Dein finsteres Herz - Tony Parsons - E-Book
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Dein finsteres Herz E-Book

Tony Parsons

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Beschreibung

Vor zwanzig Jahren trafen sieben privilegierte Jungen in der elitären Privatschule Potter's Field aufeinander und wurden Freunde. Nun sterben sie, einer nach dem anderen, auf unvorstellbar grausame Art. Das ruft Detective Constable Max Wolfe auf den Plan: Koffeinjunkie, Hundeliebhaber, alleinerziehender Vater. Und der Albtraum jedes Mörders.

Max folgt der blutigen Fährte des Killers von Londons Hinterhöfen und hell erleuchteten Straßen bis in die dunkelsten Winkel des Internets. Mit jeder neuen Leiche kommt er dem Täter ein Stück näher - doch damit bringt er nicht nur sich selbst, sondern auch alle, die er liebt, in tödliche Gefahr -

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Zweiter Teil

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

Dritter Teil

Nachbemerkung des Autors

Tony Parsons

Dein finsteres Herz

Detective Max Wolfes erster Fall

Kriminalroman

Übersetzung aus dem Englischenvon Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Murder Bag«

Für die Originalausgabe:

Copyright 2014 by Tony Parsons

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Judith Mandt

Titelgestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven von ©TangMan Photography /getty-images

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-0018-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für David Morrison, Barry Hoy und Kevin Steel,

irgendwo östlich von Suez

Hinter einem Verbrechen, das so ernst ist wie ein Mord, sollten starke Empfindungen stehen.

GEORGE ORWELL

The Decline of the English Murder

»And nothing in life shall sever

The chain that is round us now.«

(Und nichts im Leben soll die Kette

zertrennen, die uns jetzt umgibt.)

RUDERLIED AUS ETON

Prolog

1988

Als sie mit ihr fertig waren, ließen sie sie auf der Matratze liegen, mit dem Gesicht nach unten, und es war, als wäre sie schon tot.

Das Rudel im Kellerraum, Jungen von männlicher Kraft und kindlicher Grausamkeit – sie hatten sich alles genommen, was sie wollten. Es schien, als habe sie nichts mehr übrig.

Jetzt gellten ihre Stimmen ihr nicht mehr ins Gesicht, geiferten nicht mehr über ihr, bohrten sich nicht mehr in ihre Ohren. Jetzt kamen die Stimmen von dem langen Esstisch, wo sie rauchten und lachten und einander zu ihrer Tat gratulierten.

Da war ihr T-Shirt. Wenn sie doch nur an ihr T-Shirt käme. Irgendwo fand sie die Kraft, den Arm danach auszustrecken, es überzuziehen und sich von der Matratze zu rollen. In diesem Raum wollte sie nicht bleiben. Sie kroch zur Kellertreppe.

Die Stimmen am Tisch verstummten. Die Pfeife, dachte sie. Die Pfeife macht sie alle langsam, dumm und müde. Gott segne die Pfeife.

Sie hatte Blut im Mund, das ganze Gesicht tat ihr weh. Alles tat ihr weh. Blut rann aus ihrer Nase und lief ihr in den Hals. Sie musste ihre Übelkeit hinunterschlucken.

Sie hielt inne, würgte, bewegte sich weiter.

Die Muskeln ihrer Beine waren schwere Klumpen aus Schmerz. Nichts funktionierte, wie es sollte. Nichts fühlte sich so an, als würde es je wieder funktionieren.

Alles war zerstört.

Sie hätte vor Enttäuschung weinen können. Doch sie unterdrückte die Tränen, biss die Zähne zusammen und näherte sich stückchenweise der Tür, Zentimeter für Zentimeter, nicht mehr. Sie spürte die aufgeplatzte Haut an ihren Ellbogen und Knien, während sie sich über den Kellerboden schleppte, noch ein Stück weiter.

In dem Raum war das Böse.

Doch sie wollte heute Nacht nicht sterben.

Sie würde nicht in diesem Raum sterben.

Zuerst glaubte sie, sie würden nicht bemerken, dass sie sich bewegte. Weil die Pfeife wirkte. Weil die Pfeife sie langsam und dumm machte. Gott segne die Pfeife. Dann, als sie das untere Ende der Treppe erreichte und sich dort ausruhte, hörte sie ihr Gelächter.

Und als sie hinsah, begriff sie, dass alle sie beobachteten, sie die ganze Zeit über beobachtet hatten.

Einige applaudierten ihr höhnisch.

Der, der am schlimmsten gewesen war – der Dicke, der dabei ununterbrochen auf sie eingeredet und sie beschimpft und es genossen hatte, als sie aufschrie, und der Spuren von Nägeln und Zähnen hinterlassen hatte –, dieser dreckigste Dreckskerl in einem Haufen von dreckigen Dreckskerlen gähnte nun, offenbarte eine Mundfüllung teurer Zahnarztarbeit und sagte: »Mann, wir können sie nicht einfach gehen lassen.«

Sie atmete tief ein und legte die Handflächen auf die unterste Stufe.

Mit ihrer Atmung stimmte etwas nicht. Es lag an ihrer Nase.

Ein einzelner Tropfen leuchtend roten Bluts fiel auf ihren Handrücken.

Sie fuhr sich mit den Fingern über die Oberlippe und richtete sich mit großer Anstrengung auf, lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und wollte nur noch schlafen.

Die Schmerzen weckten sie wieder auf.

Und die Angst.

Und die Gegenwart des Jungen.

Einer von ihnen stand gleich neben ihr. Boshafte Belustigung hatte sich in seinem Gesicht breitgemacht. Es war der, der sie angesprochen und mit einem Lächeln aufgehalten hatte, der so getan hatte, als wäre er nett, und der sie hierher gebracht hatte.

Jetzt packte er sie an den Haaren und bog ihren Kopf zur Seite. Er verstärkte seinen Griff, drehte sich um, zerrte sie an den Haaren von der Treppe weg zurück in den Raum, in den Raum unter der Erde, wo sie nicht sterben wollte.

Ohne dass ein bewusster Gedanke sie dazu bewegte, schossen ihre Hände zu seinem Gesicht, und sie drückte ihre Daumen so fest in seine Augenhöhlen, wie sie konnte.

Tief und tiefer. Und noch tiefer.

Jetzt sollte er Schmerzen spüren.

Dreckige Hunde. Einer dreckiger als der andere.

Sie standen dort, ineinander verschränkt wie zwei Tanzpartner, seine Faust noch in ihrem Haar, während sie alle verbliebene Kraft mobilisierte, um die spöttischen blauen Augen einzudrücken. Mit Fingern, deren Nägel gebrochen und blutig waren und die verletzten, als sie in seinem dichten schwarzen Haar nach Halt suchte, seine Ohren packte, den Halt wiederfand und die Daumen noch tiefer hineinpresste. Ihre linke Hand ließ ab, als er mit einem gellenden Schmerzensschrei zurücktaumelte, nach ihr schlug und sie verfehlte, doch ihr rechter Daumen war noch an Ort und Stelle, nach wie vor in seine linke Augenhöhle gepresst. Der Junge versuchte sie wegzustoßen, aber mit dem Daumen drückte sie noch ein paar entscheidende Sekunden auf den Augapfel, der plötzlich mit einem leisen feuchten Schmatzen nachgab und nach hinten wegsank.

Der Junge kreischte auf.

Sein Schrei gellte durch den Keller, gellte durch ihren Kopf, gellte durch die Nacht. Am Tisch waren sie aufgestanden, bewegten sich nicht, gelähmt von den Schreien des Jungen, der gerade ein Auge verloren hatte.

Dann rannte sie.

Und wie sie rannte.

Sie flog die Stufen hinauf.

Die Tür war von innen zugesperrt, aber der Schlüssel steckte zum Glück noch im Schloss, Gott sei gedankt für den Schlüssel. Sie drehte ihn, hinter sich das Geschrei, dann sprang sie hinaus ins Freie und war wie betäubt, als sie sah, dass die Nacht beinahe vorüber war.

Wie lange hatten sie sie dort drinnen festgehalten?

In der Ferne sah sie die Straße, da, am anderen Ende der Spielfelder mit den großen weißen H-förmigen Rugby-Toren, über denen Nebelschleier hingen.

Sie lief los über die Sportplätze. Der Nebel legte sich feucht auf ihr Gesicht, ihre nackten Füße glitten auf dem vom Tau glatten Gras aus. Die schönen Gebäude der berühmten alten Schule erhoben sich schwarz und zeitlos hinter ihr.

Sie lief, ohne zurückzublicken, rechnete in jedem Moment mit ihren Stimmen, wartete, dass die Meute kam, sie niederrannte und in Stücke riss.

Aber sie kamen nicht.

Am anderen Ende der Sportplätze stand ein kleines Häuschen aus Stein, so unwirklich wie die Hütte eines Holzfällers in einem Märchen. Doch es brannte kein Licht, und sie rannte gar nicht erst in diese Richtung. Sie rannte zur Straße. Wenn sie es bis zur Straße schaffte, dann würde sie heute nicht sterben.

