gesehen habe. Die Geister haben eher Angst vor mir.«

Er lachte, und sie grinste. Ihr Lächeln erhellte die dunkle Bar. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, und ihm schoss der Gedanke durch den Kopf – vielleicht.

»Möchtest du noch einen?« Mit einem Kopfnicken deutete er auf ihren Frucht-Cocktail. Er hatte schon ausgetrunken – zwei Shots Bourbon, ohne alles – und wollte keinen weiteren Drink. Aber plötzlich war die Luft voller Verheißung, und er brauchte Zeit, um sich darüber klar zu werden, was er jetzt tun wollte. Sich hineinstürzen … oder eine Ausrede erfinden und den Abend beenden.

»Ich würde gern noch etwas trinken«, sagte sie. »Und mich weiter mit dir zu unterhalten wäre sogar noch besser. Aber man kann sich hier gar nicht richtig verstehen, und langsam glaube ich, dass mein Stuhl auf irgendeine Weise zur Geisterwelt gehört. Ich werde bestimmt gleich in dieses Polster hineingesogen und komme in einer anderen Dimension wieder heraus.«

Ihre Augen blitzten, und er wusste, worauf sie hinauswollte. Was er allerdings immer noch nicht wusste, war, ob er ihr dorthin folgen wollte.

»Meine Suite ist nur ein paar Stockwerke entfernt«, sagte sie. »Eindeutig leiser. Allerdings unordentlich – ich habe meine Akten auf dem ganzen Couchtisch verteilt. Aber das Sofa ist gemütlich, und die Hausbar ist gut ausgestattet …«

Sie verstummte mit einem winzigen einladenden Schulterzucken.

»Und morgen hast du keine Termine«, fuhr er für sie fort, denn das hatte sie ihm heute Nachmittag schon erzählt. Ihr Fall war in der Mittagspause abgeschlossen worden, als ihr Mandant seine Klage zurückgezogen hatte. Plötzlich hatte sie nicht nur den ganzen Abend, sondern auch einen Großteil des darauffolgenden Tages frei, denn sie hatte ihren abendlichen Flug zurück nach Los Angeles nicht mehr umbuchen können.

»Stimmt«, sagte sie und hob ihre Tasche auf den Schoß, als wolle sie die Bar verlassen. »Wir können uns die ganze Nacht unterhalten. Oder auch nicht«, fügte sie kühn hinzu, als ob er die Richtung, in die diese Unterhaltung ging, hätte fehlinterpretieren können.

»Schweigen ist oftmals Gold.« Er schlug einen leichten Ton an. Flirtete. Aber innerlich war er immer noch nicht mit sich im Reinen.

Im Geiste hörte er Lyles Stimme. »Ich sage ja nicht, dass du sie gleich heiraten musst. Aber geh mal wieder aus. Lass dich auf die Welt da draußen mal wieder ein. Fang wieder an zu atmen, Mann. Vertrau mir. Das ist es wert.«

Kein Wunder, dass Lyle so dachte. Genau wie Noah hatte er sich früher von allem ferngehalten, was einer richtigen Beziehung ähnelte. Aber dann war Sugar Laine in sein Leben getreten. Jetzt war Lyle glücklicher denn je, und Noah wusste, dass das Sugars Verdienst war.

Noah war nicht wie Lyle, aber vielleicht hatte sein Freund trotzdem recht. Und ehrlich gesagt wusste Noah schon seit Monaten – zum Teufel, eigentlich seit Jahren –, dass es höchste Zeit für einen Neubeginn war. Zeit, mit den schnellen, kleinen, schmutzigen One-Night-Stands aufzuhören, die seinen Schmerz sowieso nicht lindern konnten.

Zeit, seine Wunden heilen zu lassen.

Doch irgendwie brachte er dazu nie die nötige Begeisterung auf. Oder vielleicht war auch das nur eine Ausrede. Wieder eine Möglichkeit, sich selbst zu bestrafen, weil er die Frau, die er liebte, zugunsten der Frau, der er verpflichtet war, verlassen hatte.

Und da er keine von beiden je wiederbekommen würde, musste er sich in den Arsch treten, die Scherben seines Lebens aufsammeln und anfangen, sich wieder etwas Reales aufzubauen. Immerhin gab es keinen technischen Apparat, den er nicht entwerfen, zusammenbauen oder reparieren konnte. Warum also hatte er so gar keine Ahnung, wie er sein eigenes verdammtes Leben wieder auf die Reihe kriegen konnte?

Es war höchste Zeit, und mit Evie würde es einfach sein. Schmerzlos sogar, denn Gott wusste, dass sie alles verkörperte, was er an einer Frau schätzte. Kraft. Intelligenz. Ehrgeiz. Humor. Schönheit. Sie war genauso begehrenswert, wie Lyle es versprochen hatte, und offensichtlich auch mehr als willens.

Mit anderen Worten: Ihm gingen die Ausreden aus.

