Den Krieg überleben in Gronau - Eberhard Sievers - E-Book

Den Krieg überleben in Gronau E-Book

Eberhard Sievers

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Beschreibung

Gronau ist während des Zweiten Weltkrieges eine unbedeutende kleine Stadt in Deutschland. Seine Bewohner sind mehr oder weniger überzeugte Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie. Sie glauben, was ihnen über die Medien berichtet wird und sind auch überzeugt davon, dass es in diesem Krieg um den Schutz "der Heimat" geht. Erste Zweifel an der Richtigkeit ihrer Überzeugungen werden in der Familie wach, als ein Sohn während seiner Ausbildung als Pilot getötet wird. Dann kommen Flüchtlinge aus der Stadt Aachen nach Gronau, weil dort bereits bombardiert wird. Das Vorrücken der alliierten Truppen und die ständige Verschlechterung der Lage führen der Familie mit aller Macht vor Augen, wie aussichtlos die Lage ist und wie sehr man von der Propaganda geblendet wurde.

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Seitenzahl: 198

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-683-3

ISBN e-book: 978-3-99146-684-0

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlagfotos: Leelloo, Andreykuzmin | Dreamstime.com; Eberhard Sievers

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Eberhard Sievers

www.novumverlag.com

Familie 1944

Vorwort

Vor über 70 Jahren tobte in Deutschland, in Europa, ja in der ganzen Welt der Zweite Weltkrieg. Dieser Roman wirft ein Licht auf einen kleinen Ausschnitt des Kriegsgeschehens wie durch ein Vergrößerungsglas, um das detaillierte Erleben und Erleiden einer einzigen Familie konkret nachzuzeichnen. Im Schicksal dieser Familie „in der Heimat“ spiegeln sich die militärischen Kämpfe an den Fronten und der politisch-ideologische Hintergrund des weltweiten Konfliktes.

Wie in jedem Krieg der Völker hatten nicht nur die Soldaten in die gewaltsame Auseinandersetzung aktiv einzugreifen und diese passiv zu erleiden, sondern es war in höchstem Maße auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Grausamkeit des Krieges betraf die deutsche Bevölkerung aber nicht nur im Bombenhagel der Städte und nicht nur in der Fluchtbewegung aus dem Osten, sondern in diesem Roman geht es im dramatischen Kriegserlebnis um Leben und Tod einer bürgerlichen Familie in einer deutschen Kleinstadt in den Jahren 1939–1945.

Das Jahr 1944 mitten in Deutschland war geprägt von der gespannten Erwartung der Menschen auf die von Westen immer näher heranrückende Front des Krieges und gleichzeitig auf die kommende ungewisse Veränderung ihrer gesellschaftlich-politischen Einstellung mit dem Ende des Nationalsozialismus.

Der Roman weist über die Berichte historischer Ereignisse, auf die er zurückgeht, weit hinaus, indem er einen Einblick vermittelt in nationale Ideologien, in größte Kriegsgefahren, in persönliche Schicksale und in Lebensleiden und Lebenswillen einer Generation im 20. Jahrhundert.

Kriegsausbruch

Der Zweite Weltkrieg 1939–1945 kam für Familie Sievers in dem Städtchen Gronau/Leine mitten in Deutschland keineswegs überraschend, wenn auch nicht gewollt. Damals war man den gegenwärtigen politischen Umständen bewusst, die schließlich den Krieg auslösten, hatte aber insgeheim gehofft, der Friede könnte erhalten werden. Das Leben wurde deutlich überstrahlt von der nationalsozialistischen Ideologie, wie überragend wichtig das Deutschtum zu erhalten und noch weiter auszubreiten wäre.

In dieser Situation wurden Nachrichten vom Leben der Menschen im östlich benachbarten Polen, das zu einem großen Teil von Polen und Deutschen gemischt bewohnt wurde, tief erschreckend übermittelt. Erschreckend, weil die deutsche Minderheit hauptsächlich im westlichen Polen in der nationalsozialistischen Beurteilung des „guten und besseren Deutschtums“ angeblich von den Polen missachtet und unterdrückt wurde, was angeblich zu unerträglichen Leiden der deutschen Minderheit führte.

