Demokratie fehlt Begegnung - Rainald Manthe - E-Book

Demokratie fehlt Begegnung E-Book

Rainald Manthe

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Beschreibung

Demokratie fehlt Begegnung: Schwimmbäder, Jugendclubs, Bibliotheken oder Sportvereine werden weniger. Individuelle Freizeitgestaltung, digitale Medien und zuletzt die Coronapandemie haben vielen Begegnungsstätten den Rest gegeben. Aber Demokratie braucht Räume des Zusammentreffens, damit sie dauerhaft funktioniert. Rainald Manthe fokussiert auf solche Begegnungsorte des Alltags: Straßen und Bahnen, Parks und Cafés, die Dorfkneipe und Elternabende. Denn nur durch die Wahrnehmung von Diversität, durch die Bildung sozialer Beziehungen und durch gemeinsame Aktivitäten entsteht die unverzichtbare Basis, auf der moderne, vielfältige Demokratien funktionieren und sich den großen Transformationen unserer Zeit stellen können.

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Editorial

Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten.

Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Rainald Manthe, geb. 1987, ist Soziologe und Autor. Er war Direktor des Programms »Liberale Demokratie« beim Think-Tank »Zentrum Liberale Moderne«. Rainald Manthe hat über transnationale Treffen sozialer Bewegungen – die Weltsozialforen – promoviert und schreibt regelmäßig zu Fragen der Demokratieentwicklung.

Rainald Manthe

Demokratie fehlt Begegnung

Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Lena Braatz

Lektorat: Lukas Daubner und Martha Scheifel

Korrektorat: Hannah Bultmann

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839471418

Print-ISBN: 978-3-8376-7141-4

PDF-ISBN: 978-3-8394-7141-8

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7141-4

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Inhalt

 

Vorwort

1.Die Dorfkneipe wird unterschätzt

2.Demokratie, Zusammenhalt und Vertrauen

3.Begegnungsorte als Infrastruktur von Demokratien

4.Zufällige Beobachtung

Was Parks, Bahnen und Straßen für die Demokratie leisten

5.Sprachlicher Austausch

Wie Gespräche in Cafés, Kneipen, Buchläden und der Politischen Bildung für Verständnis sorgen können

6.Wiederkehrende Begegnung

Wen wir in Häusern, Schulen und beim Boule im Park treffen

7.Gemeinsame Aktivität

Engagement in Warteschlangen, beim Urban Gardening, im Ehrenamt und auf der Arbeitsstelle

8.Digitale Begegnung und Demokratie – die Zukunft?

9.Für eine Politik der Begegnung

Ein kurzer Rückblick und zehn Handlungsempfehlungen

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort

Anfang 2024: Deutschland steht auf. Gegen Rechtsextreme und ihre Parteien, gegen Deportationsfantasien eines Teils der Bevölkerung, für die offene Gesellschaft. Die Demonstrationsmeldungen reißen kaum ab. Es ist, als seien die Menschen erwacht, nachdem das Rechercheportal Correctiv gezeigt hat, wie konkret die Fantasien für ein anderes, ein dunkleres Deutschland sind.

Und alle fragen sich: Was tun? Demonstrationen sind wichtig, sie schaffen Sichtbarkeit, sie motivieren Menschen, sie zeigen Zusammengehörigkeit. Aber sie liefern noch keine Antworten auf die großen Veränderungen, die unsere Demokratien gerade durchlaufen. Wie verändert sich Demokratie? Welchen Einfluss haben soziale Medien, welche Desinformationen, welche die Veränderungen der Weltlage? Und wie kann man unter diesen Umständen Demokratie erhalten und weiterentwickeln?

Dieses Buch möchte einen Anstoß liefern, sich mit einer Variable auseinanderzusetzen: Der Veränderung unserer Begegnungen. Denn: Damit eine Demokratie funktioniert, müssen die meisten (nicht alle) Mitglieder einander als legitime Mitglieder derselben Polis verstehen. Das geht bei über 80 Millionen Einwohner:innen natürlich nicht über bloße persönliche Bekanntschaft.

Aber: Wir müssen einander vertrauen, zumindest abstrakt, um die Kompromisse mitzutragen, die eine Demokratie nun einmal ausmachen. Wir müssen einander auch vertrauen, um Konflikte konstruktiv auszutragen. Und dafür ist entscheidend, dass wir einander begegnen.

