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Seitenzahl: 157
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Jessica fing an zu rennen. Ihr Herz raste wie verrückt vor Angst. Was wollte dieser Unheimliche von ihr? Oder hatte er es gar nicht auf sie abgesehen und drehte nur aus einem ganz harmlosen Grund wieder um? Sie warf einen Blick über ihre Schulter... und erstarrte! Die gespenstischen Scheinwerfer wichen ge-rade von der Fahrbahn ab und schwenkten über den Rasenstreifen, der die Straße auf der anderen Seite vom Gehweg trennte. Um Gottes willen, er will mich überfahren! durchzuckte es Jessica voller Entsetzen. Halb verrückt vor Angst hastete sie weiter, während sie den Kühler der Limousine schon förmlich in ihrem Rücken zu spüren glaubte. Das Geisterauto kam erbarmungslos näher. Plötzlich war Jessica in gleißendes Licht getaucht. Sie stolperte, rappelte sich auf und fiel abermals hin. Gellend schrie sie um Hilfe, doch ihre Stimme hallte im Nebel nicht weit. Kein Mensch würde sie hier in dieser einsamen Gegend hören...
Jessica Blair atmete erleichtert auf, als das Ortsschild von Newbury in Massachusetts vor ihr aus dem Nebel auftauchte. Einmal, weil sie wirklich keine Lust mehr hatte, bei Regen und Nebel noch länger durch diese einsame Gegend zu fahren, und zum anderen, weil ihre Benzinuhr schon seit geraumer Weile auf leer zeigte. Gut, daß sie es noch geschafft hatte. Auf einer einsamen Landstraße darauf zu warten, daß jemand mit einem vollen Benzinkanister des Weges kam und ihr aushalf, wäre nicht unbedingt ein Vergnügen gewesen.
Nun war sie also am Ziel. Jessica fuhr langsamer und schaute neugierig nach allen Seiten. Das war also Newbury, die Kleinstadt, in der sie überraschend ein Haus geerbt hatte. Recht einladend sah der Ort mit seinen tristen grauen Häusern, den kahlen Vorgärten und den mürrischen Menschen, die vorbeihasteten, nicht gerade aus. Aber diese ungemütliche Atmosphäre lag wahrscheinlich hauptsächlich an dem trüben Wetter. Man konnte eher glauben, es wäre November statt April.
Ihre Mutter war nicht verheiratet gewesen, und Jessica hatte ihren Vater nie gekannt. Erst mit der Erbschaft hatte sie erfahren, daß er Walter Vincent hieß und ihre Mutter einmal seine Haushälterin hier in Newbury gewesen war. Mutter und Tochter waren dann nach Boston gezogen und kehrten nie mehr nach Newbury zurück.
Mehr wußte Jessica nicht von ihrem Vater. Ihre Mutter war früh gestorben, und Jessica wuchs bei ihrer Großmutter auf, bei der sie heute noch lebte. Auch die alte Frau hatte bis vor kur-zem keine Ahnung gehabt, wer Jessicas Vater war.
Jessica war schon sehr gespannt auf das Haus, das sie so unverhofft geerbt hatte. ln ihrer Vorstellung war es ein schmuckes kleines Häuschen in einer der besseren Wohngegenden von Newbury, mit gepflegtem Rasen und hübsch gestutzten Zierbäumchen. Schließlich war ihr Vater Architekt gewesen, wie sie aus dem Schreiben von Dr. Flick, seinem Anwalt, entnommen hatte. Aber das hatte nicht unbedingt etwas zu sagen. Es konnte auch ein renovierungsbedürftiger häßlicher alter Kasten sein, dessen Instandsetzung sie Unsummen kosten würde. Nun, sie wollte sich überraschen lassen.
Jessica bog gerade in die nächste Tankstelle ein, als ihr das Benzin ausging. Zum Glück waren es nur noch wenige Meter bis zu den Zapfsäulen. Sie stieg aus, um ihren Wagen dort hinzuschieben. Im selben Augenblick kam schon ein freundlicher Tankwart auf sie zu und half ihr.
