Den Frieden verteidigen - Hartwig von Schubert - E-Book

Den Frieden verteidigen E-Book

Hartwig von Schubert

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Beschreibung

Meinte man lange, um Frieden zu schließen, müssten erst die "Feinde" besiegt werden, so erkannte die Staatengemeinschaft im Jahr 1945, dass nicht der Feind, sondern der Krieg besiegt werden muss. Eine Weltordnung zu schaffen, die Staaten global davon abhält, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen, hat sie sich in der Charta der Vereinten Nationen zur Aufgabe gemacht. Doch bei allem Erfolg - den Krieg auszurotten, ist auch auf diesem Weg bislang nicht gelungen. Müssen wir den Traum vom "ewigen Frieden" also aufgeben? Nein, meint Hartwig von Schubert. Das Programm der UNO zur "Ächtung des Krieges" muss kein Ideal oder bloßer Traum bleiben, sondern hat auch nüchtern betrachtet echte Aussichten auf Erfolg. Wie müsste eine internationale Sicherheitsarchitektur aussehen, die weder naiv noch kriegstreiberisch ist?

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Kohlhammer Trilogien

Herausgegeben von Jörg Armbruster

Die anderen beiden Bände der Trilogie „Von Krieg und Frieden“, Jochen Hippler: Logik und Schrecken des Krieges und Pascal Beucker: Pazifismus – ein Irrweg?, finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/trilogien

Der Autor

PD Dr. Hartwig von Schubert lehrt Systematische Theologie an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Er erforscht, rekonstruiert und entwickelt Argumentationsmuster angewandter politischer Ethik insbesondere im Feld der Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Seine Habilitationsschrift Nieder mit dem Krieg. Eine Ethik politischer Gewalt erschien 2021 in Leipzig.

Hartwig von Schubert

Den Frieden verteidigen

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: © K-MookPan – stock.adobe.com

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print: ISBN 978-3-17-043426-4

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-043427-1

epub: ISBN 978-3-17-043428-8

Print-Paket der Trilogie „Von Krieg und Frieden“:

ISBN 978-3-17-044695-3

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Nicht den Feind, sondern den ewigen Krieg besiegen

Der friedliche Ausgleich in einer Gesellschaft

Wege zum inneren politischen Frieden

Wege zum äußeren Frieden in der Welt

Chancen für Frieden angesichts des Krieges

Literatur

Vorwort des Herausgebers

Der 24. Februar 2022. An diesem Tag geschieht etwas, was die meisten Europäer für undenkbar gehalten haben: Russland überfällt die Ukraine. Ein Angriffskrieg gegen ein Nachbarland mitten in Europa. Der erste seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Empörung ist groß. Zu Recht. Die Sorge, in diesen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, aber auch. Ebenfalls zu Recht. Schließlich ist der Aggressor eine Atommacht, die gleich zu Beginn des Krieges und seither immer wieder mit dem Einsatz der Bombe gedroht hat. Feststeht jedenfalls: Putin hat die in Europa inzwischen zur Selbstverständlichkeit und daher vielleicht auch bequem gewordene Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte schlagartig zerstört. Wohin Europa nach diesem Tabubruch steuert? Auch heute weiß das niemand wirklich.

Von Anfang an war klar: Die Ukraine wird nur dann nicht zur schnellen Beute Putins werden, wenn die NATO sie massiv unterstützt. Kriegspartei jedoch dürfe das Westbündnis nicht werden, das beeilten sich die Politiker der Mitgliedsländer sofort zu betonen. Es bleibt also ein riskantes Unterfangen, auf das sich die europäischen Regierungen und die USA einlassen müssen. Wo verläuft die rote Linie, die nicht überschritten werden darf? Niemand weiß es genau. Und dennoch – von der ersten Kriegswoche an liefern sie dem angegriffenen Land Waffen.

In Deutschland haben dieser Angriffskrieg und die westlichen Reaktionen die Bevölkerung einmal mehr gespalten. Die wenigsten sympathisieren ernsthaft mit Putin. Bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine allerdings ist die Stimmung weniger klar: Im Januar 2024 gaben laut ARD-Deutschlandtrend 36 % der befragten Bürger an, die Lieferung von Waffen ginge ihnen zu weit, 21 % meinen, nicht weit genug, 35 % hielten den gegenwärtigen Umfang für angemessen. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es dagegen eine deutliche Ablehnung der Waffenlieferungen. Dort sagen fast zwei Drittel der vom MDR im Juli 2023 Befragten „Nein“ zur militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO. Für sie gilt: „Krieg? Nicht mit uns!“

Nicht zuletzt der Ukrainekrieg und unser Umgang damit sind Anlass, in dieser Trilogie aus drei Perspektiven über Krieg und Frieden nachzudenken. Die drei Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden, bilden aber zusammen eine Einheit.

