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Kaum etwas macht uns mehr Angst als die innere Leere. Doch es gibt auch die produktive, gute Leere. Durch Meditation, Konzentration, Musik oder auch beim Sex können wir diesen Zustand erreichen – unser Gehirn liebt diese Leere, sie macht uns glücklich. Die Bestsellerautoren Niels Birbaumer und Jörg Zittlau zeigen uns, warum das so ist und weshalb Denken eigentlich überschätzt wird.
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Das Buch
Kein Wissen mehr um das eigene Ich. Selbst die Worte sind verschwunden: Man liest nicht, spricht nicht, auch das Denken scheint versiegt. Kaum etwas macht uns mehr Angst als die innere Leere, die zu den Symptomen vieler Erkrankungen gehört, wie etwa der Demenz oder Borderline und Depression. Die vermutete Leere von Koma und Locked-in schreckt uns so sehr, dass wir sogar Patientenverfügungen unterschreiben, damit man uns diese Zustände erspart. Doch dieser negativen Leere kann man auch eine positive entgegensetzen: Unser Gehirn ist weit mehr als nur eine Zentrale des Denkens. Es ist auch ein Organ, das sogar gerne gedankenlos ist. Die aktuelle Hirnforschung liefert weitere Belege für die Lust an der Leere und zeigt, wie wir sie für uns nutzen können, insbesondere in einer Welt, die von uns ständige Aktivität erwartet.
Die Autoren
Niels Birbaumer, geboren 1945, studierte Psychologie und Neurophysiologie in Wien und London. Er leitet das Institut für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen. Birbaumer hat zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne. Sein Buch Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst, das er zusammen mit Jörg Zittlau geschrieben hat, war ein Bestseller.
Jörg Zittlau studierte Philosophie, Biologie und Sportmedizin. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für die Welt, bild der wissenschaft und Psychologie heute. Er ist Autor mehrerer Bestseller und lebt mit seiner Familie in Bremen.
Niels Birbaumer und Jörg Zittlau
Denken wird überschätzt
Warum unser Gehirn die Leere liebt
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1432-7
© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Claudia Schlottmann Grafiken: © Peter Palm, Berlin Covergestaltung: Rothfos & Gabler Coverfoto: © Gettyimages
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
»… die Idee des Nichts fügt dem Wirklichen nichts hinzu, nimmt ihm aber auch nichts weg. In der psychologischen Erfahrung des Nichts erhält unser eigenes Nichts seinen wahren Sinn …« Albert Camus,
Ich war grün. Noch wenige Minuten zuvor hatte ich munter plaudernd und mit halbwegs gesunder Gesichtsfarbe das Flugzeug bestiegen – mit dem Ziel, die Funktionstüchtigkeit unserer schnurlosen Technik zum Messen der Herz- und Schweißdrüsenaktivitäten unter außergewöhnlichen Bedingungen zu demonstrieren. Doch jetzt standen wir kurz vor unserem Fallschirmsprung, und ich sah aus wie ein Vampir, der von der falschen Blutgruppe genascht hat: bleich, mit einem Grünstich, den man später sogar auf Fotos erkennen konnte. Die Zunge klebte mir am Gaumen, und meine Knie zitterten, als ich in Richtung Ausstiegsluke wankte. Zu hören war nichts mehr von mir, kein Wort. Ich hätte auch nichts Sinnvolles mehr zuwege gebracht, denn meine Gedanken rasten, ohne irgendetwas Konstruktives zur Situation beizutragen. Mein Freund, der Hirnforscher und Musiker Valentino Braitenberg, hat das Gehirn eine »Gedankenpumpe« genannt, die fortwährend etwas aus der Tiefe nach oben schöpft, das sonst niemand registrieren würde. Bei mir stand diese Pumpe gerade vor dem hyperaktiven Kollaps, förderte nur noch Gedankenfetzen zutage, so ähnlich wie ein Schiffbrüchiger, der verzweifelt versucht, sein volllaufendes Rettungsboot mit einem Joghurtbecher leer zu schöpfen.
Dann endlich der Sprung. Vermutlich hat mich jemand geschubst, ich weiß es nicht mehr. Wie ich generell nicht mehr viel von dem weiß, was vom Absprung bis zur Landung geschah. Denn plötzlich wich die Panik aus mir. Das Gedankenkarussell kam zur Ruhe, und ich stürzte einfach nur in die Tiefe, mit dem Himmel über und den langsam näher kommenden Wäldern unter mir. Es war ein Moment der Entrückung, mich selbst gab es eigentlich nicht mehr. Die Angst vor dem Sprung war weg, und neue Angst gab es auch nicht, weil ich keine Möglichkeit mehr hatte, irgendetwas zu tun. Unser Schnurlos-Projekt tangierte mich ohnehin nicht mehr, und auch die übrigen Alltagssorgen verflogen dort oben mit dem Wind, der in meinen Ohren donnerte. Ich habe schon von Bergsteigern gehört, denen beim Sturz in die Tiefe noch einmal ihr gesamtes Leben ins Bewusstsein kam. Bei mir war: nichts. Nur Leere. Die Welt war noch da, doch die Grenzen zu ihr verschwammen. Meine Mitflieger sagten mir später, dass ich während des Falls noch einige Sekunden gejohlt hätte, wie sie es noch nie von mir gehört hätten. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß nicht einmal mehr, dass sich der Fallschirm öffnete. Ich erinnere mich nur noch an die Landung, die ich – mit leichten Verletzungen – in den Ästen eines Baumes erlebte, weil ich vergessen hatte, zu steuern. Und an die tiefe Enttäuschung darüber, dass es vorbei war. Ich fühlte mich wie aus einem wunderschönen Traum erwacht, von dem ich aber nicht mehr wusste, was ihn so schön gemacht hatte.