Auf halbem Weg zur Straße lehnte sie sich zum Verschnaufen an einen Rugby-Torpfosten und wagte es, nach hinten zu blicken. Sie waren ihr nicht gefolgt.

Ein Lederriemen schlug ihr gegen die Hüfte, und sie erinnerte sich, dass sie ihr irgendwann ein Hundehalsband mit Leine angelegt hatten. Sie riss das Ding ab und warf es auf den Boden.

Auf der Straße hielt ein einsamer Wagen. Seine Scheinwerfer waren an, der Motor lief.

Jemand hatte sie gesehen.

Taumelnd näherte sie sich dem Fahrzeug, winkte, rief, schrie dem Fahrer zu, bitte auf sie zu warten – »Nicht wegfahren, nicht wegfahren!« –, rannte einen Maschendrahtzaun entlang, suchte nach einer Lücke. Unter ihren nackten Füßen spürte sie nicht mehr das feuchte Gras der Sportplätze, sondern Asphalt. Sie duckte sich durch ein Loch im Zaun, rannte über die raue Fahrbahn der Straße, schrie: »Oh bitte nicht fahren!« –, und die Beifahrertür öffnete sich, und der Dicke stieg aus, der Schlimmste von allen. Jetzt lachte er nicht mehr, sein Gesicht war verzerrt von mörderischem Hass, und jetzt wusste sie mit absoluter Gewissheit, dass sie heute Nacht hier sterben würde.

Mehr Jungen stiegen aus dem Wagen.

Der Dicke öffnete den Kofferraum, und das schwarze Loch erwartete sie wie ein offenes Grab.

Am Rande registrierte sie, dass auf dem Rücksitz des Wagens jemand wegen seines Auges schrie.

Der, den sie verletzt hatte. Der, den sie geblendet hatte.

Sie wünschte, sie hätte sie alle verletzen können. Sie wünschte, sie hätte sie alle blenden können. Sie hatten es weiß Gott verdient.

Aber es war zu spät. Sie war erledigt. Schwäche und Erschöpfung durchströmten sie, überwältigten sie. Die Jungen hatten gewonnen.

Wütende Hände ergriffen sie, drückten ihr die letzte Kraft aus den Knochen, hoben sie vom Boden hoch und stopften sie in den Kofferraum.

Der Deckel knallte über ihr zu, und sie verlor sich in der Finsternis, während der Wagen zu der majestätischen alten Schule zurückfuhr, wo sie auf der Matratze im Keller sterben würde, dort, wo sie nie hatte sterben wollen.

In ihren letzten Momenten sah sie die Familie vor sich, die sie nie wiedersehen würde, und hinter ihnen – wie auf einer Straße, die man kurz erblickt, aber nie einschlägt – sah sie deutlich den Ehemann, den sie nie kennenlernen, die Kinder, die sie nie zur Welt bringen würde, und das gute Leben voller Liebe, das ihr geraubt worden war.

Und als ihre Seele übertrat, war ihr letzter Atemzug ein stiller Schrei der Wut und Trauer um alles, was ihr in der Nacht genommen worden war, in der sie starb.

Erster Teil

Oktober: #killtalleschweine

1

Ich wartete auf einen Mann, der plante, in den Tod zu gehen.

Ich hatte den alten BMW X5 gegenüber vom Eingang zum Bahnhof geparkt und trank einen dreifachen Espresso, während ich die eiligen Pendler auf dem Weg zur Arbeit beobachtete. Ich trank rasch.

Er würde bald hier sein.

Drei Fotos lagen auf dem Armaturenbrett. Eins von meiner Frau und meiner Tochter. Die beiden anderen von dem Mann, der plante, in den Tod zu gehen. Ein Passfoto vom Innenministerium und etwas, das wir einen Schnappschuss nannten, ein schwarz-weißes Standbild von einer Überwachungskamera.

Das Foto von meiner Familie schob ich wieder in die Brieftasche und die Brieftasche in meine Lederjacke. Dann klebte ich die beiden Fotos des Mannes, der plante, in den Tod zu gehen, am Armaturenbrett fest.

Und ich beobachtete die Straße.

Ich parkte mit dem Rücken zum Bahnhof, damit ich die belebte Hauptstraße im Auge behalten konnte. Sie war in milden Herbstsonnenschein getaucht, der wie eine verblassende Erinnerung an Sommertage wirkte. Hundert Meter entfernt schaute eine junge Frau, fürs Sportstudio gekleidet, ins Fenster eines Zeitungsladens. Ein großer Deutscher Schäferhund saß geduldig neben ihr, den Kopf gesenkt, während er sie mit kluger Miene betrachtete. Inmitten der Menschenmengen der Rushhour war der Hund völlig mit sich im Reinen.

»Das ist ein schöner Hund«, sagte ich.

Die Frau lächelte und streichelte dem Hund zur Antwort die Ohren, dann hörte ich in meinem Ohr eine Männerstimme, auch wenn sie sich nicht an mich richtete.

»Delta-1: Guter Empfang.«

Andere Stimmen drangen mir ins Ohr, während sie den Empfang für die anderen Funkrufzeichen prüften. In dem Überwachungsgewirr hörte ich die geübte Ruhe, die die Polizei in Situationen höchster Anspannung verwendet, so wie ein Pilot, der seinen Passagieren gut zuredet, während seine Motoren in Brand stehen. Kein Grund zur Sorge, Leute.

Ich blickte mich auf der Straße nach Kastenwagen um, den üblichen Observierungsfahrzeugen, nach zivilen Pkw und Kriminalbeamten zu Fuß. Sie waren allerdings gut in ihrem Job. Ich sah nur die Frau mit dem schönen Schäferhund.

»Delta-1?«, sprach mich der Observierungsleiter an. »Wir sehen Sie, und wir hören Sie, Max. Sie sind ganz vorn. Wir warten Ihre positive optische ID ab, sobald Bravo-1 in der Zugriffszone ist. Bleiben Sie im Wagen.«

Bravo-1 war der Mann, der plante, in den Tod zu gehen.

»Verstanden«, sagte ich.

Dann kam eine Stimme, die ich kannte.

»DC Wolfe, hier Chief Super.«

Detective Chief Superintendent Elizabeth Swire. Meine Chefin.

»Ma’am«, sagte ich.

»Viel Glück, Wolfe«, sagte sie. Sie klang freundlich, als sie den Boss heraushängen ließ. »Sie haben den Mann gehört. Bleiben Sie im Wagen. Lassen Sie die schweren Sachen von den großen Jungs stemmen.«

Ich starrte auf die Straße. Nicht mehr lange.

»Ma’am«, sagte ich, so ruhig und brav wie der Deutsche Schäferhund.

Wenn ich meinen Rückspiegel etwas drehte, konnte ich an der beeindruckenden viktorianischen Fassade des Bahnhofshotels hochblicken. Wie ein Märchenschloss reckte es seine Türmchen in einen blauen Himmel voller weißer Wattebauschwolken. Es sah aus, als müsste man dort nur einmal blinzeln, und hundert Jahre wären vergangen. Von den großen Jungs sah ich keinen. Aber im Bahnhof gab es genügend von ihnen, um einen kleinen Krieg zu beginnen.

Irgendwo hinter den Netzgardinen und Vorhängen wartete die SCO19, die Sondereinsatzeinheit der Metropolitan Police. Jeder von ihnen war mit einem G36-Sturmgewehr von Heckler & Koch bewaffnet und zwei Neunmillimeterpistolen Glock SLP. Doch ganz egal, wie angestrengt ich hinsah, ich würde sie nicht entdecken.

Außerdem hielten sich Bombenentschärfungskommandos bereit, die die Luftwaffe abgestellt hatte. Unterhändler. Spezialisten für chemische und biologische Kampfführung. Und jemand, der Pizza bestellte. Wir hatten außerdem etwa zwanzig Leute um den Bahnhof herum, doch ich sah nur die Frau und den Hund. Das Observierungsgeplapper ging weiter.

»Alle Einheiten melden. Echo-1?«

»Kein Anzeichen.«

»Victor-1?«

»Nichts.«

»Tango-1?«

»Kontakt«, sagte eine Frauenstimme.

Zum ersten Mal war es in dem Stück Plastik in meinem Ohr vollkommen still.

»Ich habe Sichtkontakt zu Bravo-1«, sagte dieselbe Stimme. »Kontakt.« Eine schreckliche Pause folgte. »Möglicher Kontakt«, sagte sie. »Wiederhole – möglicher Kontakt.«

Die Stimme des Observierungsleiters klang jetzt angespannter. »Möglicher Kontakt«, sagte er. »Wird überprüft. Bereithalten.«

Dann wieder die Stimme der Frau, in die sich Zweifel geschlichen hatten.