Im ersten Band, Logik und Schrecken des Krieges, geht Jochen Hippler der Frage nach, warum es überhaupt immer wieder Kriege gibt. Jeder weiß doch, selbst bei einem Sieg steht der Angreifer als ein von Zerstörungswut und Habgier getriebener Barbar da, der auch über sein eigenes Volk mehr Elend und Leid gebracht hat als Nutzen. Aber stimmt das eigentlich? Wenn es keinen Nutzen gäbe, dann gäbe es auch keine Kriege, schreibt Hippler. Die allseits bekannten Schrecken des Krieges reichen nicht aus, um sie zu verhindern. Warum Kriege geführt werden, wie sie geführt werden und wann sie enden, folgt einer eigenen Logik.

Wären passiver Widerstand, gewaltfreie Aktionen und Verhandlungen die besseren Antworten auf den russischen Angriff gewesen, wie es bundesdeutsche Pazifistinnen wie Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Margot Käßmann schon kurz nach Kriegsbeginn den Ukrainern empfohlen hatten? Verhandlungen, koste es, was es wolle, statt Selbstverteidigung? Wem nützen solche Forderungen? Den Ukrainern oder gar Putin oder doch nur dem Wohlbefinden der „blauäugigen Träumer vom ewigen Frieden“? Pazifismus – ein Irrweg?, fragt daher der taz-Redakteur Pascal Beucker im zweiten Band der Trilogie. Zwar entsprach Pazifismus nie dem Zerrbild naiver Träumerei, aber kann er wirklich Kriege verhindern oder wenigstens beenden?

Wie also muss Sicherheit in Zukunft gedacht werden, was verlangt das fraglos legitime Schutzbedürfnis der Bürger von jedem Einzelnen? Eine 100 Milliarden teure Aufrüstung der Bundeswehr hat die Bundesregierung beschlossen. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen? Mehr Panzer, bessere Kampfflugzeuge, weitreichendere Raketen? Ist es tatsächlich sinnvoll eine derartig gewaltige Summe in Sicherheit zu investieren? Zeit jedenfalls, grundsätzlich über die gesellschaftspolitischen und internationalen Grundlagen von Frieden und Sicherheit nachzudenken. Seit Jahrtausenden beschäftigen sich Philosophen mit diesen Fragen, schließlich gab es nie eine Zeit ganz ohne Kriege. Ist es dennoch möglich, eine friedliche Weltordnung zu schaffen? Ein weltweit geltendes Rechtssystem, dem sich die Staaten unterwerfen müssen, um miteinander in Frieden zu leben?

Nach den beiden verheerendsten Kriegen des 20. Jahrhunderts versuchte es die Völkergemeinschaft: Sie gründete 1945 die Vereinten Nationen, um „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, wie es in ihrer Charta heißt. Mit wenig Erfolg, wie wir heute wissen. Im Gegenteil: Heute scheinen wir einem dritten Weltkrieg näher als einem „ewigen Frieden“. Diese düstere Zukunftsvision bestätigen auch vier renommierte deutsche Friedens- und Konfliktforschungsinstitute in ihrem jüngsten Friedensgutachten: Es drohe geradezu ein alles zerstörender Orkan. Daher plädieren auch diese eigentlich der Friedensbewegung nahestehenden Institute für eine härtere konventionelle Abschreckung als Ergänzung zu Friedensbemühungen auf diplomatischer Ebene. Das Wort „kriegstüchtig“ würde vermutlich keiner der Forscher in den Mund nehmen, dennoch bestätigen sie den Kurs der Aufrüstung, den die Bundesregierung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eingeschlagen hat. In genau dieser Richtung entwickelt auch Hartwig von Schubert seine Argumente und Impulse im dritten Band Den Frieden verteidigen.

Keiner der drei Bände bietet endgültige Lösungen an. Die Fragen um Krieg und Frieden sind komplex und herausfordernd, einfache oder gar schnelle Antworten zu aktuellen Konflikten verbieten sich. Die Trilogie versteht sich also nicht als Ratgeber in unsicheren Zeiten, sondern als Stichwortgeber für offenen Dialog und mit gesichertem Wissen angereicherte Debatten. Denn die brauchen wir dringender denn je, um Politik besser zu verstehen, um uns im Dschungel der Sozialen Medien besser zurechtzufinden, um Fakes zu durchschauen und schließlich um in unserer Demokratie mitreden und sie mitgestalten zu können.