Diese Begegnungen haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Sie sind weniger geworden, weil die dafür notwendigen Orte weniger geworden sind – Alltagsorte wie Kneipen, Parks, Schwimmbäder. Sie sind individueller geworden, weil wir es geworden sind: Fitnessstudio statt Sportverein, Projektarbeit statt Parteimitgliedschaft. Sie sind auch digitaler geworden – und vielleicht flüchtiger. Das alles hat viele Vorteile – geringere Kosten, mehr Freiheit für die Einzelnen, mehr Flexibilität. Aber es hat eben auch Rückwirkungen auf unsere Demokratie. Diese Veränderungen müssen wir verstehen, um Ideen dafür zu entwickeln, was wir anders machen können.

Sich mit den Veränderungen unserer Begegnungen auseinanderzusetzen, liefert Hinweise darauf, was man anders machen kann und wie man wieder mehr »allgemeine« Begegnungen schaffen kann: durch Orte, an denen verschiedene Menschen miteinander auskommen, sprechen, tun, ohne große Hürden überwinden zu müssen. Diese Orte werden vermutlich anders aussehen als vor 20, 30 oder 50 Jahren. Aber es braucht sie, nach wie vor, nicht nur im digitalen Raum, damit unsere Demokratie funktioniert. Sie sind eine (eine!) Institution unserer Demokratie. Denn: Institutions matter – gerade in unseren modernen Demokratien.

Das Buch möchte Anstöße geben, keine Patentrezepte liefern. Es möchte zur Diskussion einladen, möchte auch Widerspruch erzeugen, möchte kreative Prozesse anstoßen. Und es möchte die Menschen ehren, die oft mit viel Herzblut Orte betreiben und am Leben erhalten, die es ohne ihr Engagement nicht gäbe. Moderne Demokratien leben eben nicht nur von ihren Parlamenten, Verwaltungen, Regierungen. Sie leben vor allem davon, dass Menschen sich einbringen, oft vor Ort, und ihr Zusammenleben gemeinsam gestalten wollen.

1.Die Dorfkneipe wird unterschätzt

Schon kurz bevor man sie betritt, steigt einem der spezifische Geruch einer Kneipe, ein Gemisch aus Bier und kaltem Zigarettenqualm, in die Nase. Mit dem Aufziehen der Tür taucht man in das Kneipengewusel ein: Am Stammtisch tauschen sich Bekannte und Freund:innen aus, ein Spieler sucht sein Glück am Spielautomaten, junge Menschen haben ein Date in einer Ecke oder spielen an einem Tisch Karten. An der Bar sitzen ein paar einsame Gestalten über einem Bier, manche reden mit der Barkeeperin, andere schauen stumm Löcher in die Luft. Die Tür geht ständig auf, meist läuft Musik oder Fußball, Menschen gehen rauchen oder auf Toilette. Es ist Bewegung drin. Stimmengewirr steigt auf, man muss lauter sprechen, um verstanden zu werden. Eher selten sieht man jemanden stumm dasitzen, erhaben über dem Gewusel, ein Buch lesend oder gedankenverloren auf das Handy starrend. Nach wenigen Schritten hat man die meist zu stickige Luft in der Nase und spürt die Wärme. In der Kneipe spürt man die menschliche Nähe, riecht einander, nimmt einander wahr. Eine Gemeinschaft für einen Abend, die wichtig ist für die demokratische Gesellschaft.

Die Kneipe, dieses menschliche Biotop, sie ist bedroht. Bereits in der Dekade vor der Coronapandemie hatte ca. ein Drittel der Kneipen in Deutschland geschlossen.1 Heute machen steigende Preise und akuter Personalmangel ihnen zu schaffen. Das ist übrigens kein rein deutsches Phänomen: In Großbritannien etwa sterben die beliebten Pubs schon länger, Pandemie, Energiepreise und Inflation setzen ihnen zusätzlich zu.2

Man mag das für eine unwichtige Meldung unter »Vermischtes« halten. In der Großstadt sitzend, kann man sich denken: »Schade, aber Bier trinken kann man schließlich auch in einer anderen Kneipe, zuhause oder mit Freunden, vor dem Kiosk, Büdchen, der Trinkhalle oder dem Späti.« Vielleicht betrachtet man es auch ökonomisch: Wenige volle Bars sind effizienter als viele halbleere. Und gesundheitspolitisch ist weniger Alkoholkonsum auch erst einmal positiv. Aber das greift zu kurz: Kneipen sind wichtige alltägliche Begegnungsorte, die nicht ohne Weiteres zu ersetzen sind. Kneipen sind wichtig für die Demokratie.

