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Depressionen, Epilepsie, Schlaganfälle und ADS lassen sich kontrollieren, und zwar nur durch Lernen und ohne risikoreiche Medikamente. So lautet die bahnbrechende Erkenntnis des renommierten Hirnforschers Niels Birbaumer. Denn das Gehirn verfügt über fast grenzenlose Potentiale und gleicht bei der Geburt einer Tabula rasa: Nur wenig ist festgelegt, das meiste wird geformt. Darum haben wir großen Einfluss auf unser Denken und Handeln — und unser Gehirn kann sich selbst aus dem Sumpf seiner Erkrankungen ziehen. "Wissenschaftsbuch des Jahres 2015", Buchkultur, Österreich
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Über das Buch
Wer feige ist, bleibt feige, der Übermütige bleibt übermütig, und ein Alkoholiker bleibt immer ein Trinker. Richtig? Nein, völlig falsch, so der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer. Wir kommen keineswegs mit genetisch bedingten Voraussetzungen zur Welt, die uns unabänderlich bestimmen. Nur einige wenige Anlagen sind in unserem Gehirn festgelegt, alles andere wird durch unsere Umwelt, vor allem unser Verhalten geformt. Im Gehirn gibt es keine Anlagen für gut oder böse, mutig oder feige. Das heißt, wir selbst haben einen großen Einfluss auf unser Denken und Handeln – allerdings nur, wenn wir wissen, wie wir unser Gehirn mit unserem Verhalten beeinflussen können. Professor Birbaumer erklärt anhand konkreter Fälle, wie wir lernen können, Depressionen, Ängste und Zwangsstörungen, aber auch die Folgen von Schlaganfällen und anderen schweren Erkrankungen des Gehirns in den Griff zu bekommen.
Über die Autoren
NIELS BIRBAUMER
geboren 1945, studierte Psychologie und Neurophysiologie in Wien und London. Er leitet das Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen und wurde mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie der Helmholtz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Birbaumer bekleidet zahlreiche Gastprofessuren im Ausland und ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften, Mainz.
JÖRG ZITTLAU
studierte Philosophie, Biologie und Sportmedizin. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für die »Welt«, »bild der wissenschaft« und »Psychologie heute«. Er ist Autor mehrerer Bestseller und lebt mit seiner Familie in Bremen.
Niels Birbaumer
mit Jörg Zittlau
Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst
Neueste Erkenntnisse aus der Gehirnforschung
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-0706-0
© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Julia Kühn
© der Illustrationen und Grafiken: Peter Palm, Berlin, auf Basis von Materialien von Niels Birbaumer
Umschlaggestalter: Rothfos und Gabler, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
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Meiner eingeschlossenen Patientin Waltraut Fähnrich und ihrem Mann Joachim sowie dem Andenken von Hans-Peter Salzmann gewidmet
Vorwort Warum wir uns wandeln
»Panta rhei«. So soll es der griechische Philosoph Heraklit bereits vor knapp drei Jahrtausenden formuliert haben. Sein Credo: Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Die meisten von uns nicken diesen Satz vorbehaltlos ab. Zeigt doch die tägliche Erfahrung, wie sich alles verändert, und das gilt nicht nur für die Welt, sondern auch für den Menschen selbst. Aus Kindern werden Erwachsene, aus redegewandten Professoren demente Pflegefälle und aus liberalen Demokraten ultrakonservative Dogmatiker, die angepasste Ehefrau verwandelt sich in einen wollüstigen Vamp, der liebevolle Ehemann in einen brutalen Vergewaltiger, der Studienabbrecher wird zum Dotcom-Milliardär und das Mauerblümchen zum Showstar, der schließlich als Alkoholiker endet. Was den Lebenslauf eines Menschen angeht, gibt es nichts, was es nicht gibt. Das ist manchmal faszinierend, manchmal auch erschreckend, in jedem Falle aber spannend.