»Na, das haben Sie ja gerade noch geschafft, Miss«, meinte er lächelnd, während er das Zapfventil abnahm und Jessicas Wagen auftankte. Interessiert wanderte sein Blick dabei über ihre schlanke Gestalt in dem modischen auberginefarbenen Kostüm. Ihm gefiel das bildhübsche Mädchen, das er auf Anfang Zwanzig schätzte, ausnehmend gut.
Jessica erwiderte sein Lächeln. Der junge Mann, etwa fünf, sechs Jahre älter als sie selbst, war ihr auf Anhieb sympathisch. Mit seinem nicht zu kurz geschnittenen braunen Haar, den verschmitzten braunen Augen und dem kleinen Schnurrbart war er genau ihr Typ.
»Ja, Gott sei Dank«, gab sie zurück. »Ich fürchtete schon, auf dieser einsamen Landstraße stehenzubleiben und vergeblich darauf zu warten, daß eine Menschenseele mit ein paar Tropfen Benzin vorbeikäme.«
Der nette Tankwart hängte das Zapfventil wieder ein. »Das kann unter Umständen passieren, Miss«, pflichtete er ihr bei. »Vor allem bei schlechtem Wetter wie heute, wo kaum jemand unterwegs ist.« Er lächelte Jessica wieder bewundernd an. »Auf jeden Fall sind Sie nicht aus Newbury, das kann ich mit Sicherheit sagen. Denn so eine hübsche junge Dame wie Sie wäre mir in unserem kleinen Städtchen längst aufgefallen«, sagte er charmant. »Sie kommen also von auswärts?«
»Ja, aus Boston«, erwiderte Jessica, während sie nach ihrem Geldbeutel kramte.
Im selben Moment fuhr an der anderen Seite der Zapfsäulen ein protziger Lincoln her. Eine ältere Dame, vornehm und elegant, kurbelte das Seitenfenster herunter und hielt dem Tankwart die Autoschlüssel hin, obwohl er noch beschäftigt war.
»Volltanken, Hank«, befahl sie mit kühler, leicht rauher Stimme. »Und sehen Sie auch nach dem Öl.«
Der junge Tankwart nahm mit einer knappen Verbeugung die Schlüssel entgegen. »Sofort, Mrs. Laughlin«, sagte er höflich. »Einen Augenblick, bitte.«
Er wandte sich wieder Jessica zu, die bezahlen wollte. Während sie ihm das Geld reichte, trafen sich ihre Blicke mit denen der älteren Dame im Lincoln gegenüber. Ein merkwürdiges Gefühl kroch Jessica dabei über den Rücken, als die fremde Frau ihre Augen zusammenkniff und Jessica scharf musterte.
»Werden Sie länger bleiben, oder sind Sie nur auf der Durchreise?« hörte sie den Tankwart fragen. Verwirrt riß sie ihren Blick von der Frau im Lincoln los und sah den jungen Mann an, der von ihr Hank genannt worden war.
»Ich…, ja, das heißt, das wird sich erst herausstellen«, erklärte sie. »Ich habe hier nämlich ein Haus geerbt und weiß noch gar nicht, wie es aussieht.«
Hank steckte das Zapfventil in den Tankstutzen des Lincoln und öffnete dessen Motorhaube. »Ach, tatsächlich?« sagte er zu Jessica gewandt, die gerade ihr Wechselgeld einsteckte. »Das ist ja interessant. Dann werden wir uns vielleicht in Zukunft öfters sehen? Mein Name ist übrigens Hank Myers«, fügte er mit einem charmanten Lächeln hinzu. »Mir gehört diese Tankstelle hier.«
»Und ich bin Jessica Blair«, erklärte Jessica ihm. »Das Haus habe ich von meinem Vater geerbt. Er war…, er hieß Walter Vincent. Architekt Vincent. Er ist vor vier Monaten gestorben. Kannten Sie ihn?«
Hank schüttelte den Kopf. »Leider nein, Jessica. Ich stamme nicht aus Newbury und habe diese Tankstelle hier erst vor kurzem übernommen.«
Jessica hörte ihm gar nicht richtig zu. Ihr Blick hing an der eleganten älteren Frau im Lincoln, die sie sekundenlang fassungslos und voller Haß anstarrte. Jessica wurde es ganz merkwürdig zumute. Befremdet wandte sie sich wieder ab und sah Hank an.
