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Rainald Manthe

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Beschreibung

Warum treffen sich soziale Bewegungen? Dieser Frage geht Rainald Manthe am Beispiel der transnationalen Bewegungskonferenz des Weltsozialforums nach. Mithilfe einer interaktionssoziologischen Perspektive zeigt er auf, welche Eigenleistungen die Sozialform der (physischen) Interaktion für das Zustandekommen und den Erfolg der Treffen sozialer Bewegungen erbringt. Hierzu analysiert er, wie eine fragile Interaktionsordnung konstruiert, Verstehen ermöglicht und Zusammenhalt geschaffen wird - und dadurch Alternativen lebbar werden. Dabei wird deutlich, dass es nicht nur bei sozialen Bewegungen einen Eigenwert hat, sich leibhaftig zu treffen, anstatt über technische Medien zu kommunizieren.

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Rainald Manthe (Dr. phil.), geb. 1987, Soziologe und Autor, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Gesellschaftspolitik am Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Er hat an der Universität Luzern mit einer interaktionssoziologischen Arbeit zu den transnationalen Großtreffen sozialer Bewegungen promoviert.

Rainald Manthe

Warum treffen sich soziale Bewegungen?

Vom Wert der Begegnung: Interaktionssoziologische Perspektiven auf das Weltsozialforum

Dissertation, Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern 2019. Erstgutachterin: Prof. Dr. Bettina Heinz, Zweitgutachter: Prof. Dr. Gaetano Romano, beide Universität Luzern.

Die digitale Buchpublikation wurde publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zur Förderung wissenschaftlicher Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld © Rainald Manthe

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Lektorat & Korrektorat: Maxi Friederike Gaudlitz

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5616-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5616-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5616-9

https://doi.org/10.14361/9783839456163

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Prolog

1.Einleitung

a)Die Magie des Weltsozialforums

b)Warum treffen sich soziale Bewegungen?

c)Übersicht über das Buch

2.Interaktion als analytische Brille

a)Was ist Interaktion?

b)Kommunikation unter Anwesenden: Face-to-face Interaktion

c)Interaktion vs. Telekommunikation

d)Interaktion als Perspektive für die (transnationalen) Treffen sozialer Bewegungen

3.Interaktion als Kategorie für soziale Bewegungen

a)Die Bewegungsforschung …

b)… und ihre Behandlung von Interaktionsphänomene

c)Soziale Bewegungen und Weltgesellschaft

d)Zwischenfazit: Interaktion in sozialen Bewegungen

4.Das Weltsozialforum

a)Ursprünge und Historie

b)Die Charta als Common Ground

c)Organisation der Treffen

d)Funktionen der Treffen

e)Die Zukunft des WSF: Open Space vs. Partei

5.Das Weltsozialforum untersuchen

a)Warum Ethnographie?

b)Vorgehen dieser Arbeit

c)Zwischenfazit

6.Die Unwahrscheinlichkeit der Weltsozialforen

a)Einführung

b)Die Unwahrscheinlichkeit der Teilnahme I: (Selbst-)Selektion

c)Die Unwahrscheinlichkeit der Teilnahme II: Kosten und Hürden

d)Der Versuch, »the big tent« zu finden: Mangel auf den Weltsozialforen

e)»Und was machen wir jetzt damit?« – Perzipierte Folgenlosigkeit

f)Homophilie oder Durchmischung?

7.Leistung I: Die Interaktionsordnung(en) des Weltsozialforums

a)Der Raum der Weltsozialforen

b)Zeitliche Strukturierung und Themen

c)Soziale Beziehungen

d)Typologie von Interaktionen

e)Zwischenfazit: fragile Ordnung, fragile Orientierung

8.Leistung II: Verstehen

a)Einführung: Die Welt spricht viele Sprachen

b)Situationsverstehen und nonverbale Kommunikation

c)Sprachverstehen

d)Inhaltsverstehen

e)Zwischenfazit

9.Leistung III: Zusammengehörigkeit schaffen

a)Einführung: Die Einheit der Vielfalt

b)Der Blick auf Symbole der Zusammengehörigkeit: Badges, Beutel und Bewegungsaccessoires

c)Mimik und Gestik: kleine Zusammengehörigkeitsgesten

d)Der Umgang mit Störungen und Konflikten

e)Gemeinsam nebeneinander demonstrieren

f)Vorstellungsrunden und Ansprachen in Workshops

g)Das Schaffen gemeinsamer Erlebnisse

h)Zwischenfazit: temporäre Zusammengehörigkeit, generelle Übereinstimmung

10.Leistung IV: Alternativen Leben

a)Einführung

b)Alternativen als Themen

c)Alternativen als Praktiken

d)WSF als gelebte Globalität

e)Zwischenfazit: Der Beitrag von Interaktion für die Verfertigung (globaler) Alternativen

11.Fazit

a)Resümee der Studie

b)Interaktionssoziologische Schlüsse

c)Schlüsse für die Bewegungsforschung

d)Ausblick

Epilog: Face-to-Face Interaktion nach Corona

Liste zitierter Quellendokumente

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Untersuchungsdimensionen

Abbildung 2: Gemeinsame Weltsichten

Abbildung 3: Aktivist*innen tragen Pappfiguren mit Namen von Teilnehmenden, denen das Visum verweigert wurde.

Abbildung 4: Zeitstruktur auf dem WSF 2016, Montreal.

Abbildung 5: Mehrsprachiges Plakat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Tunis 2015.

Abbildung 6: Verteilung von Sprachen während der ESF-Vorbereitung.

Abbildung 7: Grundeinkommenskostüm mit aufgezeichnetem Lächeln.

Abbildung 8: Mülltrennung auf der Attac Sommeruniversität 2014.

 

 

 

 

Tabelle 1: Die Weltsozialforen im Überblick

Tabelle 2: Typologie von Interaktionssituationen

Prolog

Als ich Karin Knorr Cetina, die ich im Rahmen der Dissertation für einen Forschungsaufenthalt besuchte, meine damals schon recht fortgeschrittene Forschung vorstellte, sagte sie schlicht: »Herr Manthe, das ist ein hochspannendes Thema, aber ich hätte es mir nie ausgesucht: Es ist viel zu komplex!«

Komplex – das ist das Weltsozialforum und auch, einen soziologisch spannenden, umsetzbaren Zugriff darauf zu finden. Die Komplexität macht das Phänomen Weltsozialforum auch spannend, faszinierend. Man versteht kaum, was vor sich geht, wenn man mittendrin ist: Zu viele Eindrücke prasseln auf einen ein, zu viele Dinge passieren gleichzeitig. Über all dem liegt eine Aura seriöser Magie, die soziologisch kaum zu fassen und doch überall präsent ist. Den Teilnehmenden ist es ernst. Sie wünschen sich eine andere Welt und sind bereit, dafür etwas aufzugeben. Diese Aura schien es wert, trotz aller Schwierigkeiten und Komplexitäent, zumindest ansatzweise erforscht zu werden.

Was von Anfang an auffiel, war eine starke Diskrepanz zwischen den Wünschen der Teilnehmenden und der Wirklichkeit der Weltsozialforen. Es waren keine gut organisierten Veranstaltungen, die sich geschmeidig ins Weltsystem einfügen, auf denen Strategien besprochen werden, wie die Welt übermorgen besser wird. Es sind vielmehr überdimensionierte Mischungen aus Festivals und Messen, wuselig und unkoordiniert, auf denen vieles gleichzeitig passiert, was nur lose zusammenhängt. Die bessere Welt, die die Teilnehmenden imaginieren, kommt nicht maßgeblich durch die Weltsozialforen zustande. Und doch finden diese Treffen immer wieder statt – zwar mit abnehmendem Interesse, aber trotz allem noch mit zehntausenden Teilnehmenden. Warum ist das so? Es musste etwas geben, das auf den Weltsozialforen geschieht. Diesem Etwas bin ich in dieser Arbeit nachgegangen. Was dieses Etwas sein könnte, war am Anfang nicht klar. Genau diese Offenheit der Fragestellung war ein Faktor, der die Forschung komplex machte.

Ein solch großes Unterfangen wäre folglich nicht ohne Hilfe möglich gewesen. Viele Menschen waren in unterschiedlicher Weise am Erfolg dieser Arbeit beteiligt. Danken möchte ich vor allem Bettina Heintz, die diese Arbeit durch viele kritische Fragen, unzählige Literaturhinweise, vor allem aber durch den Glauben an das Vorhaben unterstützt und begleitet hat. Ihre Kenntnisse, ihr soziologischer Ideenreichtum und ihre Beharrlichkeit haben die Arbeit massiv vorangebracht. Prof. Dr. Gaetano Romano danke ich für die Zweitbetreuung der Arbeit. Das erst Bielefelder, dann Luzerner Kolloquium um Bettina Heintz und Andrea Glauser hat mir tausenderlei Anregungen gegeben, vor allem aber ein produktives, wertschätzendes, mitdenkendes wissenschaftliches Umfeld geboten, das mich angeregt hat, Dinge weiter und noch einmal anders zu denken. Tabea Schroer hat die Arbeit durch ihre Neugier und ihre Mitarbeit bei der Feldforschung maßgeblich unterstützt und viele Gedanken beigesteuert. Ihr und Lukas Daubner danke ich für das akribische Gegenlesen und Korrigieren der Arbeit. Maxi Friederike Gaudlitz-Woyke danke ich für das aufmerksame Lektorat der Publikationsversion.

Für die Unterstützung der Feldforschung und ihrer Auswertung danke ich Ann-Kathrin Vollmer, Noriko Blaue, Britta Hamann, Tim Ackermann und einigen mehr. Vor allem danke ich den vielen anonymen Interviewpartner*innen, die sich, ohne zu zögern, meinen Fragen gestellt haben. Den Teilnehmenden an meiner Dissertations-Gegenlese-Party danke ich sehr für das Auffinden der vorletzten Fehler und Ungereimtheiten. Die Bielefeld Graduate School in History and Sociology und die Graduate School Luzern haben mich vielfältig finanziell, durch Seminare, Beratung und Betreuung unterstützt. Besonders Christina Cavedons Engagement im Zuge der Einreichung meiner Dissertation hat mir das Leben erleichtert. Ein Graduiertenstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung hat mir die ersten Jahre der Dissertation ermöglicht und mir neben der Arbeit auch vielfältige Wertschätzung für mein gesellschaftliches Engagement entgegengebracht.