Stuttgart, im Juni 2024Jörg Armbruster

Einleitung

Menschen wollen Frieden, brauchen Frieden, trotzdem führen sie Kriege. Das löst immer wieder Kopfschütteln aus: Warum, um Himmels willen, töten wir uns? All die Zerstörungen, all die Toten, Verletzten und Verstümmelten an Leib und Seele, all der Hass und die Feindschaft, und manchmal über viele Generationen hinweg – wird man hinterher sagen, dass es das wert gewesen sei? Auch die entsetzlichste aller Naturkatastrophen beleidigt und empört den Geist des Menschen nicht auch noch dadurch, dass dahinter ein menschlicher Wille steht. Der Krieg aber ist eine von Menschen absichtlich herbeigeführte Katastrophe, keine Natur-, sondern eine Kulturkatastrophe. Er ist von Menschen gemacht, also von eben den Mitmenschen, die doch unsere Artgenossen, Brüder, Schwestern und Nächsten sind und von denen wir eigentlich genau das Gegenteil erwarten. Deshalb ist der Krieg ein Übel, und deshalb ist es immer zu kurz gedacht, wenn es heißt, es ginge im Krieg darum, seine Feinde zu besiegen. Zur Vernunft kommen wir erst dann, wenn wir erkennen, dass wir letztlich nicht unsere Feinde, sondern den Krieg besiegen müssen. Was braucht es aber, um den Krieg zu besiegen? Noch mehr Krieg? Krieg gegen den Krieg? Ja, vielleicht, aber wo soll das enden?

Können wir Menschen den Krieg besiegen? Eine rührende Illusion, werden viele denken – sollte man sowas nicht weltfremden Träumern überlassen? So abwegig ist das aber nicht. Am 27. August 1928 unterzeichneten in Paris elf Nationen einen Vertrag zur Ächtung des Krieges; benannt wurde er nach dem französischen Außenminister Aristide Briand (1862–1932) und seinem amerikanischen Kollegen Frank Billings Kellogg (1857–1937): der sogenannte Briand-Kellogg-Pakt. An die Idee dieses Pakts schließt auch die Charta der Vereinten Nationen (UNO) von 1945 an – und der UNO gehören heute nahezu alle Länder der Erde an. Allerdings konnten solche Regelwerke zwischenstaatliche Kriege wie aktuell zwischen Russland und der Ukraine oder die in den letzten Jahrzehnten häufigeren innergesellschaftlichen Kriege nicht verhindern. Das liefert den Anlass, einem wichtigen Thema der politischen Philosophie nachzugehen, ob und wie nämlich der Frieden einerseits möglichst friedlich, andererseits aber auch möglichst wirksam verteidigt werden kann – aufbauend auf einem innergesellschaftlichen Frieden auch zwischen mehreren Gesellschaften und ihre Staaten.

Dieses Buch gesellt sich mit zwei anderen Büchern zu einer Trilogie namens „Von Krieg und Frieden“. Im ersten Band dieser Trilogie erläutert Jochen Hippler die Logik und Schrecken des Krieges: Warum werden Kriege geführt und wie „funktionieren“ sie, welche Formen des Krieges gibt es? Er schlägt dabei folgende Definition vor:

„Wir wollen Krieg hier als organisierte und nicht nur kurzzeitig-spontane Form der politischen Gewalt begreifen, die eine bestimmte Mindestgröße … überschreitet. Anders ausgedrückt: Wir sprechen hier von Krieg, wenn Gewalt in größerem Umfang und in organisierter Form zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird“.

Diese Definition bezeichnet Krieg als einen Zustand, nicht als eine Maßnahme. Alltagssprachlich geht beides leider oft durcheinander: Dann lässt sich nicht mehr differenzieren zwischen dem Übel, das bekämpft wird (Krieg als Zustand), und den Mitteln und Wegen der Bekämpfung (zu denen Krieg als Maßnahme gehören kann). Deshalb sprechen Juristen auch nicht von Kriegen, sondern von bewaffneten Konflikten. Wir unterscheiden ja auch zwischen einer Krankheit und ihrer Behandlung, obwohl beide schmerzhaft sein können. Darüber, dass der Krieg als Zustand ein Übel ist, dürfte weitgehend Einigkeit bestehen. Wie Maßnahmen gegen einen Krieg, also u. U. auch militärische, zu beurteilen sind, ist aber eine davon gesondert zu klärende Frage.