»Ach so.« Sie überlegte einen Moment. »Aber vielleicht kennen Sie Rechtsanwalt Flick? Er hat seine Kanzlei in der Morrison Ave, aber ich weiß nicht, wie ich dort hinkomme.«
»Oh, das kann ich Ihnen sagen.« Hank Myers streckte seinen Arm aus und erklärte Jessica, wie sie fahren mußte, um zur Anwaltskanzlei von Flick & Son zu kommen.
Jessica öffnete ihre Autotür und stieg ein. »Okay, Hank. Ich werde es schon finden. Vielen Dank und auf Wiedersehen.« Sie lächelte ihm zu. »So lange ich hier in der Gegend bin, werde ich sicher zum Tanken zu Ihnen kommen.«
»Das hoffe ich, Jessica«, rief Hank ihr winkend nach. »Bis bald.«
Als sie aus der Tankstelle fuhr, streifte ihr Blick noch einmal das Gesicht der Frau im Lincoln. Es wirkte jetzt völlig versteinert. Jessica war es absolut unerklärlich, wie eine vollkommen fremde Frau auf ihren Anblick derart reagieren konnte. Wer war die elegante alte Dame mit dem kalten, hochmütigen Gesicht?
Während Jessica in die beschriebene Richtung fuhr, fragte sie sich plötzlich, was für ein Mensch ihr Vater gewesen war, wie er gelebt hatte und welche Freunde er gehabt hatte.
*
Hank Myers von der Tankstelle hatte ihr den Weg so gut beschrieben, daß sie die Anwaltskanzlei von Flick & Son auf Anhieb fand. Leider kam Jessica in einem ungünstigen Augenblick und mußte ziemlich lange warten, bis sie vorgelassen wurde.
Arthur Flick war ein behäbiger älterer Mann mit grauem, straff zurückgekämmtem Haar und Hornbrille. Er musterte Jessica wohlwollend, aber auch ein wenig skeptisch.
»Ich fürchte, Sie werden es nicht leichthaben, wenn Sie sich entschließen, hierzubleiben, Miss Blair«, begann er nach einem umständlichen Räuspern. »Die..., ähm, die Einwohner von Newbury sind etwas eigen und sehen nicht gern Fremde hier, und gerade in Ihrem Fall...« Er unterbrach sich, als wäre ihm gerade bewußt geworden, zuviel gesagt zu haben.
»Was wollen Sie damit sagen..., in meinem Fall?« fragte Jessica ruhig, obwohl sie innerlich plötzlich sehr nervös war.