Er erhob sich, wollte sie bitten vorauszugehen. Aber die Worte, die dann aus seinem Mund kamen, schockierten sie beide. »Tut mir leid, Evie«, sagte er. »Du bist wundervoll, aber ich habe morgen in aller Herrgottsfrühe einen Termin und muss jetzt nach Hause.«

»Oh.« Auch sie hatte sich erhoben und schwankte bedenklich auf ihren Heels, als ob seine unerwarteten Worte sie auch körperlich erschüttert hätten. Er streckte die Hand aus, um sie zu stützen, und einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, sie an sich zu ziehen und sein eigenes Zögern zu überwinden. Aber sie war nun einmal nicht die Frau, nach der er sich sehnte.

Gottverdammt.

Diese gottverdammten, dummen, unrealistischen Träume.

Und wo er schon mal dabei war: Gottverdammte Kiki.

Er war ein Idiot und unfair, und das wusste er. Ein Idiot, weil er vor langer Zeit beschlossen hatte, Kiki zu verlassen, obwohl ihm schon damals klar gewesen war, dass er sie damit kaputt machte. Selbst wenn er sie nach all den Jahren wieder hätte aufspüren können, hatte er jedes Recht verwirkt, zu ihr zurückzukehren.

Und unfair war er, weil er noch vor zehn Minuten bereit gewesen war, sich auf Evie einzulassen. Doch jetzt stand er hier, wich aus, wand sich wie ein verdammter Feigling und versuchte, aus dem tiefen, schwarzen Ozean aus Verlust und Schmerz wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ein vertrauter Schmerz, der ihn einhüllte wie eine Decke, so süß, dass sie fast gemütlich war. Und er wusste verdammt gut, dass es nur eine Möglichkeit gab, dagegen anzukämpfen – er musste mit dieser Frau auf ihr Zimmer gehen und sich die Dunkelheit aus dem Kopf ficken.

So wie er es mit unzähligen anderen Frauen getan hatte.

Auf ebenjene Weise, die nie so gewirkt hatte, wie er es gehofft hatte. Die seinen Schmerz nur oberflächlich dämpfte, aber doch keinerlei Licht ins Dunkel brachte.

Er wollte keine One-Night-Stands. Nicht mehr. Einer der Gründe, warum er nach Austin gezogen war, war der, wieder gesund zu werden. Gesund zu werden und die schlechten Gewohnheiten abzulegen.

Dennoch war es verführerisch, und es erforderte mehr Kraft, als er erwartet hatte, um noch einmal den Kopf zu schütteln und sehr sanft zu sagen: »Es tut mir wirklich leid. Ich bin noch nicht – bereit.« Sie war höflich genug gewesen, die Tragödie seiner Vergangenheit nicht zu erwähnen, aber er war sicher, dass Lyle ihr zumindest erzählt hatte, dass er seine Frau und seine Tochter verloren hatte. Hoffentlich milderte das den Schlag der Zurückweisung ab.

Evie stand jetzt wieder sicher da und trat einen Schritt zurück, runzelte die Stirn, während ihr Blick über ihn hinwegflackerte. Sie versuchte, ihn einzuschätzen wie einen Zeugen. »Man hat mir erzählt, dass es nun schon fast neun Jahre her ist.« Die Schärfe in ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz. So viel zum Thema Milderung des Schlags. »Wenn du nicht bald bereit sein wirst, wirst du meiner Einschätzung nach irgendwann traurig und einsam enden.«

Mit einem schmallippigen, mitfühlenden Lächeln wandte sie sich um und ging davon. Er sah ihr hinterher und wunderte sich über ihre Hellsichtigkeit. Denn sie hatte recht.

Er würde traurig und einsam enden.

Zum Teufel, er war es bereits.

Das Hotel hatte ungefähr die Form eines Rechtecks und erstreckte sich über fast einen ganzen Häuserblock, mit drei Eingängen an den drei Seiten, die allesamt auf unterschiedliche Straßen hinausführten.

Wenn Noah sonst einen Drink im The Driskill nahm, verließ er das Gebäude durch den Bareingang zur Seventh Street. Von dort aus gelangte man auf die Congress Avenue, die die Hauptverkehrsader der Stadt darstellte. Ein paar Blocks vor dem Fluss bog er normalerweise rechts ab und betrat dann sein Wohngebäude durch den Eingang auf der Third Street. Dann nahm er für gewöhnlich den Aufzug in den fünfzehnten Stock, in dem sein Studio lag, das er gekauft hatte, als er vor ein paar Monaten nach Austin gezogen war.

Zunächst hatte er über den Kauf einer größeren Wohnung nachgedacht – er hätte sie sich weiß Gott leisten können –, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Er war nur selten zu Hause. Schon seit Jahren lebte er nur für die Arbeit. Und offen gesagt, der einzige Grund, warum er sich überhaupt die Mühe machte, abends in seine Wohnung zurückzukehren, war der, dass es seine Reinigungskräfte irritierte, wenn er auf der Couch im Büro nächtigte.