»Möglicher Kontakt. Roter Rucksack. Passiert gerade British Library. Bewegt sich zu Fuß in östlicher Richtung zum Bahnhof. Nähert sich Zugriffszone.«

»Delta-1?«

»Verstanden«, sagte ich.

»Und ich bin weg«, sagte Tango-1; es bedeutete, dass sie den Sichtkontakt zur Zielperson verloren hatte.

Ich warf einen raschen Blick auf die beiden Fotos am Armaturenbrett. Ich brauchte sie eigentlich nicht, weil ich genau wusste, wie er aussah. Dennoch schaute ich sie mir ein letztes Mal an. Dann musterte ich wieder die Menschenmenge.

»Ich sehe ihn nicht«, meldete ich.

Dann hörte ich eine drängendere Stimme in meinem Ohr. Eine andere Frau. Die Beamtin mit dem Hund. Ich beobachtete sie eingehend, während sich ihr Mund bewegte.

»Hier Whisky-1, Whisky-1. Ich habe möglichen Sichtkontakt. Bravo-1 – er kommt. Zweihundert Meter. Andere Straßenseite. Östliche Richtung. Roter Rucksack. Möglicher Kontakt.«

Ein Stimmengewirr brach los, dann wurde scharf Ruhe verlangt.

»Möglicher Kontakt. Überprüfung läuft. Alle Einheiten bereithalten. Bereithalten, Delta-1.«

Dann nur noch Schweigen und das Knistern der atmosphärischen Störungen. Jetzt warteten sie auf mich.

Zuerst blickte ich durch ihn hindurch.

Weil er anders aussah.

Ich schaute rasch auf die beiden Fotos am Armaturenbrett, und er ähnelte ihnen kein bisschen.

Das schwarze Haar war jetzt hellbraun. Der Bartflaum war verschwunden. Aber damit hörte es nicht auf. Sein Gesicht hatte sich verändert. Es war voller, aufgebläht, fast das Gesicht eines anderen Menschen.

Doch eine Sache war gleich.

»Delta-1?«

»Kontakt«, sagte ich.

Der rote Rucksack war genau derselbe wie auf dem Foto am Armaturenbrett, auf dem Schnappschuss vom Überwachungsvideo an dem Tag, als er im Chemikaliengroßhandel das Wasserstoffperoxid gekauft hatte.

Er hatte den roten Rucksack getragen, als er den Wagen mit den 440 Litern Haarbleichmittel zur Kasse schob. Hatte ihn getragen, als er die 550£ in Fünfzigern abzählte. Trug ihn, als er seinen Kleinbus an der Mietgarage entlud, an der wir unsere Kameras aufgestellt hatten. Den roten Rucksack konnte man gar nicht übersehen.

Das Ding sah aus wie die Sorte Tasche, mit der man den Mount Everest besteigen kann. Groß und hellrot – Sicherheitsrot nannten sie diese Farbe. Aber das Gesicht war anders. Das warf mich aus der Bahn. Das sollte es auch. Das Gesicht war mit irgendetwas aufgepumpt worden. Er plante, mit dem Gesicht eines anderen in den Tod zu gehen.

Aber ich sah es jetzt.

Es bestand kein Zweifel.

»Das ist er«, sagte ich. »Kontakt. Er hat irgendetwas gemacht, ich weiß nicht, was. Irgendetwas mit seinem Gesicht angestellt. Kontakt. Bestätige visuelle Identifikation. Kontakt.«

»Scharfschütze-1, in Reichweite«, meldete eine Stimme, und erst jetzt entdeckte ich die Schützen auf der anderen Straßenseite, die sich auf den Dächern über einer schäbigen Zeile aus Läden und Imbissen bewegten. Ihre Waffen blitzten im Sonnenlicht. Polizeischarfschützen, die Stellung bezogen.

Unser letztes Mittel, sollte alles andere schiefgehen. Und alles fing an schiefzugehen.

»Scharfschütze-2, in Reichweite. Ich habe jedoch kein Ziel. Kein freies Schussfeld. Da unten ist ganz schön was los.«

Der Mann mit dem roten Rucksack war auf der anderen Straßenseite an der Fußgängerampel stehen geblieben und wartete auf grünes Licht. Verkehr donnerte vorüber, und in den Lücken blitzte immer wieder das Sicherheitsrot des Rucksacks auf. Ich berührte meinen Empfänger im Ohr. Plötzlich sprach niemand mehr zu mir.

»Das ist unser Junge«, sagte ich. »Positive ID. Kontakt. Kontakt. Ende.«

Die Ampel schaltete, und der Verkehr kam widerwillig zum Stehen. Die Pendler schlurften über die Straße. Der Mann mit dem roten Rucksack begleitete sie. Ich sprach langsam und deutlich.

»Hier Delta-1. Bestätige Kontakt. Zielperson wird gleich in Zugriffszone eintreten. Haben Sie mich verstanden? Ende.«

Wieder nichts als das statische Rauschen zur Antwort.

Dann: »Möglich. Überprüfung läuft. Bereithalten.«

Ich schüttelte den Kopf und wollte wieder etwas sagen, als die ruhige Stimme von DCS Swire mir zuvorkam. »Negativ, Wolfe. Das ist er nicht. Negativ. Abbrechen.«

Dann hörte ich die Stimme des Observierungsleiters. »Negativ. Abbruch. Alle Stationen, Zugriffsbereitschaft aufheben.«

Die Ampel sprang wieder um.

Der Mann mit dem roten Rucksack hatte die Straße überquert.

Er hielt auf den Bahnhof zu.

»Erwarten Sie von ihm, dass er eine Burka trägt?«, fragte ich. »Das ist Bravo-1. Das ist die Zielperson. Das ist unser Junge. Sein Gesicht –«

»Wir haben keine visuelle Bestätigung«, unterbrach mich der Observierungsleiter. »Wir haben keine positive Identifikation, Delta-1.«

Und dann Swire.

»Das ist er nicht«, sagte sie. »Halten Sie Funkstille, Wolfe.« Ein Anklang stählerner Härte. »Sie hatten eine Aufgabe. Sie ist abgeschlossen. Keine weitere Aktion erforderlich. Alle Einheiten, Zugriff beenden. Negativ. Abbruch. Danke an alle.«

Die Menge verlangsamte vor dem Bahnhof, wo sie sich mit dem Pendlerstrom vereinigte, der von King’s Cross herüberkam. Ich rechnete mir aus, dass ich eine Minute hätte, um den Mann, der in den Tod gehen wollte, aufzuhalten, ehe er im Bahnhofsgebäude verschwand. Sobald er drinnen war, ob in einem Fernzug oder in der U-Bahn oder noch in der Bahnhofshalle, brauchte der Mann mit dem roten Rucksack nur die Hände zusammenlegen, und die Welt wurde in Stücke gerissen.

Die Batterie, die er vermutlich schon in einer Hand hielt, würde mit einer simplen Anschlussklemme in der anderen verbunden. Dann floss elektrischer Strom durch zwei Drähte in den roten Rucksack – er hätte einen unauffälligen Schlitz in die Seite geschnitten –, wo eine modifizierte Glühbirne einen Zünder auslöste, der in einem engen Röhrchen steckte. Damit würde er die eigentliche Ladung auslösen – erzeugt mit dem Wasserstoffperoxid, für das er auf dem Überwachungsvideo elf Fünfzigpfundnoten hingeblättert hatte.

Außerdem hatte er einen Großhandelsposten von Fünfzehn-Zentimeter-Nägeln gekauft. Ganze Beutel voll. Sie wären außen mit Klebeband an der Sprengladung befestigt, um so viel Leid zu verursachen, dass es für mehrere Hundert Lebensspannen ausreichte.

Falls sie explodierte.

Falls es bei ihm fürs Bombenbauen reichte.

Falls er sich nicht verkocht hatte.

Ich schluckte den Klumpen heißer bitterer Übelkeit hinunter, der mir in die Kehle stieg.

»Sie irren sich«, sagte ich. »Das ist er. Kontakt.«

Ich war in seiner Garage gewesen. Ich hatte die Hunderte leerer Haarbleicheflaschen gesehen. Ich hatte mir das Überwachungsvideo des Tages, an dem er das Zeug gekauft hatte, so oft angesehen, bis meine Augen bei seinem Anblick brannten.

Ich brauchte die Fotos am Armaturenbrett nicht. Ich kannte ihn. Er war in meinem Kopf.

Er konnte sich nicht vor mir verstecken.

»Alle Einheiten Zugriff beenden«, sagte eine bemüht ruhige Stimme. »Haben Sie mich verstanden, Delta-1?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ihre Durchsage wird gestört.«

Dreißig Sekunden noch.

Und in all den Menschenmassen, umgeben von all den Schusswaffen, war ich mit dem Mann, der plante, in den Tod zu gehen, ganz allein.

Einmal habe ich einen Vortrag an der Polizeiakademie in Bramshill, Hampshire gehört, das Oxford und Cambridge der höheren Polizeiausbildung.

