Dein Schmerz gehört mir - Mildred Speet - E-Book

Dein Schmerz gehört mir E-Book

Speet Mildred

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Beschreibung

Wenn sich etwas Böses in dein Inneres gräbt und du die Grenze zwischen Realität und Fiktion überschreitest – der neue Thriller von Mildred Speet. Paula Feld lebt im Schatten, völlig abgeschottet von der Umwelt, da Albträume und der Schrecken der Vergangenheit sie plagen. Seit Jahren zieht sie sich immer mehr zurück und fristet ein einsames Dasein. Die bloße Anwesenheit von Menschen löst in ihr eine beklemmende Panik aus, bis sie Jonas Lorenz nach einem Unfall kennenlernt. Er ruft etwas in Paula hervor, was lange im Verborgenen lag. Mit größter Mühe versucht sie Vertrauen zu fassen und gerade, als sie bereit ist ihm ihre Seele zu öffnen, wird sie Opfer eines grausamen Gewaltverbrechens, wodurch sich alles ändert.

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Copyright © 2023 by Rebel Stories Verlag, 89567 Sontheim

All rights reserved.

Cover: Premade - Neu Vercovert

ISBN: 978-3-910386-06-8 (Taschenbuch)

www.rebel-stories-verlag.com

Über die Autorin

Mildred Speet ist im Jahr 78 geboren. Als Kind und auch als Teenager liebte sie es, in fremde Welten einzutauchen. Die ersten Tippversuche wagte sie mit acht Jahren auf einer alten Schreibmaschine. Das Leben hielt jedoch andere Aufgaben für sie bereit und die Leidenschaft für das Schreiben holte sie erst spät wieder ein. Mildred Speet hat bereits einen Thriller und einen Krimi veröffentlicht und schreibt außerdem kleine Lovestorys für Zeitungen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Ich atmete aus und vor meinem Gesicht entstand ein Nebelschleier. Eine eisige Kälte umhüllte meinen Körper. Zitternd bemerkte ich, dass meine nackten Füße auf Betonboden ruhten. Ich trug ein rotes Etuikleid, das mit schwarzen Flecken übersät war. Schmierig und ölig. Mein Atem beschleunigte sich, als meine Blicke durch den Raum rasten. Ein Tunnel, der keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Ich war zurück in meinem Albtraum. Die Finsternis ringsum kam näher und drohte mich zu verschlucken. Die einzige Lichtquelle war eine kleine, nackte Glühbirne, die an der Decke hing und in kurzen Abständen aufflackerte und erlosch.

Etwas bewegte sich in mir, ich spürte einen Druck in meiner Brust, der mir die Luft zum Atmen nahm. Langsam senkte ich den Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, wie mein Herz schlug, es drückte gegen meinen Brustkorb und spannte die Haut darüber bis zum Zerreißen. Es hämmerte immer schneller und der Schmerz zwang mich in die Knie. Kalter Schweiß bedeckte meine Haut. In Todesangst fing mein Körper an zu beben. Ich wimmerte, mein Körper erschlaffte und mein Kopf schlug hart auf den Betonboden. Ich bewegte mich nicht, gab dem Druck nach und wartete darauf, dass mein Herz durch den Brustkorb brechen und meine Seele in der Dunkelheit des Tunnels verschwinden würde. Doch plötzlich beruhigte sich mein Herzschlag, der Druck in meiner Brust ließ nach. Es war noch nicht so weit, noch nicht.

Langsam und mit zittrigen Knien richtete ich mich auf. Ich musste diesen Tunnel verlassen, einen Ausgang finden. Ich bemühte mich, einen Fuß zu heben, aber er war so schwer wie ein Bleiklumpen. Mit aller Kraft versuchte ich, mich zu bewegen, doch es gelang mir nicht. Es fühlte sich an wie ein Sog, der meinen Körper an diesem Ort festhalten wollte. Ich schrie.