Seitdem bin ich nie wieder mit dem Fallschirm gesprungen. Nicht aus Angst vor dem Fall, denn die wurde mit dem ersten Sprung besänftigt. Aber ich habe eine andere Angst. Dass nämlich der Sturz in die Tiefe nie wieder so sein wird wie damals: so wunderbar leer.
Hirnforscher beschäftigen sich in der Regel eher wenig mit Leere. In ihrer Arbeit geht es um Verhalten, Gedanken und Gefühle, um deren Unzulänglichkeiten, aber auch um deren Potential. Wir wissen mittlerweile, dass es sich beim Gehirn um ein enorm plastisches Organ handelt. Es kann immer dazulernen und sich anpassen, von der Jugend bis ins Alter. Kleinkinder wachsen problemlos mehrsprachig auf, Senioren können selbst im fortgeschrittenen Alter noch Jonglieren oder ein Musikinstrument lernen, aus Kriminellen können nützliche Mitglieder der Gesellschaft und umgekehrt aus erfolgreichen Geschäftsleuten scheiternde Kriminelle werden. Sehr viel – Erwünschtes und Unerwünschtes – ist möglich, und das erstreckt sich auch auf die Bewältigung von Krisen. Man ist immer wieder erstaunt, wie traumatisierte Kinder, geschundene KZ- oder Kriegsopfer es schaffen, irgendwann wieder ein erfülltes Leben zu führen. Andere Menschen wiederum brechen schon wegen eines verlorenen Fußballspiels in Verzweiflung aus.
In all diesen Fällen ist problemlösendes Denken gefordert – unsere Gedankenpumpe arbeitet auf Hochtouren. Und das vermittelt uns nicht nur die Erkenntnis, dass die Welt existiert, sondern auch, dass wir in ebendieser Welt existieren. René Descartes formulierte dazu den berühmten Satz: Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich. Alles mag ungewiss und zweifelhaft sein, doch es bleibt die Tatsache, dass ich es bin, der diese Zweifel denkt; und das klingt ja zunächst einmal tröstlich.
Andererseits klingt es auch beunruhigend. Denn es wirft eine Frage auf: Was bleibt von uns, wenn wir nicht denken und fühlen? Sind wir dann nur noch – ein Nichts? Müssen wir Angst haben, in einem Meer von Leere zu versinken und schließlich zu verlöschen?
In unserem täglichen Leben jedenfalls spielt diese Angst, wie in Kapitel 1 besprochen wird, offenbar eine große Rolle. Wir können es kaum ertragen, wenn der Fernseher oder das Internet ausfällt, wenn wir mal untätig oder alleine sein müssen. In einer Umfrage unter jungen Männern und Frauen gaben zwei Drittel zu, dass sie auf einer einsamen Insel eher auf Sex verzichten könnten als auf ihr Handy. In anderen Umfragen zeigte sich, dass viele Menschen sich vor Langeweile ähnlich stark ängstigen wie vor einem Krebsgeschwür. Nach dem Motto: besser todkrank, als leer. An der University of Wisconsin setzte man gesunde, nicht-masochistisch veranlagte Menschen in einen Raum, in dem sie lediglich ihre Zeit absitzen sollten, trotzdem würde man ihnen am Ende ihre Aufwandsentschädigung auszahlen. Auf dem Tisch stand ein Gerät, mit dem sie sich selbst einen ungefährlichen, aber unangenehmen Stromschlag verpassen konnten. Man sollte erwarten, dass die überwiegende Mehrheit lieber ihre beschäftigungslose Zeit abgesessen hätte. Doch tatsächlich verabreichten sich zwei Drittel der Männer gleich mehrere Elektroschocks, ihr Durchschnittswert lag bei etwas mehr als sieben Schlägen pro Viertelstunde Beschäftigungslosigkeit.
Auch bei vielen Erkrankungen spielt unsere Angst vor Leere eine große Rolle (siehe Kapitel 10), wie etwa bei der Demenz, die am Ende zu völliger Teilnahmslosigkeit führt. Oder Borderline-Störung und Depression, bei denen die Patienten immer wieder von der Inhalts- und Sinnlosigkeit ihres Daseins sprechen. Psychopathen und Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefiziten (ADS) werden durch ihre Angst vor Leere zu ihrem auffälligen Verhalten getrieben. Um ihr zu entfliehen, brauchen sie starke Reize, weswegen sie Tiere und Menschen quälen, an der Börse zocken oder mit zweihundert Stundenkilometern über die Straßen kacheln. In einer Studie der Universität Innsbruck1 zeigte sich, dass Menschen mit aggressiven, sadistischen und psychopathischen Verhaltensmerkmalen auf bittere Nahrungsmittel abfahren. Der Grund: Das Bittere gehört zu den extremen, potentiell sogar lebensbedrohlichen Reizen, die der Psychopath braucht. Viele Gifte schmecken bitter, deshalb sorgt die Reizung der Bitterrezeptoren auf der Zunge im Gehirn für Alarmstimmung. Schwarzer Kaffee und Gin Tonic gehören also auch zu den Kicks, die der Psychopath für sein Leben braucht. Nicht umsonst trinkt James Bond extrem trockenen Wodka Martini.