Das Verschwinden von Begegnungsorten

Kneipen sind nicht die einzigen Orte, die verschwinden. Die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet wurde gerade zum immateriellen Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen erklärt. Und doch gibt es immer weniger von ihnen. Sie heißen Büdchen oder Späti, Kiosk oder eben Trinkhalle, und eines haben sie gemeinsam: Sie versammeln Menschen, und sie werden weniger – daran ändert auch ein regelmäßig veranstalteter »Tag der Trinkhallen« im Ruhrgebiet wenig.3

Dieses Schicksal teilen sie mit öffentlichen Schwimmbädern. Während die Zahl der teuren Erlebnisbäder steigt, nimmt die der preiswerten, öffentlichen Frei- und Hallenbäder ab. Sich im Sommer auf die Wiese legen, Pommes essen und ein paar Bahnen ziehen und dabei das halbe Viertel um sich herum erleben? Wird immer teurer. Schwimmbäder – die meist kommunal bezuschusst werden und vermeintlich keine Kernaufgabe des Staates sind – fallen dem Kostendruck zum Opfer.4

Und Parks? Bis auf wenige Vorzeigeobjekte sind sie oft ungepflegt, werden in Städten zunehmend durch privates Engagement als Urban Gardening betrieben oder verkommen. Dreckige Parks ziehen weniger Menschen an, das Unsicherheitsgefühl steigt, wohl fühlen sich dort wenige.

Und im eigenen Hausflur, in der Straße und in der Nachbarschaft trifft man immer mehr Menschen, die einem ähnlich sind, denn Stadtviertel sind immer weniger sozial durchmischt. Begegnungen mit Menschen aus anderen Milieus, Schichten und Lebensrealitäten auf der Straße, beim Einkaufen oder beim Elternabend in der Schule werden seltener.5

Man könnte das alles für anekdotische Evidenz halten: Klar, an einigen Orten schließen die Schwimmbäder und Kneipen, veröden die Parks, schotten sich die Besserverdienenden ab. Anderswo entsteht aber Neues: Fitnessstudios und Friseurläden sprießen aus dem Boden, beim Urban Gardening übernehmen Freiwillige die Pflege von Stadtgrün, der Konsum heißt jetzt Dorfladen und Einkaufszentren gibt es schließlich auch genug.

Ein Leben ohne Begegnung

Aber dem ist nicht so: Viele Begegnungsorte werden weniger und verschwinden, Neues entsteht nur langsam und ist oft weniger zugänglich. Die Orte, an denen Gesellschaft sich trifft, sie erodieren. Das ist eingebettet in einen längeren, bereits Jahrzehnte laufenden Prozess: dem Abschied von der Massengesellschaft, dem langsamen Verschwinden von Großorganisationen wie Gewerkschaften, Parteien und Kirchen, einer zunehmenden Individualisierung der Lebensgestaltung, gepaart mit einem Abbau staatlicher Infrastrukturen.

Warum sind Begegnungsorte überhaupt wichtig? Man muss sich keine Dystopien ausmalen, um das zu begreifen. Ein Ort ohne Begegnungsräume ist trist: Menschen fahren früh mit dem Auto zur Arbeit, sitzen womöglich in ihrem Einzelbüro den ganzen Tag vor dem Computer. Am Abend machen sie kurz Halt in einem Supermarkt an einer Ausfallstraße, kaufen ein, die Kassen sind digital, bevor sie nach Hause zur Familie fahren und die Gartentür hinter sich schließen. Die Begegnungen bleiben auf Kolleg:innen und die eigene Familie beschränkt, die Themen auch. Arbeitet man im Homeoffice, sind selbst die Kolleg:innen nur digital präsent. Abends scrollt man noch schnell durch die sozialen Netzwerke. Egal, ob die Protagonist:innen das schön oder schrecklich finden, sie erleben wenig neue Eindrücke. Die Erfahrbarkeit von Gesellschaft ist eingeschränkt.

