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Die Geschichte wiederholt sich nicht. Oder doch? Die Weichen stehen auf unaufhaltsames Wachstum. Nichts kann die positive Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft aufhalten. Doch es kommt anders. Ebenso überraschender wie schlagartiger Verfall von Werten stürzt Deutschland in ein Chaos ungeahnten Ausmaßes. Die etablierte Politik bleibt die Antworten schuldig, ganz im Gegensatz zu den immer lauter werdenden radikalen Kräften. Eine Allianz aus Etablierten und Radikalen formiert sich, scheinbar um die einschneidende Krise gemeinsam zu bewältigen. Das Ziel ist ebenso klar wie unausgesprochen. Die Macht. Die Etablierten streben nach deren Erhalt, die Radikalen nach ihrer Gewinnung. Es kommt, wie es kommen muss. Verbraucht, ohne einen Funken Entschlossenheit und Vision, lassen sich die etablierten Kräfte ausschalten. Die Republik in Deutschland ist am Ende. Dem Terror sind Tür und Tor geöffnet. Wieder einmal. Alessandro Longari, ein in Berlin akkreditierter italienischer Journalist, versucht Licht ins Dunkel der Machtergreifung und ihrer Folgen zu bringen, doch die allgegenwärtige Gewalt bringt ihn nicht nur in immer wieder beinahe ausweglose Situationen, sondern auch in Lebensgefahr. Sein Gegenspieler Köster, ein verbissener Kommissar der Berliner Polizei, ist unerbittlich. Die Geschichte wiederholt sich nicht? Doch, sie wiederholt sich.
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Seitenzahl: 398
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Christian Brückner
Déjà Vu
Kriminalroman
Ich widme dieses Buch meiner wahrhaft besseren Hälfte und unserem Sohn, der eine einzige Werbung für das Kinderhaben ist.
Ohne mein "Basislager" geht Nichts …
Brandstetter hatte intensiv geplant. Großen Zeitaufwand benötigte er dafür nicht. Er wusste wie so oft schon lange, was zu tun war. Er hatte seine Legionen ausgeschickt und sie leisteten ganze Arbeit. Dabei gaben sie sich keine Mühe, diskret zu sein. Im Gegenteil. Es sollte ein weithin sichtbares Fanal für alle diejenigen sein, die insgeheim hofften, zu einem passenden Zeitpunkt losschlagen zu können. Es würde erstens keinen passenden Zeitpunkt geben, da das Regime keine offensichtliche Schwäche zeigen würde. Und wenn doch, würde zweitens die charakterliche Elite ein für alle Mal ausgeschaltet sein. Keine wahrnehmbaren Persönlichkeiten einer Opposition bedeutete keine Opposition. Die Massen sollten sich mit einer einzigen Führerfigur bis zur Selbstaufgabe identifizieren. Und dieser für alle Zeiten entscheidende Schlag wurde jetzt mit solchem Getöse geführt, dass jeder Gegner konsequent beseitigt sein und für den Rest die Einschüchterung grenzenlos und vollkommen sein würde.
Natürlich gehörte nicht nur körperliche Gewalt zu dieser Aktion. Auch trat wieder einmal ein Phänomen zutage, das zunächst weithin unterschätzt wurde: der psychische Druck, beginnend mit ausgeklügelter Propaganda für die Massen, über alle bekannten Formen von Erpressung und Kompromittierung bis hin zu konsequenter Gehirnwäsche bei politisch Andersdenkenden. So begann die groß angelegte Säuberung mit der offiziellen und zugleich allgemein akzeptierten Begründung, dass es während der Machtergreifung und deren Stabilisierung zu unerwünschten Exzessen gekommen sei, deren Ursache mit der Wurzel beseitigt werden müsse. Diese Exzesse hätten sich zu sehr handfesten Plänen eines Staatsstreichs ausgewachsen. Der Führer der Regierung sähe sich mit aller Strenge zum Handeln gezwungen und wäre jetzt Deutschlands oberster Gerichtsherr.
Weite Teile der Bevölkerung verbanden damit die Hoffnung, die Willkür und Gewalt auf den Straßen würde unterbunden sowie Rechtssicherheit wieder hergestellt. Diese Hoffnungen wurden wenigstens teilweise erfüllt, war Rechtssicherheit für alle ab sofort oberstes Gut und einfach zu überschauen, denn es genügte der Blick auf eine einzige Person, deren Daumen sich hob oder senkte: die Vollendung des Führerprinzips. Das war auch das eigentliche Ziel der neuen Machthaber. Die Gewalt auf allen Ebenen blieb, erst recht die deutlich sichtbare auf der Straße.
So nahmen die Dinge ihren Lauf. Nicht nur offensichtliche politische Gegner wurden einfach ermordet, sondern ganze Personenkreise, die im Verdacht standen, irgendwann einmal in das oppositionelle Lager wechseln zu können, einfach "ausgerottet", so der immer wieder zu hörende Terminus technicus. Auch gab es einige Verwechslungen. Diese waren natürlich bedauerlich. Es gab in diesem Zusammenhang aber nur wenige Hundert Tote, eine Zahl, die sich in der Summe fast verschwindend ausnahm. Es fanden gewiss auch zahlreiche Verhaftungen statt, deren Opfer meist in Lagern enden würden und damit auf Raten starben, nachdem sie für die Volkswirtschaft noch eine Weile Frondienste leisten durften. So machten sie sich wenigstens nützlich.
Auf den ersten Blick gab es keinen wirklichen Schwerpunkt. Die Raserei sparte keine gesellschaftliche Strömung aus. National-Gesinnte, Bürgerlich-Konservative, Kirchenvertreter, Liberale, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und natürlich alle noch weiter links stehenden Gruppierungen waren ohne Ausnahme vertreten. Doch bei genauem Hinsehen war das nur Tarnung, so hart diese Tatsache für die Opfer und insbesondere deren Hinterbliebene klang. Zum zentralen Ziel, der Vollendung des Führerprinzips gehörte vor allem, unterschiedliche Strömungen und deren Galionsfiguren innerhalb der eigenen Bewegung auszumerzen. Das hieß für Mitstreiter und Steigbügelhalter der neuen Machthaber in Deckung gehen und erst wieder das Fähnlein in den Wind hängen, wenn der ärgste Sturm vorüber war. Dann wehte es vielleicht auch gleich in die richtige Richtung und wurde einem nicht von dem Sturm aus der Hand gerissen. Denn niemand wusste, wen es treffen konnte und sollte.
Heinrich Burger traf es in seiner Villa. Er vergnügte sich gerade mit einem der jungen Dinger, die entweder für Geld oder auch für noch mehr Geld alles machten und sich selbst dann noch mit einem Mann einließen, wenn er sich in jeder Beziehung gehen ließ, fraß, soff, wie ein Schlot rauchte, dementsprechend verfettet aussah und natürlich noch weniger Manieren besaß. Doch das interessierte jetzt keinen mehr. Die Herren in den schwarzen Ledermänteln packen das kleine, blonde Flittchen und schafften sie - spärlich bekleidet, wie sie war - wortlos und entsprechend roh nach draußen. Zeugen sollte es nicht geben. Das würde sie bald merken. Nach ihr würde sowieso kein Hahn mehr krähen.