Neben der wissenschaftlichen Unterstützung ist auch die private wichtig. Zahlreiche Menschen haben mich während der Jahre begleitet: Karoline, Maxi, Tabea, Lukas, Amélie, Fred, Patrick, meine Eltern, meine Oma Angela Manthe und einige mehr. Den Humanismus, den mir meine Oma vorlebte und den sie als ganz selbstverständlich beschrieb, habe ich bei den untersuchten sozialen Bewegungen häufig wiedergefunden. Es ist ein Humanismus, der Hoffnung macht für die Zukunft der Welt in schwierigen Zeiten.

Ich hoffe, mit der Arbeit beizutragen zum Verständnis der Funktionsweise sowohl sozialer Bewegungen als auch von Interaktionsphänomenen. Nur, wer versteht, wie die Welt funktioniert, kann sie auch verändern.

Berlin, August 2020

1.Einleitung

a)Die Magie des Weltsozialforums

Magisch. So beschreiben Blau und Moncada die Weltsozialforen: »There is an air of uncompromising, no-nonsense seriousness – there is work to be done – yet, the Forums have an atmosphere of vibrant youthful utopianism.« (Blau & Moncada 2008: 2)

Solche Beschreibungen finden sich auf ähnliche Weise auch immer wieder in meiner Feldforschung. Eine Interviewpartnerin1 bezeichnete die Atmosphäre als »sauschön« (Interview 1), durchsetzt von Momenten der Euphorie und Energie (ebd.). Die Atmosphäre auf dem vorherigen Weltsozialforum beschreibt sie sogar als »sehr ausgelassen, total positiv, neugierig [und] euphorisch« (ebd.). Ein »ständiges Zusammenwirken« gibt eine Teilnehmerin aus Lateinamerika zu Protokoll, seien die Treffen (Interview 7). In den Workshops, die ein zentraler Bestandteil der Weltsozialforen sind, empfand eine andere Teilnehmerin einen »Raum für offene Diskurse« (WSF 2015 – Auswertungstreffen).

Menschen sind fasziniert vom Weltsozialforum, dem transnationalen Großtreffen sozialer Bewegungen, das 2001 als Experiment gestartet ist. Sie schreiben ihm positive Attribute zu. Doch diese Faszination beginnt sich abzunutzen. Es gibt viel Kritik an der Organisation, Durchführung, Schwerpunktsetzung, Instrumentalisierung, Machstrukturen und Wirkung der Treffen, vor allem von (langjährigen) Beteiligten (Mestrum 2017; Müller 2018). Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Aber wie sieht diese Wirklichkeit eigentlich aus? Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen vielen normativen – entweder affirmativen oder ablehnenden – Texten und wenigen empirischen Studien zum Weltsozialforum (siehe aber Schroeder 2015; Fiedlschuster 2018). Es wurde viel geschrieben über dieses Ereignis, aber recht wenig geforscht.

Als das Weltsozialforum 2001 zum ersten Mal stattfand, war die Weltlage eine andere als heute. Die Linke befand sich in Aufbruchsstimmung: Große, medienwirksame Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) 1999 in Seattle (die als »the battle of Seattle« in die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung eingingen) und gegen ein Treffen der G8 in Genua sowie die Erfolge linker und linkspopulistischer Regierungen in Lateinamerika schürten Hoffnung. So startete das Weltsozialforum mit dem Slogan »Eine andere Welt ist möglich« und dem Anspruch, die Spaltungen in der Linken durch ein neues Veranstaltungsformat zu überwinden: den Open Space (ausführlich: Kapitel 4). Es sollte ermöglichen, Alternativen zu einer rein wirtschaftlichen Globalisierung, wie sie etwa auf dem zu Anfang zeitgleich stattfindenden Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) in Davos verhandelt wurde, zu diskutieren und auszuprobieren.

Die Weltsozialforen sind Großtreffen sozialer Bewegungen, die eine andere Globalisierung jenseits einer kapital- und konsumgetriebenen verhandeln. Hier treffen sich vor allem globalisierungskritische soziale Bewegungen, Einzelpersonen, Intellektuelle, Aktivist*innen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) unter Ausschluss von Partei- und Staatsvertreter*innen. Workshops und Seminarveranstaltungen – tausende pro Treffen – stehen im Mittelpunkt der Veranstaltungen. Während die Treffen in den 2000er Jahren bis zu 150.000 Teilnehmende anzogen, hat sich die Zahl nach 2010 auf ca. 30.000 eingependelt. Auffallend ist die sprachliche und kulturelle Heterogenität der Teilnehmenden sowie die Breite ihres Aktivismus: Spanischsprachige Menschen aus Südamerika treffen auf Englisch oder Französisch sprechende Aktivist*innen aus Europa, auf nordamerikanische Gewerkschafter*innen, auf afrikanische NGO-Mitarbeiter*innen, auf indische Intellektuelle. Diese Heterogenität wird schnell sicht- und erlebbar: Die Treffen sind vielsprachig, bunt und wuselig – am ehesten können sie beschrieben werden als eine Mischung aus Festival und Konferenzbetrieb.

Im Jahr 2018 ist von dieser Aufbruchsstimmung wenig übrig (vgl. z.B. Manthe 2018). Nicht erst auf dem Weltsozialforum in Salvador da Bahia im März 2018 ist die Hoffnung großer Alternativen reinen Abwehrkämpfen gewichen. Die Kämpfe richten sich gegen Unterdrückung, gegen Morde, gegen den Klimawandel und gegen die Verbreitung des Rechtspopulismus. Debatten über Ausrichtung und Notwendigkeit der Großtreffen gibt es seit ihrem Beginn, aber in letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die das Forum ersatzlos abschaffen wollen (Müller 2018). Ob und in welcher Form das Treffen eine Fortsetzung findet, ist derzeit nicht bekannt. Gleichwohl hat es so einige Tiefpunkte überlebt und erfreut sich erstaunlich großer Beliebtheit und Unterstützung. Die »Magie« der Weltsozialforen scheint nicht vollständig erloschen. Was vielen Beobachter*innen der Weltsozialforen fehlt, ist das Gefühl von Folgenreichtum: Die Weltsozialforen führen nicht merkbar zum proklamierten Ziel: »Another world is possible.« Die Welt verändert sich durch sie kaum, aufreibenden und langwierigen Treffen zum Trotz. Diese perzipierte Folgenlosigkeit kontrastiert mit der schwer fassbaren Faszination für die Treffen.

b)Warum treffen sich soziale Bewegungen?

Die Weltsozialforen stehen in der Kritik, nicht erst in den letzten Jahren. Und doch finden sie bis jetzt immer wieder statt – trotz erheblichen Aufwands und intensiver Kosten. Der empirische Fall des Weltsozialforums verweist auf ein breiteres soziologisches Rätsel, das nicht hinreichend geklärt ist: Warum kommen so viele Menschen freiwillig zusammen, ohne, dass klare Folgen erkennbar sind und obwohl ihre Opportunitätskosten hoch sind? Diese Frage stellt sich für viele Aktivitäten sozialer Bewegungen. Kurzgefasst:

Warum treffen sich soziale Bewegungen?

Es gibt verschiedene Kategorien von Treffen sozialer Bewegungen. Während bei Planungstreffen, in der Literatur je nach Akteurskonstellation häufig Micro- oder Mesomobilization genannt (Gerhards & Rucht 1992), die Zwecke des Treffens klar erscheinen (Planung von Aktivitäten, Vernetzung für dauerhafte oder punktuelle Zusammenarbeit), ebenso auf Demonstrationen (Darstellung von Protest), sind die Gründe für Bewegungskonferenzen unklarer. Sie sind gewissermaßen unwahrscheinliche Ereignisse, da ihr Nutzen für Einzelne, für die sozialen Bewegungen und für Gesellschaft bestenfalls diffus und schlimmstenfalls unklar ist. Noch unwahrscheinlicher sind globale Bewegungskonferenzen wie das Weltsozialforum: Bei sehr hohen (Opportunitäts-)Kosten ist der Nutzen kaum klar zuweisbar.

Die vorrangig zuständige Bewegungsforschung hat auf diese Frage bisher keine hinreichenden Antworten gegeben. Sie stellt zwar fest, dass soziale Bewegungen sich ständig treffen, allerdings folgt daraus kein Forschungsprogramm. Die in Europa führenden Bewegungsforscher*innen Dieter Rucht und Donnatella della Porta bemerken treffend: »Although social movements activists do protest in the street, most of their political life is spent in meetings: they act a lot, but they talk even more.« (Della Porta & Rucht 2013b: 3) Soziale Bewegungen interagieren ständig face-to-face, obwohl Äquivalente wie soziale Medien oder Social-Movement-Organizations zunehmend leicht und billig verfügbar sind. Warum ist Interaktion so wichtig für soziale Bewegungen?

Eine mögliche Erklärung könnte darin bestehen, dass die Beteiligung an den Treffen sozialer Bewegungen größere persönliche und/oder politische Effekte hat: Man kommt positiv verändert aus diesen Treffen zurück, etwa gestärkt und motiviert, und/oder man verändert durch seine Teilnahme ein Stück weit die Welt. Diese Effekte rechnen die Teilnehmenden ihren eigenen Präsenz zu. Während dies bei Protestaktionen und Demonstrationen vielleicht noch konstruierbar ist, sind die Effekte der Treffen sozialer Bewegungen kaum zurechenbar. Nicht umsonst gibt es nur spärlich Literatur zu den »Konsequenzen« sozialer Bewegungen auf Biographien, auf Werte und auf politische Entwicklungen (siehe dazu neu und in den Beiträgen sehr kleinteilig: Bosi et al. 2016; Cox 2018).

Die Wirkungen sozialer Bewegungen – externe wie interne – sind schwer zu bestimmen. Das gilt für die Beteiligten wie auch für Forschende. Aufseiten der Beteiligten führt dies umso mehr dazu, dass die Treffen zu unwahrscheinlichen Angelegenheiten werden: Wenn den potentiellen Teilnehmenden unklar ist, warum sie mitmachen sollten, zumal gleichzeitig verbunden mit hohen Kosten, warum sollte man dann überhaupt teilnehmen? Was ist es, das dazu führt, dass aus dem Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre ein Plural an Weltsozialforen geworden ist?

Auch »Magie« ist ein soziologisch schwer fassbares Konzept und fällt somit als Erklärung aus. Was die Treffen sozialer Bewegungen jedoch eint, ist, dass sie als face-to-face Interaktion stattfinden. Hierin könnte eine Antwort auf die Frage liegen, warum soziale Bewegungen sich treffen. Meine These ist, dass die Sozialform Interaktion etwas birgt, das mit anderen Konzepten nicht erfasst werden kann und das zur Aufklärung meiner Frage hilfreich ist. Die interaktiven Bedingungen für das Zustandekommen und das Stattfinden der Weltsozialforen sind es, die mich in dieser Arbeit interessieren.

