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Gedanken über Arbeit, Freiheit, Gewalt, Macht, Religion, Technik und Zukunft. Ein pragmatisches Wörterbuch, das dem Leser mehr bietet als so mancher Ratgeber.
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Seitenzahl: 62
Denken
mit
George Orwell
Ein Wegweiser in die Zukunft
Ausgewählt von Fritz Senn
und Christian Strich
Aus dem Englischen von
Felix Gasbarra
und Tina Richter
Eine ähnliche Auswahl von
Gedanken erschien erstmals 1982
unter demselben Titel
in der Reihe ›Kleine Evergreens‹
im Diogenes Verlag,
eine erweiterte Ausgabe kam 1991 unter dem Titel
›Gerechtigkeit und Freiheit‹
als Diogenes Taschenbuch heraus
Die Auswahl wurde für das
›Kleine Diogenes Taschenbuch‹ 2003
(›Denken mit Orwell. Ein Wegweiser in die Zukunft‹)
noch einmal revidiert
Quellenhinweise am Schluß des Bandes
Copyright © by The Estate of the late Sonia Brownell Orwell
Umschlagfoto: Keystone
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23498 5 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60245 6
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Abstinenz
In den Augen der Abstinenzler und Vegetarier besteht das einzige vernünftige Ziel darin, Schmerz zu vermeiden und so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Wenn man es unterläßt, Alkohol zu trinken oder Fleisch oder was auch immer zu essen, darf man damit rechnen, fünf Jahre länger zu leben, während, wenn man sich überfrißt oder übertrinkt, man dafür mit akuten physischen Schmerzen am folgenden Tag bezahlen muß. Zweifellos folgt doch hieraus, daß alle Ausschweifungen, selbst ein einmal im Jahr stattfindender Ausbruch wie Weihnachten, selbstverständlich vermieden werden sollten?
Eigentlich folgt das überhaupt nicht daraus. Man mag in voller Kenntnis dessen, was man tut, beschließen, daß ein gelegentliches Vergnügen den Schaden wert ist, den es der Leber zufügt. Denn Gesundheit ist nicht alles, worauf es ankommt: Freundschaft, Gastlichkeit und die gehobene Stimmung und die veränderte Auffassung, die man durch [6] das Essen und Trinken in guter Gesellschaft erhält, sind auch wertvoll. Ich bezweifle, ob, alles in allem genommen, sogar totale Trunkenheit wirklich schadet, sofern sie selten ist – sagen wir zweimal im Jahr. Das ganze Erlebnis, mitsamt der anschließenden Reue, bewirkt eine Art Bruch in der eigenen geistigen Routine, vergleichbar mit einem Wochenende in einem fremden Land, was wahrscheinlich förderlich ist.
Zu allen Zeiten haben die Menschen dies wahrgenommen. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, bis zurück zu den Tagen vor dem Alphabet, daß gewohnheitsmäßige Sauferei zwar schlecht, Geselligkeit jedoch gut ist, auch wenn man es manchmal am nächsten Morgen bereut. Wie viele Bücher gibt es doch über das Essen und Trinken, und wie wenig Lohnenswertes ist auf der Gegenseite gesagt worden! Aus dem Stegreif fällt mir kein einziges Gedicht zum Lob des Wassers, d.h. des Wassers als Getränk, ein. Es ist schwierig, sich vorzustellen, was man darüber sagen könnte. Es stillt den Durst: das ist das Ende vom Lied. Was hingegen Gedichte zum Lob des Weines betrifft, so würden sogar die überlieferten ein ganzes Bücherregal füllen.
Auch die Literatur über Essen ist umfangreich, jedoch hauptsächlich in Prosa. Aber bei allen [7] Schriftstellern, die Gefallen daran fanden, Essen zu beschreiben, von Rabelais bis Dickens und von Petronius bis zu Frau Beeton, kann ich mich an keinen einzigen Passus erinnern, der diätetische Erwägungen an erste Stelle setzt. Immer wird Essen als Selbstzweck empfunden. Niemand hat denkwürdige Prosa über Vitamine oder die Gefahren eines Proteinüberschusses oder darüber geschrieben, wie wichtig es ist, alles zweiunddreißigmal zu kauen.
1946 (L 258–9)
[8] Antisemitismus
Ich habe keine unumstößliche Theorie über die Anfänge des Antisemitismus. Die zwei üblichen Erklärungen, nämlich einerseits daß er auf wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen ist oder andererseits daß er ein Vermächtnis vom Mittelalter ist, erscheinen unbefriedigend, obwohl ich gestehe, daß sich mit ihrer Verbindung die Tatsachen decken ließen. Alles, was ich mit fester Überzeugung sagen würde, ist, daß der Antisemitismus zum größeren Problem des Nationalismus gehört, das noch nicht ernsthaft untersucht worden ist, und daß der Jude offensichtlich als Sündenbock herhalten muß, obwohl wir noch nicht wissen, wofür.