„Lass mich los! Bitte lass mich gehen!“

Wieder hämmerte mein Herz, aber diesmal suchte es sich einen anderen Weg. Statt durch meine Brust brechen zu wollen, kroch es meinen Hals hinauf, drückte auf den Kehlkopf. Ich hörte ein Knacken, rang nach Luft, prustete, riss den Mund auf und steckte die Hand in den Hals. Ich spürte etwas Warmes und Fleischiges, zog es heraus. Tränen liefen meine Wangen hinunter. Ich hielt mein Herz in der Hand, es fühlte sich an, als ob ich einen aufgeweichten und verschimmelten Pilz in der Hand halten würde. Angewidert ließ ich es fallen.

Voller Entsetzen starrte ich nach unten und sah, wie sich das Blut auf dem Boden verteilte, das Herz immer noch schlug, aber ich war noch am Leben, ich atmete noch.

Ich musste diesem Albtraum entkommen. Meine Füße rutschten. Erneut sah ich hinunter zu meinen Beinen. Der Betonboden verschmolz mit meinem Körper und es war mir abermals unmöglich, mich zu bewegen. Ein Grollen drang aus der Finsternis in mein Ohr. Ich zuckte zusammen, versuchte, etwas zu erkennen, und wieder flackerte die Glühbirne auf. Das Grollen kam näher, mit aller Kraft versuchte ich, mich zu befreien, doch der Beton schlängelte sich an meinen Beinen hinauf, brach mir die Schienbeine und hatte beinahe die Körpermitte erreicht. Die Kälte im Tunnel wurde unerträglich, während die Gestalt näher und näher kam, bis ich sie im Schein der Glühbirne erkennen konnte. Ein Monster, mit dem verzerrten Gesicht meiner Mutter. Sie trug ein Krankenhausnachthemd, kauerte auf allen vieren. Ihre Wirbelsäule ragte deformiert und unnatürlich hoch unter ihrer Haut hervor.

Sie wird mich umbringen, sie wird mir das Fleisch von den Knochen nagen und mich tot liegenlassen. Ihr Gesicht verformte sich zu einer hasserfüllten Fratze, sie öffnete ihren Mund wie ein wildes Tier. Zum Vorschein kamen gelbe Reißzähne, die rasiermesserscharf aussahen. Mich zu wehren war zwecklos und so lächelte ich dem Monster entgegen, während es mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf mich zukam, die ein normaler Mensch nie erreicht hätte. Ein brennender Schmerz durchzuckte meinen Körper. Das Monster fraß meine Hand, labte sich an meinem Fleisch und Blut. Meine Finger brachen, mein Handgelenk knickte ab, wie ein morscher Ast. Weiter und weiter nagte es an meinem Unterarm, doch bevor es meinen Hals erreichte, dröhnte ein ohrenbetäubendes Piepen in meinem Kopf.

Ich riss die Augen auf, mein Nachthemd klebte am schweißnassen Körper. Schwer atmend drückte ich den Knopf am Wecker. Die Nacht war vorbei und wieder hatte mich derselbe Albtraum gequält. Ich warf die Bettdecke zur Seite und kroch mühsam aus dem Bett. Schwach und ausgelaugt konnte mich kaum auf den Beinen halten. Diese Albträume raubten mir alle Energie und ich fragte mich, wie lange ich das noch ertragen konnte.

Im Badezimmer schaltete ich das Licht ein, das mich wie ein greller Blitz blendete. Widerwillig schaute ich in den Spiegel. Meine Haut war blass, feine blaue Adern schimmerten darunter. Dünnes blondes Haar haftete an meiner knochigen Wange. Ich drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis das Metall beschlug, legte meine Hände unter den Strahl und benetzte mein Gesicht. Es war so kalt, dass mir der Atem stockte, aber ich war wach.

Gerade als ich das Badezimmer verlassen wollte, hörte ich ein Poltern, das von gegenüber kam. Meine Nachbarin war also bereits wach und erlitt offensichtlich wieder einen Schub. In den letzten Wochen hatte ich immer wieder gehört, wie die Frau ihr gesamtes Mobiliar zerschlug, dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Porzellan oder ihre Stühle handelte. Sie zertrümmerte alles, was ihr in die Hände kam.