Ein FBI-Beamter war herübergeflogen, um uns bei der Bekämpfung des Terrorismus zu helfen. Mich hatten die strahlend weißen Zähne des Special Agents beeindruckt. Es waren schöne Zähne. Sehr amerikanische Zähne. Noch mehr hatte mich allerdings beeindruckt, dass der Mann sein Geschäft verstand.

Mit blitzenden Zähnen erzählte er uns, dass das FBI 25 Bedrohungszonen für Terroraktivitäten identifiziert hatte. Es war nicht ganz ein A–Z, aber dicht dran: Es war ein A–T, von Airports bis Tattoo-Studios.

Also im Grunde überall.

Der Fed schilderte uns auch, wie mögliche Terroristen aussehen könnten.

Im Grunde wie jeder.

Die Lehrgangsteilnehmer in Bramshill, die klügsten und besten, diese Cops auf der Überholspur, die nächste Generation im CID, jung und zäh und schlau, hatten sich vor Lachen fast eingenässt. Im Gegensatz zu ihnen fand ich den Vortrag nicht nutzlos. Ganz im Gegenteil. Denn ich wusste noch den Punkt Nummer eins auf der Liste möglicher Indikatoren des FBI-Manns.

Der Verdächtige verändert sein Aussehen deutlich. Obwohl meine Kollegen gegrinst und die Augen verdreht hatten, hielt ich das für einen Punkt, den man nicht außer Acht lassen durfte. Niemals das Offensichtliche übersehen. Nicht erwarten, dass er aussieht wie auf den Fotos und Überwachungsvideos. Sei darauf vorbereitet, dass er aussieht wie jemand anders.

Und da war noch etwas, das der FBI-Agent erwähnt haben könnte. Eine Zielperson, die ihr Aussehen deutlich verändert, verzichtet vermutlich darauf, sich eine neue Tasche zu kaufen.

»Derselbe Rucksack«, sagte ich und öffnete die Autotür. »Wie im Überwachungsvideo. Roter Rucksack. Als er das Zeug kaufte. Roter Rucksack. Immer dabei. Das ist der rote Rucksack. Und das ist der Kerl.«

»Sie können hier nicht parken, Kumpel«, sagte jemand mit Afro-Cockney-Akzent durch mein Fenster, und ich zuckte zusammen, weil ich eine Stimme hörte, die nicht im Innern meines Kopfes erklang.

Ein Polizeihelfer stellte mir einen Strafzettel aus. Ich stieg aus dem Wagen. Er war ein großer Mann mit westafrikanischen Stammesnarben auf den Wangen, und er wich ein Stück zurück, rechnete mit Ärger. Ich blickte an ihm vorbei und sah den Mann mit dem roten Rucksack. Das Menschengewimmel hatte sich ein bisschen ausgedünnt.

Er wollte gerade den Bahnhof betreten.

Fünfzehn Sekunden.

Dann eine Stimme in meinem Kopf:

»Hier spricht DCS Swire. Steigen Sie wieder in den verdammten Wagen, Wolfe.«

Jeder Anschein von Gelassenheit war verschwunden.

Ich zögerte kurz.

Dann stieg ich wieder ins Auto.

Der Polizeihelfer klemmte mir den Strafzettel unter den Scheibenwischer. Ich schüttelte den Kopf und blickte in den Rückspiegel. Der Mann mit dem roten Rucksack war direkt hinter mir und stand genau vor dem Haupteingang des Bahnhofs. Die Menschenmengen versiegten. Nichts hinderte ihn einzutreten. Doch er war unmittelbar vor dem Eingang stehen geblieben.

Er redete mit sich selbst.

Nein.

Er betete.

Zehn Sekunden.

Der Mann mit dem roten Rucksack setzte sich in Bewegung.

Fünf Sekunden.

Ich legte den Rückwärtsgang ein und drehte mich im Sitz.

Vier Sekunden.

Ich trat das Gaspedal durch.

Der Wagen schoss rückwärts, und ich starrte den Mann mit dem roten Rucksack an, während der Wagen auf ihn zuraste. Ich hatte einen Arm um den Beifahrersitz gelegt, um den Aufprallschock abzufangen, die Hand am Lenkrad drückte auf die Hupe und hielt sie gedrückt. Vereinzelte Pendler sprangen aus dem Weg.

Er rührte sich nicht vom Fleck.

Aber er drehte den Kopf und blickte mir in die Augen, als der alte X5 auf ihn zuschoss. Sein Mund war ruhig; er betete nicht mehr.

Drei Sekunden.

Der Wagen pflügte in ihn hinein, traf ihn knapp über den Knien, zertrümmerte beide Oberschenkelknochen und ließ seinen Oberkörper auf die Kofferraumhaube knallen. Sein Gesicht zerschmetterte das Heckfenster, und das Heckfenster erwies seinem Gesicht den gleichen Gefallen.

Dann schleuderte der Aufprall ihn rückwärts gegen eine Wand aus roten viktorianischen Ziegeln, wo sein Hinterkopf aufplatzte wie ein weichgekochtes Ei unter dem Hieb eines Vorschlaghammers.

Zwei Sekunden.

Ich schaltete hoch und fuhr über den Vorplatz zurück, wo der Polizeihelfer mich anstarrte, reglos, mit offenem Mund, den Strafzettelapparat noch in der Hand.

Ich legte wieder den Rückwärtsgang ein, bereit, den Mann mit dem roten Rucksack noch einmal umzufahren.

Doch dazu bestand keine Notwendigkeit.

Null.

Ich stieg langsam aus.

Menschen schrien. Einige waren Pendler. Andere waren Stimmen in meinem Kopf. Ein Hund, der mit jeder Sekunde näher kam, bellte wild.

Eine Stimme in meinem Ohr brüllte etwas von eklatantem Fehlverhalten und Totschlag. Die Stimme brüllte etwas von Mord.

»Wolfe!«

Swire.

Ich riss den Empfänger aus dem Ohr und warf ihn weg.

Der Mann mit dem roten Rucksack saß an die Ziegelmauer gelehnt und starrte mich mit einem verblüfften Ausdruck im verwüsteten Gesicht an. Eine Hand zuckte noch von der Überraschung sofortigen Todes. Beide Hände waren leer.

Ich hatte nicht erwartet, dass seine Hände leer waren.

Plötzlich waren überall Bewaffnete in Sturmhauben. Pistolen waren auf den Toten gerichtet. 9-mm-Glock-SLPs. G36-Sturmgewehre. Dann bemerkte ich, dass einige davon auf mich zeigten.

»Er war die Zielperson«, sagte ich.

Bewaffnete Beamte vom SCO19 waren überall. Pendler rannten kreuz und quer, suchten nach Deckung. Viele Menschen schrien, denn diese Bewaffneten sahen nicht entfernt aus wie Polizeibeamte. Sie trugen Panzerwesten aus Kevlar. An den Schultern hatten sie stählerne Karabinerhaken, an denen man sie wegschleppte, falls sie getroffen wurden. An den schwarzen Sturmhauben waren nur Augen und Mund ausgeschnitten. Sie sahen aus wie paramilitärische Bankräuber.

Den Bürgern war weisgemacht worden, durch diese Maskierung werde die Identität der Beamten geschützt, doch ich wusste, dass sie nur dazu diente, Angst und Schrecken zu verbreiten.

Und es funktionierte.

Sie brüllten in die Funkgeräte, die gleich über ihren Herzen befestigt waren. Die maskierten Gesichter brüllten mich an, ich solle mich hinlegen und am Boden bleiben, das Gesicht nach unten.

Los, los. Los! Wird’s bald!

Ich nahm meinen Dienstausweis aus der Jeans und warf ihn ihnen zu. Ich hob die Hände. Aber ich ging nicht auf die Knie. Ich legte mich nicht aufs Gesicht. Ich ging auf den Mann am Boden zu.

Denn ich musste wissen, ob ich recht gehabt hatte.

Letzte Chance! Machen Sie schon!

Als ich mich über den Toten am Boden beugte, sah ich, dass der Aufprall ihm den Schädel am Hinterkopf nicht gebrochen hatte; er hatte den Hinterkopf entfernt.

Eine riesige Lache aus frischem Blut breitete sich auf dem Pflaster aus.

Ringsum gellten Schreie der Angst und der Wut. Der Hund war jetzt so nahe, dass ich ihn roch, so nahe, dass ich seinen Atem spürte.

Aus dem Augenwinkel sah ich die merkwürdigen stupsnasigen Glock-Pistolen, die auf den Toten am Boden und auch auf meinen Kopf zielten. Die Waffen waren entsichert.

Aber das war doch unser Junge, oder?

Ich kauerte mich neben ihn.

Und ich sah meine Hände verwundert an.

Sie waren mit dem Blut des Toten bedeckt.

Doch sie zitterten nicht, als ich den roten Rucksack aufriss und hineinblickte.