Wie stark sich unsere Erlebnisgesellschaft vor der Leere fürchtet, zeigt sich auch darin, dass knapp dreißig Prozent der Bundesbürger eine Patientenverfügung unterschrieben haben. Darin wird festgelegt, dass lebenserhaltende Maßnahmen beendet werden sollen, wenn der Patient nur noch regungslos im Bett liegt und keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht. Die Angst vor diesem Zustand der absoluten Untätigkeit ist so groß, dass man lieber tot sein will. Dabei wissen nur die Wenigsten, was sie erwartet, wenn nichts mehr geht. Am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen bemühen wir uns seit vielen Jahren um den Kontakt zu vollständig gelähmten Menschen, den sogenannten Locked-in-Patienten (siehe Kapitel 11). Dabei konnten wir nicht nur diverse Erfolge erzielen – es zeigte sich auch, dass diese Menschen offenbar eine hohe Lebensqualität besitzen. Zum Teil sogar höher als bei Gesunden! Und das, obwohl sie keinen Muskel mehr betätigen können und sich in ihrem Hirn überwiegend niederfrequente Aktivitäten zeigen, die man als »Leere-typisch« bezeichnen kann.
Oder fühlen sie sich gerade deshalb glücklich, weil ihr Leben von Leere »erfüllt« ist?
So postulieren schon einige Philosophen, dass in der Leere ein besonderes Lebensglück liegt (siehe Kapitel 2). Wie etwa Gautama Buddha und Arthur Schopenhauer, die im Willen den Quell allen Leidens sehen, weil er uns immer etwas begehren und tun lässt, ohne jemals zu einer abschließenden Befriedigung zu führen. Also besser, man bringt ihn zum Erlöschen. Beispielsweise durch Mitleid, weil es den Blick vom eigenen Willen ablenkt, oder durch Meditation, weil man mit ihrer Hilfe die Dinge begierdelos anschauen kann. Oder – nach Schopenhauers Ansicht – durch Musik, weil sie den Willen direkt und unmittelbar abbildet, sodass unser individueller Wille in ihr aufgehen und zur Ruhe finden kann. Die Hirnforschung hat tatsächlich naturwissenschaftliche Belege für diese Theorie gefunden (siehe Kapitel 9). So konnten wir in Tübingen nachweisen, dass gerade rhythmisch betonte Musik im Gehirn einfache, d.h. mathematisch leicht vorhersagbare und damit berechenbare neuroelektrische Schwingungsmuster mit geringen Unregelmäßigkeiten erzeugt. Mit Blues und Techno finden wir also leichter zur Leere als mit Klassik oder improvisiertem Jazz.
Die Forschung fand zudem heraus, dass unser Gehirn in den verschiedenen Leere-Zuständen vorzugsweise im »Twilight-Status« arbeitet, bei dem die Neuronen im niederfrequenten Wellenbereich feuern und der Thalamus seine Pforten schließt, sodass weniger Reize in den oberen Hirnregionen ankommen (siehe Kapitel 3). Das Gehirn hat also einen ausgewiesenen Leere-Mechanismus. Das Faszinierende ist, dass es ihn ausgesprochen gerne aktiviert, was wir auch daran ablesen können, dass diese Zustände tagsüber, vor allem aber nachts im Schlaf stets wiederkehren. Wir sind »Leere-affin«. So sehr uns Leere zuweilen Angst machen kann, so sehr zieht sie uns auch an. Was erstaunlich ist, weil sie ja eigentlich nichts, also keine konkrete Belohnung zu bieten hat, die im Gehirn ein Bestreben in eine Richtung auslösen könnte. Wir müssen uns demnach fragen: Was gibt uns die Leere, dass wir den Weg zu ihr suchen?
Bei näherer Betrachtung ergeben sich erstaunlich viele Antworten. So bedeutet Leere, dass unsere Defense-Systeme zur Ruhe kommen (siehe Kapitel 4). Diese sitzen vor allem in den tieferen Regionen des Gehirns, und ihre Aufgabe besteht darin, möglichst frühzeitig Gefahren aufzuspüren. Weswegen die Menschheit ohne sie zweifelsohne nicht überlebt hätte. Andererseits sorgen sie jedoch auch, wie es der Psychologe Martin Seligman treffend ausgedrückt hat, für ein »katastrophisches Gehirn«: Wir wähnen überall Gefahren. Und das bedeutet in einer Welt wie der unsrigen, die sehr komplex ist und entsprechend viele potentielle Gefahren zu bieten hat, dass die Gedankenpumpe permanent mit Gefahrenabwehr beschäftigt ist. Die Defense-Systeme sind mehr oder weniger im Dauereinsatz, was an den Kräften zehrt und – wie Psychosomatiker immer wieder betonen – vielen Krankheiten den Weg bereitet. Die Leere kann hier eine Pause schaffen und für Entlastung sorgen. Durch sie verlieren die Dinge an Bedeutung und damit auch ihre Problematik – und so gibt es keine Veranlassung, die Defense-Systeme sofort wieder zu aktivieren.
Doch damit nicht genug. Leere kann auch neue Reize schaffen. Was zunächst absurd klingt, weil das Nichts wohl kaum etwas erschaffen könnte. Doch wenn die Hirnwellen einen sanft wogenden Ozean niederfrequenter Wellen bilden, können aus ihm leichter hochfrequente Aufmerksamkeitswellen herausragen. Stecken wir Menschen in einen Floating-Tank, in dem neben dem Hören, Sehen, Tasten und Schmecken vor allem der propriozeptive Sinn für den eigenen Körper heruntergefahren wird, fühlen sie sich pudelwohl und tief entspannt, und einige berichten davon, dass ihnen in diesem Zustand der »Sinn-Losigkeit« neue, kreative Ideen kämen (siehe Kapitel 6).