Sie schleppten Burger in das zur Villa gehörende Schwimmbad. Seine anfängliche Verstörung wich langsam. Die protzige Ausstattung seines Hauses tat ein Übriges. Sein Selbstbewusstsein kehrte Stück für Stück wieder. Er verstieg sich sogar ansatzweise zu der Arroganz, die seinen Freundeskreis auf das Engste hatte schrumpfen lassen. Überflüssig war die Klärung der Frage, ob es daran lag, dass er es gewohnt war, arrogant zu sein, stets überzeugt war, sich dies leisten zu können und einfach nicht anders konnte oder ob ihm bewusst war, dass er einfach nichts mehr zu verlieren hatte und er das tat, was er schon immer tat, sich nämlich nach allen Regeln der Kunst gehen zu lassen. Letzteres – sprich, dass er nichts mehr zu verlieren hatte – stimmte mit der Realität überein. Alle anderen möglichen Beweggründe interessierten jetzt nicht und würden in wenigen Minuten samt seiner Person unrühmliche Geschichte sein.
Burger war klar, woher der Wind wehte. Als Vorsitzender einer der großen Parteien war er ein entschiedener Gönner Brandstetters gewesen. Frühzeitig hatte er seine Skrupellosigkeit und absolute Gefühlskälte bemerkt, schon zu Zeiten, als ein kaum der Schulbank entwachsener Brandstetter bei Regionalkonferenzen immer wieder versuchte, das Wort für forsch vorgetragene Beiträge an sich zu reißen. Holprig formuliert, zu Beginn ohne klare Struktur, aber forsch. So etwas beeindruckte. Inhalte waren wie so oft nicht relevant. Die Außenwirkung war das Entscheidende. Burger hatte ihn im Auge behalten, zunächst auf regionaler Ebene verstohlen gefördert, um ihn dann nach und nach an sich zu binden. Der Vorsitz einer großen Partei konnte anstrengend sein. Die ganzen unterschiedlichen Strömungen, die alle zusammen angeblich für eine ach so große Wertegemeinschaft standen, Strömungen, aus denen doch immer wieder der eine oder andere hartnäckige Widerstand kam. Und Hartnäckigkeit war Burgers Sache nicht. Das war einfach nur lästig. Und alles, was ihm lästig war, mussten Andere erledigen. Und dazu brauchte er Charaktere wie Brandstetter. Er hatte die Widersacher auszuspionieren, nach allem nur denkbaren Dreck zu suchen und - wenn es keinen gab – welchen zu machen. Dieser wurde dann in der üblichen Art und Weise genutzt und es gab keinen lautstarken Kritiker, der nicht eher über kurz als über lang nachhaltig verstummt wäre. Ohne Ausnahme. Genau dafür hatte er Brandstetter an seine Seite geholt. Und es hatte sich zunächst bezahlt gemacht. Brandstetter leistete ganze Arbeit.
Was Burger – wie alle Anderen – unterschätzte, war die Tatsache, dass sich Brandstetter verselbstständigte und sehr rasch lernte, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Falls er sich überhaupt jemals hatte wirklich einspannen lassen. Möglicherweise war es sogar ganz anders und die Honoratioren hatten es nur nicht bemerkt. Ihre Reaktionsschnelligkeit hatten sie sowieso schon vor Jahren und Jahrzehnten eingebüßt. Burger war dennoch irgendwann klar geworden, dass er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. Die Frage, wer dabei welche Rolle tatsächlich spielte, war mittlerweile absolut unklar. Er versuchte, Brandstetter auf Distanz zu halten. Doch der kam immer näher. Er versuchte ihn zu diskreditieren, zu korrumpieren, seinen eigenen Hals auf irgendeine Weise zu retten. Die Schlinge zog sich enger und enger. Burger hätte es schaffen können. Doch er war nicht konsequent. Er war zu viel zu lethargisch. Und irgendwann nicht mehr tragbar. Brandstetter hatte sich in den Zeiten der sich verschärfenden Staatskrise die Fusion mit der Schwesterpartei zur endgültigen Ausschaltung Burgers zunutze gemacht. Seiner nicht ganz legalen Parallelkarriere bei eben dieser Schwester sei Dank. Jetzt war er der Herr im ganzen Haus. Burger war bei Lichte betrachtet schon lange ein Schandfleck. Brandstetter hatte dem Desaster ein Ende bereitet und war der geborene Saubermann. Die übrigen hochrangigen Funktionsträger hatten längst die Zeichen der Zeit erkannt und Burger stand alleine da, wo er selbst glaubte, absolut nicht hinzugehören.
Er war zutiefst gekränkt. Und er brütete schon eine Weile ergebnislos darüber, wie er sich rächen konnte, selbst wenn er sich dabei selbst mit in den Abgrund riss. Das wäre ihm die Sache wert. Er hatte viel zu viel gegen Brandstetter in der Hand. Aber schon alleine deswegen war seine Entscheidungsfähigkeit gelähmt. Burger wusste nicht, womit er anfangen sollte. Noch schwerer als er selbst, wog die Tatsache, dass seine über Jahre gepflegte Dekadenz ihn nicht losließ. Warum sich mit einer – wenn auch sehr massiven – Niederlage beschäftigen, wenn das Glück doch weiterhin käuflich schien? So schob er den Zeitpunkt einer Entscheidung immer wieder hinaus. Es bliebe ja noch genug Zeit, Brandstetter zur Strecke zu bringen, sagte er sich immer wieder. Diese Wahrnehmung trog und bewies, dass er nichts gelernt hatte. Er hätte wissen müssen, dass auch Brandstetter die potenziellen Auswirkungen ihrer langen Zusammenarbeit kannte und Mitwisser skrupellos ausschaltete. Schließlich hatte er, Burger, ihn dazu eingestellt, wenn auch jede körperliche Gewalt für ihn selbst immer tabu war.
Nicht so für Brandstetter. Jetzt brauchte er keine Rücksichten mehr zu nehmen. Die Anwendung exzessiver körperlicher Gewalt brachte ihm mittlerweile Applaus und sogar die eine oder andere Auszeichnung ein. Burger zeterte, er machte sich wichtig, schrie, er habe längst Kontakt zur internationalen Presse und sogar fremdländischen Geheimdiensten geknüpft. Brandstetter könne unmöglich davonkommen. Nur wenn er am Leben bliebe, könne er, Burger, einen handfesten Skandal, eine Staatskrise, einen Krieg oder Bürgerkrieg verhindern. Doch das Urteil war längst gefällt. So wie früher in seiner Ära als Parteivorsitzender, als er Karrieren beendete, wie es ihm gefiel. Und nun würde seine Karriere unwiderruflich beendet, Rückkehr ausgeschlossen. Hier war Brandstetter sehr viel konsequenter als Burger.
Sie hatten sehr schnell einen Galgen am Rand des Schwimmbeckens aufgebaut. Burger höhnte, ob sie denn nicht wüssten, wie man richtig henkt. Ein Galgen am Rande eines Schwimmbeckens? Hatte man so etwas schon gesehen? Sie packten ihn wortlos, vertäuten den Strick sehr sorgfältig mit den aufgequollenen, feisten Knöcheln Burgers, der sich in ein immer hysterischer werdendes Lachen hineinsteigerte, ob er jetzt mitspielen und so tun solle, als ob er jetzt ersticke oder ihm das Genick bräche. Sie hätten da wohl in Anatomie etwas falsch verstanden. Oder seien dies die Proben für die nächste Prunksitzung? Wenn ja, würde das Publikum ganz sicher seinen Spaß haben.