Hinzu kam, dass sämtliche verfügbaren, größeren Eigentumswohnungen den Blick auf das Texas State Capitol freigaben. Deshalb war ihm die kleinere Wohnung und ihr atemberaubender Ausblick auf den Fluss lieber gewesen. Jeden Morgen beobachtete er die Walker und Jogger. Die Kajaks und Paddelboote. Die unendlich vielen Grüntöne, die die breiten Ufer des Flusses säumten und die zur Zeit der Pfirsichblüte von leuchtendem Pink durchsetzt waren – ein explodierender Rausch an Farben.

Er war pulsierend. Lebendig.

Hoffnungsvoll sogar.

Er hatte seinen Schreibtisch vor dem Fenster aufgestellt, und an den Wochenenden übte er, von zu Hause aus zu arbeiten. Dann saß er dort und zeichnete Schaltpläne oder machte sich Notizen, während er das Treiben unter sich beobachtete. Eltern, die Kinderwagen vor sich her schoben, während sie über die Wege schlenderten. Kinder, die wackelig auf ihren Fahrrädchen dahinfuhren. Jogger, die entschlossen waren, ihre überschüssigen fünf Pfund loszuwerden. Liebende, die Arm in Arm und ins Gespräch vertieft dort entlangspazierten.

Ein nicht enden wollender Strom des Lebens fünfzehn Stockwerke unter ihm. Und je häufiger Noah ihn betrachtete, umso mehr glaubte er daran, dass er vielleicht eines Tages erneut ein Teil davon sein konnte.

Vielleicht eines Tages.

Aber nicht jetzt. Nicht heute Abend.

Außerdem war es dunkel. Wenn er jetzt aus dem Haus ging, sähe er nur das Spiegelbild des Mondes auf dem stillen Wasser. Schön, ja. Aber auch surreal und viel zu einsam.

Deshalb verließ er das Hotel jetzt nicht durch die Bar, sondern wanderte über die Haupttreppe in die reich verzierte Lobby des The Driskill und von dort über den Marmorboden auf den Haupteingang zu. Eilig zog der Türsteher die schwere Tür aus Holz und Glas für ihn auf, und ein Hoteldiener nickte erwartungsvoll, um das Ticket entgegenzunehmen. Noah schüttelte den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass er kein Auto hatte, dann schob er die Hände in die Jackentaschen, bog nach rechts ab und ging die kurze Strecke bis zur Ecke.

In Austin wurde es nie wirklich kalt, aber im Augenblick war die Luft zumindest kühl und tat ihm gut. Er hatte den Großteil seines Lebens in Südkalifornien verbracht, aber auch einige Zeit in New York gelebt. Dort hatte ihm insbesondere der Wechsel der Jahreszeiten gefallen, und jetzt war er froh, dass Thanksgiving und Weihnachten vielleicht zumindest mit kühleren Temperaturen einhergehen würden, wenn schon nicht mit Herbstfarben und Schnee.

An der Ecke überquerte er die Straße, dann blieb er unentschlossen stehen. Wenn er nun wieder rechts abbog, wäre er in weniger als zehn Minuten zu Hause. Nach links hingegen würde er sich unweigerlich in einer Bar wiederfinden und den Abend entweder allein beschließen und in Selbstmitleid baden oder in einem Hotelzimmer enden, aus dem er sich vor dem Morgengrauen davonschlich, während eine Frau, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte, tief und fest in einem gemieteten Bett schlief.

Er bog links ab.

Er hatte nichts Besonderes vor, aber die Einsamkeit seiner Wohnung konnte er jetzt nicht ertragen. Einen Augenblick lang erwog er, Evie zu schreiben. Sich zu entschuldigen. Zu fragen, ob sie sich mit ihm nicht doch wieder in einer der nahe gelegenen Bars treffen wollte. Er verwarf die Idee wieder, hatte Angst, dass sie Nein sagen würde. Oder – noch schlimmer – Ja.

Also ging er einfach nur spazieren, blieb kurz vor dem Maggie Mae’s stehen, einem Etablissement in der Gegend, das laut einiger alteingesessener Austiner schon seit Jahrzehnten eine Institution auf der Sixth Street war.

Er überlegte, ob er hineingehen sollte, aber sogar vom Bürgersteig aus konnte er den heftigen Beat der Live-Musik drinnen hören. Und als er durch die Fenster spähte, wurde ihm klar, dass es verdammt unwahrscheinlich sein würde, irgendwo einen Sitzplatz zu finden, und schon gar keinen Platz an der Bar.

An manchen Abenden war es die Sache trotzdem wert, nur um sich im Rhythmus der Musik zu verlieren und das ständige Dröhnen seiner Gedanken zu übertönen.

Heute Abend jedoch wollte er in der Lage sein, seine eigenen Gedanken zu hören, obwohl er gar nicht so genau wusste, wieso. Er besaß vielleicht die Fähigkeit und den Intellekt, um die Bilanz der neuen Austiner Abteilung von Stark Applied Technology in weniger als einem Jahr wieder auf Kurs zu bringen, aber außerhalb des geschäftlichen und technischen Bereichs herrschte in seinem Kopf ein Morast aus Reue, Sehnsucht und Verwirrung.