Interaktion, also Kommunikation unter Anwesenden (Kieserling 1999), ist das zentrale Konzept dieser Arbeit. Sie meint dabei nicht Wechselwirkung – eine häufig verwendete Bedeutungsebene (Näheres in Kapitel 2), sondern die Kommunikation unter sich gegenseitig als anwesend wahrnehmenden Anwesenden (Luhmann 2009b [1975]).

Im Gegensatz zu Ansätzen, die etwa nach den Outcomes der Treffen sozialer Bewegungen fragen, oder solchen, die auf individuelle Teilnahmemotivationen abzielen, fragt das Konzept der Interaktion, was auf den Treffen geschieht. Mehr noch: Ein starker Interaktionsbegriff, wie ihn etwa Luhmann (ebd.) und Goffman (1983) vorschlagen und mit dem ich arbeite, laboriert mit der These der Unhintergehbarkeit der Interaktion. Die Kommunikation unter Anwesenden bildet eine eigene Ebene von Sozialität, die eigenen Regeln folgt, welche nicht etwa durch die Rollen der Interaktionsteilnehmenden, ihre Motive oder die weltpolitische Lage vorhersagbar sind. Interaktion ist nicht vollständig auf andere Sozialformen zurückführbar, sie entfaltet ihre ganz eigenen Dynamiken und folgt eigenen Regeln.

Damit wird Interaktion in dieser Arbeit als ein Konzept herausgearbeitet, das zur Erklärung der Treffen sozialer Bewegungen beitragen kann. Es geschieht etwas auf der Ebene von Interaktion, das bisher kaum analytisch betrachtet wurde und das so stark ist, dass sich soziale Bewegungen weiterhin face-to-face treffen.

Diese Arbeit fragt, warum sich soziale Bewegungen treffen und untersucht dies anhand des globalen Interaktionsphänomens Weltsozialforum. Die konkrete Untersuchungsfrage lautet:

Warum finden Treffen wie die Weltsozialforen trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit statt?

Mit der These, dass die Sozialform Interaktion, in der die Treffen stattfinden, etwas damit zu tun hat, ergeben sich folgende Unterfragen:

•Wie wird auf den WSF interagiert?

•Welche Interaktionsprobleme stellen sich und wie werden sie gelöst?

•Welche Leistungen stellt Interaktion für die Treffen bereit?

c)Übersicht über das Buch

Meiner Frage werde ich wie folgt nachgehen: Im folgenden Kapitel (2) entfalte ich meinen Hauptbegriff – face-to-face Interaktion – und grenze ihn von verwandten Begriffen wie Telekommunikation ab. Interaktion ist eine soziale Ebene eigener Ordnung, und mit einem interaktionssoziologischen Blick rücken so andere Phänomene in den Blick als im Rückgriff auf andere Konzepte.

Inwiefern die Forschung zu sozialen Bewegungen bereits Interaktionsphänomene erfasst, mit welchen Mitteln sie diese betrachtet und welche Leerstellen es gibt, führe ich im darauffolgenden Teil aus (3).

Was ist das Weltsozialforum, welche (Vor-)Geschichte hat es und welche Debatten werden um diese Großtreffen sozialer Bewegungen geführt? Darum geht es im vierten Kapitel. Wie untersucht man dieses Feld am besten, um Interaktion auf die Spur zu kommen? In Kapitel fünf führe ich aus, warum ein ethnographisches Vorgehen sich anbietet und wie ich vorgegangen bin, mit allen Vorteilen und Problemen dieser Vorgehensweise.

Im sechsten Kapitel beginnt die Reise zum Weltsozialforum – mit einigen Hürden. Was muss geschehen, damit die Treffen stattfinden? Welche Unwahrscheinlichkeitsschwellen müssen dafür übersprungen werden?

Im folgenden Kapitel (7) argumentiere ich, dass die Weltsozialforen es schaffen, eine besondere, auf Aufmerksamkeit und Offenheit gepolte Interaktionsordnung hervorzubringen. Diese sattelt auf verschiedenen, bekannten Mustern auf, findet jedoch keine Entsprechung in den Lebenswelten der Teilnehmenden und ist deswegen auf vielfache Aushandlungsprozesse angewiesen und fragil. Dies ist die erste Leistung der Sozialforum Interaktion für die Weltsozialforen.

Die zweite Leistung (Kapitel 8) ist das Verstehen. Hierbei kann zwischen Sprachverstehen, Situationsverstehen und kognitivem Verstehen unterschieden werden. Verstehen generiert noch keine Zusammengehörigkeit – eine Verstehensfiktion ist allerdings eine Vorbedingung für eine Zusammengehörigkeitsfiktion. Dafür muss ein gewisses Maß an Sprachverstehen sichergestellt werden, worauf kognitives Verstehen zumeist basiert. Situationsverstehen dagegen erfolgt stärker nonverbal, im Vergleich zu anderen, ähnlichen Situationen. Das Verstehensproblem kommt einerseits interaktiv ganz anders auf als etwa online oder im heimischen Lehnstuhl: Man kann sich ihm schlecht entziehen, und wenn man schon einmal anwesend ist, kann man sich auch um Verständigung bemühen. Andererseits finden sich in face-to-face-Interaktion auch schneller Lösungen, nicht nur aus schierer Notwendigkeit, sondern weil die Möglichkeit besteht, zur Not mit Händen und Füßen zu übersetzen. Insofern ist Verstehen eine Leistung, die erst notwendig wird, weil die Treffen überhaupt stattfinden. Gleichzeitig ist es aber auch eine Leistung, die zum Gelingen der Treffen beitragen und deren Mittel zum Teil auf den Treffen selbst bereitgestellt werden.

Die dritte Leistung (Kapitel 9) ist die Herstellung von Zusammengehörigkeit. Diese erfolgt in Interaktion häufig über eine Zusammengehörigkeitsfiktion, über eine Fiktion von Gleicherleben und Gleichfühlen, vom gemeinsamen Hineingezogensein in eine Situation. Darüber hinaus verläuft die Konstruktion von Zusammengehörigkeit etwa anhand sozialer Kämpfe als verbindendes Element. Die interaktiven Mechanismen zur Kleinhaltung von Störungen und ein gewisser Hang zum Konsens in dieser Sozialform unterstützen diese Schaffung von Zusammengehörigkeit.

Die vierte Leistung (Kapitel 10) fußt auf der Strukturauflösungs- und Innovationskraft von Interaktion. Das WSF beschäftigt sich auf verschiedene Weisen mit Alternativen, sowohl semantisch wie auch praktisch. Aber auch interaktional werden einige Dinge anders gemacht, wozu die »leichte« Sozialform Interaktion reichlich Möglichkeiten bietet. So werden die geforderten Alternativen gleich mit umgesetzt, sei es in einem bestimmten, wertschätzenden Umgang miteinander, oder indem man die geforderte andere, globalisierte Welt als gelebte Globalität vor Ort lebt – und bei all dem mitnimmt, dass diese andere Welt tatsächlich möglich ist. Insofern bilden die WSF wichtige Inkubatoren dieser anderen Welt, weil sie die Freiwilligkeit sozialer Bewegungen durch interaktive, experimentelle Machbarkeitsstudien fördern.

Abschließend (Kapitel 11) fasse ich die Studie zusammen und ziehe ein Fazit für die Interaktionssoziologie als auch für die Bewegungsforschung. Ich zeige mögliche Anschlüsse für die Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung auf, zu deren Mikrofundierung diese Studie beitragen möchte.

Für wen ist dieses Buch geschrieben? Es ist anschlussfähig an verschiedene Debatten. Menschen, die sich mit dem Weltsozialforum theoretisch oder praktisch beschäftigen, finden darin eine dichte Beschreibung und Analyse mit dem Fokus auf die stattfindenden Interaktionssituationen.

Bewegungsforscher*innen werden in dieser Studie ein Beispiel dafür finden, wie man mit Interaktionssoziologie soziale Bewegungen erforschen kann. Interaktionssoziologie hat immense Potentiale, die Treffen sozialer Bewegungen besser zu verstehen. Auch in praktischer Absicht kann sie helfen, denn informierte Verbesserungsvorschläge können nur aus einem Verstehen folgen.

Für die interaktionssoziologische Community bietet das Buch eine recht umfassende, interaktionssoziologische Studie, die einige ihrer Konzepte an einem Fall durchdekliniert, etwa die Interaktionsordnung oder Typenprogramme.

Die Studie ist ebenfalls für all diejenigen interessant, die glauben, dass face-to-face Interaktion zugunsten von digitaler Kommunikation immer weiter ins Hintertreffen geraten wird. Interaktion ist keine Vorform ausgefeilter Videokonferenzen, sie kann mehr. Einige Beispiele dieses »Mehr« zeige ich in diesem Buch.

1Gesellschaft besteht aus Menschen mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten und -verständnissen. Um diese möglichst alle anzusprechen, verwende ich – wo möglich – neutrale Geschlechterbezeichnungen, wenn das Geschlecht unklar ist oder alle Personen angesprochen werden sollen. Wo das Geschlecht bekannt ist – etwa bei Interviewpartnerinnen – benenne ich es. In allen anderen Fällen verwende ich das Gendersternchen, beispielsweise Partner*innen.

2.Interaktion als analytische Brille

a)Was ist Interaktion?

Diese Arbeit interessiert sich für die Treffen sozialer Bewegungen und die Frage, warum diese stattfinden. Meine These ist, dass auf diesen Treffen etwas geschieht, das durch äußere Rahmenbedingungen (weltpolitische Lage, Organisationszugehörigkeit und damit Rollen der Teilnehmenden oder ihre Identitätsansprüche etc.) nicht komplett erklärbar ist. Das führt dazu, dass erst einmal unwahrscheinliche Treffen wie das Weltsozialforum stattfinden und über längere Zeit hinweg bestand haben. Mit welchen Begriffen und Konzepten können sie erfasst werden?