Dennoch neigt der Mensch dazu, sich und seine Artgenossen in bestimmten Situationen »einzufrieren«. Er spricht von geborenen Rednern, Künstlern und Forschern, aber auch von geborenen Verlierern und Verbrechern. Er glaubt nicht daran, dass aus dem abgebrühten Psychopathen jemals wieder ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden kann, und fordert, ihn für immer wegzusperren. Dem Locked-in- oder Wachkoma-Patienten, der nur noch komplett gelähmt und abhängig von lebenserhaltenden Maschinen im Bett liegt, wünscht er ein »humanes« Ende, dass man also die Maschinen abstellt und ihn endlich »von seinem Leiden erlöst«. Selbst aufmerksamkeitsgestörten, chronisch depressiven oder ängstlichen Menschen wird oft nicht mehr zugetraut, ihr Leben wieder »auf die Reihe zu kriegen«. Besser, so das auch von Medizinern und Therapeuten immer wieder zu hörende Argument, man setzt sie lebenslang unter Drogen, bevor sie sich von der Brücke stürzen oder sogar noch andere Menschen in den Strudel ihres dunklen Schicksals hineinziehen.
»Panta rhei« – das ist Philosophie. Es klingt zwar logisch und vernünftig, aber der Homo sapiens neigt doch recht häufig dazu, gerade das Gegenteil anzunehmen, und diese Neigung ist ausgerechnet dann besonders stark, wenn es um Psyche und Verhalten geht. Gerade in ihrem Kontext herrscht die fatalistische Annahme, dass manche Menschen sich einfach nicht ändern können, weshalb es für sie nur eine Lösung gibt: Man muss irgendwie verhindern, dass sie zur Last werden oder sogar sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Indem man sie kontrolliert, penibel isoliert oder sogar wegsperrt. Hauptsache, es ist Ruhe.
Friedrich Nietzsche sagte, dass Menschen mit ihrem begrifflichen Instrumentarium immer wieder daran scheitern müssten, das Werden auszudrücken. Weil man mit Worten, so sein Argument, zwar halbwegs erfassen könnte, was ist, aber eben nicht, was wird. Möglich, dass diese Unzulänglichkeit erklärt, warum immer wieder von unabänderlichen Wesenszügen und Charaktereigenschaften im Menschen gesprochen wird. Betrachtet man freilich die Bereiche, in denen dies überwiegend geschieht, könnte man genauso zu dem Schluss kommen, dass dahinter oft auch Ängste und Bequemlichkeiten stecken. Denn es ist letzten Endes einfacher, einen Psychopathen für immer wegzusperren, als ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren und dabei möglicherweise sogar seinen Rückfall zu riskieren. Und wenn ein Locked-in-Patient »abgeschaltet« wird, erspart dies seinen Angehörigen und Freunden ebenfalls viele Mühen und Frustrationen. Die Frau eines unserer Locked-in-Patienten musste erkennen, dass ihr röchelnd im Bett liegender und an die Decke starrender Gatte nichts mehr mit dem witzigen und energischen Mann von früher gemein hatte. Obwohl er bei uns gelernt hatte, per Brain-Machine-Interface (BMI bzw. Gehirn-Maschine-Schnittstelle, siehe Kapitel 2 bis 5) wieder mit seiner Umwelt zu kommunizieren. war das nicht die Normalität, die sie von ihm erwartet hatte. Sie sagte, dass sie unseren Versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten, niemals zugestimmt hätte, wenn ihr dies vorher klar gewesen wäre. Sie plagte sich mit dem Gedanken, ob man die lebenserhaltenden Maßnahmen jetzt noch einstellen könnte. Nicht weil sie ihren Mann, sondern weil sie sich selbst erlösen wollte.
Man kann darüber spekulieren, warum wir dazu neigen, je nach Bedarf eine Unveränderlichkeit von Gehirn und Verhalten zu unterstellen. Worum es mir aber geht: zu zeigen, wie falsch all diese Vorstellungen sind. Denn Thema dieses Buches ist die Neuroplastizität, die schier unbegrenzte Formbarkeit des Gehirns, also seine Veränderbarkeit und Beeinflussbarkeit, und zwar in jede erdenkliche Richtung. Dieses Buch erklärt, warum weder Locked-in-Patienten noch Depressive, Süchtige oder Angstgestörte, weder hyperaktive Zappelphilipps noch brutale Psychopathen auf ewig in ihrem Zustand eingefroren sind und sich jeglicher Einflussnahme entziehen. Es beschreibt, wie wir uns innerhalb kürzester Zeit in einen mitfühlenden »Charakter« verwandeln können, es zeigt aber auch, dass und wie wir genauso schnell vom liebevollen Familienvater zum unvorstellbar grausamen Massenmörder und von diesem wieder zum biederen Bürger werden können. Auswüchse wie der Nationalsozialismus, aber auch seine anschließenden Bagatellisierungen werden immer wieder gerne als »Ausnahmen« der Weltgeschichte zurechtinterpretiert, dabei sind sie nichts anderes als »ganz normale« Produkte der enormen Plastizität unseres Gehirns. Der Mensch wurde mit fast unbegrenzter Lernbereitschaft beschenkt, aber auch geschlagen, sie ist Segen und Verhängnis zugleich.