Bei der Meditation konnten wir Ähnliches beobachten: ein Hirnwellenmeer der Leere, aus dem vereinzelt Felsen der absoluten und interesselosen Aufmerksamkeit herausragen. Wobei allerdings die Ausprägung der Hirnwellen stark davon abhängt, wie weit sich der Proband tatsächlich meditativ versenken kann. Unter Anhängern des indischen Gurus Maharishi, der die Transzendentale Meditation begründet hat, fanden wir relativ viele, die eigentlich nur in einen Sitzschlaf gefallen waren. Danach untersuchten wir Anhänger der Zen-Meditation. Einer ihrer prominenten Vertreter aus den USA blieb zwar immerhin wach, doch auch seine Hirnwellen zeigten nichts, was man nicht auch im normalen Alltag finden könnte. Erst die Zen-»Originale« aus Asien erzeugten Hirnaktivitäten, die man weder dem Schlaf noch der alltäglichen Wachheit zuordnen konnte. Die Meditationsexperten koppelten die vorderen von den hinteren Hirnarealen ab und trennten dadurch die Sinneswahrnehmungen von ihrer Bedeutung. Es gelang ihnen also, die Welt bedeutungsleer zu machen und sie damit in ihrem Sosein zu betrachten: unaufgeregt, funktionslos und objektiv (siehe Kapitel 7).
Es gibt viele Wege zur Leere. Neben Meditation, Floating-Tanks, Musik und Tanz gehören dazu auch Sex, Religion und Epilepsie, drei Dinge, die einiges gemeinsam haben (siehe Kapitel 8). Und vermutlich gibt es noch viel mehr. Beim Schreiben dieses Buches hat mir wieder der Philosoph, Wissenschaftsjournalist und – was diesmal besonders hilfreich war – erfahrene Musiker Jörg Zittlau geholfen, und dabei sind uns immer neue potentielle Leere-Techniken eingefallen. Wie etwa die Kunst, der Schopenhauer ein gewisses Erlösungspotential vom Willen zuschrieb. Oder auch das Gejohle in den Fußballstadien oder das Marschieren im Gleichschritt, was kulturell vielleicht nicht ganz so wertvoll ist, aber bei einigen Menschen mindestens genauso »entleerend« wirkt. Es gibt Sportler, die beim Bergsteigen, Rudern oder Marathonlauf in einen »Leere-Flow« geraten, anderen reicht dafür das Bügeln. Manche Drogen fördern ebenfalls die Leere, doch ihre Nebenwirkungen sind zum Teil beträchtlich. Ich habe eine intensive Leere-Erfahrung mit Curare gemacht (siehe Kapitel 6), doch das indianische Pfeilgift führt bekanntlich zur Komplettlähmung und ist damit ohne Beatmung durch einen erfahrenen Anästhesisten nicht anwendbar. Womit wir zu einem entscheidenden Punkt kommen, den es auf dem Weg zur Leere zu berücksichtigen gilt.
Wenn ich dem Anästhesisten nicht vorbehaltlos vertraue, mache ich kein Experiment, das die Atmung lähmt. Und wer nicht vertraut, bleibt vorsichtig und ängstlich – und kann keine Leere erreichen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Curare. Wer halbherzig meditiert oder im Floating-Tank immer wieder zum Ausgang schielt, wird keine Leere schaffen können. Ein mäßiger Musiker kann sich weniger in Musik verlieren als ein versierter Profi, der sich nicht so sehr auf die Beherrschung seines Instruments konzentrieren muss. Komplette Locked-in-Patienten erreichen eine höhere Lebenszufriedenheit als viele Querschnittgelähmte, weil sie vermutlich mit ihrem Schicksal und ihrem Verlust abgeschlossen haben. Ich habe seinerzeit beim Fallschirmsprung nur deswegen Leere empfunden, weil es für mich keine Möglichkeit mehr gab, irgendetwas zu tun. Positive Leere kann eben nur dann eintreten, wenn wir uns einer Situation kompromisslos und vertrauensvoll hingeben und nicht betrauern, was wir durch die Leere verlieren. Wir dürfen keine Alternative zu ihr sehen, keine Angst vor ihr haben, aber auch nichts von ihr erhoffen. Anders funktioniert sie nicht.
Mancher Leser wird sich nun die Frage stellen: Wovon reden die überhaupt? Was ist denn eigentlich diese Leere, die nur ohne Angst, Misstrauen, Trauer und Erwartung eintreten kann? Jörg Zittlau und ich haben lange darüber debattiert, welche Definition von Leere wir geben könnten. Wir entdeckten zahlreiche neue Aspekte – aber keine Definition. Im Gehirn treten langsamere Rhythmen auf, Verteidigungs- und Stresssysteme des Gehirns werden gehemmt, eine eigenartige Offenheit der Sinnessysteme tritt auf, Denken in Worten und Sätzen nimmt ab, »Getriebenheit« verschwindet. Die Schwierigkeit einer Definition liegt auch darin, dass Leere das Fehlen von Etwas ist, von Struktur, Form, Inhalt, Bedeutung und allen anderen Dingen, die wir als Krücken für unser Denken brauchen. Wie soll man so etwas definieren? Oder liegt vielleicht darin schon die Definition? Wir wissen es nicht. Aber wer ein Buch über Leere schreibt, muss das aushalten können. Und wer ein Buch über Leere liest, vermutlich auch.