Ebenso wortlos wurde Burger mit den Füßen nach oben aufgehängt. Die langen Kerls hatten trotz des erheblichen Gewichts Burgers keinerlei Schwierigkeiten. Sie waren eine eingespielte Mannschaft. Dann banden sie den Strick so fest, dass Burger mit dem gesamten Kopf und auch nur mit dem Kopf ins Wasser tauchte. Zum Atmen würde er zeigen müssen, was die Muskulatur hinter seinem gewaltigen Bauch noch hergab. Es war ein erbärmliches Trauerspiel aus Sicht der Folterknechte. Schon beim dritten Versuch, den lebensnotwendigen Sauerstoff wenigstens noch zu erhaschen, brach er zusammen. Dazwischen lautes und schrilles Gequieke, als würde eine Sau im Schlachthof ihrer letzten Bestimmung zugeführt. Ein gewünschter und aus Sicht der neuen Machthaber und deren williger Vollstrecker überaus passender Nebeneffekt mit einem Schönheitsfehler: Es ging nicht qualvoll genug, weil zu schnell. Wildes Zappeln folgte, der Todeskampf hatte begonnen. Auch der dauerte nicht lange. Der Galgen war grundsolide und hielt das aus. Sie nahmen ihn ab, beseitigten routiniert ihre Spuren, warfen Burger in die nahe gelegene Havel und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Den Rest würde die Kripo erledigen.
Alessandro Longari erschauerte. Es war ein früher Abend im Januar. Ein kalter Wind ließ die sowieso schon niedrigen Temperaturen noch kälter erscheinen. Obwohl er schon länger hier lebte und sich an das manchmal unwirtliche Klima in dieser Jahreszeit gewöhnt haben sollte, sehnte er sich gerade in diesem Moment besonders nach seiner Heimat tief im Herzen Italiens.
War es nur das scheußliche Wetter? Auch in seiner Heimat konnte es richtig kalt werden. Auch in Umbrien konnte der Wind richtig ungemütlich sein. Auf gut Italienisch mostruoso, eben scheußlich. Er brauchte gar nicht erst in sich hineinzuhören, um zu wissen, dass es trotz der typisch italienischen Leichtigkeit seiner Garderobe zuallerletzt dieser kalte Januar mit der besonders steifen Brise aus Osten war, der ihm die Gänsehaut über den Rücken jagte.
Natürlich vermisste er seine Familie, allen voran seine Eltern, die noch immer seinen Bruder Francesco bei der Bewirtschaftung des Hotels in seinem Geburtsort unterstützten, obwohl beider Gesundheit dies kaum noch hergab. Besonders die gutmütigen Augen seiner Mutter Filomena, die über achtzigjährig das war, was sie schon immer gewesen war, seit er denken konnte: l´anima della famiglia, das Herz, die Seele der Familie. Sein Vater Marcello liebte und bewunderte sie, intensiver und dankbarer als jemals zuvor. Seine Position als Capofamiglia berührte dies nicht im Geringsten. Was war das Familienoberhaupt schon ohne die Seele der Familie? Seelenlos, certo. Also gingen sie jeden Sonntag Händchen haltend die steile Hauptstraße zum Dom in den Frühgottesdienst. Das tat ihnen trotz des unübersehbaren körperlichen Verfalls einfach gut. Eine feste Größe in ihrem arbeitsreichen Leben seit mehr als sechzig Jahren und eine Facette ihrer kaum zu erschütternden Ausgeglichenheit. Wie der ausgiebige Plausch auf der Piazza del Popolo nach der Messe.
Und dann sein Bruder Francesco, gut 8 Jahre jünger als er, Alessandro, mit seiner Frau Beatrice, Daniele und Maria, den beiden Kindern. Erst zum Jahreswechsel hatte er sie besucht und das genossen, was ihm selbst bisher nicht vergönnt war, die stete Geborgenheit in der Familie mit der sprühenden Lebensfreude der beiden Kinder, wenn auch Letztere sich manchmal in derbe Streiche verstieg, deren Ziel meist er war. Alessandro musste lächeln. Die Gedanken an Daniele und Maria ließen ihn für einen Moment vergessen, wo er war.
Die Kälte hatte er verdrängt. Doch eine scharfe Böe riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Da war sie wieder, diese zähe und nicht nachlassende Kälte, als wollte sie ihn mit ihren Klauen nie wieder loslassen. Alle Verdrängung half nichts. Auch ein wärmerer Mantel hätte nicht geholfen. Diese Kälte hatte eine Schärfe, die über ein reines Witterungsphänomen hinausging. Diese Kälte wurde durch die Einsamkeit gesteigert, fernab seiner Familie, die er so liebte. Wetter klamm, ja, Einsamkeit, auch, natürlich. Doch das waren nicht die Faktoren, die diese Kälte zutreffend beschrieben.
Seit er für seine große alte Zeitung Il Messaggero schrieb, hatte er manches erlebt, besonders seit er als Auslandskorrespondent tätig war. Nicht nur die ständigen Irrungen und Wirrungen in seinem eigenen Land, das teilweise sehr eigenwillige Verständnis einer Balance zwischen Macht und Vertrauen in der italienischen Politik. Das hatte es schon immer gegeben, Normalität gewissermaßen, ebenso wie ausgeprägte und immer wieder komisch, ja geradezu grotesk anmutende Selbstinszenierungen der obersten Staatsführung. La Serenita, die charakteristische italienische Gelassenheit relativierten Vieles.
Überhaupt, diese italienische Gelassenheit. Eine feste Größe, scheinbar. Doch die schien selbst er als routinierter Berichterstatter im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich zu lassen, sobald ihn ein Auftrag über die Grenzen seiner Heimat ins Ausland führte. Er glaubte selbst schon lange nicht mehr an die immer noch verbreitete Sichtweise, das Gros der Italiener ließe sich sowieso nicht ernsthaft aus der Ruhe bringen. Meist sah er in Äußerungen dieser Art die heimliche Bewunderung, Aufregung, Hektik, Fremdbestimmung weitgehend ungerührt zur Kenntnis zu nehmen, unbeeindruckt zu bleiben von Dingen, die trotz ihrer momentan einschneidenden Wirkung sich doch immer wieder im Zeitgeist verloren. Und nicht zuletzt erblickte er darin auch den Wunsch, sich eine entspanntere Haltung leisten zu können. Einen Wunsch, den er als Italiener für sich mittlerweile als beinahe unerfüllbar einstufte. Obwohl er La Serenita mit der Muttermilch aufgesogen hatte.
An ihm selbst war Alessandro das schon lange aufgefallen, dass Vieles, über das er zu berichten hatte, nicht dazu geeignet war, sachlich und rein an Fakten orientiert betrachtet zu werden, obwohl seine Leser gerade dies von ihm erwarten durften. Es gelang ihm auch immer noch, seine Emotionen weitgehend aus seinen Artikeln herauszuhalten. Er war Profi, certo. Doch der Versuch, ein objektives Bild zu vermitteln, fiel ihm immer schwerer. Aufmerksamen Beobachtern blieb diese innere Zerrissenheit nicht verborgen, denn es hatte sich allmählich ein süffisanter Unterton in seine Lageberichte eingeschlichen, der sensiblen Charakteren einen klaren Weg wies.
Und nun, nach hautnahen, manchmal gefährlichen Einsätzen in den üblichen und immer wiederkehrenden Brennpunkten dieser Welt, stand er am Adlon in Berlin. Er war nach längerer Zeit wieder hier im Einsatz. Die Entwicklung verlangte nach einem ruhigen, souveränen Reporter, also nach ihm, wie sein Chef ihm kurz und knapp mitteilte, während er Longari die Reiseunterlagen übergab. Es gab keinen besseren Kenner der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der Berlins im Speziellen. Das war jetzt auch schon wieder über 18 Monate her.