Auf Zehenspitzen schlich ich zur Wohnungstür und legte ein Ohr an das dünne Holz, das jedes Geräusch hindurchdringen ließ. Ich konnte ihr Klagen hören, ihre Verzweiflung spüren, und dann zerbrach ein Teller auf dem Boden und ein weiterer. Wieder und wieder.

Es war mir unerklärlich, was die Frau dazu trieb. Jedes Mal, wenn ich ihre Ausbrüche miterleben musste, beschlich mich eine bedrückende Angst. Ich befürchtete, dass sie für sich und andere zu einer Gefahr werden könnte. Wie weit würde sie in ihrem Wahn gehen? Wie sehr ließ sich die Frau von ihren zerstörerischen Gefühlen leiten? Welche Dämonen vergifteten ihren Verstand?

Lautlos entfernte ich mich von der Tür und ging in die Küche. Ein Blick auf die Uhr. 5.30 Uhr und ich setzte hastig eine Tasse Kaffee auf. Nur noch wenige Minuten und ich musste mich auf den Weg zur Arbeit machen. Rasch schlüpfte ich in meine Jeans und Pullover. Das nächste Gefängnis, das mich erwartete. Ich zog mir die rosafarbene Strickjacke an, stieg in Sandalen und öffnete leise die Wohnungstür. Unter keinen Umständen wollte ich auf meine Nachbarin treffen. Als ich das Licht einschaltete und mich umdrehte, sah ich das ganze Ausmaß ihrer Wut. Vor ihrer Tür lagen Stühle, eine Personenwaage, jede Menge zerbrochenes Geschirr und sogar ein zertrümmertes Bügeleisen. Ich fragte mich, woher sie die Kraft nahm, dass sie es geschafft hatte, das Metall zum Bersten zu bringen. Ich starrte auf den Berg Schrott und konnte den Blick nicht davon abwenden. Was ging in dieser Frau vor?

Noch in Gedanken versunken, bemerkte ich erst verspätet, dass meine Nachbarin im Türstock auftauchte und mich beobachtete. Als ich sie endlich entdeckte, schoss ein Stromschlag durch meinen Körper und ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Ich fühlte mich ertappt. Ihr Anblick erschütterte mich. Sie trug kurzes braunes Haar, war erschreckend dünn und ihr Kopf wirkte wie ein blanker Totenschädel. Tiefe Augenhöhlen, ausdrucksloser Blick und graue Haut. Ihre Mundwinkel zeigten unnatürlich stark nach unten. Sie wirkte auf mich, als ob der Tod bereits nach ihr gegriffen hatte.

„Entschuldigen Sie, Frau …“

Ihren Namen kannte ich nicht, was mir nun sehr unangenehm war. Sie trat aus der Dunkelheit ihrer Wohnung und kam auf mich zu. Langsam und recht steif. Mit großer Anstrengung versuchte ich, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen. Ich presste den Kiefer zusammen, damit er nicht ängstlich zitterte, und ignorierte den modrigen Gestank, der mir entgegenschlug.

„Ich bin Nina Schneider.“

Sie zeigte mit ihren langen Fingern auf ihr Klingelschild. Meiner Meinung nach war sie noch jung, aber ich konnte an ihren geröteten Händen sehen, dass sie unter Arthritis litt. Ich stand einfach nur da und wusste nicht, was ich sagen sollte, und sie starrte mich ebenfalls nur an, als wäre ich der Grund allen Übels.

„Bitte entschuldigen Sie, Frau Schneider, aber ich muss zur Arbeit. Ich darf nicht zu spät kommen.“

Sie beachtete mich nicht weiter und warf ihre Wohnungstür zu.