Er war das alles so verdammt leid.

Er ging weiter, bis er das The Fix auf der Sixth Street erreicht hatte, eine weitere alteingesessene Bar vor Ort. Die Drinks waren hervorragend, und das Essen stellte das eines jeden anderen Lokals auf der Straße in den Schatten. Gerüchteweise hatte er gehört, dass die Bar dichtmachen sollte, obwohl ihm nicht klar war, wieso, und er hoffte, dass es nicht stimmte. Er mochte diese Bar, zumal sich der Besitzer, Tyree, immer an seinen Namen erinnerte.

Heute Abend sah es nicht so aus, als ob The Fix jemals pleite machen würde. Obwohl es Mittwoch war, musste er sich seinen Weg durch die Menge bahnen, die sich neben einer hölzernen Bühne versammelt hatte. Sie wurde von zwei Fensterfronten begrenzt, von denen aus man die Straßenkreuzung überblicken und die Fußgänger und Autos beobachten konnte, die draußen vorbeisurrten. Noch war die Bühne leer, aber ein Mann, in dem Noah einen der Barkeeper erkannte, adjustierte gerade das Mikrofon vor einem einzelnen Metallhocker.

An jedem anderen Abend wäre Noah geblieben, um zuzuhören. Doch heute hatte er keine Lust auf das Gedränge.

Also bahnte er sich seinen Weg an der lang gezogenen Bar vorbei und gelangte in den kleineren – und Gott sei Dank auch ruhigeren – Teil im hinteren Bereich der Bar.

Hinter der Theke winkte Tyree ihm grüßend zu. Als großer, dunkelhäutiger Mann mit breiten Schultern und auffallend trainierten Armen hielt man ihn oft eher für den Türsteher statt für den Besitzer des The Fix. Aber die Rolle des Gastwirts war ihm trotzdem auf den Leib geschrieben. Tyree hatte die freundlichsten Augen, die Noah je gesehen hatte, und war immer so entspannt, dass er mit der Aufgabe, randalierenden Gästen einen Tritt in den Arsch zu versetzen und sie hinauszuwerfen, wohl glatt überfordert gewesen wäre.

»Welches Gift willst du denn heute, Noah?«, fragte er, nachdem er einem der beiden College-Girls an der Bar irgendetwas Fruchtiges serviert hatte. Sie hatten die blonden Köpfe zusammengesteckt, und Noah konnte sich fast denken, was die beiden miteinander flüsterten, während sie dem zweiten Barkeeper hinter der Theke verstohlene Blicke zuwarfen. Dieser aber schien sie gar nicht zu bemerken, während er geschickt den Manhattan mixte, den Noah bereits bei ihm bestellt hatte.

»Sind Sie neu hier?«, fragte Noah. »Sie kommen mir bekannt vor, ich weiß nur nicht, woher.«

»Ich arbeite schon seit ein paar Monaten hier«, antwortete er und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Aber erst seit gestern mache ich hier auch regelmäßig Abendschichten. Davor war ich eher mittags hier und bin abends nur hin und wieder eingesprungen. Ich heiße übrigens Cam.«

»Cam macht gerade seinen Master an der UT«, erklärte Tyree, als Noah die Stirn runzelte und ihn immer noch einzuordnen versuchte. Er musterte das Gesicht des Typen – jung, aber nicht naiv, intelligente blau-graue Augen, dunkelbraunes Haar und ein einzelner Ohrring – und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er ihn schon mal gesehen hatte.

Er schüttelte den Kopf, hatte immer noch keine Ahnung. »Was studieren Sie denn?« Vielleicht half das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Noah war sich sicher, dass er den jungen Mann von irgendwoher kannte, und dass es ihm einfach nicht einfallen wollte, irritierte ihn mehr als nötig.

Falls Cam antwortete, hörte Noah es nicht, denn in diesem Augenblick verebbte der Lärm aus dem vorderen Teil der Bar, und die Leute begannen zu klatschen, bevor eine männliche Stimme verkündete, dass es vor der Show eine kleine Überraschung gebe. Ein paar Künstler aus der Stadt, die dem Publikum hoffentlich gefallen würden.

Noah hörte nicht mehr hin. Als er noch jünger gewesen war, hatte er Live-Musik geliebt. Heute weckte sie nur höchst unwillkommene Erinnerungen in ihm.