Vor Jahren hatte er schon einmal mehr als zwei Jahre in Berlin verbracht und sein ursprüngliches Bild angeblicher teutonischer Strenge und der scheinbar verbreiteten Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit in Deutschland revidieren müssen. Er hatte es aber auch nur zu gerne revidiert. Er hasste Humorlosigkeit, er hasste übertriebenen Ernst, der sich zur Verbissenheit auswuchs und ganz besonders hasste er Vorurteile. Er war natürlich selbst nie ganz frei davon, aber hatte eine tiefe innere Abneigung gegen alles Vorgefasste, scheinbar Unverrückbare. Longari war immer ein Stück weit verärgert, wenn er sich selbst dabei ertappte, kein möglichst umfassendes eigenes Bild einer Situation, sondern mehr oder weniger reflektiert die allgemeine Meinung verinnerlicht zu haben. Vorurteile??? Die hatten schon zu viel Unheil angerichtet. Also weg damit, zumindest in einem Bereich, den er, Alessandro, selbst beeinflussen konnte. Dieser Bereich war fast nur auf seinen eigenen Kopf beschränkt und selbst das schaffte er manchmal nicht wirklich.
Und bei seinem ersten Besuch in Berlin? Er war mit Gedanken voller Klischees angereist. Ärgerlich genug. Entsprechend sauer war er auch aus dem Zug gestiegen. Doch es hatte kaum eine Woche gedauert und Longari begann, sich wohlzufühlen. Das war ein gutes Zeichen, brauchte er für gewöhnlich recht lange, um ein Mindestmaß an innerer Ruhe zu finden, wenn er schon wieder reisen musste. Und er musste ja ständig reisen. Doch seine für Umbrien typische Bodenständigkeit hatte – wie so vieles – ihre zwei Seiten. Und eine war, dass Flexibilität nicht eben seine Stärke war. Das lag natürlich auch an seinen mittlerweile 47 Jahren, dass das Einstellen auf neue Situationen noch zäher vonstattenging als früher.
Also kam er nicht nur mit besagten Gedanken voller Klischees, sondern auch mit einer gehörigen Portion Skepsis in Berlin an, einer Skepsis, die zunächst gar nichts mit dem konkreten Einsatzziel zu tun hatte. Vielmehr hatte er immer wieder Angst davor, zu scheitern, sich nicht feinfühlig genug zu zeigen, seinen Lesern in der Heimat ein möglichst neutrales Bild zu vermitteln. Gerade weil Longari um den harten und kaum zu gewinnenden Kampf gegen Subjektivität wusste, wollte er mit seiner Arbeit kein Wasser auf die Mühlen derjenigen bringen, die diese Subjektivität pflegten und für ihre Ziele nutzten. Er nannte es sein Lampenfieber, das er eben vor jedem neuen Auftrag empfand.
Doch schlich sich damals in seine sowieso vorhandene latente Unsicherheit eine Komponente ein, die er nur in Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Deutschland im Allgemeinen und Berlin im Speziellen bringen konnte. Denn vorher waren ihm diese Empfindungen fremd. Dazu war er einfach zu lange im Geschäft. Jetzt ging die Geschichte über das übliche Lampenfieber hinaus und er führte es auf die Wurzel allen Übels zurück, nämlich auf Vorurteile. Seine Vorurteile. Er hatte einfach ein ungutes, regelrecht flaues Gefühl, ein Land und seine Hauptstadt besuchen zu müssen, das im Ruf stand, das genaue Gegenteil der italienischen Serenita zur Perfektion entwickelt zu haben. Perfektion schien sowieso das Stichwort. Nichts sollte schief laufen dürfen, nichts sollte Zufall sein, Ergebnisse zählten und diese hatten bitteschön Bewunderung und Ehrfurcht zu erzeugen. So eine Sicht, die Alessandro von zu Hause mitbrachte.
Umso so angenehmer war dann der Kontrast seiner Klischees zur Realität. Beinahe nichts davon traf zu. Die Lebensfreude, ja die pure Lust am Leben, die ihn sofort erfasste, als er den Bahnhof verließ, war eine der großen Überraschungen, die sein Berufsleben für ihn parat hielt. Die warme Sommersonne von damals half sicherlich, und als er zurückdachte, fiel im als Paradebeispiel die Fußball spielenden Kinder vor dem Reichstag ein. Dazu unzählige Familien, die sich hier zu Picknick und fröhlichem Plausch trafen. Es war eine geradezu ausgelassene Stimmung. Das hätte eine italienische Idee sein können, vor dem Parlament Fußball zu spielen und mit der Familie zu feiern.
Überhaupt die Vielfalt. Klar hatte er zu arbeiten. Aber er war Italiener. Also konnte er auch einen gewissen Mut zum Liegenlassen entwickeln. Und dann war er mit dem Blick hinter die Kulissen beschäftigt. Nicht hinter die Kulissen der Macht, nein. Das war Beruf. Er wollte Stimmung und Stimmungen aufnehmen, wollte wissen, wieso eine Stadt, ein Landstrich pulsierte oder eben nicht. Und Berlin pulsierte! Von Strenge keine Spur. Also ab ins Nachtleben, rein in Bars mit fetziger Musik, rein in prachtvolle Revuen, die immer wieder der Feder italienischer Bohemiens entsprungen schienen. Dazu die spitzen Zungen Berliner Kabarettisten, denen keiner der Mächtigen entkam. Und für die melancholischen Momente Konzerte in jeder nur vorstellbaren Besetzung mit jedem nur denkbaren Programm. Meist verflog seine Melancholie dann sehr rasch. Typisch für eine Metropole von der Größe Berlins, certo, aber so unerwartet. Gerade hier. Es gab buchstäblich nichts, was es nicht gab und was nicht möglich gewesen wäre und er hatte es genossen.
Innerlich musste Longari wegen dieser Erfahrung grinsen. Dieser neuerlichen Erfahrung. Er hätte es wissen müssen. Das Schlimmste am Gegenstand einer Betrachtung waren die vorgefertigten Meinungen, die darüber in Umlauf waren. Für ihn eine uralte Binsenweisheit. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, er wäre schon wieder angetreten. Seine augenblickliche Freude darüber überdeckte sogar den immer wiederkehrenden Gedanken, ob seine strikte Aversion gegen jede Form von Subjektivität nicht auch schon so unverrückbar war, dass er mit sich selber hätte hadern müssen. Die von ihm so geliebte italienische Gelassenheit war in diesem Moment eben nicht zu schlagen gewesen.
La Serenita! Damals hatte er sie sehr intensiv empfinden können, ausgerechnet hier. Doch wo, wann und vor allem warum war ihm diese Gelassenheit abhandengekommen? Wieso befürchtete Longari mittlerweile sogar, er könnte diese Fähigkeit sogar komplett und auf ewig verloren haben? Was war das für ein verfluchter Urknall, der seine Emotionen auf den Kopf stellte, eine nicht abzuschüttelnde, bleierne Schwere auf ihm lasten ließ? Gab es diesen Urknall überhaupt? Oder war es ein mehr oder weniger schleichender Prozess gewesen?
Denn just in dem Moment der warmen Gedanken an einen vergangenen Aufenthalt an selber Stelle sorgte ein neuerlicher und eiskalter Schauer, der über seinen Rücken lief, dafür, dass er aus seinem Tagtraum erwachte. Wieder einmal wurde ihm nur zu deutlich, dass es eherne Gesetze in Wirklichkeit nur in der Mathematik und den verwandten Wissenschaften gab. Definitiv nicht in seinem Beruf. So sehr er sich das auch manchmal gewünscht hätte.