Ob der Einblick in die mit dem Lernen verbundenen Hirnvorgänge diese tatsächlich besser kontrollierbar macht, wissen wir nicht. Aber ohne diese Hoffnung wäre das vorliegende Buch nicht geschrieben worden. Und ohne diese Hoffnung wären viele der hier geschilderten Versuche nie durchgeführt worden. Die meisten Untersuchungen, von denen in diesem Buch berichtet wird, stammen aus unserer wissenschaftlichen »Werkstatt«, denn nur diese kennen wir aus eigener Anschauung, aus Miterleben und Mitlernen.
Betrachten wir den Ablauf der Geschichte, hat die Zunahme des Wissens um die Entstehung menschlichen Verhaltens seit Renaissance und Aufklärung nicht viel zur Selbstkontrolle und Humanisierung beigetragen. Trotzdem zeigten diverse Experimente, dass »Lernen am Modell«, also erfolgreiches Nachahmen des Verhaltens anderer Menschen, einen der wirksamsten Lernprozesse steuert und dass das Lernen am Modell im Großhirn fest in dafür spezialisierten Nervenzellen – die in jüngerer Zeit unter dem eher schwammigen Begriff »Spiegelneuronen« bekannt wurden – verankert ist. Dieser Mechanismus hat nur einen Haken: Unser Hirn ahmt »hirnlos« alles nach, was Erfolg und Effekt verspricht. Deshalb müssen wir uns anstrengen, unseren Lebenskontext, unsere sozialen Lebensbedingungen demokratisch zu halten, damit das plastische Gehirn uns nicht wie so oft zu Denunziation, Mord und Totschlag verführt. Denn wenn – wie in undemokratischen, diktatorischen Strukturen üblich – diese Verhaltensweisen belohnt werden, richtet sich das Gehirn primär danach. Doch wie kann man umgekehrt Werte wie Respekt, Empathie und Toleranz etablieren? Lernpsychologische Untersuchungen konnten zeigen, dass dies umso besser gelingt, wenn wir um das Ziel und den Zweck des Verhaltens wissen, das erlernt werden soll. Damit ist kein ideologischer oder moralischer Überbau gemeint, um den sich nicht nur Demokratien, sondern auch Diktaturen bemühen. Sondern das bewusste Erinnern, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten erbrachte. Wenn wir erfahren haben, dass wir mit Mitgefühl und Respekt einen positiven Effekt erzielen – und diese Wahrscheinlichkeit besteht in einer Demokratie eher als in einer Diktatur –, werden sich diese Verhaltensweisen bei uns stabilisieren und wiederholt auftreten.
Die einzelnen Abschnitte dieses Buches, das sich den Hirnvorgängen beim Erlernen, aber auch beim Verlust von Selbstkontrolle widmet, zeigen, auf welche Personen und auf welche Situationen wir dabei besonders achten sollten. Jedes Kapitel behandelt eines der Themen und Probleme menschlichen Verhaltens, die ich im Laufe der letzten Jahrzehnte mit meinen Mitarbeitern bearbeitet habe. Wir beginnen in Kapitel 1 und 2 mit der Selbstregulation des Gehirns am Beispiel der Schizophrenie sowie den Auswirkungen der Neuroplastizität auf Verhalten, Denken und Fühlen und erörtern anschließend, was dann vom sogenannten Charakter übrigbleibt, ob wir ihn überhaupt noch als etwas anderes als eine mehr oder weniger zufällige Konstellation von Gewohnheiten betrachten können. In den folgenden Kapiteln 3 und 4 geht es darum, wie man mit völlig eingeschlossenen, gelähmten Patienten kommunizieren kann, indem man sie lernen lässt, wie sie ihr Gehirn mittels moderner bildgebender Verfahren zum Sprechen bringen – und wie sich bei dieser Interaktion immer wieder herausstellt, dass diese todgeweihten Menschen durchaus noch sehr viel Lebensqualität empfinden können. Es mündet nicht nur in einem Plädoyer gegen die immer lauter und voreiliger werdenden Forderungen nach »Abschalten« und Sterbehilfe, sondern auch in einer Warnung vor den weithin grassierenden Patientenverfügungen.