Mit eiligen Schritten betrat ich die alte Holztreppe, die unter meinen Schritten krächzte. Im Erdgeschoss war es noch ruhig, nur das Zwitschern von Alfred, dem Kanarienvogel von Herrn Berger, war zu hören.

Günther Berger war ein alleinstehender Rentner, der völlig isoliert in seinen vier Wänden dahinvegetierte. Ich wusste, dass er Familie hatte, aber niemand besuchte ihn. An den Weihnachtsfeiertagen konnte ich sein Wehklagen hören. Nur das Zwitschern von Alfred konnte ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Ich wünschte mir jeden Tag, dass dieser kleine Vogel ewig leben würde.

An der Wohnung von Gabi stellten sich meine Ohren auf, ich spürte, wie sie zuckten, doch diesmal war es ruhig. Hinter dieser Tür lauerte das personifizierte Grauen, noch schlimmer als Frau Schneider. Ein Berg aus Fleisch, Fett und Knochen, der sein Gewicht kaum noch tragen konnten. Sie war ein Unmensch, eine Tierquälerin, widerlich außen wie innen. Der Gedanke an dieses Monstrum erfüllte mein Herz mit abgrundtiefem Hass.

Als ich hinaus ins Freie trat, spürte ich den kühlen Morgenwind bis in die Knochen und wickelte mich fester in die Jacke ein. Alles war ruhig, das Dorf lag noch im Tiefschlaf. Keine Autos waren zu sehen. Ich genoss die Einsamkeit, die mich umgab, niemand kreuzte meinen Weg und für einen Moment wünschte ich mir, der einzige Mensch auf diesem Planeten zu sein.

Nachdem ich die Hauptstraße überquert hatte, ging ich durch eine kleine Siedlung. Die Grünflächen waren perfekt getrimmt, die Blumen verströmten einen angenehmen Duft. Ich hatte das Ende erreicht und lief eine unbefestigte Straße entlang. Rechts und links von mir lagen grüne Wiesen, auf ihnen war noch der Morgenreif zu sehen. Der tief liegende Nebel schirmte die ersten Sonnenstrahlen ab. Der weite Fußweg zur Arbeit machte mir nichts aus, ich liebte es, die frische Morgenluft tief zu inhalieren. Dabei konnte ich förmlich spüren, wie meine Lunge den Sauerstoff aufsaugte. Etwa dreißig Minuten brauchte ich, ehe ich das Firmengelände erreichte. Ein sanfter Hügel führte mich zu den Parkplätzen. Ich lief an der Fensterfront des Gebäudes vorbei und konnte im Inneren die Schwaden aus Rauch erkennen, die meine Arbeitskollegen umhüllten. Sie dachten nicht einmal daran, ein Fenster zu öffnen.

Die Hand ausgestreckt drückte ich den Griff herunter und quetschte mich durch die Tür, die noch immer klemmte. Unbemerkt schlich ich in die Umkleide. Es roch nach saurem Schweiß und wie immer war auch hier das Fenster fest verschlossen, sodass sich der Gestank in jede Ritze festsetzen konnte. Angewidert streifte ich mir meine Arbeitskleidung über, die aus einer Latzhose und einem grünen Pullover bestand. Ich schlüpfte in die Sicherheitsschuhe, marschierte zur Stempeluhr und wartete auf den Klick, ehe ich meine Karte zurück in die Halterung steckte.

Je näher ich meinem Arbeitsplatz kam, umso deutlicher spürte ich ein abscheuliches Kribbeln im Magen. Mein Körper steuerte die Füße, mein Geist hingegen war machtlos.

Dreh um und lauf davon, befahl ich meinen Beinen, aber sie weigerten sich. Ich konnte die Gläschen hören, die auf dem Laufband aneinander knallten, der Geruch nach Spinat schüttelte meinen Körper durch. Ich erreichte meine Station, die Etikettiermaschine. Hier bekamen die Gläschen ihr Kleid. An der Maschine stand Heiko, der stets versuchte, zu lächeln, obwohl es gequält wirkte, wenn er mich sah. Er trug schwarzes kurzes Haar, das er für meinen Geschmack zu selten wusch. In dem künstlich grellen Licht der Neonröhren, die in 10 Meter Höhe an der Decke befestigt waren, glänzten sie wie eine Speckschwarte. Sein Gesicht war lang und so schmal, sodass es mich an ein Pferd erinnerte.