So entfesselten die Nationalsozialisten in Deutschland den Zweiten Weltkrieg, indem sie Soldaten nach Polen einmarschieren ließen, um die dortige deutsche Bevölkerung „zu befreien“.

Hitlers Rede zu dem von ihm angezettelten Krieg hörten alle am Radio „… seit heute wird zurückgeschossen …“ sollte den Eindruck erwecken, als wäre der von ihm befohlene Einmarsch deutscher Truppen über die Ostgrenze nach Polen hinein lediglich eine Reaktion auf böswillige Übergriffe der Polen auf die friedliche deutsche Bevölkerung gewesen.

Bei diesem Einmarsch deutscher Truppen nach Polen hinein wurde missachtend in Kauf genommen, dass Polen schon lange vorher angesichts der wachsenden Bedrohung durch Deutschland die Engländer und die Franzosen auf der anderen Seite Europas vertraglich als Verbündete gewonnen hatte zum Schutz gegen die Übermacht der Nationalsozialisten in Deutschland. Diesem Bündnis Polen-England-Frankreich entsprechend erklärten nun nach dem Kriegsausbruch auch diese beiden Länder Deutschland den Krieg.

Elternhaus Breite Straße

Familienleben privat im Krieg

Die Familie Sievers erlebte gleich nach der Kriegserklärung in den nächsten Tagen einen Einschnitt in ihr Leben: Heinrich Sievers, Elektro-Ingenieur im Überlandwerk Leinetal in Gronau, wurde mit der Leitung des Elektrowerkes beauftragt, weil der eigentliche Leiter sogleich zur Wehrmacht eingezogen worden war. Erst später sollte sich herausstellen, was das für das Privatleben der Familie bedeutet: Bei jedem Fliegeralarm musste Heinrich sich sogleich ins Werk begeben.

Dann wurden alle Einwohner Gronaus zu einer bedeutenden Veränderung ihrer Wohnungsgewohnheiten aufgefordert. Da alle Länder inzwischen eine Menge von Flugzeugen gebaut hatten, musste ein Übergreifen des Krieges auf die gegenseitige Lufthoheit der Länder befürchtet und abgewendet werden. Um feindlichen Flugzeugen nachts das Überfliegen und die Orientierung über Städten und Dörfern Deutschlands unmöglich zu machen, wurde eine allgemeine Verdunkelung beleuchteter Gebäude und Straßen und bei Nacht angeordnet. Die Luftschutzvorschriften enthielten ein allgemeines Verbot von Licht in der Öffentlichkeit.

Darum versah Familie Sievers die Fenster in allen Wohnräumen mit einem Rollo aus dunklem Papier. Ebenso wurden auch alle Geschäfte, Einrichtungen, Fabriken, Verwaltungen, und so weiter, völlig verdunkelt, was allgemein sorgfältig überprüft wurde. Ging man nun im Dunklen in irgendein Zimmer, so erst zum Fenster und alles verdunkelt, und dann zurück zum Lichtschalter an der Tür. Freilich war in der ersten Kriegszeit kein Überfliegen durch feindliche Flugzeuge zu befürchten, und daher gab es auch zunächst keinen Fliegeralarm.

In den ersten Kriegsjahren wurde der älteste Sohn Reinhard Soldat, und der Zweite, Detlef, wurde als Schüler zu den Flakhelfern eingezogen, die in Fliegerabwehrstellungen großer Städte teilweise Dienst als Soldat leisten mussten und andererseits noch Schulunterricht hatten.

In der Absicht, in Gronau ein regionales Schulzentrum für die umliegenden Dörfer zu entwickeln, hatte die Stadt lange vor dem Krieg eine schöne große Kreismittelschule hinter der westlichen Leinebrücke gebaut. Gleich nach Kriegsausbruch musste aber zusätzlich zum Krankenhaus ein Lazarett für verwundete Soldaten geschaffen werden. Nun wurde das neue Gebäude Kreismittelschule zu einem solchen Lazarett umgewidmet. Der Mittelschul-Unterricht musste dann mit in die Volksschule in der Nordstraße umgeleitet werden. Das führte natürlich zu vielen Engpässen, und an beiden Schulen im gleichen Gebäude zu Unterrichtsausfällen.