2

»Entschuldigung«, sagte ich, den Körper in einem Anzug eingezwängt, den ich seit meiner Hochzeit nicht mehr getragen hatte.

Im Büro drängte sich ein komplettes Spurensicherungsteam. Eine Forensikerin stand direkt vor mir, versuchte vorbeizukommen, ganz in Weiß bis auf den blauen Gesichtsschutz, der alles verdeckte – nur nicht die Verärgerung in ihren Augen. Ich war zwar in einem großen Eckzimmer fast ganz oben in einem glänzenden Turm aus Glas, trotzdem musste ich kurz an die vielen Pausenhöfe meiner Kindheit denken und daran, wie man sich zugleich unsichtbar und im Weg fühlen konnte, nur weil man neu war.

Dann blitzte ein Funke des Erkennens in den Augen der SOCO, des weiblichen Scenes of Crime Officers, auf.

»Ich kenne Sie.«

»Ich bin der Neue«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte sie. »Sie sind der Held. Vom Bahnhof. Seit wann arbeiten Sie im Morddezernat?«

»Seit heute.«

Jetzt lächelte sie hinter ihrer blauen Gesichtsmaske.

»Cool. Wie nannte man Sie vor Gericht?«

»Officer A.«

»Haben Sie diese Woche schon jemanden umgebracht, Officer A?«

»Noch nicht«, antwortete ich, »aber wir haben erst Montagmorgen.«

Sie lachte und ließ mich am Schreibtisch des Toten stehen. Viel war nicht darauf. Nur frisches Blut und ein altes gerahmtes Foto.

Auf dem Foto lächelten sieben junge Männer in Militäruniform in die Kamera, so selbstbewusst, als blickten sie auf ihre unumstößliche Zukunft. An einer Ecke des Rahmens klebten rote Spritzer. Das Blut kaschierte die Großspurigkeit in den Gesichtern in keiner Weise.

Es war ein merkwürdiges Foto für einen Büroschreibtisch. Keine Frau, keine Kinder, kein Hund. Nur das Foto von sieben jungen Soldaten, nunmehr von hellen Blutspritzern entstellt.

Weitgereistes Blut. Frisch aus einer Schlagader.

Ich sah genauer hin. Den ausgewaschenen Farben und den Vokuhilas der eingebildeten Burschen nach zu urteilen, stammte das Foto aus den Achtzigern. Ihr Haarschnitt war aus einem anderen Jahrzehnt und ihre Uniformen aus einem anderen Jahrhundert. Sie wirkten wie Duran Duran bei Waterloo.

Und ich sah, dass sie keine Männer waren. Sie waren Jungen, die noch einen weiteren Sommer als Jungen vor sich hatten. Obwohl sie Militäruniformen trugen, waren sie keine echten Soldaten, sondern Schüler, die sich als Soldaten verkleidet hatten, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Zwei von ihnen waren Zwillinge. Einer von beiden war der tote Mann hinter dem Schreibtisch. Er war zu einem Banker herangewachsen. Er war groß geworden, um ermordet zu werden. Ich trat zur Seite, als ein Tatortfotograf begann, Bilder von der blutigen Bescherung auf dem Schreibtisch zu machen.

»Na, wer könnte denn einen Banker umbringen wollen?«, fragte der Fotograf.

Gelächter antwortete ihm. Es kam von den SOCOs, die hinter ihren Gesichtsmasken kicherten. Wenn man sein Leben damit verbringt, nach mikroskopisch großen Spuren von Blut, Samen und Schmutz zu suchen, ist man dankbar für jeden Lacher. Doch der leitende Kriminalbeamte, der auf der anderen Seite des Schreibtischs stand, lächelte nicht; allerdings konnte ich nicht sagen, ob er die Bemerkung nicht gehört hatte, zu sehr mit der Leiche vor sich beschäftigt war oder Frivolität im Angesicht des Todes missbilligte.

Geduldig wartete er, während ein kleiner Mann mit Aktenkoffer – der Abteilungsarzt, der den Toten für tot erklären sollte – vor dem Leichnam kniete, der in einer Blutlache lag.

Der große Kopf des Detectives war so glatt rasiert, dass er glänzte, und trotz der extravaganten gebrochenen Nase – die so oft gebrochen gewesen war, dass sie aussah wie eine schiefe Skipiste – war er eitel genug, um seinen blassen Henriquatre-Bart sauber zu trimmen.

Er richtete stechend blaue Augen auf mich, und ich fand, dass er wie ein Wikinger aussah. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie dieses blasse, wilde Gesicht den Strand heraufkam, um ein paar Mönche zu massakrieren und ein bisschen zu brandschatzen. Aber Wikinger trugen keine Brillen, und die Brille des Kriminalbeamten war rund und randlos, eine John-Lennon-Imagine-Brille, und sie milderte seine grimmige Erscheinung und verlieh seinem Gesicht einen freundlichen, leicht erstaunten Ausdruck. Mein neuer Boss.

»DC Wolfe, Sir«, sagte ich.

»Ah, unser neuer Mann«, sagte er mit präziser, ruhiger Stimme und den knappen Vokalen des fernen Nordens, Aberdeen oder jenseits davon, ein Highland-Dialekt, der klang, als wäre jedes Wort aus Granit gehauen. »Ich bin DCI Mallory.«

Aber ich kannte seinen Namen schon. Ich war ihm nie begegnet, aber ich hatte viel von ihm gehört. Er war Detective Chief Inspector Victor Mallory, und er zählte zu den Gründen, aus denen ich mir die Versetzung ins Homicide and Serious Crime Command, die Abteilung für Mord und Schwerverbrechen, gewünscht hatte.

Beide trugen wir dünne blaue Handschuhe und machten keine Anstalten, uns über den Schreibtisch hinweg die Hände zu reichen. Doch wir lächelten und nahmen uns eine Sekunde, um den anderen zu taxieren.

DCI Mallory wirkte sehr fit, und zwar nicht nur für einen Mann Ende vierzig, sondern für jeden Mann jedes Alters. Es sah sehr nach der Sorte Fitness aus, die mehr von einer athletischen Natur herrührt als von Stunden im Sportstudio. Er betrachtete mich mit seinen blauen Augen, während der Abteilungsarzt die Leiche mit knappen, raschen Bewegungen untersuchte.

»Sie kommen gerade rechtzeitig«, sagte Mallory. »Wir wollen jetzt beginnen. Willkommen beim Morddezernat.«

Freundlich, aber ohne Interesse an jedem Smalltalk.

Der Abteilungsarzt stand auf.

»Ja, der Mann ist tot«, sagte er und ließ seine Arzttasche zuschnappen.

Mallory dankte ihm und nickte mir zu. Ich trat vor. »Werfen Sie einen Blick auf unseren Toten, Wolfe«, sagte er. »Dann sagen Sie mir, ob Sie so was schon mal gesehen haben.«

Ich gesellte mich zu DCI Mallory auf der anderen Seite des Schreibtischs, und wir standen vor dem Toten. Als Erstes sah ich das viele Blut. Üppig versprühtes Schlagaderblut mit einem Mann in Oberhemd und Krawatte irgendwo darunter.

»Der Tote hieß Hugo Buck«, sagte Mallory. »Fünfunddreißig Jahre alt. Investment-Banker bei ChinaCorps. Leiche entdeckt vom Reinigungspersonal um sechs Uhr fünfundzwanzig. Er kam immer früh ins Büro. Arbeitete mit den asiatischen Märkten. Während er seinen Morgenkaffee trank, hat ihm jemand die Kehle durchgeschnitten.« Mallory musterte mich aufmerksam. »So was schon mal gesehen?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

Die Kehle des Bankers war nicht einfach nur durchgeschnitten worden.

Man hatte sie zerfetzt.

Die Vorderseite seines Halses war komplett aufgeschnitten, mit der sauberen Präzision eines Chirurgen oder Metzgermeisters zertrennt und geöffnet. Buck lag flach auf dem Rücken, doch es sah so aus, als verbände nur ein Knorpelstrang den Kopf noch mit dem Körper. Das Blut war in mächtigen arteriellen Stößen aus dem Hals gespritzt und hatte sein Hemd und die Krawatte befleckt wie ein monströses rotes Schlabberlätzchen. Ich konnte ihn riechen, den Kupfergestank frisch vergossenen Blutes, und verschloss mein Bewusstsein vor ihm.

Hugo Bucks Jackett hing noch über der Lehne seines Schreibtischsessels. Aus irgendeinem Grund hatten die Blutfontänen es nicht getroffen. Ich warf einen schnellen Blick auf Mallory und sah wieder den Toten an.

»Ich habe drei durchschnittene Kehlen gesehen, Sir«, sagte ich.

Ich zögerte, und er nickte einmal knapp, damit ich weitersprach.