Er warf Tyree einen Blick zu. »Ich dachte, mittwochs lässt du hier keine Bands auftreten.«

»Normalerweise nicht. Aber die hier hat in der Stadt durchaus ein paar Fans, und sie gehen jetzt bald auf eine Tournee durch drei Bundesstaaten. Der Leadsänger hat gefragt, ob sie eine Abschiedsvorstellung geben können.« Ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. »Ehrlich gesagt wollte er wahrscheinlich nur seiner Freundin die Gelegenheit verschaffen, ihren neuen Song vor einem Live-Publikum zu spielen. Sie gehört gar nicht zur Band, aber sie hat Bühnenerfahrung.«

»Sie ist nicht seine …«, begann Cam, aber Noah hörte nicht mehr zu. Denn die Stimme aus dem vorderen Teil der Bar drang nun zu ihm herüber, leise und klar und auf gespenstische Weise vertraut.

Das war doch nicht möglich. Oder doch?

Er erhob sich, ging zur Tür hinüber, die die beiden Barbereiche voneinander trennte. Er quetschte sich zwischen den Gästen hindurch, die sich dort zusammendrängten. Die Worte schienen ihn magisch anzuziehen, obwohl er vor der Stimme lieber davongelaufen wäre.

»… and when I’m feeling blue, I always circle back to you …«

Bei ihrem Anblick rauschte das Blut in seinen Ohren, sodass er ihre Stimme kaum mehr hörte. Wild tosten Gefühle und Erinnerungen durch seine Gedanken.

Vor ihm stand die Frau, die er liebte.

Die Frau, die er zerstört hatte.

Die Frau, deren Stimme selbst jetzt noch sein Herz in Stücke riss.

2

»… I losemyselfin sorrow, clinging to tomorrow.

I don’t know how I will get through …«

Die Worte branden aus mir heraus, meine Brust weitet sich, mein Herz ist ganz und gar erfüllt von meinen Gefühlen. Nicht nur von denen, die das Lied zum Ausdruck bringt, sondern auch von dem Bewusstsein, dass ich zurück bin.

Dieser Song – der erste, den ich seit zehn Jahren vortrage – ist nicht nur gut, er wirkt.

Das erkenne ich an den glühenden Gesichtern des Publikums. Die Körper sind angespannt vor freudiger Erwartung, als ob die Musik etwas Fassbares wäre, an das sie sich klammern können, von dem sie sich in eine andere Welt tragen lassen können.

Ich habe es geschafft. Und der Stolz in meinem Innern vermischt sich mit einer Erleichterung, so süß und warm wie Karamellsoße auf Vanilleeis.

Ich bin zurück. Ich bin endlich wieder da.

Meine Stimme wird lauter, während Musik und Text die Geschichte erzählen. Ihr Triumph über die Erinnerung an ihn. Die Art, wie sie ihren Sieg geltend macht, indem sie ihr Leben wieder in die Hand nimmt.

Sie hat überlebt, groß und stolz und bereit, die Tür hinter der Vergangenheit zu schließen und endlich weiterzuleben.

Das ist jedenfalls in dem Lied so.

Die Wirklichkeit geht viel tiefer. Die Wirklichkeit ist, dass ich überlebt habe.

Und ich lebe, um darüber zu singen.

Ich singe heute Abend nur diesen einen Song, aber als er vorüber ist, bin ich vollkommen erschöpft. Ich habe alles, was ich hatte, hineingelegt – Gefühl, Erinnerung, Bedauern, Ziele –, und als das Publikum sich um mich schart, befürchte ich fast, dass meine Beine unter mir nachgeben werden, wenn ich von diesem Barhocker herunterrutsche.

Aber der Applaus gibt mir Kraft, genau wie damals. Ich spüre, dass meine Beine nicht mehr zittern, und ich pflanze die Füße fest auf den Boden der Bühne. Dann reiche ich meine Gitarre lässig an Ares weiter, der herüberkommt, die Hand danach ausstreckt, sodass ich mich verbeugen kann. Was ich dann auch tue – und den Moment genieße.

»Was sagt Ihr dazu, Leute?«, fragt Ares. »Ist das Mädel wieder da, oder ist sie wieder da?«

Die Menge jubelt, und ich lache voller Freude. Ich hatte nie Angst vor Publikum, und nun lächele ich den Gesichtern um mich herum zu, danke ihnen allen stumm dafür, dass sie mir eine Chance geben. Immerhin sind sie heute Abend gekommen, um sich Ares und seine Band, die Seven Percent, anzuhören, bevor diese Austin verlässt, um auf Tournee zu gehen. Meine Darbietung hätte man genauso gut als lästig empfinden können.

»Kiki King, Ladys and Gentlemen«, fährt Ares fort, während ich die Menge weiter mustere. »Falls Sie es noch nicht wissen, sie war eines der Gründungsmitglieder der Gruppe Pink Chameleon und schrieb deren größten Hit, Turnstile.«

Was er nicht erwähnt, ist, dass Turnstile der letzte Song war, den ich sowohl schrieb als auch aufnahm, und ich bin für diesen Lapsus dankbar. Jeder im Publikum, der Pink Chameleon kennt, weiß wahrscheinlich, dass ich die Band verließ und mich aus der Musikszene verabschiedete, während Turnstile in den Charts immer weiter aufstieg, auch wenn niemand den Grund dafür kennt.