Lebensmittel rationiert

Als der Krieg ausbrach, wurden sämtliche Grenzen Deutschlands gesperrt, das bedeutete keine Einfuhr und Ausfuhr von Gütern, bis auf wenige, sorgfältig kontrollierte Ausnahmen. Deshalb war die Ernährung der Bevölkerung lediglich auf die im eigenen Land angebauten und produzierten Lebensmittel beschränkt. Also auch keine Baumaterialien, Textilien, Maschinen, Werkzeuge und so weiter aus dem Ausland, und schon gar keine Südfrüchte. Bananen und Apfelsinen schmeckte man während des ganzen Krieges nicht.

Das bedeutete eine strenge Rationierung von allen Lebensmitteln. Alle Esswaren durften nur mit Lebensmittelmarken verkauft werden, die für jede einzelne Person ausgegeben wurden, so für Brot, Fleisch, Zucker, Milch, Butter, und so weiter. Die Händler schnitten die bestimmten Marken von der Lebensmittelkarte ab, sammelten sie und reichten sie an den Großhandel weiter, um neue Waren zu beschaffen. Das so begrenzte Essen reichte gerade zum Sattwerden.

Ausnahmsweise gab es manchmal Sonderzuteilungen, so für Schwerarbeiter, für Kranke und Behinderte. Für besondere Bedürfnisse gab es auf Antrag extra Bezugsscheine, so für Textilien heranwachsender Kinder.

Der Garten – ein Segen

Zu jeder Wohnung gehörte in Gronau gewöhnlich ein Schrebergarten. Wo der Leine-Fluss sich teilte, bildete er für die Stadt Gronau eine Insel, die so von beiden Leinearmen umgeben war. Überall an diesen Leine-Ufern gab es rings um die Stadt Garten an Garten mit einem Zugang durch zwei Meter breite Fußwege, genannt Nordwall und Südwall. Diese reiche Ausstattung mit Schrebergärten versorgte die Bewohner mit Obst und Gemüse und teilweise auch mit Hühnern und Eiern.

Entsprechend gehörte der Familie Sievers außer ihrem Hausgarten auch noch ein guter Garten am Nordwall. Das kam nun der Familie angesichts der stark eingeschränkten Lebensmittel mit allerlei Obst und Gemüse zugute, zumal es in der ganzen Stadt kein einziges Obst- und Gemüsegeschäft gab.

Allerdings machten beide Gärten natürlich viel Arbeit. Dazu verwendete Heinrich alle private Zeit neben der Berufstätigkeit, und die Kinder wurden neben der Schule auch tüchtig zur Gartenarbeit herangezogen. Im Keller wurden alle möglichen Gartenfrüchte für den ganzen Winter in Kisten und Kästen und Töpfen sorgfältig aufbewahrt, auch Eingekochtes in Gläsern für die langen Monate.

Sievers hielten sich auch einige Hühner in einem Drahtgehege und hölzernem Stall im Garten. So hatte man oft Eierspeisen zu essen und ab und zu einen Braten.

Vieles nicht mehr zu kaufen

Kriegsbedingt konnte man nun auch keine Textilien mehr kaufen, keine Schuhe und sonstige Gebrauchsgegenstände, so dass die Hausfrau für die Pflege und Reparatur sämtlicher Kleidung der Familienmitglieder sorgen musste. Für besondere Fälle konnte man Extra-Bezugsscheine beantragen. Liselotte arbeitete nun oft stundenlang an der Nähmaschine, deren Stiche durch schwenkbare Fußtreter angetrieben wurden.

Man wurde unheimlich sparsam, trug Kleidung bis zum letzten Fetzen. Man wurde erfinderisch, nahm Bindfaden statt Schnürsenkel, tauschte kostbare Gegenstände ein, zum Beispiel goldene Blumenvasen gegen Gebrauchsmaterial, zum Beispiel Fahrradflickzeug.

Ein Textilgeschäft in Gronau konnte nur noch alle möglichen Uniformen für Parteimitglieder, Hitlerjugend und so weiter verkaufen.