»Ich war eine Woche in Uniform, als ein Ehemann auf dem Handy seiner Frau eine SMS von seinem besten Freund sah und zum Tranchiermesser griff. Vielleicht ein Jahr später war ich am Schauplatz eines Überfalls auf einen Juwelier, wo eine Pistole Ladehemmung hatte und der Räuber ein Beil zückte und den Verkäufer tötete, der den Alarmknopf gedrückt hatte. Und dann gab es eine Hochzeit, wo dem Brautvater die Ansprache des Trauzeugen nicht gefiel und er ihm eine Sektflöte in den Hals trieb. Drei durchtrennte Kehlen.«

»Hat eine der Wunden so ausgesehen wie das hier?«

»Nein, Sir.«

»Das ist fast eine Enthauptung«, sagte Mallory.

Ich blickte mich um. »Jemand muss doch etwas gehört haben.«

»Niemand hat irgendetwas gehört«, erwiderte Mallory. »Selbst zur Tatzeit wimmelt es hier von Menschen. Aber keiner hört auch nur einen Mucks, wenn einem Mann fast der Kopf abgetrennt wird.« Mallory blickte mich aus seinen hellblauen Augen an. Aber ich kapierte es nicht. »Weil dem Opfer die Trachea durchtrennt wurde«, erklärte er. »Die Luftröhre. Er bekam keine Luft. Und zum Schreien braucht man Luft. Niemand hat etwas gehört, weil es nichts zu hören gab.«

Schweigend standen wir vor der Leiche, während sich im ganzen großen Büro die SOCOs in Zeitlupe bewegten wie Wissenschaftler, die die Stätte einer biologischen Katastrophe begutachten. In ihren Masken, Handschuhen und weißen Anzügen sahen sie identisch aus und suchten geduldig nach Fingerabdrücken, steckten winzige Fasern in Asservatenbeutel und nahmen Proben des Bluts auf dem Schreibtisch, dem Teppich und den Glaswänden. Sie hatten eine große Auswahl. Ein SOCO fertigte eine Skizze an. Der Fotograf, der sich laut gewundert hatte, wieso jemand einen Banker töten sollte, hatte die Standbilder aufgenommen, die er brauchte, und filmte jetzt den Raum. Kleine nummerierte Marker aus gelbem Plastik saßen überall im üppigen Teppich wie Blüten auf einer Wiese und zeigten an, wo SOCOs Fußabdrücke ernteten, um sie mit dem Datenbestand in der Shoeprint Image Capture and Retrieval Database zu vergleichen, der Schuhabdruck-Bilderfassungs- und -abrufdatenbank SICAR.

Mallory beobachtete sie. »Die meisten professionellen Morde werden sehr amateurhaft ausgeführt. Ist das Ironie oder ein Paradox? Sie werden von Schlägern begangen, die jemand im Pub angeheuert hat. Idioten, die für Bargeld so gut wie jeden umbringen würden. Die meisten Auftragsmorde kommen mit einer Garantie – für schlampige Ausführung. Doch der hier nicht. Sehen Sie, wie sauber der Schnitt ist? Die meisten, die jemandem die Kehle durchschneiden, säbeln und hacken und sägen. Sie machen eine Riesensauerei, nicht wahr? Das haben Sie in Ihren drei Fällen gesehen. Eine so große Sauerei, wie ein wütender Mensch mit einem scharfen Gegenstand einem Wesen aus Fleisch und Blut nur antun kann. Das hier sieht jedoch nach einem einzigen Schnitt aus. Ihm wäre davon fast der Kopf abgetrennt worden, aber es war nur ein Schnitt. Wer könnte eine Kehle derart durchschneiden?«

»Jemand, der weiß, was er tut.« Ich überlegte. »Ein Schlachter. Ein Chirurg. Ein Soldat.«

»Sie glauben, Rambo läuft hier frei herum?«

»Ich weiß nicht, ob er hier rumläuft, Sir. Vielleicht schläft er unter einer Brücke.«

Mallory nickte durch die Glaswände zu der Stadt dreißig Etagen tiefer, die sich, von der Herbstsonne beschienen, um die alte graue Schlange des Flusses erstreckte.

»Wie viele Exsoldaten leben auf der Straße?«, fragte er.

»Zu viele«, sagte ich. Ich versuchte, es mir vorzustellen. »Er kommt nachts hier rein. Er sucht ein warmes Plätzchen, wo er schlafen kann. Etwas, das zu stehlen sich lohnt. Er wird gestört.« Ich bekam es nicht schlüssig hin. »Aber er muss am Wachdienst vorbei.«

»Schlachter, Chirurg, Soldat«, sagte Mallory. »Oder vielleicht war es jemand, der gar nicht wusste, was er tat. Einer von Mr Bucks Bankerkollegen. Jemand vom Reinigungstrupp. Vielleicht hatte er nur Anfängerglück. Oder es war seine Frau. Offenbar mochte sie ihn nicht besonders. Vor drei Tagen musste die Streife Mr und Mrs Buck wegen einer nächtlichen häuslichen Auseinandersetzung besuchen. Es war zu Tätlichkeiten gekommen. Haben Sie das Ehebett gesehen?«

An einer der Glaswände lehnte eine extrabreite Doppelmatratze, noch immer in die Plastikfolie des Kurierdienstes eingeschlagen und mit purpurn-orangefarbenen FedEx-Etiketten beklebt.

»Das ist ihr Bett?«, fragte ich. »Seine Frau hat ihr Bett in sein Büro geschickt?«

»Mrs Buck kam früh von einer Geschäftsreise zurück und hat Mr Buck mit der Haushaltshilfe erwischt.« Mallory runzelte in verlegener Missbilligung die Stirn. »Und er half ihr nicht dabei, den Geschirrspüler auszuräumen. Deshalb stürzte sich Mrs Buck mit einem Austernmesser auf Mr Buck.«

»Einem Austernmesser?«

»Ja, einem Austernmesser. Es hat eine kurze, breite Klinge. Das sind vermögende Leute, sie essen gern Austern. Sie drohte jedenfalls damit, ihm die Hoden abzuschneiden und sie ihm in den After zu schieben. Wegen des lauten Kampflärms riefen die Nachbarn die Polizei. Beamte mussten beide voneinander trennen. Seitdem hat Mr Buck nicht mehr zu Hause geschlafen.«

Wir blickten auf das Ehebett in der FedEx-Hülle.

»Glauben Sie, seine Frau hat es getan, Sir?«

Mallory zuckte mit den Schultern. »Im Moment haben wir niemand anderen. Sie ist aktenkundig mit einer Drohung, ihrem Mann die Hoden abzutrennen.« Er blickte auf die zerschnittene Kehle. »So sehr daneben zielen würde allerdings niemand.«

»Vielleicht hat sie es delegiert«, sagte ich. »Schließlich hat sie Geld genug, um jemanden zu engagieren, der gut ist.«

»Das war auch mein Gedanke«, stimmte Mallory zu. »Dann gäbe es aber Handschuhabdrücke, und wir haben hier bislang keine gefunden. Wenn sie nicht gerade jemanden beauftragt hat, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, müssten sich Handschuhabdrücke in diesem Zimmer finden. Wie Sie wissen, können Handschuhabdrücke so charakteristisch sein wie Fingerabdrücke. Wenn die Handschuhe dünn genug sind, dringen die Fingerabdrücke durch das Material. Fingerabdrücke können auch innen in den Handschuhen zurückbleiben. Nur wenige Täter nehmen ihre Handschuhe mit nach Hause. Sie werfen sie lieber in der Nähe des Tatorts weg. Daher suchen wir nicht nur nach Handschuhabdrücken, sondern auch nach einem Paar Handschuhe.«

»Und was passiert, wenn wir keine Handschuhabdrücke finden?«

»Dann müssen wir jeden einzelnen Abdruck im Raum jemandem zuordnen und Unverdächtige eliminieren.«

Ich betrachtete wieder das Foto auf dem Schreibtisch. Und jetzt konnte ich ihn sehen – den Jungen, der dieser Mann einmal gewesen war. Hugo Buck stand ganz rechts, und ein winziger Tropfen versprühtes Blut hatte sein Abbild befleckt. Zwanzig Jahre waren vergangen, doch auf dem Foto war das glatte, gute Aussehen des zukünftigen Bankers bereits vorhanden, aber unter einer dünnen Schicht Babyspeck vergraben, und überbrückte all die verlorene Zeit. Aus Jungen werden Männer, dachte ich, aus Lebenden werden Tote.

»Haben Sie seine Hände gesehen?«, fragte Mallory.

Hugo Bucks Hände lagen links und rechts von ihm auf dem Boden, aber die eine umfasste noch das Pillenfläschchen, das er im letzten Augenblick seines Lebens gehalten hatte. Noch etwas, das mir zum ersten Mal auffiel.

»Postmortaler Spasmus«, sagte Mallory. Er lächelte; vielleicht freute er sich, mir zeigen zu können, dass ich noch nicht alles gesehen hatte. Dass ich noch gar nichts gesehen hatte. »Spontane Leichenstarre, verursacht durch den Schock des plötzlichen Todes; der Körper verkrampft in der letzten Lebenssekunde. Wie in Pompeji. Erkennen Sie, was das für Tabletten sind?«

Ich kauerte mich neben die Leiche, sah auf das Etikett, versuchte den Kupfergestank seines Blutes auszuschließen.