»Hermann?«
»Ja?«
»Was machst du da?«
»Nichts.«
»Nichts? Wieso nichts?«
»Ich mache – nichts.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Überhaupt nichts?«
»Nein. Ich sitze hier.«
»Du sitzt da?«
»Ja.«
»Aber irgendwas machst du doch?«
»Nein.«
»Denkst du irgendwas?«
»Nichts Besonderes.«
Die Szene mit dem Ehepaar – sie wuselt in der Küche herum und regt sich darüber auf, dass er einfach nur im Wohnzimmersessel sitzt – gehört zu den Klassikern unter den Sketchen von Loriot. Man kann sie natürlich als eine Überspitzung der Kommunikationsprobleme interpretieren, die zwischen den Geschlechtern auftreten. Aber der Dialog karikiert noch ein anderes Problem: nämlich unsere Unfähigkeit, das Nichts zu ertragen.
Denn Hermanns Frau leidet. Nicht darunter, dass sie selbst wieder mal in der Küche beschäftigt ist, sondern darunter, dass ihr Gatte einfach nur da sitzt. Ohne irgendetwas zu tun. Und damit nicht genug! Als sie ihn fragt, ob er wenigstens irgendetwas denke, gibt er zur Antwort: »Nichts Besonderes.« Das ist zwar nicht ganz dasselbe, als wenn er Nein gesagt hätte, aber fast. Denn wenn wir an nichts Besonderes denken, hat nichts mehr Bedeutung für uns, und damit ist das Denken praktisch überflüssig geworden. Was für ein menschliches Gehirn, das Anregungen und Verhalten stets über bedeutungsvolle Zusammenhänge und positive Ziele miteinander verknüpft, schlechthin nicht vorstellbar ist. Hermanns Frau wird daher erst recht zickig. Sie nervt ihren Gatten so lange, bis der schließlich die Fassung verliert und lauthals brüllt: »ICH SCHREIE DICH NICHT AN!«1
Wir wissen nicht, ob Hermanns Frau das Nichtstun und Nichtsdenken bei sich genauso wenig ertragen würde wie bei ihrem Mann. Aber wir müssen davon ausgehen. Denn das Leben des Homo sapiens – der ja kein Homo inanis (leer) ist – wird wesentlich davon geprägt, keine Leere zuzulassen. Weder bei anderen noch bei sich selbst. Und derzeit scheint dieses Merkmal gerade in den Wohlstandsgesellschaften besonders stark ausgeprägt zu sein.
Kaum ein Moment, in dem wir nicht irgendetwas tun oder zumindest irgendetwas konsumieren. Morgens läuft das Radio, und es werden erstmalig die Nachrichten auf dem Mobiltelefon gecheckt, während wir wie nebenbei ein Brötchen oder Müsli zu uns nehmen. Dann geht es zur Arbeit, wobei im Auto meistens wieder das Radio läuft oder in der Bahn erneut das Handy zum Glühen gebracht wird; manche schaffen sogar beides. Bei der Arbeit werden erst mal die Mails abgerufen. Und das geht oft so weiter, den ganzen Tag. Kanadische Forscher ermittelten in einem durchschnittlichen EDV-Unternehmen ihres Landes, dass die Mitarbeiter im Schnitt alle fünf Minuten von einer neuen E-Mail aus ihrer Arbeit gerissen werden, und dann machen sie sich innerhalb von sechs Sekunden daran, die Nachricht zu beantworten. In Deutschland ergab eine Umfrage, dass sich sechzig Prozent der Arbeitnehmer von der Flut der E-Mails auf ihrem Rechner gestört fühlen. Aber geändert, indem man sich beispielsweise selbst auf E-Mail-Diät setzt, wird nichts. Unter solchen Voraussetzungen ist es beinahe verwunderlich, dass überhaupt noch gearbeitet wird.
Mittags kommt spätestens wieder das Handy an die Reihe, wobei Schüler und Studenten in dieser Hinsicht von einem durchschnittlichen Berufstätigen nicht zu toppen sind. Eine Umfrage an amerikanischen Hochschulen ergab, dass die männlichen Studenten etwa acht und ihre Kommilitoninnen zehn Stunden täglich mit ihrem Smartphone beschäftigt sind. Sechzig Prozent der Befragten wollten nicht ausschließen, bereits süchtig danach zu sein. Dass es ihnen jedenfalls ungeheuer wichtig ist, belegt eine Forsa-Umfrage unter sechshundert deutschen Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren. Gefragt wurde, worauf sie eine Woche lang am ehesten verzichten könnten. Das Ergebnis: Siebzig Prozent der jungen Frauen und sechzig Prozent der jungen Männer würden eher ohne Sex als ohne Smartphone auskommen.
Abends holt die ältere Generation dafür am Fernseher nach, was sie in Bezug auf den Medienkonsum tagsüber verpasst hat. Laut Bundesamt für Statistik sitzt der über fünfzigjährige Bundesbürger täglich fast dreihundert Minuten vor dem TV-Gerät. In der Altersgruppe der 39- bis 49-Jährigen sind es auch noch ungefähr 220 Minuten, also fast vier Stunden. Die jüngeren Jahrgänge sehen zwar seltener fern, doch wenn sie es tun, sind sie gleichzeitig per Smartphone oder Laptop im Internet aktiv. Bereits im Jahr 2011 ermittelte eine Yahoo-Studie, dass 88 Prozent aller User unter dreißig Jahren auf diese Art zu medialen Multitaskern werden. Man neigt nicht zur Realitätsferne, wenn man diese Quote für heute auf fast hundert Prozent schätzt – und das nicht nur in den USA.