Nun gab es auf Gronaus Straßen nur noch wenig Verkehr. Alle Privatautos wurden beschlagnahmt und für die Armee eingezogen. Deswegen wurden die Seitenstraßen vielfach zu Spielplätzen für Kinder, wenn die Straßen nicht vom Militär oder für politische Aufmärsche benutzt wurden.

Zunehmender Luftkrieg

Sowie Fliegeralarm ertönte, hieß die Vorschrift, sich sogleich in den Luftschutzkeller des Hauses zu begeben, zu dem rechtzeitig immer ein bestimmter Raum im Keller eingerichtet werden musste mit Betten, Decken, und so weiter. Veranstaltungen, Einkäufe, Gottesdienste und manchmal auch die Arbeitsplätze musste dann verlassen werden zu den Luftschutzkellern oder -bunkern, die auch für die Öffentlichkeit eingerichtet wurden.

Als der Luftkrieg zunehmend zunahm, traute man sich zuweilen in den Garten, um überfliegende feindliche Flugzeugformationen zu beobachten, die deutsche Großstädte in Schutt und Asche zerbombten. Die Verbände bestanden aus zwanzig bis fünfzig viermotorigen Flugzeugen. Man konnte auch eine Reihe leichter wendiger feindlicher Jagdflugzeuge zum Schutz der Formationen beobachten, und manchmal auch deutsche Jagdflugzeuge, die die Feinde anzugreifen suchten.

Die Schülerinnen und Schüler wurden bei Fliegeralarm während des Unterrichts in den ausgebauten Luftschutzkeller der Schule geschickt oder, wenn sie in der Nähe wohnten, nach Hause. Nach der Entwarnung ging dann der Unterricht so gut es ging weiter. Jedenfalls durfte sich während des Fliegeralarms kein Mensch auf der Straße sehen lassen, selbstverständlich ruhte auch jeglicher Straßenverkehr.

Nur der Eisenbahnbetrieb ging trotz des Alarms weiter, weil die Bahn sonst völlig aus dem Plan geraten würde. Nur mussten alle Fahrgäste beim nächsten größeren Bahnhof aussteigen, um dort im groß ausgebauten Luftschutzkeller die Entwarnung abzuwarten. Die Bahn fuhr dann leer weiter.

Familie Sievers nahm nun einige „Ausgebombte“ auf in zwei Zimmer im Obergeschoß ihres Einfamilienhauses, drei Personen aus der völlig zerstörten Stadt Hannover. Allerdings war das Haus nicht für zwei Familien eingerichtet, so dass man sich in dem einen Badezimmer und in einer Küche auf zwei Haushalte einrichten musste, so gut es ging. Man vertrug sich aber einigermaßen, zumal die Hannoveraner musikalisch waren, Vater und Sohn mit Cellos. Gelegentlich konnte man gemeinsam mit Sievers Klavier zusammen musizieren.

Der Krieg fordert Tote

In vielen Familien änderte sich das Leben grundsätzlich, weil alle lebenstüchtigen Männer von 18 Jahren bis an die Altersgrenze zum Militär eingezogen wurden. Die Versorgung und Steuerung der Familie oblag also den Frauen und Müttern. Dadurch wurden auch weniger Kinder geboren.

Wie ein Blitz schlug ab und zu in einer Familie die Nachricht ein, dass der Mann an der Front als Soldat gefallen sei. Das betraf natürlich nicht nur die Väter in den Familien, sondern auch die heranwachsenden Söhne als Soldaten. Nicht immer konnten die Beerdigungen auf dem heimatlichen Friedhof stattfinden. In solchen Fällen bot die Kirche in Gronau eine Trauerfeier an, um Trost zu geben, und Anteilnahme durch soziale Nähe.

Männer fehlen als Arbeiter

Der Einzug von Männern zum Militär in großem Maße hatte den Ausfall von Arbeitskräften in allen Bereichen in Deutschland zur Folge. Viele Betriebe mussten deshalb schließen, wenn es nicht möglich war, als Ersatz Frauen zu verpflichten.

In der Gronauer Papierfabrik wurden nun französische Kriegsgefangene als Fabrikarbeiter einquartiert. Die Gefangenen wurden nicht wie anderswo in Lagern gefangen gehalten, sondern man nutzte ihre Arbeitskraft aus. Viele Gefangene wurden auch in der Landwirtschaft dringend benötigt und eingesetzt. Heinrich berichtete, wie fleißig und geschickt ausländische Kriegsgefangene sich im Elektrizitätswerk betätigten.