Eine kleine Demokratietheorie alltäglicher Begegnungsorte

Alles nicht so schlimm, kann man weiterdenken. Aber: Das zunehmende Fehlen von Begegnung schadet unserer Demokratie. Es lohnt sich deshalb, diesen alltäglichen Begegnungsorten Aufmerksamkeit zu schenken. Genau darum geht es in diesem Buch: die alltäglichen Begegnungen von Menschen und ihre Bedeutung für unsere Demokratie. Demokratien beruhen darauf, dass Menschen sich über die Regeln ihres Zusammenlebens verständigen. Anders als in Autokratien oder Monarchien sind in Demokratien die meisten Mitglieder einer Gesellschaft an der Entscheidungsfindung beteiligt.

In liberalen Demokratien werden Abstimmungsregeln ergänzt durch einige Rechte, die Menschen in die Lage versetzen, in Freiheit zu leben, sich zusammenzuschließen und zu artikulieren und so effektiv am Finden von Regeln teilzuhaben. Dafür müssen sie freiwillig Kompromisse eingehen und nicht unbedingt ihre Interessen durchsetzen. Dazu ist es wiederum nötig, dass wir Andere als legitime Mitglieder einer Gesellschaft anerkennen – wofür wir diese Anderen regelmäßig erleben müssen. Genau das geschieht auch an Begegnungsorten im Alltag.

Vielfältige Demokratien brauchen Vertrauen

Begegnung wäre vielleicht gar nicht so notwendig, wenn Menschen sich sehr ähnlich wären. Man wüsste dann, was Meier, Müller und Schulze essen, denken und wählen. Aber moderne Demokratien sind vielfältig. Sie sind darauf angelegt, es zu sein: Liberale Demokratien richten sich an der Freiheit des Individuums aus. Daraus entstehen unterschiedliche Präferenzen, verschiedene Lebensentwürfe, kurz: Vielfalt. Die Globalisierung hat darüber hinaus zu einer verstärkten Migration geführt – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Gehen wir vor die Haustür, mögen uns die Menschen noch ähnlich sein – in der übernächsten Straße sieht es anders aus. Diese unglaubliche Stärke moderner Demokratien – Vielfalt zu ermöglichen – bedarf jedoch bestimmter Strukturen, um zu funktionieren. Ein wichtiger Bestandteil heterogener Gesellschaften sind Begegnungsräume, die uns diese Diversität ganz praktisch erleben lassen. Begegnung kann Vertrauen schaffen, und Vertrauen ist wichtig für demokratische Gesellschaften. Sie können nur sehr eingeschränkt auf repressive Äquivalente wie Gewalt oder Überwachung setzen, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass ihre Bürger:innen ein gehöriges Maß an Vertrauen in das Funktionieren des Gemeinwesens aufbringen. Darüber hinaus müssen Bürger:innen auch einander einigermaßen vertrauen. Wieso sonst sollten sie eine kollektive Regelung akzeptieren, die sie potenziell schlechter stellt, wenn andere sie sowieso ausnutzen? Dazu sind sie an vielen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligt, durch regelmäßige Wahlen, durch breit verfügbare, vielfältige Informationen, durch Proteste, Petitionen, Meinungsäußerungen, durch freiwillige Organisationen und vieles mehr. Demokratie lebt davon, dass Menschen an sie glauben – und mitmachen. Sie ist nicht nur eine Regierungsform, sie ist eben auch ein Lebensstil.

Fehlende Antworten auf die Erosion der Demokratie

In letzter Zeit sehen viele Menschen eine Erosion demokratischer Institutionen. Die Regierung sei abgekoppelt und regiere am wahren Volkswillen vorbei – so lautet das populistische Narrativ, das bis weit hinein in die Mitte grassiert. Die Demokratie sei nicht schnell genug, um Weltprobleme wie den Klimawandel oder Pandemien zu lösen, sagen andere. Und wieder andere kritisieren, es werde zu viel geredet und zu wenig umgesetzt. Die Kritiken sind vielfältig, aber es ist doch klar: Demokratie steht »unter Feuer«, wie es der Journalist Jonas Schaible kürzlich nannte.6