Bevor wir jedoch der Versuchung erliegen, den Medienkonsum als Hauptverantwortlichen für die Unfähigkeit zum Nichtstun zu geißeln, sollten wir bedenken, dass er eingebettet ist in die Erlebnis- und Ergebnisorientierung unserer Gesellschaft, die ihre Mitglieder – wie andere Gesellschaften auch – in ein bestimmtes Verhaltensschema zwängt. Und zwar in ein Schema, das wesentlich von der Angst geprägt ist, irgendetwas zu verpassen.
Der Terminus »Erlebnisgesellschaft« geriet 1992 in Deutschland in die wissenschaftliche und politische Diskussion, als der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze ein Buch zu dem Thema veröffentlichte.2 Seine – durch empirische Studien solide untermauerte – These: Der moderne Mensch sieht in der Erlebnisorientierung das ideale Leben. Wobei diese Erlebnisse durch einen Markt mit vielen Angeboten gesteuert werden. Und weil dieser Erlebnismarkt seine Umsätze steigern will, kann er sich nicht mit den bereits vorhandenen Angeboten begnügen – er muss immer neue erschaffen. Weswegen, so die Analyse Schulzes, »im Akt des Konsumierens schon das Drängen des nächsten Angebots spürbar ist«. Die Abwechslung werde »zum Prinzip erhoben« und die Taktung des Erlebens immer hektischer. Was man beispielsweise am Zappen während des TV-Konsums sehen kann, das Schulze »als Symptom einer allgemeinen Entwicklung« versteht. Im Gehirn verbirgt sich hinter diesem Phänomen der Erregungskreis zwischen Großhirn und vorderen Basalganglien, der uns zu jenen Ereignissen vorantreibt, die wir in der Vergangenheit als positiv-belohnend erlebt haben.
Das Problem dieser allgemeinen gesellschaftlichen Zapper-Mentalität: Man denkt bei allem, was man tut, bereits daran, was man stattdessen oder zumindest als Nächstes tun könnte. Die Erlebnisse, so Schulze, verlören dadurch an Nachhaltigkeit, brächten kaum mehr als eine »punktuelle Befriedigung«, und dies wiederum führe zu einer »permanenten Steigerung des Appetits«. Nach dem Muster, das auch Philosophen wie Epikur und Schopenhauer als Hauptursache des menschlichen »Jammertals« ermittelt haben: Wer viele Bedürfnisse befriedigen will, kann gar nicht wunschlos glücklich werden, sondern nur wunschvoll unglücklich, weil es ihn – mit stetig steigernder Gier – von einem Bedürfnis zum nächsten treibt.
An diesem Punkt wird nun, so der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger, die Erlebnis- zur »Ergebnisgesellschaft«3 . Denn wenn das Erlebnis so punktuell ist, dass eigentlich nichts mehr richtig erlebt wird, muss man sich die Frage stellen, was den Einzelnen dann noch antreibt. Bausingers Antwort: »Es geht nur noch um das bloße Abhaken.« Und damit nur noch um das Ergebnis.
Am Beispiel des TV-Zappens lässt sich nachvollziehen, was Bausinger damit meint. Wenn wir mehr oder weniger pausenlos von einem Kanal zum anderen wechseln, bekommen wir ja jeweils nur minimale Ausschnitte von dem mit, was gesendet wird. Laut einer Studie von SevenOne Media schaltet der durchschnittliche Zapper über hundertvierzig Mal pro Tag um, er bleibt nicht einmal hundert Sekunden bei einem Kanal hängen. Das ist selbst bei einer Vormittags-Talkshow zu wenig, um nennenswerte Inhalte mitbekommen zu können, und bei einem Spielfilm erst recht. In so kurzer Zeit kann kein dauerhaftes Erleben und Einprägen stattfinden. Das Einzige, was stattfinden kann, sind zwei Ergebnisbefunde. Der erste: »Aha, das läuft also gerade auf dem Kanal XY.« Der zweite: »Wie langweilig.« Und dann wird auch schon weitergezappt, bis zu 140 Mal pro Tag.
Das Erleben wird also auf das stakkatohafte Abhaken von kurzfristigen Ergebnissen reduziert. Was natürlich, insofern es ja nicht nur beim TV-Konsum stattfindet, Konsequenzen für den Alltag hat. Beispielsweise dergestalt, dass man von den Freundeszahlen auf Facebook auf den eigenen Beliebtheitsgrad schließt, beim Sex immer mindestens zehn Stellungen durchspielt oder den Kellner im Restaurant mit Sonderwünschen nervt. Und wenn das milliardenschwere DAX-Unternehmen mit zweistelligen Umsatzzuwächsen prahlt, obwohl die bloß günstigen Währungskursen geschuldet sind, oder sich der lernfaule Schüler per Anwalt zum Abitur klagen lässt, wird sogar das Leistungsprinzip zugunsten des Ergebnisprinzips aufgegeben. Nach dem Motto: Ist doch egal, wie – Hauptsache, die Resultate stimmen.