Im zweiten Band dieser Reihe fragt der Publizist und Journalist Pascal Beucker: Pazifismus – ein Irrweg? Beucker diskutiert zahlreiche Erscheinungsformen von Pazifismus – vom absoluten Pazifismus, der von Gegnern meist als Zerrbild für den Pazifismus überhaupt missbraucht wird, bis zum Völkerrechtspazifismus. Als Versuch, die unterschiedlichen Arten unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen, übernimmt er die Definition des Friedensforschers Karl Holl, der vorschlägt, als Pazifismus

„die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen [zu] bezeichnen, die eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung propagieren und den Endzustand einer friedlich organisierten, auf Recht gegründeten Staaten- und Völkergemeinschaft zum Ziel haben“.

In diesem dritten Band nehme ich als evangelischer Theologe, ehemaliger Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr und inzwischen Privatdozent an der Universität Hamburg die beiden Fäden auf: Kriege werden geführt und folgen einer eigenen Logik – Pazifismus ist eine gute Idee, kann aber angesichts ausgebrochener Konflikte hilflos sein. Wie also lässt sich der Frieden wirksam verteidigen? Ich setze Hipplers Analysen der empirischen Friedens- und Konfliktforschung voraus und werbe aus den von Beucker skizzierten Richtungen für den Pazifismus des modernen Völkerrechts. Er ist meines Erachtens als einziger wirklichkeitsnah, philosophisch (und auch theologisch) schlüssig und widerspruchsfrei begründet und hat überdies in den Jahrzehnten nach 1945 zumindest einige Bewährungsproben bestanden. Mein Schwerpunkt liegt auf der politischen Philosophie, theologische Aspekte werden nur hier und da gestreift. Wer sich für sie interessiert, wird in meiner Habilitationsschrift Nieder mit dem Krieg fündig.

Im ersten Kapitel dieses Buches setze ich mit einer Überzeugung ein, die wir drei Autoren aus tiefstem Herzen teilen: Der Krieg ist ein Übel, und deshalb betone ich im ersten Kapitel, dass es nicht darum geht, diesen oder jenen Feind, als vielmehr den ewigen Krieg zu besiegen. Das zweite Kapitel zeigt, wie eine freiheitliche Gesellschaft Vielfalt und Einheit ihrer Bürger zum Ausgleich bringt. Dafür muss sie der Zivilität, Sozialität und Religiosität ihrer Bürger einen großen Freiraum gewähren und diesen Bereich vor dem unmittelbaren Druck aus Politik und Wirtschaft schützen. Die freiheitliche Gesellschaft löst das Gewaltproblem zwar zunächst durch Aufrichtung von Herrschaft und die Einrichtung eines Gewaltmonopols, zivilisiert dieses dann aber durch symbolische Kommunikation, und dies unabhängig davon, ob es sich um innerstaatliche oder zwischenstaatliche Gewalt handelt.

Im dritten und vierten Kapitel übernimmt die politische Philosophie die Führung im Argumentationsgang. Dass Menschen als Gesellschaft, also individuell und kollektiv selbstbestimmt und friedlich zusammenleben, ist aus Sicht eines Theologen, der geschult wurde, in Jahrhunderten und Jahrtausenden zu denken, alles andere als selbstverständlich, es ist vielmehr eine Aufgabe, die nie zu Ende ist. Denn Konflikte, auch bewaffnete, wird es immer geben, sie werden Menschen immer wieder herausfordern. Der Dreh- und Angelpunkt jeder modernen politischen Philosophie zu dem Thema „Krieg und Frieden“ ist nach wie vor Immanuel Kants berühmte Schrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahre 1795. Am 24. April 2024 jährte sich der Geburtstag des großen Königsberger Philosophen zum 300. Mal. Das ist eine gute Gelegenheit, die Gedanken Kants zur friedensstiftenden Kraft des Völkerrechts in Erinnerung zu rufen – was gerade heute leider wieder dringend nötig ist. Kant hat zu dem Thema ideengeschichtlich gewiss nicht das letzte Wort. Aber er ist eine der Schlüsselpersonen an der Wende zur Neuzeit. Als einziger hat er sowohl eine ausgearbeitete Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie (drittes Kapitel: „Wege zum inneren politischen Frieden“) als auch eine Ethik des Völkerrechts (viertes Kapitel: „Wege zum äußeren Frieden in der Welt“) vorgelegt. Darin hat er Grundentscheidungen getroffen, hinter die wir m. E. nicht zurückgehen sollten. Sie sind dank ihrer nüchternen und realistischen Basis weit von jeder naiven Friedenssehnsucht entfernt und können sich auch in den aktuellen Kontroversen um die Perspektiven künftiger Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bewähren. Gegenwärtig spitzt sich die Frage dramatisch zu, ob wir noch – wie die Generation von 1945 in der UN-Charta – an der Idee des Friedens in der Welt festhalten wollen oder nicht. Sollten die Regierungen Chinas, Russlands und vielleicht auch bald der USA nicht mehr dahinterstehen, wollen wir Europäer dann noch am Prinzip Frieden durch Recht festhalten? Darauf gehe ich im fünften Kapitel unter der Überschrift „Chancen für Frieden angesichts des Krieges“ ein. Ich wage sogar, dort ein paar Vorschläge für ein Weiterdenken gemäß Geist und Buchstaben der UN-Charta zu machen.