Dem Mangel von unbedingt nötigen Arbeitern wurde im Laufe des fortschreitenden Krieges begegnet durch die Arbeitsverpflichtung ausländischer Frauen in deutschen Firmen. In Gronau gab es eine Lederwarenfabrik, die unbedingt wichtig war für die Herstellung von Uniformen, Patronentaschen und so weiter für das Militär. So wurden in einer Baracke etwa hundert polnische und russische Frauen untergebracht, die tagsüber in die Lederwarenfabrik gingen zur Arbeit.

Man hing am Radio

Eine große Rolle für die Information der Bevölkerung über die Kriegsereignisse spielte der Rundfunk. Es gab zu bestimmten Zeiten den „Wehrmachtsbericht“ über das jeweilige Frontgeschehen, und ab und zu über besonders siegreiche Ereignisse „Sondermeldungen“. Diese Rundfunknachrichten wurden politisch zur ideologischen Aufmunterung des Volkes propagandistisch genutzt. Darum bemühten sich viele um die Unterscheidung von Wahrheit und Propaganda. Man hing am Radio und verfolgte das Geschehen auch auf einer an der Wand hängenden Landkarte von Europa.

Eine sehr beliebte Rundfunksendung in diesen anfänglichen siegreichen Kriegsjahren war das monatliche „Wunschkonzert“ mit populär beliebten Orchestern, Solisten, Chören, Sängerinnen und Sängern. Melodiöse Partien aus Opern, Operetten und Orchesterwerken wurden dabei abgewechselt mit Interviews und Berichten und Grüßen von Soldaten. Das Kriegsgeschehen sollte in der Vermittlung von Front und Heimat möglichst von allen fröhlich begrüßt werden.

Der Krieg verschärft sich

Zu einem neuen Höhepunkt des Kriegsgeschehens kam es 1941 mit dem Einmarsch deutscher Truppen nach Russland bis vor die Tore von Leningrad (Petersburg) und Moskau. Nun griffen auch die USA in den Krieg gegen Deutschland ein an der Seite von England und Russland mit starkem Seekrieg und übermächtigem Luftkrieg.

Zum Höhepunkt kam es 1943 beim Kampf um Stalingrad (Wolgograd), eine der größten Städte Russlands an der Wolga. Mit einer deutschen Niederlage bei diesem Kampf und dem Verlust von Tausenden deutscher Soldaten tot oder als Kriegsgefangene in Russland kehrte sich nun Deutschlands gesamte Strategie um in Verteidigungskämpfe und Rückzugsbewegungen.

Diese Wendung des Krieges betraf nun auch verschärft die Menschen in Deutschland. Starke Bomberverbände der USA und Englands flogen vermehrt über Deutschland und warfen haufenweise Bomben zur Vernichtung deutscher Städte ab.

Zugleich begannen starke amerikanische Truppen, Europa von den Deutschen zurückzuerobern, angefangen an den Rändern Europas in Italien, Frankreich, Norwegen, und so weiter.

Silvester 1943/1944

Wie es in der Familie Sievers der Brauch war, bestand am Silvester 1943 das Abendbrot aus Kartoffelsalat mit Würstchen. Liselotte hatte in kluger Sparsamkeit den Fleischverbrauch der Familie im Dezember so eingeteilt, dass die Lebensmittel-Fleischmarken noch für drei Würstchen reichten. Danach blieben alle bis Mitternacht in der warmen Stube auf. Das Radio war eingeschaltet, um den Jahreswechsel auf die Sekunde genau zu erleben. Liselotte, die Mutter, schenkte in drei Gläser gewärmten Apfelsaft ein und meinte dabei mit verschämter, doch allgemein verständlicher Entschuldigung lächelnd: „Ich hab‘ ja leider keinen Sekt.“ Alle drei warteten stehend mit ihren Gläsern in der Hand – dann erlösten zwölf Pieptöne im Radio das Warten auf den Jahreswechsel. Man stieß miteinander mit „Prost“ ohne viele Worte an und fühlte in diesem ungewöhnlichen Brauch zur ungewöhnlichen Sekunde einen kurzen Lichtblick luxuriöser Leichtigkeit in der gewöhnlichen ernsten Zeit. Die Stimmung in der Familie war mehr gedrückt als hoffnungsvoll, denn die Siegesphase des Weltkrieges war längst vorbei, der weitere Verlauf eher ungewiss. Silvester, ein Punkt in der Zeit zum Innehalten und Nachdenken, war mehr ein großes Fragezeichen.