»Zestoretic«, las ich vor. »Einmal am Tag nach Anweisung einnehmen. Verschreibungspflichtig. Für Mr Hugo Randolph Buck ausgegeben … Was ist Zestoretic?«

»Gegen Hypertonie«, sagte Mallory. »Gegen hohen Blutdruck.«

»Er war ein bisschen jung für Blutdrucktabletten, oder?« Ich stand wieder auf. »Muss wohl Stress sein, in einer Bank zu arbeiten.«

»Zu Hause hatte er noch mehr Stress«, sagte Mallory.

Wir starrten den Toten schweigend an.

»Wieso hat man ihn nicht einfach erschossen?«, fragte Mallory plötzlich.

Ich sah ihn an.

»Den Banker?«

»Den Terroristen«, sagte Mallory. »Ihren Selbstmordattentäter. Die Chief Super bekommt es mit der Panik. Der Observierungsleiter erstarrt. Niemand ist sich sicher, ob es der Mann ist, den sie wollen. Ich verstehe das ja. Niemand möchte Jean Charles de Menezes in seiner Dienstakte stehen haben. Jeder ist nervös, weil jeder tödliche Schuss vor die Unabhängige Untersuchungskommission für polizeiliches Fehlverhalten kommt. Der Staatsanwalt wartet schon. Die Menschenrechtsanwälte hecheln.« Mallory lächelte schüchtern, seine blauen Augen funkelten. »Aber Sie haben ihn positiv identifiziert. Sie haben den Observierungsleiter übergangen. Es war Ihre Entscheidung. Sie hatten den Mann gesehen. Ihn beobachtet. Waren ihm gefolgt. Hatten ihn studiert. Ihre Karriere war es, die auf dem Spiel stand. Ihre Freiheit. Wieso hat man ihn nicht erschossen?«

»Sie hätten ihm nur in den Kopf schießen dürfen, Sir. Die neuen Einsatzregeln. Alles andere ist zu riskant. Man kann ihm nicht in die Brust schießen, weil er eine kugelsichere Weste tragen könnte. In die Beine oder Arme zu schießen geht auch nicht, weil er dann noch immer die Möglichkeit hätte, zur Explosion zu bringen, was immer er mit sich rumträgt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht waren sie sich nicht sicher, einen sauberen Kopfschuss zu schaffen. Vielleicht glaubten sie dem Observierungsleiter und der Chief Super und nicht mir. Ich kann nur sagen: Es gab ein echtes Element des Zweifels. Und einem Mann in den Kopf zu schießen, obwohl es ein Element des Zweifels gab, erschien vielleicht … unbesonnen.«

Mallory nickte. »Und vielleicht bekommen wir Angst davor, unsere Arbeit zu tun«, sagte er. »Was halten Sie von der Idee, es könnte ein Raubmord gewesen sein?«

»Ein Raubmord war das nicht. Die Rolex an Mr Bucks Handgelenk muss fünfzehn Riesen wert sein.«

»Es sei denn, der Raubmörder wurde gestört«, sagte Mallory.

Ich blickte an der Tür des Bankers vorbei in das ausgedehnte Großraumbüro. »Hier braucht man sicher eine große Putzkolonne«, sagte ich.

»Ausnahmslos überprüftes Personal«, sagte Mallory. »In diesem Gebäude kommen Sie ohne laminierte Ausweiskarte mit Foto nicht mal aufs Klo. Wir warten auf einen Dolmetscher, damit wir den Putzmann vernehmen können, der Mr Buck gefunden hat. Er kommt frisch aus Vilnius.«

»Ich dachte, heute spricht jeder Englisch.«

»Er kann heute kein Englisch sprechen. Nur Litauisch. Der Leichenfund hat ihn erschüttert. Der Rest des Reinigungspersonals ist in der Tiefgarage. Wir können die Leute nicht gehen lassen, ehe wir mit ihnen gesprochen haben. Meine beiden DIs sind unten, Detective Inspector Gane und Detective Inspector Whitestone. Wenn Sie ihnen zur Hand gehen könnten …«

»Mach ich, Sir«, sagte ich.

An der Bürotür hatten zwei Streifenbeamte eine Sperre errichtet, einen Eintritts- und Austrittskorridor, wo sie jeden eintrugen, der den Tatort betrat oder verließ.

Zwei Police Constables, ein Mann, eine Frau, beide jung, beide mit dunkelrotem Haar. Sie hätten Bruder und Schwester sein können, nur dass die Frau klein und gertenschlank war und der PC groß und schlaksig. Wie sie aussahen, konnten sie gut die Beamten sein, die als Erste am Tatort waren.

Der Mann – ein Junge, fand ich, obwohl er Mitte zwanzig war und damit nur ein paar Jahre jünger als ich – schien kurz vor der Ohnmacht zu stehen. Als ich auf die beiden zutrat, suchte er gerade an der Wand Halt und kämpfte seine Übelkeit nieder. Die Frau legte ihrem Kollegen eine schmale Hand auf die Schulter.

Sie sah mich an, als ich mich austrug.

»Seine erste Leiche, Sir«, sagte sie fast entschuldigend. Einen Moment lang zögerte sie. »Meine auch.«

Sie kam besser damit zurecht als der Junge. Doch in beiden entsetzten Gesichtern, im Schock erstarrt, leuchteten große Augen, wie bei Kindern, die gerade ihr Haustier tot im Käfig entdeckt oder die Verkleidung des Weihnachtsmanns durchschaut und ihren ersten realistischen Blick auf die böse Welt erhalten hatten.

»Durchatmen«, sagte ich zu dem Constable. Ich sog die Luft tief durch die Nase ein und stieß sie als kontrolliertes Seufzen aus. Ich zeigte dem Burschen, wie man atmete.

»Sir«, sagte er.

Sechs Aufzüge gab es für die Büroangestellten und einen, viel größer und schmutziger, für die Hilfskräfte. Ich nahm die Treppe; vielleicht fand ich dort Handschuhe. Dreißig Stockwerke. Als ich den halben Weg nach unten zurückgelegt hatte, fing ich an zu schwitzen, aber mein Atem ging noch gleichmäßig. Ein Geräusch im Treppenhaus hundert Meter tiefer ließ mich innehalten.

Ich sah hinunter und bemerkte eine schemenhafte Bewegung. Dann fiel eine Tür zu. Ich rief, erhielt aber keine Antwort. Die letzten Treppen nahm ich langsamer und blieb wieder stehen, als ich sah, was an die Wand geschrieben stand.

Ein Wort in Schwarz.

Das Schwarz von getrocknetem Blut.

SCHWEIN

Ohne den Blick von den Buchstaben zu nehmen, zückte ich mein Handy und fotografierte das schwarze Wort auf der schmutzigen Wand. Dann ging ich die übrigen Treppen hinunter, hörte Stimmen, die von unten heraufhallten und mit jeder Sekunde lauter wurden.

Im Kellergeschoss drückte ich die Tür auf und blickte in ein unterirdisches Parkhaus, das voll Reinigungspersonal war. Von der Straße aus waren sie unsichtbar gewesen. Männer und Frauen, jung und alt, redeten in zwanzig verschiedenen Sprachen durcheinander – die unbeachteten Menschen, die jeden Tag in den schimmernden Glasturm kamen und die Fußböden, Fenster und Toiletten putzten.

Und ich sah, dass es verdammt viele waren.

Die Heerscharen der Armen.

3

Als ich am Abend nach Hause kam, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, noch bevor ich zur Tür hineingegangen war.

Wir wohnten in einem großen Loft auf der obersten Etage, und der Gestank stand in jeder Ecke. Ich wusste sofort, woher er kam, denn die Hinweise waren zahlreich und offensichtlich. Ein einzelner Schuh im Flur, von Bissspuren übersät. Dielenbohlen, die sauber geschrubbt worden waren, um Beweise zu beseitigen. Ein Mülleimer voll schmutzigem Küchenpapier. Und überall war dieser Geruch, fleischig, modrig und torfig, der Geruch nach Tier.

Der Hund war wieder ungezogen gewesen.

Am anderen Ende des Lofts saß eine ältere Frau mit weißem Haar am einen Rand des Sofas und hielt einen kleinen roten Hund auf dem Schoß.

Am anderen Rand des Sofas war ein frischer feuchter Fleck, der für immer dort bleiben würde.

Mrs Murphy sah bei abgestelltem Ton fern. Ihre Gewohnheit, wenn Scout, meine Tochter, schlief.

Ohne den tennisballgroßen Kopf zu bewegen, der auf seinen Vorderpfoten ruhte, drehte der rote Hund – Stan hieß er – seine großen runden Augen zu mir. Man konnte das Weiß der hervortretenden Augäpfel rings um die schwarzen Pupillen erkennen, als ob die Augenhöhlen zu klein wären, um solch ein Scheinwerferpaar darin unterzubringen.