Dr. Flick legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Ich will Sie gewiß nicht beunruhigen, Miss Blair. Ich wollte damit nur sagen, daß Fremde es schwer haben, hier Fuß zu fassen und…«
»Aber ich bin Walter Vincents Tochter«, wandte Jessica ein. »Ist er..., ich meine, war er denn nicht gut angesehen?«
»Oh, doch, das auf jeden Fall«, versicherte Dr. Flick etwas hastig. »Es ist nur..., wissen Sie, das Haus ist auch in keinem sehr guten Zustand mehr. Ihr Vater lebte seit vielen Jahren allein, hatte nichts mehr an dem ganzen Anwesen gemacht… Sie verstehen schon.«
Jessica nickte. »Natürlich, Dr. Flick.« Sie lächelte schwach. »Ich rechnete auch nicht damit, in eine Luxusvilla zu kommen. Wenn Sie sich deswegen Sorgen machen, kann ich Sie beruhigen. Ich werde mir das Haus gründlich ansehen und dann entscheiden, ob ich es behalte oder verkaufe.«
Dr. Flick beugte sich über seinen breiten Mahagonischreibtisch und sah Jessica eindringlich an. »Wahrscheinlich wird es für Sie das beste sein, wenn Sie verkaufen«, empfahl er. »In diesem Fall wüßte ich eventuell auch schon einen Käufer. Sie brauchen mir nur alles zu überlassen, und ich…«
»Vielen Dank, Dr. Flick«, unterbrach Jessica ihn freundlich, »das ist nett von Ihnen. Aber wie gesagt, ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe ja noch nicht mal das Haus gesehen. Könnte ich jetzt bitte den Schlüssel haben? Sie schrieben mir, daß ich ihn mir bei Ihnen abholen kann.«
Dr. Flick kratzte sich verlegen am Kopf. »Eigentlich ja. Aber ehrlich gesagt bin ich immer noch nicht dazu gekommen, ihn von Mrs. Hayman zu holen.« Er lächelte Jessica bittend an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Schlüssel selbst abzuholen? Das Haus der Haymans liegt auf direktem Weg zum Westridge Drive, an dem das Haus Ihres Vaters liegt.«
»Nein, es macht mir nichts aus«, erwiderte Jessica lächelnd. Sie wollte nur so schnell wie möglich von hier weg und zu ›ihrem‹ Haus, das es ja nun bald offiziell sein würde. Sie ließ sich den Weg beschreiben und die Hausnummer der Haymans sagen, dann verabschiedete sie sich von dem Rechtsanwalt.
»In der nächsten Zeit werde ich vermutlich noch ein paarmal Ihre Unterschrift brauchen, bis die Erbschaftsangelegenheit vollständig zu den Akten gelegt werden kann«, sagte Dr. Flick. »Werden Sie auf jeden Fall noch eine Zeitlang in der Stadt bleiben?«
»O ja, bestimmt«, versicherte Jessica rasch, nicht zuletzt, weil sich plötzlich Hank Myers’ nettes Gesicht vor ihr geistiges Auge schob. »Sie können mich jederzeit im Haus meines Vaters erreichen. Ich habe drei Wochen Urlaub, die ich auf jeden Fall hier verbringen werde.«
»Gut, dann ist im Moment ja alles in Ordnung«, meinte Dr. Flick zufrieden. Umständlich erhob er sich aus seinem Sessel, um Jessica zur Tür zu begleiten.
»Wie gesagt, erwarten Sie nicht zuviel von Ihrem geerbten Haus, Miss Blair«, warnte der Anwalt sie noch einmal zum Abschied.
Jessica erwiderte lächelnd seinen Händedruck. »Nein, das tue ich gewiß nicht. Auf Wiedersehen, Dr. Flick.«
Wenig später fuhr Jessica in Richtung Westridge Drive. Die Straße, in der die Haymans wohnten, machte einen verlassenen, trostlosen Eindruck. Niemand war unterwegs bei diesem unfreundlichen Wetter.
Jessica fand das Haus der Haymans und klingelte. Eine ältere Frau mit mürrischem Gesicht öffnete ihr.
»Sie wünschen?« fragte sie reserviert.
»Guten Tag«, grüßte Jessica freundlich. »Sie sind sicher Mrs. Hayman?« Als diese mißtrauisch nickte, fuhr sie fort. »Ich bin Jessica Blair, Walter Vincents Tochter. Dr. Flick sagte mir, daß ich bei Ihnen den Schlüssel für das Haus abholen kann.«
Jessica registrierte zu ihrem Befremden, daß Mrs. Haymans Gesicht noch unfreundlicher und abweisender wurde. Ihre Reaktion war ähnlich wie die der Frau im Lincoln, fuhr es Jessica durch den Sinn.
Mrs. Hayman musterte Jessica von oben bis unten mit einem Blick, wie er verächtlicher nicht sein konnte, dann schlurfte sie mit einem gebrummten »Moment« davon. Jessica sah ihr betroffen nach. Warum benahm auch diese Frau sich so merkwürdig?
Nach wenigen Augenblicken war Mrs. Hayman wieder zurück. Mit einer Miene, als wäre Jessica eine Aussätzige, reichte sie ihr die Schlüssel.