„Lass uns mal nach draußen vor die Tür gucken“, schlug der 13-jährige Eberhard vor. „Warum?“, fragte Heinrich, sein Vater. Aber der Junge war schon auf dem Weg zur Haustür, knipste das Flurlicht aus und öffnete die Haustür. Beide Eltern folgten. Sie standen frierend auf der Treppe vor dem Haus. Es war wie zu erwarten stockdunkel und still wie in jeder Silvesternacht in diesen Kriegsjahren. Fröhliches Raketenleuchten und Böllerknallen war wegen der vorgeschriebenen allgemeinen Verdunkelung für alles Licht streng verboten, um feindlichen Flugzeugen keine Orientierung auf der Erde zu ermöglichen. Natürlich gab es überhaupt keine Straßenbeleuchtung. Die Straßenlaternen standen ausgeschaltet dunkel vor dem fahlen Mitternachtshimmel.

Doch dann läuteten die Glocken vom fernen Kirchturm und lösten Gedanken, Fragen und Ängste für das neue Jahr 1944 bei jedem der kleinen Familie aus, als sie so wortlos lauschten. Wie würde der Krieg weiter gehen? Wie lange würde er noch dauern? Konnte man den prahlenden Parolen vom „Endsieg“ glauben? Dann kehrte man fröstelnd wieder in die warme Stube und zu dem ernsten Kriegsalltag zurück.

„Wie mag es wohl Reinhard und Detlef ergehen?“, fragte Liselotte und dachte dabei an ihre anderen Kinder, fern und in Uniform, „jedenfalls hat heute mein Vater wie in jedem Jahr am 1. Januar Geburtstag. Dem sollten wir in Gedanken gratulieren.“ – Aber es lag allen die Sorge und die Ungewissheit über das kommende Jahr schwer auf der Seele. Schweigend gingen alle aus der warmen Stube nach oben in die kalten Betten. Außerdem gab es unter den dreien ein Geheimnis, an das alle dachten und das alle doch verschwiegen. War dieses Geheimnis wenigstens ein Lichtschimmer der Hoffnung? Nur ganz kurz: „Gute Nacht.“

Das Schlafzimmer oben in dem Einfamilienhaus war dunkel und kalt. Liselotte überzeugte sich, dass die Verdunkelungsrollos vor den Fenstern heruntergelassen waren, ehe sie das Licht einschaltete. Wegen der Verdunkelungsvorschrift waren alle Fenster mit dunklen Rollos abgedichtet. Betrat man abends ein Zimmer, so galt unbedingt die Regel: erst zum Fenster und das Rollo herunterziehen, dann erst zurück zum Lichtschalter. In jeder Straße kontrollierte ein Luftschutzwart die gewissenhafte Befolgung der Verdunkelungsvorschrift. Er sah und bemängelte jeden kleinsten Lichtblitz aus den Fenstern der Wohnungen.

Einkaufen

Einige Tage nach Neujahr schickte Liselotte den Jungen zum Einkaufen los. Der Weg die lange „Wilhelm-Gustloff-Straße“ entlang von dem Eigenheim Nr. 14 in der „Siedlung“, wie die Gronauer sagten, bis zum Zentrum des Städtchens mit den Geschäften war weit. Darum war Eberhard gewohnt, das Einkaufen für die Familie zu besorgen, wie er überhaupt seinen Beitrag für das Überleben der Familie klaglos leistete, soweit die Schule und der Hitlerjugend-Dienst Zeit ließen. Die Mutter legte die drei Lebensmittelmarken auf den Küchentisch, und anhand der Möglichkeiten, die die rationalisierten Nahrungsmittel boten, sprachen beide über die Einkäufe beim Bäcker, beim Schlachter, im Milchgeschäft und im Kolonialwarenladen: 125 g Käse, 1 Paket Kaffee-Ersatz, 200 g Mett, 1000 g Brot …