Kapitel 5 beleuchtet die Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstreparatur, beispielsweise bei Epilepsie oder nach einem Schlaganfall. Der Schauspieler Peer Augustinski etwa war nach einem Schlaganfall halbseitig fast komplett gelähmt – heute steht er wieder auf der Bühne.
Das anschließende Kapitel 6 zeigt, dass auch Ängste weitgehend wegtrainierbar sind, und meistens reicht dazu eine Konfrontationstherapie. Man braucht also weder hochproblematische Medikamente noch teure technische Hilfsmittel – manchmal allerdings kann es sinnvoll sein, dass sich der Therapeut mit seinem Patienten zusammen im Bett festkettet oder mit ihm Hundekot im Park aufsammelt.
Was der Angstpatient zu viel hat, hat der Psychopath zu wenig – nämlich eine Aktivierung in jenen Hirnarealen, die ihn zaudern lassen. Außerdem fehlen ihm Mitleid und Empathie. Was aber nicht verhindert, dass er Karriere macht. Sicherlich finden wir viele Psychopathen in Gefängnissen, aber nicht selten auch in den Führungsetagen von Unternehmen oder politischen Parteien. Tröstlich: Kapitel 7 zeigt, dass ihr Gehirn offen ist für Veränderungen. Sogar der Psychopath kann also Empathie und ein notwendiges Maß an Angst erlernen.
Selbst die Altersdemenz, die von der Pharmaindustrie und den ihr verbundenen Therapeuten aus finanziellem Eigeninteresse gerne pauschal zur sogenannten Alzheimer-Erkrankung pathologisiert wird, kann man beeinflussen, indem die Betroffenen lernen, ihre Hirnvorgänge selbst zu kontrollieren. Die Musik kann dabei, wie in Kapitel 8 gezeigt wird, eine wertvolle Hilfe sein. Wie sie überhaupt eine überragende gestaltende Kraft auf das plastische Gehirn auszuüben vermag. Man kann einem Gehirn im bildgebenden Verfahren nicht unbedingt ansehen, welchen Beruf sein Besitzer hat. Doch ein Musikerhirn erkennt man fast immer.
Kapitel 9 behandelt dann ein anderes wichtiges Thema unserer Zeit: die Aufmerksamkeitsstörungen der Kinder (ADS). Auch ihr Problem kann man durch Hirntraining wie etwa dem Neurofeedback in den Griff bekommen, ohne dabei auf pharmakologische Ruhigsteller wie Ritalin zurückgreifen zu müssen.
Entsprechende Trainingsmethoden können auch in jedem von uns eine Inselbegabung, also eine spezialisierte Hochbegabung wecken, indem sie uns dazu bringen, unbewusst unser Unbewusstes zu kontrollieren. Das klingt zuerst einmal paradox, kann aber funktionieren – und Kapitel 10 zeigt, wie.
Die Neuroplastizität eröffnet also endlose Optionen. Aber wir müssen realistisch bleiben. Nicht alles ist heil- und machbar, dies gilt auch für das Gehirn. Und seine enorme Plastizität hat ihre Schattenseiten: dass prinzipiell nämlich alles, was unser Gehirn befriedigt, stimuliert, erfreut, belohnt, entspannt – kurz: uns eine Lust verschafft –, zu einem Objekt der Sucht werden kann, und so prinzipiell jeder von uns süchtig werden kann. Kapitel 11 beleuchtet die dahinterstehenden Hirnmechanismen; und wie aus gesundem Wollen und gesunder Lust ein gnadenloser Zwang und eine unstillbare Gier entstehen können. Umgekehrt kann das Wissen um die Hirnmechanismen der Gier – wenn man es denn will – natürlich dabei helfen, sich vom Immer-mehr-Wollen zu befreien, auch wenn es am Ende nicht ganz zum Nirwana reichen sollte, das den Schlusspunkt dieses Buchs bilden wird.