Dabei wird viel über die Institutionen der Demokratie geschrieben, über Parteien, Medien, Gerichte, Parlamente, Verwaltungen. Sie sind wichtig, aber sie verfestigen Demokratie nicht im Alltäglichen. Demokratie lebt nicht nur von einigen wenigen, oft voraussetzungsreichen Institutionen. Sie lebt auch davon, dass Menschen einander im Alltag begegnen und erleben. Das lenkt den Blick zurück auf ebendiese Begegnungsorte im Alltag, für die die Dorfkneipe exemplarisch steht. Es sind diese Orte, an denen Menschen tagtäglich erleben, wie unser Zusammenleben mit mehr oder weniger bekannten Mitmenschen funktioniert – oder eben auch nicht. Es braucht sie, damit Menschen Räume haben, einander zu erleben – aus der Nähe, nicht aus der medial verzerrten Ferne. Es braucht sie, um elementare Sozialkompetenzen zu erlernen, aufzufrischen, zu verfeinern. Es braucht sie auch für den Konflikt, denn Streit ist in persona meist weniger konfrontativ als digital oder im eigenen Kopf. Und es braucht sie, damit Menschen auch sinnlich erfahren, wie Zusammenleben funktioniert.

Einige Begegnungsorte schaffen es schon in öffentliche Diskussionen, namentlich Bürger:innenräte und Begegnungsformate, die vermeintlich gegen Polarisierung helfen. Das sind wichtige Formate, die ihren Platz im institutionellen Gefüge der Demokratie haben werden. Aber sie haben Vorbedingungen: Man muss Zeit investieren, sich freiwillig mit häufig komplexer Materie auseinandersetzen oder mindestens ein Interesse an der Mitbestimmung in einer Sache haben. Sie erreichen relevante Teile unserer Gesellschaft nicht. Alltägliche Begegnungsräume haben geringere Zugangsvoraussetzungen. Sie liegen uns nahe, wir nutzen sie eben im Alltag. Sie sind Infrastrukturen, durch die wir unser Gemeinwesen im Alltag erleben, die aber auch dazu beitragen, dass Demokratie im Großen funktioniert.

Wenn Nähe verdächtig wird

Die Coronapandemie war eine Zäsur für die Art, wie wir einander begegnen: Bildschirm statt Billiard, Zoom statt Zoo. Viele Begegnungen fielen weg, oft ersatzlos. Andere wurden durch digitale Lösungen oft nur notdürftig ersetzt. Die Pandemie hielt die Welt mehrere Jahre in Atem, immer neue Wellen mit neuen Virusvarianten gingen um.

Nähe ist verdächtig geworden während der Coronapandemie: Das Virus kapert Nähe, es kapert die Luft und den Raum, die wir uns teilen. Tête-à-Tête ist zum Modell der Stunde geworden. Wir haben unsere Begegnungen reduziert auf unseren persönlichen Nahraum, damit ein unsichtbares Virus diese nicht nutzen kann, um sich zu vermehren. In unzähligen Lockdowns haben wir Nähe zu schätzen gelernt – durch ihr Fehlen. Bei manchen ist ein Restverdacht hängengeblieben, dass Nähe Gefahr bedeuten könnte.

Die Coronapandemie hat eins deutlich gemacht: Begegnung ist ein integraler Bestandteil unseres Lebens. Wenn wir allein oder mit der Familie oder Wohngemeinschaft im Lockdown, gar in der Quarantäne, gefangen sind, verkümmern wir. Menschen sind soziale Wesen, wir leben auch vom Kontakt mit anderen. Während der Coronapandemie hat sich dieser Kontakt für viele eingeschränkt: Mehr Austausch mit Menschen, die uns bereits nahestehen, also etwa Familie, Freund:innen, Partner:innen; weniger Begegnungen mit Bekannten und Unbekannten. Das bedeutet auch weniger spontane Anregungen von außen. Und es hat auch Rückwirkungen auf unsere Demokratie.