Mit Einkaufstaschen, Portemonnaie und Lebensmittelmarken zog Eberhard los. Er nahm auch das Familien-Geheimnis mit, ohne dass die Eltern wussten, dass er das Geheimnis längst kannte: Liselotte war schwanger. Die Eltern trauten sich nicht, mit ihrem Sohn darüber zu sprechen. Dabei war Eberhard nicht dumm und wusste in seinem Alter über die Zusammenhänge zwischen Sex und Geburt mehr Bescheid als seine Eltern ahnten. Er hatte unübersehbare Zeichen einer bevorstehenden Geburt eines Kindes in der Familie wohl bemerkt. Aber da das Thema in der Familie tabu war – nicht unter Freunden in der Schule –, behielt er das Geheimnis auch für sich. Zu diesen Anzeichen gehörte, dass bereits seit geraumer Zeit auf der Wäscheleine im Garten die handbreiten länglichen weißen Tücher fehlten, die die Mutter sonst regelmäßig zum Trocknen aufhängte. Nicht die Mutter, sondern die Schulfreunde erklärten Eberhard den Gebrauch dieser Tücher für die Frauen und warum sie nun nicht mehr nötig waren und was man aus dieser Tatsache erkennen konnte.

Eberhard musste in jedem Laden zusammen mit seinem Kaufwunsch die Lebensmittelmarken auf den Ladentisch legen. Dann schnitt die Verkäuferin die entsprechend bedruckten Abschnitte mit einer Schere ab. Die Bäckersfrau hatte Eberhard einmal, als es im Laden leer war, erzählt, wie es mit den Lebensmittelmarken weiter geht. Das Geschäft musste die Abschnitte beim Wiedereinkauf dem Großhandel vorlegen, sortiert, gebündelt und aufgelistet, der Großhandel dem Ernährungsamt. Nach dieser Lebensmittelmarken-Liste konnte das Bäckergeschäft dann wieder Mehl und Zutaten einkaufen.

Dieses Mal las Eberhard vor einem Kolonialwarengeschäft auf einem Plakat an der Schaufensterscheibe eines Lebensmittelgeschäfts: „Sonderzuteilung von Butter und Käse für Frauen mit Kleinkindern und für Schwangere.“ Sonderzuteilungen gab es in unregelmäßigen Abständen zusätzlich über Lebensmittelmarken hinaus. Sie galten immer nur „solange der Vorrat reicht“. Eberhard stutzte und fand sich in arger Verlegenheit. „Nur für schwangere Frauen?“ Also für die Mutter! Man musste bei solchen Ankündigungen immer schnell handeln, um jede Gelegenheit gegen den bohrenden Hunger zu nutzen, brauchte aber für diese spezielle Sonderzuteilung den Schwangeren-Ausweis.

Eberhard rannte mit beiden vollen Taschen nach Hause, und da blieb ihm nun nichts anderes übrig, als die Mutter aufzuklären. Ihr blieb bei dieser Eröffnung die Spucke weg, dann nahm sie lachend ihren Sohn in den Arm und gestand ihm: „Ja, ich bekomme ein Kind. Und du eine Schwester oder einen Bruder.“ – „Und was wünschst du dir?“ – „Am liebsten nach drei Jungen ein Mädchen.“ Die Mutter rückte nun den Schwangeren-Ausweis heraus, den sie bisher immer vor ihrem Sohn versteckt hatte. „Nun lauf los!“ Eberhard rannte, so schnell er konnte. Von nun an nahm er vorsichtshalber den Schwangeren-Ausweis stets bei jedem Einkauf mit.