Nichts von dem, was er an Berlin so geliebt hatte, war geblieben. Und es gab einen wesentlichen Unterschied zu seinem früheren Aufenthalt. Diesmal wusste er, was ihn erwartete, wusste, dass die Stimmung gekippt war. Er hatte sich darauf einstellen können. Und das war auch seine Rettung, sonst hätte die ihm entgegen schlagende Kälte Alessandro den letzten Optimismus geraubt. Nur so konnte er in der einstmals nördlichsten Stadt Italiens – wie er Berlin mit einem Augenzwinkern genannt hatte – die mittlerweile versteinerten, maskenhaften, grauen Gesichter der Passanten um ihn herum ertragen. Niemand wagte es mehr, durch seinen Gesichtsausdruck irgendeine Emotion nach außen dringen zu lassen, schon gar keine fröhliche. Die Angst, das Misstrauen waren greifbar. Keiner traute dem Anderen über den Weg. Jeder Kontakt konnte der falsche sein. Also am besten keine haben und bestehende, unausweichliche auf ein Minimum beschränken. Das Leben in Berlin war für jeden Einzelnen zum Kokon mutiert.
Der Platz vor dem Reichstag war befestigt worden. Kein Platz mehr für Fußball spielende Kinder und Familienausflüge. Eine Einfriedung aus massiven Granitpfosten, verbunden mit schweren Ketten, verlieh dem Ensemble eine kasernenartige Ausstrahlung. Das Ergebnis passte, jedenfalls aus Sicht der neuen Machthaber: Die Menschenleere vermittelte nicht nur den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung, sondern flößte vor allem Ehrfurcht ein. Das war eines der großen Versprechen beim Regierungsantritt und schon lange davor, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Dazu bediente sich der Apparat sehr gerne Symbolen. Und eines war sicherlich, den Platz vor einem wichtigen Denkmal des deutschen Parlamentarismus gesäubert zu haben. Sinnbild für den neuen Geist. Nicht nur Säuberung eines wichtigen Platzes von johlenden Kindern und lachenden Familien, die es offensichtlich an Respekt gegenüber staatstragenden Institutionen fehlen ließen. Endlich war ein unerhörter Vorgang abgestellt worden. Das war eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung. Und es war seitdem längst auch abseits belebter Plätze von "nationaler Bedeutung" oberste Handlungsmaxime. Denn vielmehr war der Parlamentarismus als Prinzip gesäubert worden, indem er schlichtweg abgeschafft worden war.
Genug gehadert. Die Entwicklung war schlimm genug. Keiner wusste, wo diese noch hinführen würde. Es gab entsprechende Befürchtungen, die sich an geschichtlichen Beispielen orientierten. Doch waren diese Beispiele dazu da, wiederholt zu werden? Wozu sollten als negativ identifizierte Beispiele denn dienen? Doch sicher nicht zur Nachahmung! Welchen Wert hätten sie dann? Das gab Alessandro Mut. Vielleicht gab es eine Wende zum Besseren. Die Dichter und Denker mussten nur aufstehen und Partei ergreifen, sich einmischen, Stellung beziehen, die berühmte "schweigende Mehrheit" wecken. Im Moment fand nur die "Erweckung" durch die neuen Machthaber statt. Von einer Gegenbewegung nichts zu spüren. Doch er vertraute darauf, dass dieser Prozess einsetzen würde, irgendwann. Möglichst bald. Am besten sofort. Es war natürlich keine Zeit zu verlieren. Doch im Moment tat sich offensichtlich nichts. Noch vertraute Longari darauf, dass die intellektuelle Elite dieses Landes dann wenigstens im Verborgenen daran arbeitete, wie gegenzusteuern sei. Solange es sie noch geben würde, hatte sie diese Chance. Mit diesen Gedanken setzte er sich in seinen alten Lancia und fuhr Richtung Grünau, wo er eine Wohnung aus der Gründerzeit bewohnte. Er brauchte seine Kraft für den neuen Tag. Und das Flair seines alten Wagens, das Ambiente seiner Wohnung und die Abgeschiedenheit an der Regattastrecke würden ihm das erleichtern.
Wolfgang Brandstetter stand am Fenster seines Büros. Er war beinahe am Ziel. An ihm mussten alle vorbei, die zum Kanzler wollten. Wie immer war er in Gedanken schon bei seinen nächsten Schritten, eine Eigenschaft, auf die er sehr stolz war. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Immer wieder hatten ihn seine Gegenspieler unterschätzt, waren mit dem nächsten Zug beschäftigt, während er schon mindestens zwei Schritte weiter war. So würde das nach seiner Überzeugung auch bleiben. Er dachte längst über das Vorzimmer hinaus. Und genau so, wie er das plante, würde es auch kommen. Weil es immer so war. Er war sehr zufrieden mit sich.
Kaum jemand hatte ihn zu Beginn seiner Karriere auf der Rechnung. Ein unschlagbarer Vorteil, der durch sein unscheinbares Äußeres noch unterstrichen wurde. Das einzige Merkmal, welches im wahrsten Sinne hervorstach, waren seine stahlblauen Augen. Kalt, berechnend, undurchdringlich. Bis seinen Widersachern klar wurde, dass diese Augen Brandstetters Wesen kurz und prägnant zusammenfassten, waren sie bereits ausgeschaltet. Denn seine übrige Erscheinung war Mittelmaß, von der Körpergröße angefangen über die Haare, die sich nicht zwischen blond und braun entscheiden konnten, eher stumpf und grau wirkten. Dazu die vernarbte Haut als Relikt seines Erwachsenwerdens, der eher schmächtige Körperbau, der so gar nicht zur viel gepriesenen Stärke ihrer Bewegung passte, bis hin zu seiner eher durchschnittlichen Intelligenz, deren äußerliches Zeichen seine mit Dialekt durchsetzte, holprige Sprache war.
Dass er viele Dinge in ihrer Komplexität nicht sofort erfassen konnte, war kein Nachteil. Vielmehr passte das hervorragend zum Populismus der neuen Regierung. Er beschäftigte sich eben nicht mit Dingen, die er nicht verstand. Das erleichterte ihm den Blick für das für ihn Wesentliche und half ihm, eine sehr spezifische Spielart von Bauernschläue zu entwickeln, so spezifisch, dass es kaum möglich war, seine Gedanken und Pläne auch nur ansatzweise zu durchschauen oder gar voraus zu ahnen. So wurde er unberechenbar und damit zunächst weitgehend ignoriert. Hinzu kam seine beispiellose Skrupellosigkeit. Zwar hatte er zu Beginn seiner politischen Laufbahn in einer Partei begonnen, die Ehre, klassische Moralvorstellungen des Abendlandes und Freiheit des Einzelnen auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Doch erstens, war er für seine Ziele jederzeit bereit, seine Meinung zu ändern und zweitens, waren dies so oder so Lippenbekenntnisse, nicht nur für ihn. Nicht dass Brandstetter jemals vorgehabt hätte, sich an den offiziell propagierten Grundsätzen seiner Partei tatsächlich zu orientieren. Wenn, dann höchstens temporär als Mittel zum Zweck.
Trotz seiner nicht besonders ausgeprägten Sensibilität hatte sein unstillbarer Machthunger ihn sehr früh erkennen lassen, dass er nicht allein war, wenn es darum ging, Wasser zu predigen und selbst Wein zu trinken. Er nahm seine Organisation als Interessengemeinschaft wahr, natürlich. Das sollte sie in der öffentlichen Meinung ja auch sein. Nur dass der Blick hinter die Kulissen ihm – selbst als zunächst kleines Rädchen im großen Getriebe - frühzeitig die Augen über den wahren Charakter öffnete. Sie waren Interessenvertreter im wörtlichen Sinn. Jeder vertrat seine Interessen. Und zwar seine eigenen, nicht die, der anvertrauten Wähler. Und es gab dabei ein unterschiedliches Geschick, ein öffentliches Bild zu erzeugen und im Hintergrund sein eigenes Ding zu drehen.