Grundlage der Kapitel bilden neurowissenschaftliche Untersuchungen, die meine Mitarbeiter und ich durchgeführt haben. Daneben kommen aber auch andere Wissenschaftler zu Wort – und nicht zuletzt Philosophen wie Ludwig Hohl, Friedrich Nietzsche und vor allem Arthur Schopenhauer. Denn in meiner langjährigen Arbeit als Hirnforscher ist mir aufgefallen, wie vieles von dem, was wir in unseren naturwissenschaftlichen Untersuchungen gefunden haben, schon Jahrhunderte zuvor von Philosophenseite »vorgedacht«, antizipiert wurde. Manchmal besteht eben das Neue einer Erkenntnis auch nur darin, dass sie einer alten Erkenntnis nachträglich eine wissenschaftliche Bestätigung und die ihr gebührende Aufmerksamkeit verschafft.
Beim Verbinden von Hirnforschung und Philosophie wie auch beim verständlichen Ausformulieren und Erklären der Forschungsarbeiten half mir der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau. Wir beide hoffen, dass der Leser nach der Lektüre dieses Buches einen neuen Blick auf das beachtliche Organ unter seiner Schädeldecke gewonnen hat. Mein verstorbener Freund, der italienische, später ebenfalls in Tübingen arbeitende Hirnanatom Valentino Braitenberg, bezeichnete dieses Organ als »Gedankenpumpe«. Das mag zwar mechanistisch klingen, bringt aber wunderbar zum Ausdruck, dass das Gehirn einerseits nur der Transporteur von etwas ist, das jedoch andererseits niemals an die Oberfläche geraten würde, wenn es die Pumpe nicht gäbe. Oder um es in den Worten Schopenhauers zu sagen: Das Gehirn ist nicht alles, aber ohne das Gehirn ist alles nichts.
Man kann die Allegorie von der Pumpe natürlich beliebig weiterspinnen. Wir wollen uns jedoch an dieser Stelle mit einer Hoffnung begnügen: dass es uns nämlich gelingt, die Gedankenpumpe unserer Leser anzuregen – und dabei möglicherweise die eine oder andere Überraschung an die Oberfläche gespült wird.
Niels Birbaumer
1. Was ist Persönlichkeit? Von der Jugend-Gang zur Uni ist es nur ein kleiner Sprung
Die Schere steckte, und der Kerl schaute mich zunächst nur verdutzt an. Unsere Blicke trafen sich, wir waren beide völlig überrascht es gehört eben zum Wesen einer impulsiven Aktion, dass die Beteiligten sie nicht so recht begreifen. Der Ausführende nicht, und das Opfer erst recht nicht. Aber jetzt war es zu spät, dem Typ steckte eine Schere im Fuß. Er schrie wie am Spieß, und ich hatte ein Problem. Denn die Lehrer holten natürlich die Polizei.
Wenn wir älter werden, dann neigen wir dazu, unserer Vergangenheit einen sinnstiftenden Zusammenhang zu geben. Oder um es in den Worten Max Frischs zu sagen: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.« Politiker berichten gerne davon, dass sie Klassensprecher waren und schon zu Schulzeiten durch ihr Vortrags- und Verhandlungstalent auffielen. Schriftsteller geben gerne zum Besten, sie hätten bereits als Zehnjährige ihre ersten Gedichte verfasst. Und Wissenschaftler rühmen sich, als Knirps einen Heuaufguss aufgesetzt und die dabei schlüpfenden Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop beobachtet oder aber schon auf der Schaukel über Fliehkräfte nachgedacht zu haben, so ähnlich wie Isaac Newton, der angeblich das Konzept der Schwerkraft entworfen hat, als er unter einem Baum von einem Apfel getroffen wurde. Mit solchen genialen oder wenigstens ehrwürdigen Jugendbeschäftigungen kann ich leider nicht dienen. Denn ich war Mitglied einer Halbstarken-Gang.
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