»An Ihrer Stelle wäre ich nicht hergekommen«, zischte sie böse, bevor sie Jessica die Tür vor der Nase zuschlug.
Jessica starrte einen Moment lang entgeistert auf das rissige Holz der Haustür, dann steckte sie mit mechanischen Bewegungen die Schlüssel in ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. Im ersten Impuls war sie versucht gewesen, nochmals zu klingeln und die Frau wegen ihres gehässigen Benehmens zur Rede zu stellen, aber es hätte wohl keinen Sinn gehabt. Mrs. Hayman hätte ihr sicher nicht mehr geöffnet, um ihr zu erklären, was sie mit ihren Worten gemeint hatte.
Eine dumpfe Furcht stieg in ihr hoch, als Jessica die Gartentür hinter sich zumachte und wieder in ihr Auto stieg. Ihre Vorfreude auf das geerbte Häuschen war jetzt erheblich getrübt. Wieso reagierten die Leute hier so seltsam auf die Tatsache, daß Walter Vincents Tochter nach Newbury gekommen war, um ihr Erbe anzutreten? Gab es ein Geheimnis um ihren Vater?
Jessica beschloß, dem allen auf die Spur zu kommen. Sie würde auch noch einmal zu Mrs. Hayman gehen und mit ihr reden, auch auf die Gefahr hin, hinausgeworfen zu werden. Wenn sie sich vielleicht doch in Newbury niederlassen wollte, dann durfte es keine ungeklärten Dinge geben. Sie wollte sich auch von Dr. Flick etwas über ihren Vater erzählen lassen.
Der Westridge Drive kreuzte nur ein paar Meter weiter und war eine einsame Straße am Ortsrand von Newbury. Hier gab es kaum mehr Häuser, hauptsächlich Wiesen und Felder. Dazwischen lagen kleine Waldstücke. Die Häuser, die hier standen, sahen uralt und verlassen aus, mit ungepflegten Gärten und verwahrlosten Schuppen.
Und dann stand Jessica vor dem Anwesen Nummer 47, dem Haus ihres Vaters. Trotz Dr. Flicks Warnungen war sie enttäuscht, als sie ausstieg und mit kritischen Blicken auf das schmiedeeiserne Gartentor zuging.
Das Haus war tatsächlich ein alter grauer Kasten, wenn auch nicht unbedingt häßlich mit seinen Erkern und Sprossenfenstern. Auch das parkähnliche Grundstück mit seinen alten Bäumen war nicht ohne Reiz. Aber es gab eine Menge herzurichten, das sah Jessica schon auf den ersten Blick. Außerdem war es wohl ein paar Nummern zu groß für eine einzelne Person, fand sie. In dieser alten Villa hätten ohne weiteres zwei kinderreiche Familien Platz gehabt.
Nachdem Jessica das Anwesen einer ersten Musterung unterzogen hatte, fuhr sie ihr Auto in die Einfahrt und parkte es vor einer großen, altertümlichen Garage. An einer kahlen Hängeweide und einem brackig riechenden Goldfischteich vorbei ging sie zur Haustür, zu der ein paar verwitterte Steinstufen hinaufführten.
Mit einem beklemmenden, fast ängstlichen Gefühl sperrte sie die schwere Tür mit dem vergitterten Guckfenster auf. Das Haus wirkte so düster und verlassen, daß Jessica schon fast Angst hatte, im nächsten Moment einem Gespenst zu begegnen.
Dumpfer Modergeruch schlug ihr entgegen. Jessica fuhr sich mit einem leisen Aufschrei über das Gesicht, als sich ein paar Spinnweben darüberlegten. Sie tastete in dem düsteren Flur nach dem Lichtschalter, doch als sie ihn gefunden hatte, flammte kein Licht auf.
Natürlich, dachte Jessica mit einem Seufzer. Dr. Flick hatte ja gesagt, daß der Strom abgestellt war, er sich aber darum kümmern wollte, daß er wieder angestellt wurde. Aber wie sollte sie sich im Haus umsehen können, wenn es draußen schon allmählich dunkel wurde?
Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Nacht in einem Hotel zu verbringen, doch dann verwarf sie ihn wieder. Sie hatte im Auto eine Taschenlampe liegen, die würde im Moment genügen. Nach der langen Fahrt war sie müde und wollte bald ins Bett gehen. Vielleicht fand sie auch ein paar Kerzen.
Mit zögernden Schritten ging Jessica weiter in den düsteren Flur hinein. Im Haus herrschte eine bedrückende Atmosphäre, wie sie sofort feststellte. Sie kam sich fast vor wie in einem Mausoleum. Sie streckte gerade die Hand nach der nächsten Tür aus, um sie zu öffnen, als sie plötzlich einen gellenden Schrei ausstieß. Mit zitternden Knien wich sie zurück, als sie die Umrisse einer dunklen Gestalt gewahrte, die sich drohend vor ihr erhob.
*
Im nächsten Moment stieß sie erleichtert die Luft aus. Die dunkle Gestalt erwies sich als Ritterrüstung, die mit einem Speer in der Hand in der Ecke stand. Jessica konnte sie jetzt deutlich sehen, nachdem sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Trotzdem, das Gefühl, nicht allein zu sein, blieb.
Jessica öffnete die nächste Tür, die in eine geräumige Küche führte. Auf den ersten Blick wirkte sie mit ihren schweren hölzernen Schränken und dem schwarz-weiß gefliesten Boden völlig veraltet, doch dann entdeckte sie auch ein paar moderne Errungenschaften. Auf einer Anrichte stand eine hübsche Kerosinlampe, die Jessica gleich in Betrieb setzte. Sie verströmte ein warmes Licht, das dem Raum sofort Behaglichkeit verlieh.
Bevor es draußen völlig dunkel wurde, holte Jessica ihr Gepäck aus dem Auto. Dann schloß sie die Haustür ab und ging mit der Kerosinlampe im Haus herum, um sich ein Zimmer zum Schlafen auszusuchen.
Im Erdgeschoß befanden sich außer der Küche ein stilvoll eingerichteter Wohnraum mit angrenzendem Eßzimmer, ein kleiner Salon, ein Dienstbotenzimmer sowie ein altmodisches Bad und Vorrats- und Abstellräume. Eine geschwungene Treppe führte in den ersten Stock hinauf.
Das Licht der Kerosinlampe warf lange Schatten an die Wände, als Jessica die Treppe hinauf- und den Korridor entlangging. Bei jedem ihrer Schritte knarrten die Dielen unter ihren Füßen, und mehr als einmal zuckte sie erschreckt zusammen. Die unheimliche Atmosphäre des Hauses zerrte an ihren Nerven, doch dann beruhigte sie sich damit, daß alles sicher ganz anders aussah, wenn sie erstmal elektrischen Strom im Haus hatte.
Im ersten Stock gab es vier Schlafzimmer, ein weitaus moderneres Bad als unten, ein Arbeitszimmer und noch mal eine Art Salon. Jessica konnte die Einrichtung nur im schwachen Schein der Kerosinlampe sehen, doch soweit sie feststellen konnte, gefiel sie ihr recht gut. Es war zwar kein moderner Stil, aber die alten Möbelstücke aus der Tudorzeit waren wunderschön und sicher auch einiges wert.
Ein Zimmer hatte es ihr vom ersten Blick an besonders angetan, obwohl sie beim Betreten eine unerklärliche Beklemmung überfallen hatte. Es war ein Erkerzimmer mit Seidentapeten und zierlichen Rosenholzmöbeln. Es war ein ausgesprochenes Damenzimmer, und Jessica fragte sich, wer darin gewohnt haben mochte. Ihre Mutter? Oder hatte sie unten im Dienstbotenzimmer geschlafen? War ihr Vater verheiratet gewesen?
Plötzlich hatte Jessica Fragen über Fragen. Dr. Flick würde sie ihr wahrscheinlich alle beantworten können, deshalb beschloß sie, ihn gleich morgen aufzusuchen.