Wie die Ausführungen der beiden anderen Autoren dieser Trilogie stehen auch meine unter dem Eindruck der Kriege der Gegenwart. Jochen Hippler und ich sind fast ein Jahrgang, mit dem um ein Jahrzehnt jüngeren Pascal Beucker teilen wir die persönlichen Erfahrungen der Friedensbewegung der 1980er Jahre und der Balkankriege der 1990er sowie der Kriege nach dem 11. September 2001. In meiner Kindheit und Jugend gab es immer noch sehr viel, was an den Zweiten Weltkrieg erinnerte: Kriegsbunker, Trümmergrundstücke und natürlich unzählige Erzählungen von der Flucht, von der Front und von den Bombennächten. Aus den 1970er Jahren habe ich noch die allabendlichen Nachrichten aus den Kriegen in Nordirland, im Nahen Osten und vor allen aus Vietnam in lebhafter Erinnerung. Inzwischen sind die Spuren des Zweiten Weltkriegs in Deutschland weitgehend beseitigt. Einige Ruinen hat man stehen lassen. Sie sollen daran erinnern, wie schrecklich der Krieg war. Dieser Krieg liegt nun gut 80 Jahre zurück, Deutschland hat in seiner Geschichte noch nie so eine lange Friedenszeit erlebt. Dafür kann man schon sehr dankbar sein. Aber jetzt toben in der Ukraine und im Gazastreifen wieder voll entfesselte Kriege. Für mich war das bis vor Kurzem noch fast unvorstellbar, und für viele Menschen in Kiew und in Moskau, in Jerusalem und in Gaza vermutlich auch. Aber es hilft wenig, das zu einem Skandal zu erklären. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.Nicht den Feind, sondern den ewigen Krieg besiegen

Nicht den Feind, sondern den ewigen Krieg besiegen

Der Krieg in den Köpfen

Jeder Krieg beginnt irgendwann in den Köpfen der Beteiligten. Menschen sind nicht alle gleich. Jeder hat seine persönliche Geschichte. Jeder hat mehr oder weniger deutliche Vorstellungen, was er für sich von seinem Leben erwartet und in was für einem Land und in welcher Gesellschaft er leben will. Und da gibt es eben manchmal ganz erhebliche Meinungsunterschiede. Warum kommen Leute sonst miteinander in Streit? Viele sind nicht nur genervt voneinander, sie hassen sich sogar. Was wir im Kleinen aus eigener Erfahrung kennen, kann sich sogar auf ganze Gesellschaften erstrecken. So wie einst die beiden „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich: Im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) verwüstete eine Armee des französischen Königs Ludwig XIV. systematisch die Pfalz und angrenzende Gebiete. Davon zeugt bis heute sehr eindrucksvoll die Schlossruine von Heidelberg. Außer im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) war die Lage zwischen Frankreich und Deutschland im gesamten 18. Jahrhundert vergleichsweise ruhig. Aber 1806 marschierte Napoleon in Berlin ein, dann die Preußen 1871 in Paris, dann stießen die Deutschen 1914 durch Belgien nach Nordfrankreich vor, 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, 1940 begann Hitler den Frankreichfeldzug, und die Wehrmacht besetzte vom Herbst 1943 bis Sommer 1944 sogar ganz Frankreich, 1945 gehörte Frankreich zu den Besatzungsmächten des besiegten Deutschlands. Erst 1962 besuchte Charles de Gaulle Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn; das war der erste französische Staatsbesuch in Deutschland im 20. Jahrhundert. Heute gehören beide Länder trotz ihrer langen Feindschaft zum festen Kern der Europäischen Union (EU) und des europäischen Teils der NATO. Aber vorher gab es fast 150 Jahre immer wieder Krieg.