Die Soziologie bietet hierzu eine theoretische Perspektive, die es erlaubt, die Eigendynamik solcher Treffen zu analysieren: die Interaktionssoziologie. Der soziologische Interaktionsbegriff fußt (zumeist) auf physischer Kopräsenz, meint also face-to-face Interaktion und unterscheidet sich von dem in den Naturwissenschaften, aber auch in den Medienwissenschaften und teilweise sogar in der Soziologie verwendeten Begriffs der Interaktivität (wobei hier teilweise auch der Begriff »Interaktion« genutzt wird, was häufig zu Verwechslungen führt), der Wechselwirkungen beschreibt (Kieserling 1999: 15; für interactivity in den Medienwissenschaften Baym 2010). Es geht bei dem hier eingeführten Interaktionsbegriff um die spezifische Kommunikation, die durch Anwesenheit im Sinne von räumlicher Nähe und Erlebbarkeit der Präsenz des Anderen ermöglicht wird. Diese physische Nähe erzeugt eine Gleichräumlichkeit, d.h. die Akteure der Interaktion teilen sich einen gemeinsamen Raum, und das zur selben Zeit. Aber mehr noch: Sie erleben diese Umwelt und einander mit denselben Sinnen, müssen sich über Gerüche, Blitzeinschläge oder Donnergrollen kaum mehr verständigen. Gleichzeitigkeit, Gleichräumlichkeit und Gleichsinnigkeit zeichnen Interaktion im hier verwendeten Sinne aus. Dies wiederum führt zu einer starken und geteilten Eindrucksfülle, die face-to-face Interaktion auszeichnet.

Ich führe im Folgenden aus, welche Konzepte von Interaktion es gibt und wie diese den Begriff umreißen (b). Anschließend unterscheide ich Interaktion von Telekommunikation – einem Konzept, das in der Literatur vor allem seit Aufkommen des Internets stark dominiert (c). Am Ende fasse ich den hier verwendeten Interaktionsbegriff zusammen (d).

b)Kommunikation unter Anwesenden: Face-to-face Interaktion

Es gibt nicht den einen, sondern eine ganze Reihe von Interaktionsbegriffen. Bekannt geworden ist diese Forschungsrichtung besonders durch die Arbeiten Erving Goffmans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren.1 Aber er ist nur einer der Vertreter*innen, der in der Soziologie mit diesem Begriff arbeitet. Neben dem symbolischen Interaktionismus von Herbert Blumer (1969), von dem sich Goffman als zu unkonkret abgrenzt (Dellwing 2014), ist international vor allem Randall Collins mit seinem konflikttheoretischen Interaktionsansatz bekannt geworden, der in seiner späteren Version stark auf emotionale Prozesse von Gruppen und sozialen Bewegungen abstellt (Kemper & Collins 1990; Collins 2001).

Erwing Goffman war jedoch bei weitem nicht der einzige Vertreter eines Interaktionsansatzes. Wie lässt sich die Interaktionsforschung systematisieren? Christian Meyer unterscheidet vier wesentliche Interaktionsbegriffe, die von Alfred Schütz, der vor allem mit dem Namen Harvey D. Sacks verbundenen Konversationsanalyse, Niklas Luhmann und Erving Goffman entwickelt wurden. Alfred Schütz’ Begriff fragt danach, wie Intersubjektivität durch das Teilen verschiedener Sinneseindrücke mit Fokus auf den Blick hergestellt werden kann. Interaktion beruht für ihn auf einer Reziprozität der Perspektiven der Interaktionspartner (Meyer 2014: 323f.). Damit gerät ein wichtiges Element der Sozialform Interaktion in den Blick: Interaktion spricht verschiedene, geteilte Sinneseindrücke an und die Frage, wie daraus etwas Gemeinsames entstehen kann. Hier klingt die genannte Eindrucksfülle bereits an.

Die Konversationsanalyse hat, zweitens, keinen expliziten Interaktionsbegriff, untersucht jedoch vielfach Interaktionssituationen. Die Interaktionspartner*innen sind ständig damit beschäftigt, ihr Gegenüber (richtig) zu verstehen und wenden dafür bestimmte Methoden an. Interaktion erfolgt sequentiell, wobei Sequenzen einander bedingen und aneinander anschließen – also auch als Sequenzen untersucht werden können (Meyer 2014: 326f.). Auch hier steht die Frage im Vordergrund, wie Intersubjektivität geschaffen werden kann, wann sie brüchig wird und wie diese Brüche repariert werden.

Die zwei verbleibenden Interaktionsbegriffe sind für diese Arbeit interessanter: die von Niklas Luhmann und Erving Goffman. Beide sehen Interaktion als eine soziale Form sui generis, die ein nicht direktes Ergebnis von Sozialstruktur, Hierarchie oder Gruppendynamiken ist – also Dingen, die außerhalb von ihr liegen (Goffman 1983). Interaktion wird also als eine Sozialform betrachtet, die eigene Dynamiken entfaltet. Sie hat eine eigene Logik, folgt eigenen Regeln. Diese Eigengesetzlichkeit der Interaktion ist es, die für die Beantwortung der Frage dieser Arbeit – Warum treffen sich soziale Bewegungen? – nützlich ist. Beide Begriffe und Forschungsrichtungen behandle ich deshalb im Folgenden ausführlicher.

Erving Goffmans Interaktionsbegriff strebt nicht nach Systematisierung (Dellwing 2014: 4). Ihm geht es vielmehr um die Durchdringung bestimmter Phänomene – etwa Alltagsinteraktionen, Psychiatrien, Inselgesellschaften – anhand von Begriffen und Konzepten, vor allem aber mithilfe von dichten Beschreibungen. Er liefert somit höchstens Theorien mittlerer Reichweite (Trevino 2003b; Dellwing 2014), keine vollintegrierten Konzepte. Auch sein Interaktionsbegriff bleibt dabei theoretisch unterbestimmt. Seine Konzepte verwendet er »in a throw-away manner« (Dellwing 2014): Im einen Buch verwendete Begriffe werden im nächsten selten aufgegriffen, stattdessen findet Goffman neue Metaphern und Taxonomien (dazu ausführlich: Trevino 2003b), die zum Teil die gleichen Phänomene auf andere Weise beschreiben (vgl. auch Raab 2008: 8f.).

In seiner posthum erschienenen Ansprache als Präsident der American Sociological Association (Goffman 1983) stellt er mit dem Begriff der »interaction order« dann doch ein integrierendes Konzept dar. Er stellt die Kopräsenz, also Anwesenheit in Sinnesreichweite, ins Zentrum seines Interaktionsbegriffs. Kopräsenz ermöglicht die gegenseitige Wahrnehmung und dadurch ein gegenseitiges Monitoring, ein gegenseitiges Beobachten und Einstellen auf den*die je andere*n im Bewusstsein des Beobachtetwerdens:

»When in each other’s presence individuals are admirably placed to share a joint focus of attention, perceive that they do so, and perceive this perceiving.« (Goffman 1983: 3)

Die Beteiligten geben dabei willentliche und unwillkürliche Informationen preis – durch Sprache, aber auch durch Mimik und Gestik, das Abgleiten des Blickes etc. (Meyer 2014: 325).

Goffman verteidigt die Eigengesetzlichkeit der Interaktion gegen Ansätze, welche behaupten, Interaktion sei nur ein Abbild größerer gesellschaftlicher Strukturen. Ebenso wehrt er sich jedoch auch gegen Ansichten, Interaktion sei von diesem gänzlich unberührt. Er geht von einem »loose coupling« zwischen Interaktionspraxis und Sozialstruktur aus. Neben der Sozialstruktur ist die kognitive Beziehung von Personen bestimmend für die Art der Interaktion (Goffman 1983). Und auch der Zufall spielt eine gewisse Rolle im Verlauf von Situationen.

Dieser erst spät systematisierte Begriff steht am Ende von Goffmans Wirken. Im Zentrum seiner Arbeit stand die dichte Beschreibung verschiedener Interaktionskontexte – beginnend mit einer ethnographischen Studie einer Inselgesellschaft (später umgearbeitet und veröffentlicht in Goffman 2008) über die Insass*innen psychiatrischer Einrichtungen (Goffman 2016a), das Alltagsleben (Goffman 2008) und in der Öffentlichkeit (Goffman 1971, 1982b) bis hin zum Umgang mit Stigmata (Goffman 2016c).

Gerade Goffmans Fokus auf das alltägliche Geschehen in unterschiedlichen Kontexten, das »sich die Hände schmutzig machen« (Dellwing 2014), das Ausleuchten von scheinbar selbstverständlichen Angelegenheiten (Jacobsen 2010a) und die Tatsache, dass er frischen Wind in soziologische Arbeiten bringen kann (Lemert 2003: xii), fasziniert viele Soziolog*innen bis heute an seinem Werk. Dabei ist er »einfach zu lesen, schwer zu durchschauen,« (Dellwing 2014: 3; vgl. Raab 2008). Seine Texte sind flüssig lesbar, weil sie lebensnah sind, doch die dritte und vierte Bedeutungsebene ist eben nicht gleich offensichtlich – auch, weil er auf die Konzepte wenig Mühe verwandte. Das ist »Goffman’s Enigma« (Lemert 2003), auch eine der großen Kritiken an seinen Arbeiten. Diese Faszination für Goffman scheint in den letzten Jahren nachgelassen zu haben: Kaum jemand betreibt heute noch ernsthaft Interaktionssoziologie (Heintz 2014).

Goffman hat die Analyse von Interaktion als eigenen Zweig der Soziologie bekannt gemacht und mit Leben gefüllt. Ihm verdankt die Soziologie viele Konzepte zur Analyse von Anwesenheitssituationen. Ich kann an dieser Stelle nicht umfassend auf Goffmans Konzepte und Unterscheidungen eingehen, so interessant sie auch sind. Vorder- und Hinterbühne, Rollendistanz, facework, strategische Interaktionen, Takt und viele andere seiner Konzepte werden im Auswertungsteil dort einfließen, wo sie für die Analyse erkenntnisreich erscheinen.

Während Goffman das Verdienst zukommt, Interaktion als soziologische Analyseebene eigener Ordnung etabliert zu haben, so hat Niklas Luhmann den Interaktionsbegriff systematisiert. Für ihn hat Interaktion Systemcharakter. Er spitzt damit die bei Goffman lange Zeit seines Wirkens hindurch eher implizite Aussage, Interaktion sei eine eigene Ebene mit eigenen Regeln, im Rahmen der soziologischen Systemtheorie zu. Als systembildendes Merkmal übernimmt Luhmann von Goffman physische Kopräsenz. In seinen Frühschriften als »einfache Sozialsysteme« (Luhmann 2009b [1975]) bezeichnet, baut Luhmann Interaktion später als »Kommunikation unter Anwesenden« (prominent auch als Titel bei Kieserling 1999) in seine Kommunikationstheorie ein.