Und er war geschickt. So geschickt, dass er sich nicht darauf verließ, Karriere in ein und derselben Partei zu machen. Dies hätte bedeutet, sich auf sein Glück zu verlassen. Das tat er aus Überzeugung nicht. So trat er mehreren Parteien und Organisationen bei, deren Programmatiken sich teilweise heftig widersprachen. Brandstetter war das egal. Ihn interessierte Programmatik nicht, sondern nur der Zeitpunkt, wann er unwiderruflich auf das Pferd setzen musste, das am schnellsten die Ziellinie überwand. Und diesen Zeitpunkt hätte er nicht besser treffen können. Seine jetzige Position bestätigte dies nachdrücklich, denn nun saß er im Zentrum der Macht. Er hatte alles richtig gemacht. Ohne ihn lief hier nichts. Und das war sicher nicht der Schlusspunkt.
Objektiv betrachtet, hatte er auch Glück, eine Tatsache, die Brandstetter natürlich nicht zu akzeptieren bereit war, war er doch in seinen eigenen Augen das Kind seiner eigenen klugen Schachzüge. Nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs kam die Rezession. Das Erwachen für alle Beteiligten war umso härter, da die Weichen eher Richtung unaufhaltsames Wachstum gestellt schienen, denn auf schlagartigen Verfall von Werten. Doch es war passiert. Die Auswirkungen waren wie üblich, Massenarbeitslosigkeit, damit einhergehende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, Firmenzusammenbrüche im großen Stil. Panik steigerte die Emotionen, Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Die Mächtigen waren unvorbereitet. In der Hauptsache die Beschäftigung mit den eigenen Pfründen hatte den Blick für die tatsächliche Entwicklung verstellt. In allen wesentlichen politischen Strömungen. Einige wenige Gut meinende versuchten sich der Entwicklung entgegenzustemmen. Doch sie hätten sich Gehör verschaffen und ernst genommen werden müssen, was die weitverbreiteten Eitelkeiten in der Politik auf allen Ebenen zielsicher zu verhindern wussten.
Die Wahrnehmung der Betroffenen war entsprechend. Das Vertrauen in die Etablierten schwand, und Viele waren der Meinung, vollkommen zu Recht. Neue Möglichkeiten wurden gesucht und in Form von Radikalen auch gefunden. Die neuen Kräfte schienen unverbraucht von den Versuchungen der Macht. Der Zulauf war zunächst unaufhaltsam, doch der Schritt zur unumschränkten Regierungsgewalt wollte nicht gelingen. Ein geschickter Strategiewechsel musste her. Und das war Brandstetters große Chance. Als Teil der Etablierten sah er die Zeit gekommen, seine Rechnung zu präsentieren. So nutzte er seine Kontakte, um seinen Teil zur Verbindung zwischen bewährten und radikalen Kräften herbeizuführen, deren offizielles Ziel die Bewältigung der einschneidenden Staats- und Wirtschaftskrise sein sollte. Die tatsächliche Absicht war wie so oft die Macht. Darin waren sich beide Lager einig, was natürlich so selbstverständlich wie unausgesprochen blieb: Die einen wollten deren Erhalt, die Anderen deren Gewinnung. Und Brandstetter tat alles dafür, dass sich letztlich das Lager durchsetzte, wo er sich ungehemmt entfalten konnte und welches ihn seinem persönlichen Ziel näher brachte. Die Etablierten waren irgendwann zu einer Randnotiz verkommen und würden bald vollends Geschichte sein. Er würde dafür sorgen. Denn es gab ja Mitwisser und die konnten irgendwann verhängnisvoll sein.
Das Telefon klingelte. Brandstetters Sekretärin erkundigte sich, eine hochrangig und international besetzte Delegation frage nach einem Termin mit dem Regierungschef, ob sie durchstellen solle. Er schnauzte - trotz des wie immer freundlichen Tons seiner rechten Hand - unwirsch zurück, das ginge jetzt nicht, sie sollten sich später noch einmal melden und dies nicht zu früh. Der Kanzler sei auf absehbare Zeit viel zu beschäftigt. Damit knallte er den Hörer auf die Gabel. Es war für ihn unerheblich, worum es eigentlich ging und wie die Delegation besetzt war. Das war schon immer Brandstetters Verständnis mitteleuropäischer Höflichkeitsformen gewesen. Was für ihn nicht unmittelbar zielführend war, konnte keine Aufmerksamkeit beanspruchen. Und seine neuen Gönner waren entweder von vornherein ähnlich gestrickt oder hatten im Rausch des neuen nationalen Selbstbewusstseins dieses augenfällige Verhalten der grauen Eminenz des Führers der deutschen Regierung adaptiert. Es schien nicht nur sehr praktisch und drückte die kaum zu übertreffende Arroganz gegenüber anderen Sichtweisen aus, sondern konnte ja bei späteren Entwicklungen förderlich sein. Es hatte sich ja schon oft genug bewahrheitet. Zudem war Brandstetter selbst der Meinung, dies sei Ausdruck besonderer Macher-Qualitäten. Und diese Qualitäten waren auch für seine unmittelbare Umgebung Ansporn.
Nicht so für Sonja Walter, seine Vorzimmerdame. Sie war trotz ihrer knapp dreißig Jahre noch ein "Faktotum" - wie sie sich innerlich grinsend selber sah - des früheren Systems, das sich demokratisch nannte und es manchmal auch war. Jedenfalls mehr als jetzt. Klar. Das war ja auch keine Kunst. Unbestreitbar ging es früher wesentlich respektvoller zu. Sie wunderte sich darüber, in ihren jungen Jahren Gedanken mit Floskeln zu beginnen, die sie immer so gehasst hatte, Gedanken, an die so genannte "gute alte Zeit" in der "alles besser" gewesen war. Sie hätte sich nicht träumen lassen, vor Ablauf ihres eigenen siebzigsten Lebensjahres zu solchen vordergründigen und inhaltsleeren Plattitüden zu greifen.
Genau genommen waren es aber keine Plattitüden, fand sie nach einigen Momenten der Besinnung. Denn die Gründe für ihre Argumente waren ja sehr handfest und real. Ja, es ging sehr viel respektvoller zu. Dies bezog sie weniger auf ihr Privatleben, das für sie im eigentlichen Sinne kaum stattfand, erschöpfte es sich doch meist in einem freundlichen Plausch in der Nachbarschaft oder auch in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, deren Tribut sie zahlen musste. Denn häufig wurde es abends so spät, dass an Zerstreuung nicht mehr zu denken war und das gerade in der krisenhaften Zuspitzung der Lage in den letzten Jahren. Ihre kleineren Affären waren selten, kurz und zuletzt natürlich ganz ausgeblieben. Das, was also ihr typisches Privatleben beschrieb, hatte sich durch die so genannte neue Zeit naturgemäß auch verändert, aber nicht im Hinblick auf den gegenseitigen Respekt. Vielmehr war die freundliche Beredsamkeit von einst einem angstvollen Schweigen gewichen, selbst wenn eine gewisse Vertrautheit der Gesprächspartner hätte vorausgesetzt werden können. Dennoch konnte sie immer noch durch Blicke und Gesten spüren, dass ihr Achtung und Bewunderung entgegen gebracht wurde, auch wenn keine Worte fielen.