Ansonsten wissen die Menschen eigentlich nur, was sie gerade gehört haben. Und da ich mein Comeback wage, muss auch niemand mehr erfahren.

Ich verbeuge mich auf Ares’ Drängen erneut und schaue mich dann noch einmal um. Die Menge klatscht weiter, und ich bade immer noch im Applaus. An der Tür, die zum kleineren Bereich im hinteren Teil des Etablissements führt, lehnt Cameron, mein kleiner Bruder.

Er klatscht wie wild, und ich verdrehe die Augen, als er zwei Finger in den Mund steckt und einen schrillen Pfiff ausstößt, der den Lärm übertönt und geradewegs bis zu mir auf die Bühne dringt. Ich lächele breit, dann lache ich laut auf, als sein Boss, Tyree, hinter ihm erscheint und ihn wütend anfunkelt.

Endlich bemerkt Cameron seinen grimmigen Blick, wirft mir ein bedauerndes Lächeln zu und eilt zurück, um Drinks zu servieren, mit Gästen zu schwatzen oder was auch immer zu seinen Pflichten als Barkeeper gehört.

Tyree bleibt stehen, und obwohl er versucht, eine grimmige Miene aufzusetzen, leuchten seine Augen vor Stolz. Er nickt mir zu, und mein bereits übervolles Herz weitet sich noch mehr.

Vor lauter Cam hatte ich bislang keinen Blick für die anderen Gäste. Aber jetzt, gerade als ich einen Schritt auf Ares zu machen will, nehme ich aus den Augenwinkeln plötzlich einen roten Haarschopf wahr, dessen Schimmer mir so vertraut ist, dass mir sofort das Herz wehtut.

Das kann nicht er sein. Ich denke nur dauernd an ihn, das ist alles. An den Mann, den ich einst liebte. Den Mistkerl, der mich zu diesem Song inspiriert hat.

Er kann unmöglich hier sein. Dieses Mantra wiederhole ich, bis er das Kinn hebt, und ich ihm in die Augen sehe. Ich habe das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird.

Nein.

Nein, das bilde ich mir nur ein. Das liegt an dem Song. Der Musik. Meine Fantasie spielt mir einen Streich.

Das ist er nicht. Das kann nicht sein. Warum sollte er hier sein? In Austin? In dieser Bar? An diesem Abend?

Panik keimt in mir auf, heiß und wild wogt sie durch mich hindurch. Ich habe gerade erst wieder Fuß gefasst. Habe gerade erst wieder angefangen zu schreiben, zu singen. Ich habe einen Plan, eine Landkarte für mein restliches Leben, und ich will Noah Carter absolut nicht sehen.

And the sky is so pink, rainclouds are full of wine, and ice cream has negative calories.

Ich suche die Menge ab, halte Ausschau, um einen weiteren flüchtigen Blick auf diesen vertrauten Kupferton werfen zu können. Aber dann sagt Ares etwas zu mir, und mir wird klar, dass ich die Bühne verlassen muss, weil Seven Percent sich gerade auf den Auftritt vorbereitet. Zögernd winke ich der Menge zum Abschied noch einmal zu, dann umarme ich Ares und ziehe mich eilig zurück. Ich weiß, ich sollte bleiben und ihnen zuhören – entweder das oder verdammt schnell aus dem The Fix verschwinden –, aber wie ein braver, kleiner Masochist dränge ich mich weiter in die Bar hinein, geradewegs auf die Stelle zu, an der ich Noah entdeckt habe. Oder, wie ich hoffe, eine Noah-ähnliche Erscheinung.

Aber ich kann nichts entdecken. Ich bin nur eins siebenundfünfzig groß, wenn ich Heels trage, aber heute habe ich Stoffturnschuhe an, sodass ich mich vornehmlich einem Meer aus männlichen Brustkörben gegenübersehe.

Ich dränge mich durch die Menschen, drehe und winde mich auf meinem Weg in den hinteren Bereich. Es geht nur langsam voran. Nicht nur, dass ein paar Leute stehen bleiben, um mir zu sagen, wie sehr sie meine Darbietung genossen haben, ich werde auch durch den Umstand behindert, dass die meisten mir entgegen, in Richtung Bühne, streben, sodass ich gegen den Strom schwimme.

Ich sage mir, dass ich besser nach Hause gehen sollte. Meine Fantasie gaukelt mir etwas vor, und ich muss unbedingt hier raus.

Nur dass meine Füße meinem Verstand einfach nicht gehorchen wollen, denn sie führen mich unerbittlich voran. Ich bin nicht sicher, was ich erwarte, wenn ich die Leute hinter mir gelassen habe – einen großen Mann mit rotem Haar und ansonsten keinerlei vertrauten Zügen? Oder den Mann, den ich einst mit ganzem Herzen und ganzer Seele liebte?

Und was noch wichtiger ist: Ich weiß nicht, was ich finden will.