Wie konnte es zwischen diesen zwei Ländern über einen so langen Zeitraum hinweg immer wieder zu derart hochintensiven Kriegen mit massiven gegenseitigen Überwältigungsversuchen kommen und wie wurden sie am Ende beigelegt? Entweder ging es darum, den Gegner vollständig zu unterwerfen und ihn einer großräumigen Herrschaft einzugliedern, so in den napoleonischen Kriegen und im Zweiten Weltkrieg. Oder eine Seite wollte, wie im Fall des pfälzischen Erbfolgekrieges und der Besetzung des Ruhrgebiets, ihre offenen Rechnungen mit der anderen begleichen – sei es in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder politischer Hinsicht – und ihr bis hin zur Festlegung der Landesgrenzen den eigenen Willen aufzwingen. Zu einem Ende konnten diese ständigen Kriegshandlungen erst dann kommen, als Hitlerdeutschland militärisch zur vollständigen Kapitulation gezwungen worden war und Deutschland und Frankreich anschließend darauf verzichteten, den Willen des Gegners in derart fundamentalen Fragen einfach brechen zu wollen. Im Fall von Deutschland und Frankreich war es der Außenminister Frankreichs, Robert Schuman, der sein eigenes Land, den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer sowie weitere Partner wie den italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi für einen gemeinsamen Plan gewann. Der so genannte Schuman-Plan stützte sich auf eine Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion. Beide Länder sollten strukturell nicht mehr gegeneinander aufrüsten können. Dieser Plan führte von der Europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl über die Europäische Atom- und Wirtschaftsgemeinschaft bis zur Gründung der EU. Europäer profitieren heute von einem gemeinsamen Binnenmarkt und einer gemeinsamen Währung, vom Abbau von Grenzkontrollen und von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch bleibt die gesamte Union bis heute auf die Ordnungsfunktion der USA im Westen angewiesen. Von „strategischer Autonomie“ kann vielleicht im Binnenverhältnis die Rede sein, keineswegs aber, wie sich in den Kriegen der 1990er Jahre auf dem Balkan und jetzt in Osteuropa gezeigt hat, nach außen.

Menschen müssen nicht gleich zu Freunden werden, wie das zwischen Deutschland und Frankreich gelungen ist, aber sie sollten in Anerkennung der historisch gewachsenen Realitäten und um ihrer Menschlichkeit willen doch zivilisiert miteinander umgehen. Sonst bleibt der Krieg eine ständig naheliegende Option. Und das wird zukünftig nicht leichter! Es ist unübersehbar, dass auch in den vergleichsweise stabilen Wohlstandszonen des globalen Nordens, Ostasiens und des Südpazifiks die guten Jahre vorbei sind. Es haben sich weltweit schlicht zu viele Zivilisationsfolgekosten angehäuft, die bislang auf entfernte Regionen oder auf künftige Generationen abgewälzt werden konnten, jetzt aber zunehmend fällig werden. Das kostet Wohlstand und heizt sowohl innerhalb von Staaten als auch zwischen ihnen den Streit an, wer welchen Nutzen einfahren und wer welche Kosten tragen soll.

Gerade Deutschland ist mit dem katastrophalen Zivilisationsbruch des NS-Regimes ein Paradebeispiel für die Gefahren, die aus den vielfältigen Krisen moderner Gesellschaften erwachsen. Denn es sind vor allem die gesellschaftlichen Reaktionen, nicht die quasi historisch-naturwüchsigen Krisen selbst, die eine Gesellschaft ruinieren können. Heute, in Zeiten der Multi- und Omnikrise (Machtverlust des Westens, Massenmigrationen, Pandemien und Klimawandel), nehmen Gereiztheit und Verrohung in der Öffentlichkeit zu, politische Konkurrenten werden dämonisiert, die eigenen Ansichten in den Rang politischer Erlösungslehren erhoben. Die drei Bände dieser Trilogie zeigen, dass es dennoch möglich ist, ohne Schaum vor dem Mund und in den Bahnen bewährter wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Kultur auch ein so heißes Thema wie den Krieg und ein so leidenschaftlich ersehntes Ziel wie den Frieden engagiert und sachlich zu diskutieren.