Niklas Luhmanns Interaktionsbegriff ist vor allem strukturell angelegt: Er beschreibt, ausgehend von seinem allgemeinen Kommunikationsbegriff, welche Strukturen Interaktion ausbildet und ausbilden kann. Wir müssen also einen Schritt zurückgehen und fragen: Welchen Kommunikationsbegriff hat Luhmann?

Luhmann setzt sich ab von einem Kommunikationsbegriff, der diese als Übertragung einer Information zwischen Sender und Empfänger beschreibt. Stattdessen konzipiert er Kommunikation als dreistellige Selektion: die jeweilige (!) Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen. Erst, wenn eine Information als Mitteilung verstanden ist, handelt es sich um Kommunikation. Ob eine Kommunikation angenommen, d.h. zur Grundlage weiterer Kommunikation gemacht wird, ist nicht Bestandteil der Kommunikation, sondern ihr Anschluss (Luhmann 1984: 191-241). Kommunikation ist unwahrscheinlich – diese Theoriefigur rückt dann wiederum die Schwellen in den Blick, die überwunden werden müssen, damit sie doch statt- und Anschluss findet.

Interaktion ist dann die Kommunikation unter physisch kopräsenten Anwesenden. Anwesenheit wird wie bei Goffman über die wechselseitige Wahrnehmung von an der Interaktion Beteiligten definiert: Alter nimmt wahr, dass ego wahrnimmt, dass alter ego wahrnimmt – und umgedreht. Dieses gegenseitige Wahrnehmen schafft Erwartungen und Erwartungserwartungen. Die sich gegenseitig Wahrnehmenden stellen ihr Verhalten aufeinander ein. In solch einer Situation doppelter Kontingenz haben alter und ego nicht nur einen sich stark überlappenden, allsinnlichen Wahrnehmungshorizont (und Wissen darüber, sodass dieser einfacher thematisiert werden kann), sie stellen ihre Kommunikation auch darauf ein, dass sie beobachtet werden (Luhmann 1984: 560, 2009b [1975]: 25-28). Dieser gleichzeitige und »reflexive Wahrnehmungszusammenhang« (Luhmann 1984: 560) im gegenseitigen Wahrnehmungshorizont macht Kommunikation wahrscheinlich, denn es wäre begründungspflichtig, nicht zu kommunizieren:

»Wenn Alter wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird und dass auch sein Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens wahrgenommen wird, muss er davon ausgehen, dass sein Verhalten als darauf eingestellt interpretiert wird; es wird dann, ob ihm das passt oder nicht, als Kommunikation aufgefasst, und das zwingt ihn fast unausweichlich dazu, es auch als Kommunikation zu kontrollieren. Selbst die Kommunikation, nicht kommunizieren zu wollen, ist dann noch Kommunikation […] Praktisch gilt: dass man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann, man muss Abwesenheit wählen, wenn man Kommunikation vermeiden will.« (Luhmann 1984: 561f.)

Wahrnehmung ist explizit thematisierbar, sodass Menschen in der Interaktion aus dieser ausgeschlossen werden können, indem sie als »nichtwahrnehmbar bzw. nichtwahrzunehmen« bestimmt werden. Das Kommunikationssystem schließt sich also zwischen den Anwesenden: »Die Systemgrenze zeigt sich darin, dass man nur mit Anwesenden, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur über Abwesende, aber nicht mit ihnen.« (Luhmann 2009c [1975]: 11, Herv. i.O.).

Sprache ermöglicht diese Thematisierung Abwesender ebenso wie die anderer Umweltaspekte. Sprachliche Verständigung ist eine wichtige, aber nicht die einzige Kommunikationsebene in Interaktion. Als Thema kann Umwelt also jederzeit Einzug in Interaktion finden.Die eng getaktete, vielsinnliche Wahrnehmung führt auch dazu, dass außer Sprache auch der nonverbalen Kommunikation eine große Rolle zukommt. Neben Worten spielt es zudem eine Rolle, ob der Mund beim Aussprechen verächtlich verzogen war, wie die Körper zueinander positioniert sind (etwa bedrohlich oder devot), ob die Augen offen oder geschlossen sind. Nonverbale oder indirekte Kommunikation dient also als »Begleitkommunikation«, die sowohl neuen Sinn schafft, als auch den gemeinten Sinn von gesprochenen Worten verstärken kann (Luhmann 2009b [1975]: 28).

Indirekte Kommunikation kann auch zur Steuerung der Interaktion genutzt werden, etwa zur Andeutung von Themenwechseln, dem Ausdrücken leichten Missfallens, zur Kontrolle von Takt und Höflichkeit oder um Scherz von Ernst zu unterscheiden (Luhmann 1984: 561; Kieserling 1999: Kap. 6). So ist es möglich, sich in der Interaktion vor allem auf das Thema zu konzentrieren, während die Interaktionssteuerung auf nonverbale Ebene ausgelagert ist. Das gelingt, weil Menschen im Laufe ihrer Sozialisation ein breites (wenn auch kulturell spezifisches) Wahrnehmungsrepertoire für Mimik, Gestik und Körpersprache erlernen. Die manchmal überfordernden, vielen Sinneseindrücke, die von der verbalen Kommunikation ablenken könnten, werden so kanalisiert und nutzbar gemacht.

Luhmann stellt treffend fest, dass natürlich nicht alle Interaktionssituationen sprachliche Kommunikation nutzen (oder gar zur Verfügung haben, siehe die vielsprachigen Umfelder auf dem Weltsozialforum): Situationen wie das Warten im Fahrstuhl mit Unbekannten (Hirschauer 1999), Flirtsituationen oder das Warten an der Ampel funktionieren ohne verbale Kommunikation. Der größte Teil von Interaktionssituationen nutzt jedoch das Medium der Sprache. Die Strukturierung dieser einfachen Sozialsysteme erfolgt vorwiegend über Themen: Sie geben durch das sequentielle Abliefern von Beiträgen zu Themen eine Struktur vor, die Zugehörigkeit oder Ausschließung, Passung oder Abweichung leicht erkennbar macht. Themen sind »leichte« Strukturen, d.h. sie sind schnell wechselbar (ebd.: 29ff.). Da Themen sprachlich behandelt werden, können Beiträge nur sequentiell erfolgen, einer nach dem anderen. Die Verarbeitungs(meist: Zuhörens-)kompetenz von Interaktionssystemen ist hier sehr begrenzt. Diese begrenzte Verarbeitungskapazität führt dazu, dass Interaktion ein zeitraubendes Strukturprinzip ist (Luhmann 2009c [1975]: 11). Dadurch ist es auch schwer, Subsysteme von Interaktionssystemen zu bilden: Es kann immer nur eine Person sprechen, die Verarbeitungskapazität für das Aufnehmen mehrerer Sprecher*innen ist sehr begrenzt. Das Untergliederungsprinzip von Interaktionssystemen sind vielmehr Episoden, zu denen man sich als Fortsetzung verabreden kann (Luhmann 1984: 565f.).

Neben Themen können (!) Typenprogramme eine weitere Struktur von Interaktionssystemen bilden. Dieser von André Kieserling eingeführte Begriff bezeichnet auf bestimmte Interaktionstypen wie Party, Gerichtsverhandlung, Seminarsitzung oder wissenschaftliche Konferenz zurechenbare Sets an Regeln, die von den Beteiligten gewusst bzw. gelernt werden können und deren Nichtanwendung sanktioniert werden kann (Kieserling 1999: 19).2 Typenprogramme sind innerhalb einer Interaktion wechselbar: Man kann von einer Party zu einer Autofahrt übergehen, von einer Kolloquiumssitzung zum gemeinsamen Mittagessen. Natürlich kann man innerhalb eines Typenprogrammes von diesem abweichen, etwa in einem Seminar flirten. Dies verändert jedoch nicht zwangsläufig das Typenprogramm selbst, sofern es nicht häufig vorkommt oder dominant wird. Darüber hinaus gibt es auch (zumeist außeralltägliche) Interaktionen ohne vorgefertigte Typenprogramme (das Weltsozialforum ist hierfür ein Beispiel), und Interaktionsformen, die mehrere Typenprogramme mischen.

In der Luhmannschen Systemtheorie reiht Interaktion sich ein in die Trias Interaktion – Organisation – Gesellschaft. Damit sind drei Systemtypen beschrieben, die sich auf jeweils unterschiedliche Weise schließen. Interaktion schließt sich über die wechselseitige Wahrnehmung Anwesender, während Organisation sich über Mitgliedschaft und an sie gebundene Regeln schließt. Damit ist Organisation auch über Distanzen und Zeiten hinweg möglich: Solange Menschen Mitglied sind, müssen sie die daran gebundenen Anforderungen erfüllen – oder werden exkommuniziert. (Welt-)Gesellschaft ist wiederum das umfassendste Sozialsystem, definiert über alle füreinander erreichbare Kommunikationen. In ihm finden alle Interaktion und alle Organisation statt, sie ist jedoch nicht die einfache Summe von ihnen. Auf Gesellschaftsebene existieren verschiedene Funktionssysteme, etwa Wirtschaft oder Wissenschaft, die sich über Codes (zahlen/nicht zahlen oder wahr/unwahr) schließen (Luhmann 2009 [1975]). Interaktion kann sowohl in Organisation stattfinden wie in Gesellschaft. Ein Beispiel: Ein Kolloquium ist eine Interaktion sowohl im Rahmen einer wissenschaftlichen Einrichtung, etwa einer Hochschule, als auch im Wissenschaftssystem, denn in ihm wird über Wahrheit verhandelt. Gleichwohl ist das Interaktionssystem Kolloquium nicht völlig auf diese Eingebundenheit reduzierbar: In ihm wird nicht nur Wahrheit verhandelt, es wird auch geflirtet und gestritten, gelacht und mit dem Stuhl gekippelt – auch, wenn das alles nicht der Wahrheitsfindung dient. Die drei Typen von Sozialsystemen – Interaktion, Organisation, Gesellschaft – sind also, wie auch Goffman mit dem Begriff »lose Kopplung« beschreibt, nicht aufeinander reduzierbar, sondern folgen jeweils ihrer Eigenlogik.

Beide Interaktionsbegriffe – Goffmans wie Luhmanns – stellen auf eine Eigenlogik der Interaktion ab (siehe auch Heintz 2014). Interaktion ist mehr als die Rollen und Einstellungen, die die Beteiligten mitbringen. Sie entfaltet eine Eigendynamik, entwickelt anhand ihrer Interaktionsgeschichte Pfadabhängigkeiten, ist aber stets offen für Überraschungen. Während Goffman stärker auf die dichte Beschreibung und konzeptionelle Verdichtung bestimmter Interaktionsphänomene fokussiert (also sich im Bereich der Kieserlingschen Typenprogramme bewegt), ist Luhmanns Interaktionsbegriff aus seiner Kommunikationstheorie abgeleitet und strukturell als Kommunikation unter Anwesenden angelegt.