Er begegnete meinem Blick und sah schnell weg.

»Mrs Murphy«, sagte ich. »Sie hatten wieder so viel Arbeit.«

»Fangen Sie nicht damit an«, sagte sie und streichelte das Hündchen hinter den Ohren. Ihr weicher Dialekt klang, als hätte sie County Cork nie vor einem Lebensalter verlassen. »Stan ist noch klein. Und die gute Neuigkeit ist, Scout hat ihr Abendbrot gegessen. Jedenfalls ein bisschen davon. Sie hat es nicht so mit dem Essen, oder? Sie ist ja nicht viel.«

Ich nickte und ging nach meiner Tochter sehen.

Scout war fünf Jahre alt und schlief noch immer auf Babyart, die Hände neben dem Kopf zu lockeren Fäusten geballt, fast wie ein winziger Gewichtheber. In ihrem Zimmer brannte das Licht, auch wenn sie schon vor Stunden eingeschlafen sein musste.

Sie schlief bei Licht, seit wir ihre Mutter verloren hatten.

Ich hob einen Schulpullover vom Boden auf, faltete ihn zusammen und legte ihn über die Stuhllehne, wo Mrs Murphy die Schuluniform für den nächsten Tag säuberlich rausgelegt hatte. Ich zögerte und wollte das Licht ausschalten. Sie konnte es nicht für immer anbehalten. Doch am Ende brachte ich es nicht übers Herz.

Mrs Murphy zog sich den Mantel an.

»Es wird besser werden«, sagte sie zu mir.

Ich wachte auf, ehe es hell wurde.

Ich wachte immer auf, ehe es hell wurde.

In der Traumphase, der leichtesten Schlafphase, dem REM-Schlaf, stieg ich an die Oberfläche, erwachte auf meiner Seite des Doppelbetts, der linken Seite, aus der Ruhe aufgeschreckt vom gestrigen Kaffee und meinen Träumen von den Toten.

Ich wartete auf den Tag, ehe der Tag auch nur eine Chance gehabt hatte, zu beginnen. Ich stellte den Wecker ab, ehe er eine Chance bekam, zu klingeln, und glitt aus dem Bett, ohne ein Geräusch zu machen.

Ich putzte mir die Zähne und kehrte ins Schlafzimmer zurück, ging auf Hände und Knie und machte rasch fünfundzwanzig Liegestütze. Dann trank ich das Wasserglas auf meinem Nachttisch aus, blickte aus dem Fenster in den Oktoberhimmel. Es war sechs Uhr morgens, und der Himmel spannte sich noch immer schwarz über die nahe Kuppel der St. Paul’s Cathedral.

Ich ging wieder zu Boden und machte noch einmal fünfundzwanzig Liegestütze, diesmal langsamer und konzentrierter, mit einem Gedanken an Technik. Nach einer Minute Pause machte ich wieder fünfundzwanzig und begann sie zu spüren. Meine Arme zitterten, als sich Milchsäure in den Muskeln ansammelte. Ich blieb am Boden, kam wieder zu Atem und zwang mir die letzten fünfundzwanzig ab, ein Akt des Willens, nicht der Kraft.

Ich tappte in die Küche, leise, damit ich weder Tochter noch Hund weckte, aber ich hörte Stan im Dunkeln atmen, ein schnaubender, schniefender Laut, der aus einer Nase kam, die nichts ähnelte, was für die schwierige Aufgabe des Atmens gemacht erschien. Ich blieb stehen und lauschte, genoss die Geräusche eines schnarchenden Hundes. Er war ganz ausgelaugt, nachdem er sich wieder einen Abend alle Mühe gegeben hatte, unser Zuhause zu vernichten. Dann bemerkte er meine Gegenwart, die langen Ohren fielen wie seidige Vorhänge über sein Gesicht, die seelenvollen Augen öffneten sich blinzelnd und glitzerten hinter den prächtigen Ohren. Und dann war er ebenfalls wach, starrte mich durch die Gitterstäbe seines Käfigs an und hoffte auf vorzeitige Entlassung.

Ich holte ihn heraus. Drückte ihn an meine Brust. Stan presste seine Nase, die aussah wie eine zerquetschte Pflaume, gegen meine Finger und beschnüffelte sie interessiert.

Stan war seit einem Monat bei uns – es kam mir viel länger vor –, mein Geschenk zu Scouts fünftem Geburtstag. Ich hatte den Züchter im Internet gefunden, Stan an dem Tag abgeholt, an dem er acht Wochen alt wurde, und ihn mit einer Decke über dem Kopf ins Loft getragen wie einen Schuldigen, der vors Schwurgericht tritt.

Jedes Mal, wenn ich dachte, dass ich einen Fehler begangen hatte und der Hund nur meinen erbärmlichen Versuch darstellte, Scout ein richtiges Familienleben zu bieten, erinnerte ich mich an das erste Mal, als sie Stan sah. Ihr Lächeln war wie ein Sonnenaufgang gewesen. Deshalb wusste ich, dass der Hund kein Fehler war.

Im Halbdunkel der Küche trank ich einen dreifachen Espresso, Stan auf dem Schoß. Das einzige Licht kam von meinem Laptop, auf dem ich medizinische Websites nach Informationen darüber absuchte, wie man jemandem die Luftröhre durchschneidet.

Stan schlief wieder ein, als ich erfuhr, dass zu beiden Seiten der Luftröhre die Halsschlagadern verlaufen, die Blut vom Herzen zum Gehirn transportieren. Das Durchtrennen der Halsschlagadern gehört zu den am schnellsten tödlich wirkenden Kopfverletzungen, die dem Menschen bekannt sind.

Doch gleichgültig, wie viele chirurgische Websites ich mir ansah, ganz egal, wie oft ich durchschnittene Kehle in die Suchmaschine eingab, ich fand einfach keine Waffe, die auch nur entfernt so aussah, als könnte man damit den Job erledigen.

Am Ende gab die Suchmaschine auf und führte mich zu Websites über Rasuren, wo Schaum, Balsam, Gel und eine Vielzahl altmodischer Rasiermesser angeboten wurden. Die Klingen sahen interessant aus und fies genug, um ein Lächeln auf Sweeney Todds Gesicht zu zaubern. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, wie eine davon so tief eingeschnitten haben sollte, um nicht nur die Kehle zu durchtrennen, sondern beinahe auch Hugo Bucks ganzen Hals.

Gegen sieben wurde der Himmel allmählich hell. Ich klappte den Laptop zu, als Scout noch im Schlafanzug und verquollen vom Schlaf in die Küche watschelte.

Stan befreite sich von meinem Schoß und schoss auf sie zu. Unser Loft war riesig. Viel zu groß für einen Mann, ein Kind und einen Hund. Unsere Familie war kleiner geworden, aber das Loft schien zu wachsen.

Jetzt rasselten wir unter den freiliegenden Stützbalken und Mauerwerk lose umher. Die Pfoten des Hundes rutschten immer wieder auf den polierten Holzbohlen des Fußbodens aus, während er auf Scout zuhastete, an ihr schnüffelte, sie beleckte, mit der Nase bestupste und an ihrem Bein hochkletterte, ganz verrückt vor Liebe.

»Stan war unartig«, sagte sie und streichelte ihn geistesabwesend an dem kleinen Kopf.

»Das weiß ich.«

»Auf dem Sofa.«

»Ich habe es gesehen.«

»Und in der Küche. Und an der Tür.« Sie dachte darüber nach. »Eigentlich überall.«

»Mrs Murphy hat sich darum gekümmert.«

»Ich hab ihr geholfen.«

»Dafür danke ich dir.«

Sie schwieg.

»Müssen wir ihn zurückgeben?«, fragte sie.

Ich kauerte mich nieder, damit ich auf einer Höhe mit ihr war. Ihr hellbraunes Haar, ihre dunkelbraunen Augen, die geschwungene Kurve ihres Gesichts – alles kam direkt von ihrer Mutter. Sogar ihr Name stammte von einer Figur in einem Buch, das meine Frau geliebt hatte. Meine Frau war zwar nicht mehr da, aber jedes Mal, wenn ich Scout anschaute, sah ich ihr Gesicht.

»Das ist unser Hund«, sagte ich und stellte fest, dass ich Mrs Murphy zitierte. »Alles wird besser werden, okay?«

»Okay.«

Wir verfielen in unsere Frühstücksroutine. Toast für Scout. Haferflockenbrei für mich. Hundefutter von Nature’s Menu für Stan. Nachdem Scout ihren Teller zur Spüle gebracht hatte, ging sie ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Das hatte ihre Mutter so bestimmt – Zähne wurden nach dem Essen geputzt, nicht davor, und wir taten wirklich unser Bestes, um ihre Regeln einzuhalten.

Wir lebten gegenüber vom alten Fleischmarkt Smithfield.