Aber eigentlich ist die Frage unwichtig. Als ich die Tür erreiche, die in den ruhigeren, hinteren Bereich der Bar führt, ist Noah nirgends zu sehen.

Wenn es überhaupt Noah war. Was natürlich gar nicht sein kann.

Ich quetsche mich noch an zwei breitschultrigen Studenten vorbei, die den Eingang versperren, dann schaue ich mich im Raum um, wobei mein Herz so laut schlägt, dass ich die ersten Takte des Seven-Percent-Songs hinter mir gar nicht hören kann.

Er ist nicht da.

Weder Noah noch sonst jemand, der ihm ähnelt.

War das alles wirklich nur Einbildung? Oder haben wir uns im Gewühl nur aneinander vorbeibewegt – er in die eine Richtung und ich in die andere?

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Bereich hinter der Theke auf der Suche nach Cam. Aber auch er ist nicht zu sehen. Nicht, dass er hätte bestätigen können, dass der Mann mit dem roten Schopf Noah war. Cam ist zehn Jahre jünger als ich, und obwohl ich Noah Bilder von meinem Bruder gezeigt habe und immer wieder mit ihm angegeben habe, haben die beiden einander nie kennengelernt.

Und so stehe ich wie eine Idiotin mit gerunzelter Stirn in der Tür.

»Wenn man bedenkt, dass du die da drin gerade völlig vom Hocker gerissen hast, siehst du nicht besonders glücklich aus.«

Ich schaue nach links, wo Tyree an einem Tisch mit zwei Typen in Business-Anzügen schwatzt, die wahrscheinlich Stammgäste sind. Ich bin auf der Stelle besser gelaunt und lächele.

»Danke vielmals, dass du mich vor Seven Percent hast spielen lassen«, sage ich aufrichtig dankbar. »Ich weiß, dass Ares dich mit der Idee überrumpelt hat, und auch wenn es sich nur um mich mit Mikro und Gitarre handelte, ist mir klar, dass eine Veränderung auf den letzten Drücker immer umständlich und schwierig ist, deshalb …«

Er hält die Hand in die Höhe, um mir das Wort abzuschneiden. »Ich habe mich darüber gefreut. Zum Teufel, ich bin froh, dass du uns beim Wort genommen und die Gelegenheit ergriffen hast.«

Mein Lächeln wird unsicher, und ich frage mich, wie viel ihm Ares erzählt hat. Wir sind seit unserer Zeit an der University of Texas miteinander befreundet. Ich flitzte innerhalb von drei Jahren hindurch, vornehmlich deshalb, weil die Uni mich langweilte und ich auf die Bühne wollte. Danach ging ich nach Los Angeles, während Ares in Austin blieb.

Er stellte mich seiner in L. A. lebenden Cousine Celia vor, und sie und ich gründeten schließlich mit zwei weiteren Mädels die Gruppe Pink Chameleon.

Als ich wieder nach Austin zog, besuchte ich ihn natürlich, und er war der Fels in meiner persönlichen Nach-Noah-Brandung. Er gehört zu den wenigen Menschen, die wissen, dass ich hoch oben auf dem Sprungbrett stehe, die Zehen um die Kante klammere, um Halt zu gewinnen, und meinen ganzen Mut zusammennehme, um mich in die Lüfte zu erheben und dann hinabzutauchen – in meinen Traum von einer Musikerkarriere.

Überdies gehört er zu der Handvoll von Menschen, die verstehen, wie tief verwundet ich war und wie sehr ich erst genesen musste und wie mühsam es war, überhaupt erst wieder auf jene himmelhohe Plattform hinaufzuklettern.

Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Noah wiederzusehen könnte das alles wieder kaputt machen. Zum Teufel, sogar der Gedanke an Noah könnte einen Rückschlag bedeuten.

Aber nur, wenn ich es zulasse.

Ich straffe die Schultern, erinnere mich an alles, was ich durchgemacht habe. Wie viel ich geopfert habe, wie hart gearbeitet. Und komme zu dem Schluss: Fick Noah.

Fick ihn und sein vielleicht-ja-vielleicht-nein-Erscheinen. Ich bin in der Lage, mich diesem Mann zu stellen, und seinem Geist sowieso. Und ich bin mir verdammt sicher, dass ich keine Angst bekomme.

Aber nicht nur das. Wenn er hier ist, dann will ich auch wissen, warum. Und wenn er mit mir jetzt Versteck spielen will, erst recht. Austin gehört jetzt mir. Es ist mein Zufluchtsort. Dorthin bin ich geflüchtet, um der Erinnerung an ihn – an uns – zu entkommen.

Dieser Ort hat mich beschützt und mich geheilt. Er gab mir die Kraft, den Schmerz hinter einer Mauer zu verbergen. Dann half er mir, die süßen Erinnerungen dahinter zu verschließen. Die kostbaren Erinnerungen, die tief im Innern so wehtaten und die den Schmerz anfachten und ihm die Schärfe einer stählernen Klinge verliehen.

Er kann nicht hier sein. Denn wenn er hier ist, werden diese Mauern womöglich einstürzen.

Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich mich umdrehen und gehen soll. Einfach nach Hause, ins Bett, und so tun, als habe der Abend mit dem Applaus der Menge geendet. Immerhin habe ich noch jede Menge zu tun, um den morgigen Pitch vorzubereiten. Denn die traurige Wahrheit ist: Music is my first love, aber mit Marketing bezahle ich meine Rechnungen.

Außerdem stehen die Chancen gut, dass er es gar nicht war. Denn warum zur Hölle sollte er ausgerechnet hier sein?

Allerdings habe ich auch keine Ahnung, wo er sonst sein sollte. Ich habe mir in den letzten Jahren viel Mühe gegeben, um nur ja nichts über Noah Carter zu erfahren, und soweit es mich betrifft, existiert er gar nicht.

Nur dass er das vielleicht doch tut.

Ich weiß, dass die Chancen eigentlich schlecht stehen, aber wenn ich jetzt unverrichteter Dinge heimkehre, mache ich die ganze Nacht kein Auge zu. Ich würde ständig grübeln.

Und so hole ich tief und mutmachend Luft und gehe die paar Schritte zur Bar hinüber. Tyree steht jetzt wieder dahinter, und ich setze mich auf den einzigen freien Hocker.

»Chardonnay?«

Ich schüttele den Kopf. »Nur eine Frage. Hast du zufällig vorhin hier einen Typen gesehen. Groß. Tolle, grüne Augen. Gut aussehend, aber das wird einem erst auf den zweiten Blick bewusst.« Ich verkneife mir ein Lächeln, als ich mich daran erinnere, wie ich Noah zum ersten Mal begegnete. Er hatte an einem Videospiel gearbeitet, das ich bewerten sollte. Man hatte mir gesagt, dass ich mit ihm darüber reden solle und dass er in der letzten Arbeitsnische säße. Er kauerte über der Tastatur, die Lider schwer vom Schlafmangel, das Haar vollkommen zerzaust.

Er sah zu mir auf, und ich merkte es kaum. Dann stand er auf, strich sich mit der Hand übers Haar und lächelte – und das war, als ob plötzlich ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet worden wäre. Ich nahm den Anblick ganz und gar in mich auf. Die muskulösen Arme. Die breite Brust. Die fast dreißig Zentimeter, die er größer war als ich. Ein markantes Gesicht mit einem breiten Mund und ehrlichen Augen. Und dichtem, widerborstigem Haar, das eine sorglose Lebenseinstellung suggerierte, und das bei einem Mann, der sich als absolutes Arbeitstier entpuppte, was ich bewundere. Dem tatsächlich sogar die Firma gehörte, auch wenn er in diesem vollgestopften, beschissenen Büro arbeitete.

Sein Lächeln brachte mich um. Es war breit, strahlend und humorvoll. Aber letztlich waren es seine Augen, die mir das Herz stahlen. Die Verbundenheit, die in ihnen aufleuchtete, kaum dass er mir in die meinen sah. Der stumme Gruß einer Seele an eine andere, denn das Einzige, was man sagen muss, ist: Ich kenne dich.

Oder zumindest hatte ich ihn damals gekannt. Jedenfalls dachte ich das.

Ich rüttele mich im Geiste wach, erkenne, dass ich Tyree das wichtigste Detail gar nicht genannt habe: »Und er hat rotes Haar. Eigentlich kupferfarben. Ich habe ihn im Türrahmen stehen sehen, als ich auf der Bühne war, und ich glaube, es handelt sich um einen Kerl, den ich in Los Angeles kennengelernt habe.« Ich versuche, lässig zu klingen. »Hast du jemanden wie ihn gesehen?«

»Klar«, antwortet Tyree, als ob meine Frage keinerlei tiefere Bedeutung hätte. Als ob seine Antwort mir nicht so etwas wie einen körperlichen Schlag versetzen könnte. »Du suchst anscheinend nach Noah Carter.«

3

Ich stehe auf dem Bürgersteig, meine Gedanken überschlagen sich. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie ich das The Fix verlassen habe, aber ich bin sicher, dass ich Tyree gedankt habe, als er mir von Noah berichtet hat. Danach muss ich mich durch die überfüllte Bar gedrängt haben und war dann durch die Türen auf die Sixth Street gestürzt.

Und da stehe ich nun. Mitten auf dem Bürgersteig, auf dem es vor Fußgängern nur so wimmelt, frage ich mich, wie ich dorthin gekommen bin – und, was noch wichtiger ist, was ich als Nächstes tun will.

Damit will ich keineswegs behaupten, dass ich mich an nichts erinnere. Ganz im Gegenteil. Ich erinnere mich, dass Tyree mir berichtet hat, dass der rothaarige Mann Noah war, dass er mir dann erklärt hat, ihn zu kennen, weil Noah seit ein paar Monaten jede Woche herkommt, und bei Stammgästen empfiehlt es sich, zumindest die Namen zu kennen.