Die Eigengesetzlichkeit gewinnen Interaktionssituationen unter anderem dadurch, dass die Teilnehmer*innen sowohl in gegenseitiger vielsinnlicher (unter Beteiligung von Hören, Sehen, Riechen, Fühlen etc.) Wahrnehmungsreichweite sind, als auch eine gemeinsame Umwelt wahrnehmen, über die sich nicht weiter verständigt werden muss. Dies und die »leichte« Struktur von Interaktion, d.h. die schnelle Änderbarkeit von Themen bei gleichzeitiger serieller Abfolge von Beiträgen, führen dazu, dass Interaktion von außen (von Organisationen, Rollenstrukturen etc.) nicht determinierbare Eigengesetzlichkeiten entwickelt; dass eigene Pfadabhängigkeiten entstehen und manchmal z.B. ein Lächeln eine unerwartete Wendung bringt, die nicht vorhersehbar war.

Insofern haben wir hiermit zwei hilfreiche Begriffe für die Beantwortung der Frage, warum sich soziale Bewegungen face-to-face treffen, anstatt etwa zu skypen oder zu korrespondieren. Zur Erinnerung: Die These dieser Arbeit ist es, dass es einen Unterschied macht, sich face-to-face zu treffen. Hier dockt die Analyse, Interaktion folge eigenen Gesetzlichkeiten, an.

Die interaktionssoziologische Forschung scheint in den letzten Jahren aus der Mode gekommen zu sein (das bemerkt auch Heintz 2014): Zwar gibt es einige Publikationen, doch breit diskutiert werden die Ansätze nicht. Die englischsprachige Debatte ist stark geprägt von Erving Goffman. Vor allem in den 2000er Jahren, aber auch danach noch, erschienen Bände, die seinem Werk die soziologische Aufmerksamkeit zurückbringen wollen (Scheff 2006; Smith 2006; Winkin & Leeds-Hurwitz 2013; für eine weitergehende Übersicht siehe ebd.: 2). Diese haben oft einführenden Charakter, wie auch die beiden deutschsprachigen Bände von Raab (2008) und Dellwing (2014). Der Titel Dellwings »Zur Aktualität von Erving Goffman« erscheint paradigmatisch für die Stoßrichtung dieser Bücher.

Zwei größere Bände, die nicht Werk und Leben Goffmans darstellen, sondern an ihn anschließende Forschung, sind ebenfalls in den 200ern erschienen (Trevino 2003a; Jacobsen 2010b). Größere interaktionssoziologische Arbeiten sind in den letzten Jahren rar gesät. Selbst Erwing Goffmans Tochter Alice, die sich in seiner Tradition sieht, forscht zwar intensiv ethnographisch, setzt aber ihren Fokus nicht auf Interaktion. Nur ein Kapitel ihres vieldiskutierten Buches »On the run« behandelt die Interaktionsordnung der Polizeiflucht (Alice Goffman 2015). Thomas Scheff bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »There has been substantial commentary, no body of Goffmanian work has resulted.« (Scheff 2006: vii)

Einige interaktionssoziologische Arbeiten liegen aber doch vor, zumal im deutschsprachigen Raum. Diese stehen nicht allein in Goffmanscher Tradition, auch Luhmanns interaktionssoziologische Arbeiten sowie ethnomethodologische Ansätze inspirieren diese Studien. Zu nennen ist hier etwa Stefan Hirschauers Analyse von Fahrstuhlfahrten, in der er zeigt, wie in Fahrstühlen die eigene Anwesenheit aus Takterwägungen minimiert wird (Hirschauer 1999). Marion Mueller analysiert in ihrer Dissertation (Mueller 2009) und einigen Aufsätzen (z.B. Mueller 2014), inwiefern Ethnizität und Geschlecht im Fußball interaktiv erzeugt werden. Thomas Scheffer untersucht ethnographisch, inwiefern Sachpositionen in Abgeordnetenbüros als Leitmedium von Politik funktionieren. Ihm geht es dabei um eine Untersuchung der Mikrofundierung von Politik jenseits des Kommunikationsmediums Macht (das eine Rolle spielt) und der Unterscheidung Interaktion – Organisation – Gesellschaft. Über einen abstrahierten »Karriereverlauf« von Sachpositionen arbeitet er heraus, wie diese aus unklaren Vermutungen und Spekulationen über Arbeitsaufträge, Recherche, Zusammenarbeit und das Plagiieren von Positionen anderer entstehen und in den politischen Diskurs eingebracht werden (Scheffer 2014).

Kritisch setzt sich etwa Christian Meyer mit einem anwesenheitsbasierten Interaktionsbegriff auseinander: Er merkt an, dass die von ihm identifizierten vier soziologischen Interaktionsbegriffe (s.o.) zwar auf westliche Gesellschaften zutreffen mögen, aber nicht universalisierbar seien. Gerade die von Meyer identifizierte Fokussierung auf den Blick und damit das Sehen als zentralen Sinn findet er in seinen Studien bei den Wolof im Senegal nicht wieder.3 Stattdessen schlägt er einen Interaktionsbegriff vor, der auf der Potentialität gegenseitiger Wahrnehmung und Ko-Temporalität, also Gleichzeitigkeit, beruht (Meyer 2014). Auch Stefan Hirschauer kritisiert den Interaktionsbegriff, diesmal aufgrund seiner Unzeitgemäßheit. Er zeigt anhand der neueren Konzepte von Karin Knorr Cetina (Teleinteraktion und response presence, s.u.) und Bruno Latour (Koaktivitäten, die auch Gegenstände und die in sie eingeschriebenen Handlungen einbeziehen) auf, wie verschiedene Situationen medial und material miteinander verbunden sind (Hirschauer 2014).

Ebenfalls erschienen sind einige historische Beiträge, die den Interaktionsbegriff nutzen, um vor allem mittelalterliche und frühneuzeitliche Ordnungsbildung zu erklären. Zu nennen sind etwa Stollberg-Rilinger, die sich mit mittelalterlichen Sitzordnungen und der Her- und Darstellung von Entscheidungen auseinandersetzt (Stollberg-Rilinger & Krischer 2010), und Rudolf Schlögl, der in einer systemtheoretischen Argumentation die Bedeutung des Raumes (neben der für Luhmann so wichtigen Zeitdimension) für Vergesellschaftungsprozesse herausstellt (Schlögl 2014).

In jüngster Zeit hat sich in Deutschland im Rahmen der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ein Arbeitskreis Interaktionsforschung gebildet. Der Arbeitskreis soll zur Selbstverständigung der sehr ausgefächerten und kaum integrierten Interaktionsforschung im deutschsprachigen Raum beitragen (Schützeichel 2016b). Einige Beiträge sind dazu 2016 in einem wissenssoziologischen Band erschienen (Raab & Keller 2016). Olaf Krantz beschäftigt sich damit, dass Interaktion auch kommunikationsfrei, also rein wahrnehmungsbasiert, möglich ist. Er reserviert für Grenzfälle der Interaktion, z.B. Menschenmassen in Bahnhöfen oder den Straßenverkehr, den Begriff der wahrnehmungsbasierten, eben kommunikationsfreien (oder –armen) Interaktion (Krantz 2016). Christian Meyer und andere rücken die Körperlichkeit der Interaktionsbeteiligten – eine aus ihrer Sicht vernachlässigte Dimension – in den Vordergrund. Sie machen einen Vorschlag für die Ausdifferenzierung von Situationen mit starkem Körperbezug (Meyer et al. 2016).

Im zweiten Teil schlägt Müller eine Definition des Interaktionsbegriffes vor, die auf Goffmans Vorschlag der Kopräsenz in Wahrnehmungsreichweite und darauf basierender Eigenlogik des sozialen Austausches basiert. Was als kopräsent gilt und welche Sinne beteiligt sein können, dafür schlägt sie in Anschluss an Christian Meyer (2014) eine Gradualisierung vor. Wo Interaktion endet und etwas Anderes beginnt, dafür hat sie keine theoretische Antwort und verweist auf empirische Forschung (Mueller 2016). Die Integrationsleistung, die der Beitrag Muellers zu versprechen schien, leistet er kaum – was nicht weiter erstaunlich ist bei den heterogenen Beiträgen4, die sich als Interaktionsforschung verstehen.

c)Interaktion vs. Telekommunikation

Warum, kann man nun fragen, soll face-to-face Interaktion eine analytische Kategorie für soziale Bewegungen sein, wenn technisch unterlegte Kommunikation zunehmend bedeutsam wird? Schließlich werden Telekommunikationssysteme immer alltäglicher. Smartphones sind unsere ständigen Begleiter, die meisten Menschen haben darauf diverse soziale Medien installiert und können damit auch umgehen. Auch Karin Knorr Cetina merkt schon 2009 an: Wir verbringen mehr Zeit mit virtueller (meint: digitaler) Kommunikation als face-to-face – also müsse der Interaktionsbegriff neu geschrieben werden:

»[…] a substantial and increasing portion of everyday life is spent not in the physical copresence of others but in virtual spaces. The face-to-face domain, then, simply no longer has the structural importance it once had.« (Knorr Cetina 2009: 63)

Und es stimmt: Mit zunehmenden technischen Möglichkeiten gibt es auch immer mehr Literatur, die sich mit der Nutzung technischer Kommunikationsmittel durch soziale Bewegungen beschäftigen. Digitale und soziale Medien spielen zweifellos auch für soziale Bewegungen eine immer größere Rolle. Aber es lässt sich auch feststellen: Soziale Bewegungen treffen sich weiterhin und ausgiebig, darüber besteht in der Literatur Einigkeit. Interaktion scheint also – empirisch – Qualitäten zu besitzen, die der Investition lohnen. Deshalb lohnt es sich, die beiden Begriffe – Interaktion und Telekommunikation – und die dahinterliegenden Phänomene noch einmal genauer zu unterscheiden.