Als er mich sah, fuchtelte er wild mit den Armen.

„Guten Morgen Paula, wie geht es dir?“

„Gut. Danke. Wie war die Nachtschicht?“

Ich fragte das aus reiner Höflichkeit, aber heute interessierte es mich kein bisschen.

„Mann, es war total scheiße. Ständig sind die Gläschen im Karton kaputtgegangen. Sieh dir nur meine Finger an.“

Er streckte mir seine wulstigen Hände entgegen, die mit feinen roten Linien übersät waren. Ich kannte den Geruch, der von ihnen ausging nur zu gut. Aufgeweichter Karton, getränkt mit Babynahrung. Im Laufe der Jahre entwickelte man dafür ein Gespür. Es war eine mühsame Arbeit, kaputte Gläser auszusortieren, und Schnittverletzungen waren dabei kaum zu vermeiden.

„Ich wünsche dir eine gute Nacht“, sagte ich mit matter Stimme.

Heiko trottete aus der Halle. Ich hatte nicht weiter fragen wollen, weil ich wusste, dass er mir sonst wieder sein Herz ausgeschüttet hätte. Es lag nicht daran, dass es mich nicht kümmerte, ganz im Gegenteil. Sein Leben war genauso einsam wie meines und ich konnte nicht ertragen, dass er jedes Mal in Tränen ausbrach, wenn er mir von seinem trostlosen Dasein erzählte. Er hatte keine Freunde und zu seiner Familie hatte er keinen Kontakt. Die Eltern schämten sich für ihn und wollten ihn nicht in ihrer Nähe haben. Der Sohn, der keine Ausbildung abgeschlossen und keine Frau an seiner Seite hatte. Immer wieder hatte er sich bei mir darüber beklagt.

Ich drehte mich zur Maschine und beobachtete die Gläschen, die an mir vorbeirasten. Das tat ich acht lange Stunden lang, die nur langsam vergingen. Jedes Mal wenn ich auf die Uhr hinter mir blickte, kam es mir so vor, als ob die Zeiger still standen, sie wollten sich einfach nicht bewegen.

Wieder erwachte dieses Kribbeln, wieder dieser Wunsch, davonzulaufen, aber ich konnte dem nicht nachgeben und so zogen sich meine Eingeweide schmerzhaft zusammen.

Um Punkt sieben Uhr betrat der Betriebsleiter die Halle. Er war ein kleiner rundlicher Mann, mit einem grauen Haarkranz. Er trug eine Brille, die ihm ständig die Nase herunterrutschte. Prüfend schweiften seine Augen über die Fließbänder. Er kontrollierte die Menge, die die Nachtschicht gefüllt hatte und, als wäre diese Einstellung bereits in Stein gemeißelt, reichte ihm das Pensum auch diesmal nicht aus. Ständig beklagte er sich, dabei hatte er keine Ahnung, unter welchen Umständen die Menschen hier arbeiteten.

Ich beachtete ihn nicht und drehte mich nach einem kurzen Blick wieder der Maschine zu. Ein Päckchen nach dem anderen legte ich in die Schienen ein und die stupide Arbeit raubte mir die Lebenskraft. Vor mich hinstarrend bewegte ich mich kaum und das Brennen unter meiner Haut wurde unerträglich. Trotzdem blieb ich stehen. Mir blieb nichts anderes übrig und so zwang ich meinen Geist, sich dem Leid hinzugeben.

In der Mittagspause setzte ich mich an ein Fenster, um für einen Moment etwas anderes zu sehen als das Innere der Halle. Ein bisschen grün und ein Stückchen des blauen Himmels. Alle anderen stopften sich hastig ihre Brote in den Mund, aber mir fehlte in der Frühschicht grundsätzlich der Appetit. Ein schwarzer Kaffee reichte mir vollkommen aus.