Digitale Begegnung ist nicht dasselbe

Das Internet, der einst als Demokratisierungsinstrument beschworene Raum, macht diese Entwicklung nicht besser.Natürlich gibt es gut funktionierende digitale Alternativen zum persönlichen Austausch. Wir begegnen uns tagtäglich online, tauschen uns auf Twitter aus, sprechen über Facetime oder WhatsApp miteinander, flirten über Tinder, lachen miteinander im Freundesvideochat. Auch der Zugang zu Informationen ist im Internet scheinbar grenzenlos. Die Coronapandemie hat viele technische Entwicklungen verstärkt, auch die digital literacy der breiten Bevölkerung hat durch sie einen Sprung gemacht. Vor allem Videokommunikation ist für eine breite Masse zugänglich geworden, fast jeder Messenger unterstützt sie heute, ergänzt durch häufig im Arbeitskontext vorkommende Programme wie Teams, Zoom und Co. Digitale Tools ersetzen auch zunehmend Begegnungen, die vorher analog waren: Der Arztbesuch? Geht per Videosprechstunde. Der Besuch bei den Eltern? Geht auch per Videochat. Arbeitstreffen sind zu größeren Teilen ins Internet verlagert worden. Oft ist man erstaunt, wie groß die Kollegin aus einer anderen Stadt ist, wenn man einander zum ersten Mal trifft. Man kannte sie vorher nur als Gesicht in einer Kachel.7 Das schafft Freiräume, ohne Zweifel. Aber es verändert auch die Art und die Häufigkeit, mit der wir einander begegnen.

Zwar ist umstritten, inwiefern es im Digitalen zu Filterblasen kommt, aber eine echte Auseinandersetzung, ein wirklicher Austausch mit den Haltungen, Meinungen und Lebensrealitäten anderer Menschen findet dort nur ganz selten statt. Man erlebt stattdessen pöbelige Debatten in sozialen Medien, Algorithmen schlagen einem immer radikalere Videos auf Youtube oder TikTok vor, man liest skandalisierende Artikel und die Diskussion im Berufskontext beschränkt sich auf die Sachebene. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht so kaum. Die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft durch digitale Vernetzung: Sie hat sich nicht erfüllt.Digitale Begegnung ist eben nicht dasselbe wie Begegnung mit voller körperlicher Kopräsenz. Es fehlen die schüchternen Beobachtungen, die unerwarteten Augenblicke, der Zufall der Begegnung, die Eindrucksfülle, die die gleichzeitige Anwesenheit mit sich bringt, die Kreativität der gemeinsamen Mittagspause. Es fehlt auch eine weniger zersplitterte Aufmerksamkeit, denn sitzen wir vor einem elektronischen Gerät, scrollen wir oft nebenher noch durch die E-Mails oder durch die sozialen Medien.

Die Folgen: Die berührungslose, einsame Gesellschaft

Die Diagnose, dass face-to-face-Begegnungen weniger werden, ist nicht neu. Die Journalistin Elisabeth von Thadden beklagt schon 2018 die »berührungslose Gesellschaft«. Sie beschreibt eine Gesellschaft, in der Menschen immer mehr Raum für sich haben – und anderen immer weniger nah kommen müssen. Berührung ist heute freiwillig und individuell, kaum mehr durch die Umstände vorgegeben. Das kann man als Fortschritt in Sachen Freiheit und Selbstbestimmung sehen. Allerdings hat die auch berührungstechnische Vereinzelung Folgeerscheinungen: Man fühlt sich abgekoppelt, vereinzelt, spürt weniger Resonanz.8

Einsamkeit beschreibt die Politikerin, Unternehmerin und scharfe Beobachterin unserer Gegenwart Diana Kinnert ebenfalls als zentrale Erscheinung der digitalen Moderne. Sie hat mit ihrem Buch über Einsamkeit im Jahr 2021 einen Nerv getroffen. Ihr geht es um eine neue Form, die auch digital induziert ist: Menschen sind nicht nur vereinzelt in ihren Wohnungen, sie erleben digital auch, was für ein tolles Leben andere (vermeintlich) führen. Diese Vereinzelung hat auch Rückwirkungen auf unsere Demokratie: Diese lebt davon, dass Menschen miteinander Gesellschaft gestalten wollen, nicht einsam und selbstbezogenen ihre eigenen Interessen verfolgen.9 Einsamkeit ist für verschiedene gesellschaftliche Gruppen ein Problem: für junge Menschen, die online das vermeintlich aufregende Leben ihrer Bekannten mitbekommen, für alte Menschen, deren Umfeld und Radius langsam kleiner werden, für Menschen in strukturschwachen Regionen, aus denen die Menschen wegziehen und für alle, denen es schwer fällt, Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Ihnen fehlt die Einbindung in soziale Netze, die sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben, die individueller geworden sind, wie die meisten von uns individualistischer geworden sind.