Sowohl Interaktion als auch Telekommunikation sind, in Luhmanns Theoriesprache, Kommunikationsformen. Dass Interaktion Kommunikation unter sich gegenseitig als anwesend wahrnehmenden Teilnehmenden ist, habe ich oben ausgeführt. Telekommunikation ist demgegenüber die Kommunikation über Distanzen mithilfe von Telekommunikationsmedien wie etwa Rundfunk, Telefon oder Internet (Luhmann 1997: 302ff.). Sie kann durch verschiedene Medien kommunizieren, etwa Bild und Ton, Schrift, auch Zahlen, oder – häufig – in einer Mischung all dieser Formen. Telekommunikation kann synchron (mit leichter Verzögerung) erfolgen wie etwa am Telefon oder in einem Videochat, oder asynchron wie beim Verschicken von E-mails oder beim Hochladen von Videos, die zu einem späteren Zeitpunkt geschaut werden. Sie kann unidirektional sein wie Rundfunk oder Fernsehen (ein Sender, viele Empfänger*innen) oder bi- bzw. multidirektional wie Videochats, Telefonanrufe, Internetforen oder soziale Medien (mehrere Sender*innen und Empfänger*innen, die diese Rollen auch wechseln können). Anders als Interaktion besitzt Telekommunikation die Möglichkeit, Kommunikation zu speichern. Je nach Medium gibt es die Möglichkeit zu wählen zwischen der Kommunikation mit bestimmten einzelnen Personen oder mit einer größeren, potentiell unbegrenzten Öffentlichkeit.

Telekommunikation erreicht potentiell ein viel größeres Publikum als Interaktion, wo die Teilnehmendenzahl anhand der Wahrnehmungsreichweite von Menschen begrenzt ist. Ein Livestream kann potentiell Millionen Menschen erreichen, ein Konzert nur einige Tausend, ein Workshop eher Dutzende. Damit wird Kommunikation, darauf macht Luhmann aufmerksam, potentiell entpersonalisiert (ebd.: 312f.). Allerdings hatte er noch nicht die Entwicklung sozialer Medien vor Augen, ebenso wenig hochauflösende Videotelefonie, wie sie heute verfügbar ist.

Was unterscheidet Interaktion und Telekommunikation nun? Bettina Heintz nennt zwei Dimensionen, die in Interaktion automatisch vorhanden sind und bei Telekommunikation weitgehend fehlen: zum einen die oben schon genannte gegenseitige Anwesenheit in Hör-, Sicht- und Riechweite, also die gegenseitige vielsinnliche Wahrnehmung; zum anderen die vielsinnliche Wahrnehmung der geteilten Umwelt, über die dann keine Verständigung mehr notwendig ist (Heintz 2014: 238). Durch das Vorhandensein dieser beiden Faktoren in Interaktion wird Vertrauen einfacher hergestellt, denn gemeinsame Wahrnehmung ist erst einmal sehr evident. Das lässt sich über Telekommunikation, so ausgefeilt sie auch ist, nicht so einfach nachbauen: Die Eindrucksfülle von Interaktionssituationen bleibt unnachahmlich. Selbst hochauflösende Videochats ermöglichen keinen Rundumblick, Gerüche oder ferne Geräusche bleiben unübertragbar. Man bleibt, vielleicht noch stärker als in face-to-face-Interaktion, auf die Gesichter seiner Gegenüber angewiesen. Die vielsinnliche Wahrnehmung und die geteilte Umwelt der Interaktion lassen sich mit telekommunikativen Mitteln nicht nachbauen.

Neben reinen Interaktionssituationen und Kommunikation über Telekommunikationsmedien gibt es natürlich auch Mischformen: die Skype-Konferenz, bei der verschiedene Teams an unterschiedlichen Orten zusammensetzen; die Einbindung eines Livetickers in eine Entscheidungssituation; oder die Ko-Steuerung eines Kampfflugzeuges von der Heimatbasis aus bei gleichzeitiger Kommunikation mit den Pilot*innen und Videoübertragung.

Manche Forschenden argumentieren nun, dass physische Ko-Präsenz durch andere Kriterien abgelöst werden sollte. Einen theoretisch wie empirisch anspruchsvollen Vorschlag, diese Mischformen zu erfassen, hat Karin Knorr Cetina mit ihrem Konzept der globalen Mikrostrukturen vorgelegt (Knorr-Cetina und Bruegger 2002; Knorr-Cetina 2009). Sie sind für diese Arbeit umso anschlussfähiger, als Knorr Cetina sich explizit mit Goffmans Interaktionsbegriff auseinandersetzt. Globale Mikrostrukturen bezeichnen globalisierte Strukturen, welche vor allem auf Interaktion oder interaktionsähnlichen Formen von Sozialität beruhen. Gleichzeitig sind diese jedoch global oder zumindest transnational. Knorr und Bruegger zeigen anhand globaler Finanzmärkte, genauer: anhand des globalen Handels mit Währungen, wie solche Mikrostrukturen funktionieren.

Das Besondere an diesen Strukturen: Sie sind stark interaktionsabhängig. Wie kann man sich das vorstellen? Globale Währungsmärkte funktionieren zum Teil so, dass in verschiedenen Handelsräumen von Banken auf der ganzen Welt sogenannte Trader*innen vor Bildschirmen sitzen und miteinander verhandeln, zu welchen Konditionen sie Währungen miteinander handeln. Dies erfolgt über spezielle, extrem responsive Computerprogramme. Zusätzlich sehen die Trader*innen auf ihren bis zu sieben Bildschirmen verschiedene Informationen über Marktbewegungen, Börsenfernsehen usw. Globale Währungsmärkte konstituieren sich nun in der Aushandlung der Preise für Währungen – und über extrem schnelle Reaktionszeiten. Durch diese schnellen Reaktionen sowie die Sichtbarkeit der Aushandlungen auf den Bildschirmen konstituiert sich der globale Währungsmarkt (Knorr-Cetina und Bruegger 2002).

Was hat das mit Interaktion zu tun? Karin Knorr analysiert das Ganze als neue, eben globale Form von Interaktion. Über die technische Vermittlung hochspezialisierter Computersysteme, die schnelle Reaktionen ermöglicht, wird globale Interaktion möglich. Während der Goffmansche Interaktionsbegriff über physische Ko-Präsenz definiert ist, setzt Knorr Cetina response presence an seine Stelle: Durch die schnellen Reaktionen entsteht ein Gefühl der Ko-Präsenz im virtuellen Raum. Der Begriff wird von Raum auf Zeit umgestellt (Knorr Cetina 2009). Komplementiert wird das Ganze durch die – wiederum über Software vermittelten – sichtbar ablaufenden Marktprozesse. Sie bilden die gemeinsame Umwelt der Marktteilnehmer*innen, hinter der die jeweiligen physischen Umwelten in den Handelsräumen der Banken zurücktreten. Auf diesem Wege kann, so Knorr Cetinas Argument, die Schütz’sche Intersubjektivität entstehen, die eine Grundbedingung für Interaktionsphänomene ist: Über die gemeinsame Umwelt muss man sich nicht mehr verständigen, sie ist selbsterklärend und für alle dieselbe. Zugleich wissen die Trader*innen, dass sie einander sowie den Markt beobachten. Auf Grundlage dieser geteilten (Um-)welt können sich dann geteilte Normen und Mechanismen herausbilden – im Fall der Währungsmärkte wird es etwa sanktioniert, wenn man nicht innerhalb weniger Sekunden auf eine Offerte antwortet (Knorr Cetina 2002 und Bruegger: 907ff.).

Knorr Cetina bezeichnet die entstehende Situation als »global conversation« (ebd.), das Verhältnis zueinander als »global we-relation.« (ebd.: 911). Interaktionsähnlich konzipiert, kann man nun zur Analyse dieser globalen Situationen das ganze Repertoire der Interaktionssoziologie verwenden. Es entstehen Interaktionsgeschichten – wer hat mit wem welche Währung zu welchen Tarifen gehandelt?; vom Thema abweichende Konversationen, beispielsweise über Sport oder Witzeleien; oder die Trader*innen verinnerlichen die Marktbewegungen körperlich (»embodiment«). Gerade das embodiment ist ein wichtiger Bestandteil dieser synthetischen Situationen, denn sie sind informationell, d.h. sie bestehen viel mehr als ko-präsente Interaktionssituationen aus nur kognitiv verarbeitbaren Informationen: Gerüche, Geräusche, Wärme – das alles fehlt weitgehend. Das embodiment schafft einen kleinen Teil davon wiederum in den Handelsräumen. Die Auslöser für die verkörperlichten Reaktionen sind dabei seltsam entkoppelt von den face-to-face-Situationen.

Karin Knorr Cetina hat mit ihrem Begriff der globalen Mikrostrukturen einen elaborierten Begriff vorgelegt, mit dem nicht ko-präsente Situationen mit den Mitteln der Interaktionssoziologie analysiert werden können. Diese Situationen sind allerdings voraussetzungsreich, technisch wie auch das geteilte Normenset betreffend. Sie funktionieren gut in technisch und sozial (!) hoch integrierten Umgebungen mit ähnlich ausgebildetem Personal wie international agierenden Großbanken. Es ist auch bei heutigen, hochauflösenden Videokonferenzsystemen nicht absehbar, dass sie auch nur annähernd eine so vielsinnliche Erfahrungswelt erschaffen wie Interaktion.

Diese technischen wie persönlichen Bedingungen sind in heterogenen Umfeldern wie bei verschiedenen sozialen Bewegungen kaum gegeben. Auch dies mag ein Grund sein, warum face-to-face Interaktion für die meisten ihrer Aktivitäten eine wichtige Sozialform ist. Insofern fällt die innovative Umstellung des Interaktionsbegriffs von Ko-Präsenz auf response presence für diese Arbeit aus. Wir sind auf einen klassischen Interaktionsbegriff angewiesen, wie ich ihn ausführlich beschrieben habe.

d)Interaktion als Perspektive für die (transnationalen) Treffen sozialer Bewegungen

Ein starker Interaktionsbegriff, der die Eigenrealität von face-to-face Situationen ernstnimmt und die Gleichräumlichkeit neben der Gleichsinnigkeit und Gleichzeitigkeit als analytische Realität anerkennt, ist also ein passender Zugang für die hier interessierende Frage.