Die Pause zog rasch an mir vorbei und ich trottete zurück an meine Maschine. Wieder blickte ich auf die Uhr. Noch zwei endlose Stunden und meine Schicht wäre vorbei, doch dieses absurde Spiel zwischen Himmel und Hölle würde gleich morgen von vorne beginnen.

Um Punkt zwei Uhr kam die nächste Schicht in die Halle. Ich konnte es kaum erwarten, endlich aus dem Gefängnis zu fliehen, wenn auch nur für sechzehn Stunden. In der Umkleide setzte ich mich auf die Bank und zog die unbequemen Schuhe aus. Mein großer Zeh war rot, der restliche Fuß war geschwollen. Behutsam knetete ich ihn und schlüpfte dann in meine Sandalen.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Wieder inhalierte ich die frische Luft, ließ die Sonne meine kühle blasse Haut erwärmen. Das Dorf war inzwischen aus dem Schlaf erwacht und die Autos brummten an mir vorbei. Ich schlenderte die Straße entlang und dachte daran, mir etwas zu essen zu besorgen. Immer noch verspürte ich keinen richtigen Appetit, aber ich musste etwas zu mir nehmen, wenn ich nicht umkippen wollte.

Im Supermarkt steuerte ich das Regal mit den Fertigprodukten an. Alles sah auf den Bildern so ansprechend aus, doch sobald die Mikrowelle ein Piepsen von sich gab und man die Folie entfernte, musste man unweigerlich an Hunde- oder Katzenfutter denken, nur schöner verpackt.

An der Kasse legte ich mein Essen auf das Band. Die Kassiererin starrte mich mit erhobener Nase an. Sie musterte mich von oben bis unten und ließ mich so wissen, dass sie mich nicht ausstehen konnte, obwohl wir uns gar nicht kannten. Zusätzlich verzog sie den Mund zu einem dünnen Strich und verdrehte die Augen. Ich konnte kaum glauben, wie unverschämt sie war. Sie hätte mich auch laut beleidigen können, das wäre wahrscheinlich effektiver gewesen, aber mir fehlte der Mut, sie darauf anzusprechen, und so nahm ich ihre unhöflichen Gesten stumm hin, knallte ihr das Geld vor die Nase und stapfte aus dem Supermarkt.

Als ich mein Haus erreichte, lief Gabi mit ihrem Cocker Spaniel vor mir her. In der einen Hand hatte sie die Leine fest im Griff, an der sie immer wieder wie eine Wahnsinnige zerrte, in der anderen hielt sie eine Zigarette. Beim Anblick des Hundes überkam mich blankes Entsetzen. Das linke Auge war trüb und blutunterlaufen und das rechte Ohr hing in Fetzen an seinem kleinen Kopf. Mein Puls raste, mein Herz drohte mir aus der Brust zu springen. Ich spürte, wie mir vor Wut eine unangenehme Röte in die Wangen stieg. Ich musste dieses Monster unbedingt aufhalten. Ich beschleunigte meinen Gang, nahm meinen Mut zusammen und stellte mich ihr. Meine Stimme zitterte, mein Körper bebte.

„Gabi!“, rief ich fordernd.

Ihr massiger Körper blieb abrupt stehen. Wieder zog sie an der Leine und der Cocker Spaniel brachte ein leidiges Röcheln heraus, das mich wie ein Donnerschlag traf. Sie drehte sich um, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte, das einer Kraterlandschaft glich. Eitrige Pickel reckten sich mir entgegen. Irgendetwas steckte in ihrem Mund, der Speichel lief an ihrem speckigen Kinn herunter. Sie trug ein viel zu enges Oberteil und der Rock ließ keine Fragen offen. Ihre Stimme war rau, tief und klang gefühllos.