Was ist Begegnung?

Vereinzelung, Einsamkeit – bei all dem kann Begegnung helfen. Aber was ist das eigentlich, Begegnung? Soziolog:innen nennen das direkte Treffen von Menschen face-to-face-Interaktion. Menschen kommen in gegenseitige Wahrnehmungsreichweite, teilen dieselbe Umgebung und nehmen einander mit allen Sinnen wahr. Der Begriff ist analog gedacht, denn als er entstand, gab es allenfalls das (damals sehr teure) Telefon als Mittel der synchronen Fernkommunikation. Begegnung ist synchron, das heißt man muss sofort reagieren, sonst wird es komisch und die eigene Nichtreaktion selbst wird zur Nachricht.

Mit diesem Begriff werden solche Situationen von anderen Formen der Kommunikation unterschieden, etwa Briefe schreiben, telefonieren, chatten und vieles anderes. Trifft man sich face-to-face, also von Angesicht zu Angesicht, teilt man denselben Raum und nimmt ihn mit verschiedenen Sinnen wahr: Dass es draußen gewittert oder der Gully stinkt, muss man nicht extra formulieren, man muss nur die Nase verziehen oder beim Donnergrollen zusammenzucken.

Und mehr noch: Man nimmt einander auch auf verschiedene Weisen wahr, die Körpersprache spielt hier eine wichtige Rolle – und das alles synchron, ohne Verzögerung, intuitiv erfasst und verstanden. So, da sind sich Soziolog:innen einig, lässt sich leichter Verständnis und Vertrauen herstellen.10

Beobachtungen werden mit konkreten Personen verbunden. Unterschiedliche Lebensweisen, abweichende Meinungen – all das ist in Interaktion personifiziert, nicht abstrakt: Es ist Beate, die die AfD wählt, es ist Bernd, der gern Free Diving macht, es ist Jasper, der leicht autistisch ist, und Jürgen, der Baklava liebt – das ist anders als abstrakte Bilder aus den sozialen oder gedruckten Medien. Begegnung, das ist also vor allem Interaktion unter Anwesenden, die einen gemeinsamen Raum teilen und einander (potenziell) wahrnehmen. Natürlich geht das alles auch digital. Aber – so werde ich am Schluss des Buches zeigen – es ist eben nicht dasselbe.

Was sind Begegnungsorte?

Ob Dritte Orte, Soziale Orte, öffentliche Infrastrukturen oder Begegnungsorte – es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Orte zu bezeichnen. Diese Begriffe, um die sich die Debatte dreht, meinen alle ein wenig Unterschiedliches und haben doch einen gemeinsamen Kern. In diesem Buch heißen sie Begegnungsorte, denn es ist ein neutraler Begriff, der das in den Mittelpunkt rückt, was an ihnen geschieht: Menschen begegnen einander.

Diese Orte sind, erstens, alltäglich, das heißt wir begegnen ihnen auf Wegen, die wir sowieso gehen, manchmal sind sie sogar diese Wege: Wir nutzen gemeinsam Straßen, die S-Bahn oder den Bus, mittags essen wir in einem Café in der Nähe des Arbeitsplatzes, abends gehen wir im Sommer ins Schwimmbad oder ins Fitnessstudio und manchmal zum Elternabend der örtlichen Schule. Sie sind, zweitens, leicht zugänglich: Keiner dieser Orte benötigt einen größeren Aufwand oder höhere Geldbeträge, um sie zu betreten. Es kann schon sein, dass man ein Ticket für den Nahverkehr braucht oder ein Bier bezahlen muss, um in einer Kneipe verweilen zu dürfen. Nicht alle Personen haben Zugang zur lokalen Schule, aber die Hürden sind gering, die Kosten begrenzt. Die Orte sind, drittens, weitgehend freiwillig, zumindest zwingen sie nicht zu bestimmten Begegnungen und es gibt Alternativen.