Sicher, die Männerwelt gaffte oft genug, war sie mit ihren 1,75 Metern Körpergröße, den sehr langen, dunklen Haaren, den noch längeren Beinen, der sportlich-schlanken und dennoch weiblichen Figur ein echter Anziehungspunkt. Dazu dieses temperamentvolle und ausdrucksstarke Gesicht mit dem herzhaften Lachen und den funkelnden großen Augen. Das war sie schon gewöhnt und beachtete es kaum mehr. Sie hatte ihre Ansprüche und diese Art der Sympathiebezeugungen war kaum geeignet, in ihr Reaktionen auszulösen, die tieferer Natur waren. Dennoch empfand sie die Bewunderung auch immer wieder – da war sie durch und durch Frau - als Bestätigung, obwohl Sonja schon lange klar war, dass sie verdammt gut aussah und es dieser Anerkennung wohl kaum bedurfte. Es tat einfach immer wieder gut, denn Entgleisungen der mehr oder weniger heimlichen Bewunderer waren selten.
Was sie tatsächlich verwunderte, war der Eindruck, dass selbst Menschen, die wussten, wo sie arbeitete und die unter dem neuen Regime durchaus zu leiden hatten, ihr warme und freundliche Blicke entgegenbrachten, auch wenn sich die Wortwechsel im knappen Gruß verloren und die Augen auch immer ein Stück weit Angst ausdrückten. Letzteres entsprach dem Zeitgeist und hatte weniger mit ihrer Person zu tun. Dies empfand sie als das eigentliche Kompliment an ihre stille Unbeugsamkeit und ihr zentrales Ziel, anständig zu bleiben, was auch passieren sollte.
Die Art und Weise des Umgangs im Büro machte sie aber rasend. Hier war die Wertschätzung nicht nur ihr gegenüber vollständig in sich zusammengebrochen. Die Bediensteten wurden ihrer Bezeichnung entsprechend behandelt, schließlich waren sie bedienstet. Da musste es ja Unterschiede geben, die sich kurz zusammengefasst in der Reduktion auf die jeweilige Personalnummer ausdrückten. Sie hatten zu funktionieren, nicht zu fragen, nicht mitzudenken, wenn sie denn dazu überhaupt für intelligent genug gehalten wurden. Auch waren schon Kollegen verschwunden. Offiziell wegen unüberbrückbarer Differenzen. Manchmal auch aus gesundheitlichen Gründen oder in beiderseitigem Einvernehmen. Und es gab einen vorsichtigen Flurfunk, der die Frage aufwarf, ob diese Kollegen jemals nach ihrem Ausscheiden irgendwann irgendwo wieder aufgetaucht seien, beruflich oder privat. Was die Angst steigerte und das Klima weiter vergiftete.
Nun gut dachte sich Sonja Walter und besann sich auf ihr Selbstbewusstsein. Sie stand auf und ging mit entschlossenen Schritten auf das Büro ihres Chefs Brandstetter, dem Büroleiter des Regierungschefs, zu. Sie klopfte resolut. Ein herrisches "Herein" war die Antwort. Sie trat ein und wartete geduldig darauf, bis Brandstetter geruhte, aufzusehen und sie wahrzunehmen. Ein kaum zu vermutendes und unsicheres Lächeln huschte für eine Sekunde über das Gesicht des hemmungslosen Machtmenschen. Es schien einen Augenblick so, als suchte er nach Worten, bis er hervorstieß, dass er den Innenminister zu einer Unterredung unter vier Augen erwartet hätte. Er stand linkisch auf, um ihr einen Platz an seinem Besprechungstisch anzubieten. Doch sie lehnte ab, es dauere nicht lange.
"Schade", erwiderte Brandstetter. "Meine Zeit ist knapp. Doch die möchte ich am liebsten mit Ihnen verbringen".
Sie empfand seine Äußerung als platt und oberflächlich, ganz typisch für einen wandelnden Komplex dachte sie. Sie verachtete ihn zutiefst. Machthungrig, kontaktarm und absolut skrupellos, aber seiner eigenen Sekretärin auf unbeholfene und total verklemmte Weise nachsteigen. Geld und Einfluss machten gerade in diesem Fall sicher nicht attraktiv, nicht bei mir, dachte sie stolz. Abgesehen davon, dass er ihr schon zu klein und zu schmächtig an Statur war. Die Kälte seiner Ausstrahlung – sofern sie überhaupt von Ausstrahlung bei einem Technokraten reden konnte – tat ein Übriges. Charisma war sicher etwas anderes.
"Herr Brandstetter, ich soll Ihnen eine Nachricht vom Innenminister übermitteln, dass er kurzfristig mit dem Kanzler zusammentrifft und deswegen den Termin mit Ihnen nicht halten kann. Es bedarf wohl noch einiger Vorbereitung", sagte Sonja höflich, aber bestimmt.
"Sonja, das Treffen mit dem Kanzler bin ich, sagen Sie das dem Minister. Schlechtes Zeichen, wenn der oberste Mann für innere Sicherheit und öffentliche Ordnung nicht weiß, mit wem er verabredet ist. Und wenn er sich jetzt erst vorbereitet ... Außerdem sollten Sie mich doch "Wolf" nennen, Sonja."
Wieder umspielte ein dünnes Lächeln seine noch dünneren Lippen. Er gab nicht auf. Er schien ernsthaft verliebt und wusste offensichtlich nicht, wie er mit dieser Gefühlsaufwallung umgehen sollte. Und gerade das machte ihn so lächerlich, dass er nicht wusste, wie er damit wirkte. Er konnte es auch nicht wissen, denn er hatte ja kaum Erfahrung trotz seiner mittlerweile fast vierzig Jahre. Das wusste Sonja schon längst. Käuflichkeit spielte nicht nur im politischen Leben Brandstetters eine Rolle. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht geheim halten.
"Herr Brandstetter, das ehrt mich. Doch Sie wissen, dass ich durch meine langjährige Tätigkeit im Amt, die aber vergleichsweise kurze für Sie persönlich, mich nicht in der Lage sehe, dieses Angebot anzunehmen" erklärte sie bestimmt.
Ihr umwerfendes und gewinnendes Lächeln nahm der Aussage für Brandstetter die Schärfe. Sie hatte ihn mit einer rechten Geraden zu Boden geschickt und er hatte es nicht wahrgenommen, sondern lächelte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unsicherheit zurück. Zunächst einmal gut so. Schließlich war er ja gefährlich, auch wenn Sonja das kaum glauben mochte, so wie er sich jetzt benahm. Aber sie war um ihrer selbst willen realistisch und vorsichtig genug.
"Die Delegation sollten Sie ernst nehmen".
Kaum jemand wagte es, mit Brandstetter in diesem Ton zu sprechen, schon gar nicht, wenn der Kern der Aussage darauf hinauslief, er wäre sich der Tragweite seines Verhaltens nicht bewusst.
"Die Reaktion war gelinde gesagt verärgert. Es geht um die Einhaltung geschlossener Verträge. Der amerikanische Botschafter wird sich sicher nicht noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen, sondern direkt höheren Orts um Unterredung bitten".
Sie wusste, dass der Botschafter dann auch bei Brandstetter rauskommen würde. Sie wollte ihm die Gelegenheit geben, ihr zum wiederholten Mal genüsslich diese Tatsache auseinander zusetzen, als würde die scheinbar einfach strukturierte Schreibkraft die Zusammenhänge nicht sehen können. Diese Möglichkeit der Selbstdarstellung für einen Machtmenschen aus einfachen Verhältnissen war für sie der immer wiederkehrende Mechanismus zum Selbstschutz, lenkte der doch von der fast schon dreisten Art ab, mit der sie einen der Mächtigsten des Landes immer wieder bloßstellte, verstohlen verurteilte, ja regelrecht lächerlich machte. Außerdem verstärkte es in Brandstetter das Gefühl, auf die in seinen Augen naive Sonja Walter aufpassen zu müssen und väterliche Gefühle zu verstärken. Auch eine Art Lebensversicherung. Denn wenn er sie schon im Moment nicht haben konnte, wollte er sie doch in seiner Nähe haben. Schließlich war ja noch nicht aller Tage Abend. Als Brandstetter seine Selbstbeweihräucherung beendet hatte, holte sie zum nächsten Schlag aus.