Ich möchte noch einen Aspekt hinzufügen: Interaktion eignet sich besonders als Konzept zur Erklärung transnationaler Treffen, da diese sich in einem Raum »wenig institutionalisierter Erwartungsstrukturen« (Stichweh 2006, 2007) bewegen. Und so ist es auch beim hier untersuchten Fall sozialer Bewegungen: Es handelt sich beim Weltsozialforum um eine besondere Form von Interaktionsverdichtung. Es ist eben kein alltägliches Ereignis wie der Einkauf beim Bäcker, der Besuch eines Universitätsseminares oder das morgendliche Ankommen am Arbeitsplatz inklusive Kolleg*innenbegrüßung. Das Weltsozialforum ist ein außeralltägliches Ereignis mit dem Charakter eines »Weltereignisses« (Nacke et al. 2008). Darunter werden Ereignisse mit zumindest potentiell weltweiter Relevanz verstanden. Während dieser Begriff auf den Ereignischarakter abstellt, schlägt Bettina Heintz den Begriff der globalen Interaktion vor, der auf die besonderen Bedingungen von Globalität abstellt (Heintz 2014).

Sie knüpft an die Perspektive der Weltgesellschaft an, wie sie unter anderem schon früh von Luhmann entwickelt wurde. Er plädiert dafür, den Gesellschaftsbegriff umzustellen: weg von Nationalgesellschaften, hin zur Weltgesellschaft als Singular (Luhmann 1997, 2009a [1975]). Weltgesellschaft wird dann verstanden als der Zusammenhang aller weltweit füreinander potentiell erreichbaren Kommunikationen. Diese Annahme eines im Laufe der Zeit entstandenen globalen Zusammenhanges teilen auch die beiden anderen, in einem ähnlichen Zeitraum entstandenen Weltgesellschaftstheorien von John W. Meyer und Peter Heintz. Dieser globale Zusammenhang bildet eine eigene Form der Sozialorganisation, eine Ebene sui generis, die mit ihren eigenen Strukturmerkmalen für die Soziologie analysierbar wird (Heintz & Greve 2005; ausführlich Stichweh 2000a; Wobbe 2000).

Bettina Heintz greift diesen Begriff auf und konstatiert ein makrosoziologischer Bias sowohl in den späten Arbeiten Luhmanns als auch im Anschluss an ihn. Weltgesellschaft motivierte vor allem Forschung zu Funktionssystemen und teilweise zu Organisationen. Interaktionsforschung dagegen wurde kaum betrieben (2014: 229f.). Dabei verschwindet Interaktion nicht, nur weil andere Möglichkeiten der (Tele-)Kommunikation entstehen. Vielmehr gibt es einige Standardfälle von Interaktionssystemen mit globaler Bedeutung, für die Bettina Heintz den Begriff globaler Interaktion reserviert. Sie behandelt vor allem globale Verfahrenssysteme, also Systeme, die eingerichtet werden, um am Ende zu einer Einigung (bei den von ihr analysierten vor allem Konsens) in einer bestimmten Sache zu kommen. UN-Konferenzen, Standardisierungsgremien, Bischofssynoden oder Wahrheitskommissionen nutzen dafür Interaktion, weil sie andere Möglichkeiten der Einigung bietet, Dissens anders unterdrückt, als es schriftliche Kommunikation oder das Verlassen auf Organisationsstrukturen erlauben würden. Um ein derartiges, globales Verfahrenssystem handelt es sich bei den Weltsozialforen nicht. Sie sind nicht auf Einigung angelegt, sie haben kein kondensiertes Endprodukt, auf das alles zuläuft. Gleichwohl handelt es sich um einen Fall globaler Interaktionsverdichtung mit vielen globalen Interaktionssystemen.

Diese globalen Interaktionssysteme scheinen häufig als Sondersysteme arrangiert zu sein. Spontan globale Interaktion erscheint beinahe unmöglich.5

Globale Interaktion liegt nach Bettina Heintz (2007) dann vor, wenn eine Zusammenkunft

•potentiell globale Teilnehmende,

•ein potentiell globales Publikum und

•globale Themen umfasst.

Global bedeutet dabei, dass etwas oder jemand aus dem gesamten Erdgebiet stammen bzw., dass es etwas oder jemanden aus dem gesamten Erdgebiet betreffen kann. Dabei geht es auch nicht darum, dass potentiell jeder Mensch teilnehmen oder sich interessieren muss. Entscheidend ist vielmehr die geographische Reichweite.

Wichtig ist auch das Potentielle: Natürlich sind auch auf den Weltsozialforen nicht Teilnehmende aus allen über 190 anerkannten Staaten der Erde anwesend und es interessieren sich auch nicht alle sieben Milliarden Erdenbewohner*innen für das Ereignis. Das Weltsozialforum wäre aber potenziell offen für Teilnehmende aus jeder Ecke der Welt, Informationen darüber sind breit zugänglich und es wird in den meisten Weltregionen rezipiert.

Das Spannende an Interaktion – dass sie eine Eigenlogik besitzt und ihr Verlauf und ihre Ergebnisse kaum vorhersagbar sind – trifft auf globale Interaktion noch einmal stärker zu. In den meisten Fällen ist die Zusammensetzung der Teilnehmenden heterogener, zumindest als das in Alltagsinteraktionen der Fall ist. Zudem bestehen unterschiedliche Interaktionserwartungen.

Zu verschieden sind die Teilnehmenden, zu unterschiedlich ihre Motivlagen, zu heterogen ihre kulturellen Vorstellungen, als dass sich vorhersagen ließe, wie ihre Treffen ausgehen. Dies gilt auch für die Treffen einer globalen Managementelite, noch mehr aber für die Welttreffen sozialer Bewegungen. Die einander häufig unbekannten Teilnehmenden der Weltsozialforen sind vor allem durch das zarte Band der gemeinsamen Interaktionserfahrung miteinander verbunden.

Globale Interaktionssysteme etablieren sich vor allem dort, wo es gering institutionalisierte (globale) Erwartungsstrukturen gibt (Stichweh 2006, 2007). Es gibt keinen Weltstaat und auf Weltebene nur Organisationen mit schwacher Durchsetzungskraft, deshalb werden für heikle Themen UN-Konferenzen einberufen. Deshalb tagt der UN-Sicherheitsrat oft nächtelang über Kriegsfragen. Ähnlich verhält es sich bei Fragen von Krieg und Frieden, Standardisierung, Abstimmungen in Handelsfragen uvm. Während Bettina Heintz’ Verfahrenssysteme häufig organisational eingebettet sind und einem konkreten gemeinsamen übergeordnetem Ziel folgen, fehlen diese Bedingungen bei den Weltsozialforen. Ein Grund mehr, sie sich anzuschauen.

Der hier gewählte Interaktionsbegriff beschreibt also die Kommunikation unter Anwesenden. Anwesenheit heißt, dass mindestens zwei Teilnehmende sich in physischer Ko-Präsenz als anwesend wahrnehmen, also ihre Wahrnehmung reflexiv auf die Anwesenheit und die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung durch den anderen einstellen. Dadurch kommt es beinahe zwangsläufig zu Kommunikation. Interaktion ist oft durch Themen strukturiert, die sequentiell in Beiträgen behandelt werden. Für viele, aber nicht für alle Interaktionen gibt es Typenprogramme, also ein Set von Erwartungen, was in dieser Interaktionsform als angemessenes Verhalten gilt. Neben dem Prozessieren von Themen auf meist sprachlicher Ebene ist das Interaktionsumfeld für die Teilnehmenden ebenso allsinnlich wahrnehmbar wie die anderen Teilnehmenden. Dies führt zu einem großen Stellenwert von Körpersprache – oder indirekter Kommunikation – die die Interpretation gesprochener Sprache erleichtern und zusätzliche Informationen zu deren Interpretation liefern kann. Daneben übernimmt indirekte Kommunikation auch Leistungen in der Interaktionssteuerung, etwa bei der Ankündigung von Themenwechseln oder Interaktionsabbrüchen. In einem vielsprachigen, kulturell heterogenen Umfeld wie dem Weltsozialforum gewinnt nonverbale Kommunikation an zusätzlicher Relevanz zur Verständigung.

Trotz eines recht klar umgrenzten Interaktionsbegriffs, der nun schon einige Jahrzehnte zur Verfügung steht, und trotz klar erwartbarer Erkenntnisgewinne in vielen Bereichen, ist die Forschungslage aus einer interaktionssoziologischen Perspektive sehr dünn. Dies mag auch an Konjunkturen anderer Begriffe – etwa der Technologien der Telekommunikation oder des Praxisbegriffs – liegen, sowie an einem gesellschaftstheoretischen Primat der theoretisch orientierten Soziologie (Heintz 2014). Und doch: Trotz der Erfindung neuer Technologien, die das Leben zweifellos verändern, interagieren Menschen in privaten wie in organisierten Kontexten tagtäglich. Videokonferenzen haben Meetings nicht ersetzt, EMails das Pausengespräch ebenso wenig und Paarbeziehungen können bisher nur sehr unzureichend virtuell geführt werden.

Das Weltsozialforum ist mit seiner Offenheit für Teilnehmende aus der gesamten Welt, damit auch einem potentiell globalen Publikum und zum Teil dezidiert globalen Themen (aber auf jeden Fall Themen, die globale Anschlüsse und Vergleiche explizit zulassen), ein Fall globaler Interaktion. Auf dem Weltsozialforum werden jedoch keine bindenden Beschlüsse getroffen. Es handelt sich also nicht um globale Verfahrenssysteme, wie sie Bettina Heintz (2014) untersucht. Es ist ein globales Sondersystem, dessen Zweck nicht Beschlüsse sind, sondern die Treffen selbst zu sein scheinen. Es stellt sich also umso mehr die Frage: Warum treffen sich soziale Bewegungen auf diesen Treffen? Der Begriff der gering institutionalisierten globalen Erwartungsstrukturen, wie Stichweh ihn benutzt, gibt einen Hinweis: Hier handelt es sich um ein Feld, das nicht auf andere Strukturen, etwa Organisationen oder ein integriertes und eingeübtes technisches System, zurückgreifen kann. Interaktion übernimmt Leistungen (welche zeigt diese Arbeit), die anders schlicht nicht existent wären. Eine Analyse dieser Leistungen kann helfen, die Treffen sozialer Bewegungen zu verstehen.

1Ähnliches stellt Marion Müller für die deutsche Soziologie fest (Müller 2016): Sie unternimmt eine Durchsicht soziologischer Wörterbücher und sieht eine Blütezeit des Interaktionsbegriffs in den 1960er-80er Jahren. Einheitlich definiert wurde er jedoch nie, er verblieb in vieler Hinsicht schwammig. Ab den 1990er Jahren wurde der Begriff dann zunehmend unpopulär, aus einigen Lexika verschwand er ganz. Der Verweis auf Interaktion als kopräsente Kommunikation fehlt sehr häufig. Nach wie vor gibt es keine etablierte einheitliche Bedeutung des Interaktionsbegriffs in der deutschsprachigen Soziologie.

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