Kneipen sind natürlich nicht die einzigen Begegnungsorte, es gibt ihrer unzählige: Straßen, Plätze, Parks, Schulen, Sportvereine, Fitnessstudios, Verkehrsmittel, Cafés, Restaurants, Co-Working-Spaces, Büros und Arbeitsstätten, Seminarräume, Universitäten, Schwimmbäder, Stadtteilgärten, Geschäfte, Kioske – die Liste lässt sich beinahe endlos verlängern. Dazu kommen geplante Begegnungsorte, etwa Parlamente, der Bus der Begegnung, Essenstafeln, Straßenfeste, Begegnungscafés, Bürgerversammlungen, gar Bürgerräte, Meetings, Betriebsversammlungen und viele mehr. Die im Buch genannten Orte dienen als Beispiele, um das Potenzial dieser Orte aufzuzeigen.

Begegnungsorte ermöglichen eine Vielzahl von Aktivitäten

Was geschieht an diesen Orten? Das ist sehr unterschiedlich. Eine Aktivität, die an allen alltäglichen Begegnungsorten stattfindet, ist die zufällige Beobachtung. Ob in Cafés, Schwimmbädern, auf der Straße, in der Metro oder der Bibliothek: Wir sind Menschen ausgesetzt, die auf irgendeine Weise anders sind als wir. Wir teilen einen gemeinsamen Raum, gehen manchmal sogar derselben Aktivität nach und sind dabei doch unterschiedlich. Unterschiede bekommen so Gesichter, sie werden mit konkreten Menschen verbunden. Jemand liest Thomas Mann in der Bibliothek? Aber eigentlich sieht er doch aus, als hätte er Geschmack. Ein Irokesenschnitt zum Anzug? Ungewöhnlich, aber warum nicht?

Aber das ist noch nicht alles: In Kneipen, in der Politischen Bildung oder auf Begegnungsbänken findet zusätzlich sprachlicher Austausch statt. Wer einmal nachts in einer Kneipe mit einer Anhängerin einer anderen politischen Richtung ein heikles Thema diskutiert hat, kennt den Wert der Begegnung: Man kann sich darauf einigen, dass man sich nicht einig ist – und trotzdem noch ein Bier zusammen trinken. Ähnlich, nur stärker gerahmt und geplant, funktionieren viele Formate der politischen Bildung. Und wer im Zug nicht im Ruheabteil arbeiten, sondern sich austauschen will, kann bei einigen Anbietern sogenannte Begegnungsabteile buchen und mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen.

An manchen Orten kommt es sogar zu wiederkehrender Begegnung. Im eigenen Wohnhaus, in Schulen, auf Elternabenden oder bei der abendlichen Boulerunde im Park: Es sind dieselben Menschen, die sich begegnen können – ob sie wollen oder nicht. So kann man einander aufgrund einer gemeinsamen Aktivität oder wegen desselben Wohnortes stärker wahrnehmen und Beziehungen miteinander aufbauen und vertiefen.

Einige Begegnungsorte bieten darüber hinaus die Möglichkeit, gemeinsame Aktivitäten zu vollziehen. Dabei kann es sich um ganz verschiedene Dinge handeln: Bei der Freiwilligen Feuerwehr retten üben, im Gesangsverein Kantaten oder Gospel singen, Schach im Park vor Publikum, die Volleyballmannschaft im Sportverein oder gärtnern im Gemeinschaftsgarten – bei allem ist man auf Kooperation mit anderen angewiesen, manchmal mit Fremden. Dieses gemeinsame Tun ist ein wichtiger Baustein von Vergemeinschaftung.11

Über die alltäglichen Begegnungen der Demokratien wird wenig gesprochen. Vielleicht sind sie einfach zu selbstverständlich für uns – solange sie da sind. Und vielleicht wird diese Selbstverständlichkeit ihnen zum Verhängnis. Ihr Fehlen fällt vor allem dort auf, wo es nicht mehr viele von ihnen gibt: Schließt die Dorfkneipe, macht die Freiwillige Feuerwehr mangels Engagements dicht oder wird das Schwimmbad im Stadtteil weggekürzt, fällt erst auf, wie wichtig sie für das Miteinander waren.

Demokratie fehlt Begegnung, weil sie sie braucht

Um die fehlenden und dringend gebrauchten alltäglichen Begegnungen geht es in diesem Buch. Es folgt einer doppelten Beobachtung. Erstens: Demokratie fehlt Begegnung. Sie fehlt, weil die Orte weniger, ungepflegter, exklusiver und getrennter geworden sind.

Aber Begegnung kann nur fehlen, weil Demokratie sie, zweitens, braucht