„Was zum Teufel willst du?“

„Hör auf, deinen Hund zu quälen, oder …“

Sie rollte auf mich zu wie eine Dampfwalze. Dabei kam sie mir so nah, ich konnte ihren fauligen Atem riechen. Ich wollte gar nicht wissen, wann sie sich das letzte Mal die Zähne geputzt hatte.

„Oder was? Willst du mir wieder mit dem Tierschutz drohen?“, zischte sie.

Ich wich ein paar Schritte zurück. Dieser gigantische Fleischberg jagte mir eine Heidenangst ein. Es war ein Kampf wie David gegen Goliath. Sie kam noch näher, ballte ihre Faust und traf mich hart gegen mein Schlüsselbein. Ich kam ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht, fiel auf den harten Asphalt, genau auf mein Steißbein. Ein Stromschlag zuckte durch meinen Körper und meine Augen füllten sich durch das Brennen mit Tränen. Ein hämisches Lachen drang aus ihrer Kehle. Der Hund tapste besorgt an mich heran, aber Gabi zerrte so heftig an der Leine, dass sich das arme Geschöpf überschlug, dann rauschte sie davon.

Unter Schmerzen rappelte ich mich auf und musste mir eingestehen, dass ich nicht mutig genug für eine solche Auseinandersetzung war. Ich hätte ihr den Hund entreißen müssen, ich hätte mich wehren müssen, diesem Scheusal eine Lektion erteilen. Ich stampfte mit dem Fuß auf, aber das nütze rein gar nichts. Also atmete ich tief ein und betrat das Haus.

Aus Gabis Wohnung dröhnte Musik, so laut, dass mir das Grölen der Heavy-Metal-Band in den Ohren schmerzte. Ich ging die alte Holztreppe hinauf, vorbei an der Wohnung von Frau Schneider. Inzwischen hatte sie ihren zerstörten Hausrat beseitigt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ein neuer Haufen ansammeln würde. In meiner Wohnung drehte ich den Schlüssel herum und um sicherzugehen, legte ich die Kette vor die Tür. Ich zog die Schuhe aus, hängte meine Strickjacke an den Haken und legte das Fertigessen in die Mikrowelle. Es dauerte ein paar Minuten, daher schaltete ich den Fernseher ein, ließ mich auf das Sofa fallen und starrte auf das Bild, ohne dem Programm zu folgen. Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf meine Augenlider und das Piepsen der Mikrowelle war weit entfernt und verstummte.

Das Licht der Glühbirne flackerte über mir.

Nein, nicht schon wieder, nicht der Tunnel.

Es gab kein Entrinnen. Meine Augen blickten wieder zum Betonboden, aber diesmal konnte ich mich bewegen und ich rannte los. In völliger Dunkelheit versuchte ich zu fliehen, lief, so schnell ich konnte. Hinter mir erklang das Grollen des Monsters, das mich erneut zu fressen versuchte. Mein Atem ging heftig und stoßweise, ich probierte, schneller zu laufen, doch ich kam nur erneut unter der flackernden Glühbirne an. Es gab keinen Ausweg aus dem Tunnel, ich drehte mich im Kreis. Egal wie schnell ich war, ich war dem Monster hilflos ausgeliefert. Das Entsetzen überwältigte mich. Ich legte mich auf den kalten Boden und rollte mich zusammen. Das schrille Klingeln drang glücklicherweise in mein Ohr, bevor mich das Monster erreichte.

Ich öffnete die Augen, richtete mich ruckartig auf. Der Tunnel war verschwunden, ich saß in meinem Wohnzimmer und hörte erneut ein Klingeln. Es kam von meiner Wohnungstür. Wer könnte das sein? Ich erwartete nie Besuch.

Lautlos schlich ich zur Tür, lauschte. Dann ein grobes Klopfen und ich wich erschrocken zurück.

„Wer ist da?“, fragte ich unsicher.

„Ich bin es, Heiko. Lässt du mich rein?“

Was zum Teufel hatte er hier verloren?

---ENDE DER LESEPROBE---