Schnee schippen

Als Eberhard nach den Weihnachtsferien wieder zu seiner Schule ging, der Kreismittelschule Gronau, erlebte er eine Überraschung, die sonst eigentlich von Schülern freudig quittiert wurde, hier aber mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde: Die Schule fiel während des Monats Januar aus! Der Grund war, dass die Heizungsration an Kohlen für die Schule erschöpft war und keine neue bewilligt worden war. Im Winter konnte man aber in völlig eiskalten Klassenräumen keinen Unterricht erteilen. Die Lehrer und Lehrerinnen eilten nun von Klasse zu Klasse und gaben Aufgaben auf für die lange unterrichtsfreie Zeit: Mathematik-Aufgaben, Fremdsprachen-Lektionen, Aufsätze … Dann wurden die Schülerinnen und Schüler wieder nach Hause geschickt. Eberhard traf sich in diesen Wochen ein paar Mal mit einigen Freunden bei seinem Freund Walter, um die gelösten Aufgaben zu vergleichen, die Lektionen durchzugehen, und so weiter. Die Jungen und Mädchen machten in diesem Notfall für sich selbst Schule! Sie verabredeten und halfen sich gegenseitig, zum Beispiel, um bei dieser Gelegenheit die ganze lange Ballade „Die Bürgschaft“ von Friedrich von Schiller auswendig zu lernen.

Nach der winterlichen Zwangspause, den durch „Kohlenferien“ über den ganzen Monat Januar verlängerten Weihnachtsferien, wollten die Schüler der Kreismittelschule im Februar nun wieder im gewöhnlichen Schulbetrieb weiter lernen. Aber da erlebten sie eine erneute Überraschung: Es hatte tags zuvor stundenlang dick geschneit. Eberhard und sein Vater mühten sich gleich morgens früh ab, die Berge von Schnee auf der Straße vor dem Haus von der Fahrbahn wegzuschaufeln und die Zufahrt zum Haus frei zu kriegen. Das winterliche Unwetter hatte aber auch die Reichsstraße 3 erwischt, die einen Kilometer westlich an Gronau vorbeiführte und eine äußerst wichtige Verkehrsverbindung von Nord nach Süd darstellte. Den Ämtern und Betrieben, die für den Straßenzustand verantwortlich waren, fehlten aber in dieser Kriegszeit sämtliche Fahrzeuge und Arbeitskräfte, um mit diesen riesigen Schneemassen auf den Reichsstraßen fertig zu werden. Die einzigen Arbeitskräfte, die für die kriegswichtig notwendige Arbeit in dieser Notsituation zur Verfügung standen, waren Schüler.

Also wurden alle Schüler der Kreismittelschule Gronau aufgefordert, wieder nach Hause zu gehen und Schaufeln, Schneeschieber und Spaten zu holen und sich danach gleich wieder in der Schule einzufinden, um zur Reichsstraße 3 zum Schneeräumen zu gehen. Weil eine Reihe von Schülern von auswärts kam, mussten für diese zusätzlich auch Werkzeuge mitgebracht werden. So musste auch Eberhard an diesem Tag Schnee schippen, statt die Schulbank zu drücken. Als die Schüler die Reichsstraße erreichten, hatten sich dort tatsächlich hohe Schneeberge auf der Fahrbahn aufgetürmt, die der eisige scharfe Westwind zusammengeweht hatte. Die Schüler – auch die Schülerinnen und auch die Lehrer und Lehrerinnen – wurden in Straßenabschnitte eingeteilt und machten sich an die schwere Arbeit. Stundenlang, mit kurzen Erholungspausen, schufteten sie, bis die Fahrbahn einigermaßen wieder frei und befahrbar war. Rechts und links türmten die Schüler meterhohe Schneeberge auf.

Sie arbeiteten nicht nur, sondern machten wie alle Kinder in dem Alter auch viel Quatsch. Für Schneeballschlachten verging ihnen der Spaß, aber irgendeiner kam auf die Idee, die Parole zu zitieren, die seit einiger Zeit an der Backsteinwand des Güterschuppens am Bahnhof prangte: „Räder müssen rollen für den Sieg“. Daraus machte einer der Schüler „Schnee müssen wir schippen für den Sieg“. Der Spruch sprach sich in Windeseile unter allen Schneeschippern herum und wurde dauernd wiederholt, nur die Lehrer, die mehr herumstanden und hier und dort Anweisungen oder Ratschläge gaben, ließ man davon lieber nichts merken. Sowie kein Lehrer in Sicht war, lebten die ironischen Sprechchöre wieder auf.