Am Ende bleibt die Erlebnisgesellschaft und ihre Kulmination in der Ergebnisgesellschaft auch nicht ohne Folgen für die Psyche ihrer Mitglieder. Und zwar nicht nur dergestalt, dass die Menschen ihre Ergebnisquote heranziehen, um sich ihrer Existenz zu vergewissern. Interessant ist auch, was passiert, wenn die Kette der schnellen Erlebnisse und Erfolge abreißt – und Leere eintritt.
Als Stanley Milgram in den 1960er Jahren die Ergebnisse seiner »Behavioral Study of Obedience« (Verhaltensstudie zum Gehorsam) vorstellte, war die Welt geschockt. Der amerikanische Psychologe hatte unauffällige Durchschnittsbürger dazu gebracht, einen Schalter zu betätigen, von dem sie – auch wenn es nur ein Experiment war – annehmen mussten, dass er einer Person im Nachbarraum einen Stromschlag von vierhundertfünfzig Volt verpassen würde. Und zwar nachdem sie schon mehr als ein Dutzend Stromschläge mit steigender Voltdosis verabreicht hatten und der Mensch im Nebenzimmer kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Sie taten es, ohne dass man sie gezwungen oder ihnen Sanktionen angedroht hätte, und ihre Bezahlung für die Teilnahme am Experiment hatten sie bereits in der Tasche. Bis dreihundert Volt brach kein einziger von Milgrams Probanden den Versuch vorzeitig ab; fünfundsechzig Prozent bestraften am Ende die Person mit Stromschlägen der höchsten Stufe, und das nur, weil sie in einer absurden und unlösbaren Lernaufgabe gepatzt hatte.
Praktisch jeder Mensch wäre also bereit, zum Folterknecht zu werden, wenn er sich in einer Situation wiederfindet, die das Foltern erlaubt. So zumindest lautete damals Milgrams Resümee. Mittlerweile werden seine Ergebnisse zwar relativiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil aus Originalmitschnitten seiner Studie hervorgeht, dass sich unter den Testpersonen teilweise doch deutlicher Widerstand regte. Aber dass man Menschen prinzipiell dazu bringen kann, jemand anders zu foltern oder sogar zu töten, bleibt nach den Experimenten von Milgram und der bitteren Realität der Menschheitsgeschichte unbestritten. Und unter welchen Umständen wären sie bereit, sich selbst mit Stromschlägen zu traktieren? Diese Frage stellte sich rund fünfzig Jahre später Timothy Wilson von der University of Virginia – und auch er führte dazu ein bemerkenswertes Experiment durch.4
Der Versuchsaufbau war allerdings simpler als der von Milgram. Wilson und sein Team forderten nämlich ihre etwa vierhundert Probanden nur auf, sich für fünfzehn Minuten in einen leeren Raum zu begeben und sich dort hinzusetzen. Währenddessen sollten sie über irgendein Thema ihrer Wahl nachdenken, aber ansonsten nichts tun. Also auch nicht zwischendurch aufstehen und sich bewegen. Das ungemütliche Mobiliar des Zimmers – es gab nur einen ungepolsterten Stuhl ohne Armlehnen – verhinderte, dass die Testpersonen einschliefen. Vorher wurden sie noch aufgefordert, Smartphones, iPods, Schriftmappen, Bücher und andere Utensilien abzugeben, mit denen sie sich sonst hätten beschäftigen können.
Knapp die Hälfte der Probanden gab in einem Interview nach der Zimmer-Eremitage an, die Zeit als schwer bis gar nicht erträglich empfunden zu haben. Etwa neun von zehn klagten über die geistige Unruhe, die ihnen zu schaffen gemacht habe. Sie hätten zwar – wie aufgetragen – konzentriert über etwas nachdenken wollen, aber es sei ihnen nicht gelungen. Entweder, weil sie sich für kein Thema hätten entscheiden können, oder aber, weil sich ihre Gedanken partout nicht auf das gefundene Thema hätten fokussieren lassen wollen. »Sie bekamen ihr Gedankenkarussell nicht in den Griff«, so Wilson.
Der amerikanische Psychologe überlegte, ob möglicherweise die Laborsituation seinen Probanden erschwert hatte, zur Ruhe zu finden. Also ließ er sie das Experiment in ihren heimischen vier Wänden wiederholen. Aber dort fiel es ihnen noch schwerer, sich zu konzentrieren, die Beschäftigungslosigkeit wurde ihnen noch unerträglicher als im Labor. Der Grund: Die Testpersonen wussten ja jetzt, dass in den Nachbarräumen überall Ablenkung lauerte. Und daran mussten sie nun die ganze Zeit denken, sodass ihnen die Konzentration auf ein Thema erst recht unmöglich wurde. Ein Drittel der Probanden gab später im Interview zu, bei dem Experiment geschummelt zu haben und beispielsweise aufgestanden zu sein oder sogar ein Smartphone oder einen iPod mitgenommen zu haben, um Musik zu hören. Denn eine Kontrolle durch wissenschaftliches Personal gab es nicht, die Testpersonen sollten nur in einem Web-Programm anklicken, wenn sie sich gerade zum Nichtstun hingesetzt hatten. Und man kann getrost von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, denn nicht wenige dürften beim anschließenden Interview ihre Schummeleien verschwiegen haben.