"Was ist eigentlich mit Herrn Frank, unserem Personalchef? Den habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen", fragte sie äußerlich unbefangen, obwohl sie innerlich vor Wut kochte.
Auch fühlte sie sich ein Stück weit hilflos. Frank kannte sie schon lange, bevor sie hier anfing, denn er war ein langjähriger Freund ihres verstorbenen Vaters. Er hatte ihnen über die erste schwere Zeit der Neuorientierung ihrer Familie geholfen und teilweise im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten auch finanziell unterstützt. Schließlich hatte er ihr sogar zu ihrer Lehrstelle verholfen, einer Stelle, der sie bis heute treu geblieben war, obwohl es ihr zunehmend schwerer fiel. Sie sahen sich regelmäßig, sei es zu Hause oder im Amt. Und seit fast einer Woche keine Spur von ihm. Sie wollte laut aufschreien und tat dies innerlich immer wieder. Doch es half nichts. So besann sie sich ihrer Stärke, die sie sooft ausgezeichnet hatte und ging direkt auf das Ziel los. Um sich selbst Mut zu machen, redete sie sich ein, sie sei es ihrem Ruf als Gründerin des undiplomatischen Korps schuldig. Die Angst vor der Antwort, der Reaktion, der Wahrheit blieb.
"Frank? Welcher Frank? Ach, meinen Sie vielleicht ... äh ... den drahtigen Endfünfziger mit dem Schnauzbart?" kam die scheinheilige Antwort.
Er wollte Zeit gewinnen, um seinen Schwarm nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
"Genau den meine ich" kam Sonjas schnelle Reaktion.
Du sollst keine Zeit zum Luft holen haben, du Lump, dachte sie sich. Doch sie hatte sich diesmal verschätzt. Brandstetter fand zurück in die Rolle des machtgierigen Instinktmenschen. Klar konnte er sofort etwas mit dem Namen Frank anfangen. Dieser nichtsnutzige Tagedieb hatte bis in die Tage unmittelbar nach der Machtergreifung – und natürlich auch schon lange davor - Flugblätter verteilt und "Aufklärung" betrieben. Aufklärung! Lächerlich! Nur die neuen Machthaber waren im Recht, ihre Mitmenschen aufzuklären, denn nur sie wussten um die Wahrheit und was davon für die Öffentlichkeit, den Mob, wie Brandstetter immer wieder geringschätzig dachte, gut war. Sie hatten Frank abgemahnt, die Flugblattaktionen wurden eingestellt. Dennoch war er durch seine langjährige Tätigkeit im Amt eine Respektsperson unter den Kollegen geblieben, hatte er sich doch immer wieder für sie eingesetzt, als es um Themen wie Entlohnung, Schichtdienst und andere arbeitsrechtliche Fragen ging. Auch hatte er sich – so oft es seine knappe Zeit erlaubte – private Sorgen und Nöte angehört und Seelentröster gespielt. Er war als Personalchef eine echte Vertrauensperson und ein Patriarch im positiven Sinn: mächtig, unangefochten, unbeugsam bis hin zur Sturheit und stets mit breitem Kreuz für seine Leute. Frank liebte seine Aufgabe. Damit war er auch ohne Flugblätter eine Gefahr, denn seine Meinung konnte ja kaum abgemahnt werden. Er, Brandstetter, hielt sowieso nichts von der Einhaltung formaljuristischer Rahmenbedingungen. Das war vor der Machtergreifung kaum nötig und jetzt sowieso nicht. Hier war er seinen Mitstreitern für die gemeinsame Sache voraus. Seine berüchtigte und viel zitierte Stärke. Er wusste das schon lange. Sie hatten noch eine Weile gebraucht, um wahrzunehmen, das es nicht mehr nötig wahr, irgendeinen Schein zu wahren.
Also ließ er ihn ohne eine Gefühlsregung abholen. Eine offizielle Begründung für den Mitarbeiterstab wurde mit dürren Worten unter Hinweis auf seinen angegriffen Gesundheitszustand durch das jahrelange Engagement für Beruf und Kollegen abgegeben. Ende der Vorstellung. Womit Brandstetter natürlich nicht gerechnet hatte, war die Tatsache der engen Bekanntschaft zu seiner Sonja und die daraus resultierende Notwendigkeit, ihr jetzt eine glaubwürdige Begründung zu geben, die ihn bei ihr voranbrachte. Denn um Frank tat es ihm nicht im Mindesten leid. Eine Zecke musste beseitigt werden. Ein Routinevorgang und klinisch wie beim Hautarzt. Und außerdem gar nicht so selten mittlerweile ...
"Tja, Herr Frank," hob er an, "eine bedauerliche Sache, das mit seiner Herzschwäche. Es tut mir sehr leid, dass wir ihn verloren haben, doch hat er eindringlich darum gebeten, ihn vorzeitig in den Ruhestand gehen zu lassen. Wir wollten ihn umstimmen, auf einen ruhigeren Posten versetzen, doch nichts zu machen. Er reibe sich auf und sähe sich nicht mehr imstande, den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Reisende soll man nicht aufhalten. Wir haben ihm jetzt noch einen Kuraufenthalt in einem unserer mondänen Sanatorien spendiert, quasi als Dank für die langjährigen treuen Dienste für das Vaterland. Das wird ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen ..."
Das wird dich ganz sicher auf andere Gedanken bringen, du verräterisches Schwein, dachte er für sich.
Sonja sah an Brandstetters verhärtetem Gesichtsausdruck, dass er – ganz Machtmensch – das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte. Und sie wusste sofort, wer so eine Geschichte auftischt, steckt hinter derselben. Sie musste schwer an sich halten, um vor Schmerz nicht laut loszuschreien. Nicht die Erkenntnis des Charakters ihres Gegenübers hätte sie dazu gebracht. Nein. Der Wicht war mächtig, aber ein Wurm und so würde er auch eines Tages enden. Dessen war sie sich sicher, bei allem, was ihr jemals heilig war. Die Sorge um ihren väterlichen Freund ließ sie beinahe zerspringen vor Wahnsinn. Ihm konnte sie alles anvertrauen, nicht der vermeintlich besten Freundin, die sie sowieso schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hatte. An seiner Schulter konnte sie sich ausheulen, wenn es in einer der kurzen Beziehungen nicht so lief, das Glück mit ihm teilen, wenn es sie wieder einmal erwischt hatte. Auch er ließ sie seine Freude spüren, war sie doch praktisch zu seiner Tochter geworden, die ihm selbst ja nicht vergönnt gewesen war.
Sonja Walter sah ein, dass es hier keinen Sinn mehr hatte nachzubohren. Auch spürte sie Tränen der Trauer und Angst um den Freund in sich aufsteigen. Diese Genugtuung wollte sie ihrem verhassten Chef aber nicht geben. Also riss sie sich zusammen, war gerade im Begriff, ihr Lächeln wieder zu finden, um vorerst gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als im Vorzimmer ihr Telefon ging. Erleichtert über diese Möglichkeit des Abgangs, bedankte sie sich kurz für seine Aufmerksamkeit, warf Brandstetter noch ein kurzes Lächeln zu, gequält, wie sie empfand, doch hoffentlich nicht so offensichtlich, dass Brandstetter es hätte bemerken können. Sie verließ sein Büro und hasste ihn mehr als alles andere auf dieser Welt.
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