Um irgendein Thema wissenschaftlich zu untersuchen, braucht man eine unvoreingenommene Einstellung, was offensichtlich schwieriger ist, wenn die eigenen Interessen oder Empfindungen beteiligt sind. Eine Menge Leute, die durchaus imstande sind, in bezug etwa auf Seeigel oder die [9] Quadratwurzel von 2 objektiv zu sein, werden schizophren, wenn sie an die Quellen ihres eigenen Einkommens denken müssen. Was beinahe alles ungültig macht, was über den Antisemitismus geschrieben wird, ist die Annahme im Geiste des Schriftstellers, daß er selbst immun dagegen sei. »Da ich weiß, daß der Antisemitismus irrational ist«, schließt er, »ergibt sich daraus, daß ich ihn nicht teile.« Er unterläßt es also, seine Untersuchung an dem einen Ort zu beginnen, wo er zuverlässige Anhaltspunkte in die Hand bekommen könnte – in seinem eigenen Kopf.
Der modernen Zivilisation fehlt etwas, irgendein psychologisches Vitamin, und folglich unterliegen wir alle mehr oder weniger diesem Irrsinn, zu glauben, daß ganze Rassen oder Nationen auf mysteriöse Weise gut oder auf mysteriöse Weise schlecht sind. Ich möchte den modernen Intellektuellen sehen, der genau und ehrlich seine Seele erforscht, ohne auf nationalistische Treue- und Haßgefühle zu stoßen. Es ist die Tatsache, daß er die emotionale Zugkraft solcher Dinge spüren und sie dennoch nüchtern als das sehen kann, was sie sind, die ihm den Status eines Intellektuellen verleiht. Man wird daher einsehen, daß der Ausgangspunkt für jede Erforschung des Antisemitismus nicht sein sollte: »Warum spricht dieser offensichtlich [10] irrationale Glaube andere Leute an?«, sondern: »Warum spricht der Antisemitismus mich an? Was ist es an ihm, das ich als wahr empfinde?« Wenn man diese Frage stellt, entdeckt man zumindest seine eigenen Rationalisierungen, und es kann dann möglich sein, herauszufinden, was unter ihnen liegt. Der Antisemitismus sollte erforscht werden – und ich meine damit nicht von Antisemiten, sondern auf jeden Fall von Leuten, die wissen, daß sie nicht immun gegen ein solches Gefühl sind. Sobald Hitler verschwunden ist, wird eine wirkliche Erforschung dieses Themas möglich sein, und es wäre wahrscheinlich am besten, nicht damit zu beginnen, den Antisemitismus zu entlarven, sondern alle Rechtfertigungen, die man für ihn finden kann, in seiner eigenen Seele oder in einer anderen zusammenstellen. Auf diese Weise könnte man vielleicht einige Anhaltspunkte gewinnen, die zu seinen psychologischen Wurzeln führen würden. Aber daß der Antisemitismus endgültig geheilt werden wird, ohne daß die größere Erkrankung des Nationalismus geheilt würde, glaube ich nicht.
1945 (L 230–32)
[11] Arbeit
Was ist Arbeit und was ist keine Arbeit? Ist es Arbeit, zu graben, zu zimmern, Bäume zu pflanzen, Bäume zu fällen, zu reiten, zu fischen, zu jagen, Hühner zu füttern, Klavier zu spielen, zu fotografieren, ein Haus zu bauen, zu kochen, zu nähen, Hüte zu schmücken, Motorräder zu flicken? Alle diese Dinge gelten als Arbeit für den einen, und alle gelten als Spiel für den anderen. Tatsächlich gibt es sehr wenig Tätigkeiten, die nicht entweder als Arbeit oder als Spiel klassiert werden können, je nachdem, wie man sie betrachtet. Der vom Graben befreite Arbeiter möchte vielleicht seine Freizeit, oder einen Teil davon, mit Klavierspielen verbringen, während der Berufspianist unter Umständen nur allzu froh ist, an die frische Luft zu kommen und im Kartoffelbeet zu graben. Daher ist die Antithese zwischen Arbeit, als etwas unerträglich Langweiligem, und Nicht-Arbeit, als etwas Wünschenswertem, falsch. In Wahrheit verhält es sich so, daß der Mensch, wenn er nicht gerade ißt, trinkt, [12] schläft, mit jemandem ins Bett geht oder sich unterhält, Spiele spielt oder einfach herumlungert – und diese Dinge können nun einmal kein Leben füllen –, die Arbeit braucht und sie gewöhnlich sucht, obwohl er sie vielleicht nicht unbedingt Arbeit nennt. Über dem Niveau eines Schwachsinnigen dritten oder vierten Grades besteht das Leben größtenteils aus Anstrengung. Denn der Mensch ist nicht, wie die vulgäreren Hedonisten zu vermuten scheinen, eine Art wandelnder Magen; er hat auch eine Hand, ein Auge und ein Gehirn. Hört auf, mit euren Händen zu arbeiten, und schon habt ihr ein riesiges Stück von Eurem Bewußtsein abgehackt. Und nun denken Sie noch einmal an jenes halbe Dutzend Männer, die den Graben für das Wasserrohr ausgehoben haben. Eine Maschine hat sie vom Graben befreit, und jetzt werden sie sich mit etwas anderem vergnügen – Zimmerei, zum Beispiel. Aber was immer sie auch tun wollen, sie werden feststellen müssen, daß eine andere Maschine sie davon