Wilson erkannte: Leere Beschäftigungslosigkeit scheint für viele Menschen kaum erträglich zu sein. Sie leiden, wenn sie nichts zu tun haben. Doch wie weit geht dieses Leiden? Würden die Menschen es gegen einen Reiz austauschen, der zwar ebenfalls Leiden bereitet, aber immerhin noch einen Stimulus darstellt, mit dem man sich beschäftigen kann? Wilson erinnerte sich an die Milgram-Experimente …
Für seine nächste Untersuchung setzte er die Probanden wieder für eine Viertelstunde in einen Raum, doch diesmal bot er ihnen ein kleines Zerstreuungsangebot. Man konnte nämlich auf einen kleinen Knopf drücken und sich dadurch selbst einen Stromschlag verpassen. Keine vierhundertfünfzig Volt, aber immerhin neun Volt, die zwar nicht schmerzen, jedoch unangenehm sind. Um sicherzugehen, dass sich keine selbstquälerisch veranlagten Masochisten gemeldet hatten, setzte Wilson seine Probanden vorher testweise einem Elektroschock aus; anschließend sollten sie angeben, wie viel sie bezahlen würden, um eine Wiederholung dieses Erlebnisses zu vermeiden. Die meisten boten ein bis zwei Dollar, sie durften am anschließenden Experiment teilnehmen. Wer weniger oder gar nichts anbot, wurde nach Hause geschickt.
Wilson erwartete, dass die überwiegende Mehrheit einfach ihre beschäftigungslose Zeit absitzen würde: Denn wer versetzt sich schon freiwillig, ohne Aussicht auf Belohnung oder Entschädigung, einen elektrischen Schlag? Doch es kam anders. Zwei Drittel der Männer – das entspricht der Milgram-Quote – verpassten sich selbst mindestens einen Elektroschock; der Durchschnittswert lag bei etwas mehr als sieben Schlägen pro Viertelstunde Beschäftigungslosigkeit. Und in dieser Berechnung ist ein besonders extremer Fall noch nicht berücksichtigt: Ein Proband hatte sich sage und schreibe hundertneunzig Elektroschocks verpasst – wobei man hier eigentlich nicht mehr von Schocks, sondern von einem Elektroteppich sprechen muss.
Bevor man dieses Ergebnis vorschnell als Beleg für die grassierende Smartphone- oder Internetsucht unserer Tage interpretiert, sei darauf hingewiesen, dass Wilsons Probanden zwischen 18 und 77 Jahre alt waren, sich also auch viele darunter befanden, die sich eher selten bei Whatsapp oder Facebook tummeln. Bemerkenswerter ist da schon die Tatsache, dass bei den Frauen nur jede Vierte zur selbstquälerisch-elektrischen Langeweile-Therapie griff. »Sie sind eben weniger Sensationssucher als die Männer«, erklärt Wilson. Der geschlechtsspezifische Unterschied erklärt sich also daraus, dass Männer generell intensivere Reize brauchen. Sie sind weit in der Mehrheit, wenn es darum geht, auf Autobahnen ein Wettrennen zu veranstalten, am Bungee-Seil von Brücken zu springen, siebzigprozentige Schnäpse in sich hineinzuschütten oder in eine extra scharfe Peperoni zu beißen, und deswegen sind sie auch eher bereit, sich selbst einen Elektroschock zu verpassen. Aber insgesamt finden Frauen die Leere ebenso unangenehm wie Männer; das haben die Ergebnisse von Wilsons Ursprungsexperiment gezeigt, in dem beide Geschlechter gleichermaßen den Aufenthalt in einem leeren Zimmer als unerträglich empfanden. In anderen Studien fand man sogar Hinweise darauf, dass Frauen schneller die Geduld verlieren und aggressiv werden, wenn sie sich langweilen.
Wir können also festhalten: Das Gefühl der Leere ist für die meisten Menschen kaum auszuhalten. Wenn sie die Alternative haben, wählen zumindest viele Männer lieber den qualvollen Reiz als überhaupt keinen Reiz. Und sie leiden umso mehr an der Leere, je mehr sie davon ausgehen, dass es noch eine Alternative für sie gibt. Gerade diese Erkenntnis sollten wir uns schon jetzt einprägen, denn sie wird später – wenn wir von der Leere nicht mehr als Verhängnis, sondern als Erlösungsprogramm für unsere strapazierten Seelen sprechen – noch eine zentrale Rolle spielen.
Zunächst sollten wir jedoch näher betrachten, warum Leere im Alltag so unerträglich für uns ist. Warum schafften es die Probanden in Wilsons Studien nicht, einfach nur ihren Gedanken nachzuhängen? Was ist so schlimm daran, sich für eine Weile aus dem Alltagsgeschehen auszuklinken und das Gehirn im Leerlauf, ohne Beschäftigung mit einem äußeren Reiz arbeiten zu lassen? In allen möglichen Entspannungskursen, Meditationsanleitungen und Ratgeberbüchern wird empfohlen, genau das zu tun beziehungsweise für eine Weile eben nichts zu tun, um zur Ruhe zu finden. Und dann bekommt man mal im Rahmen einer Studie die Gelegenheit dazu – und es klappt nicht. Warum nicht?
Eine wichtige Rolle spielt sicherlich, dass wir in einer »Multioptionsgesellschaft« leben, die uns immer etwas anbietet, womit wir uns beschäftigen können. Und da sind sicherlich in erster Linie die neuen Medien zu nennen. Sie überhäufen uns mit einer bunten Palette leicht erreichbarer Beschäftigungsmöglichkeiten – ich brauche nur mein Smartphone oder ein anderes internetfähiges Gerät einzuschalten! –, sodass wir einen geradezu »kalten Entzug« spüren, wenn wir nichts davon zur Verfügung haben.
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